Kinder im Verlustschmerz begleiten (Leben Lernen, Bd. 326) - Roland Kachler - E-Book

Kinder im Verlustschmerz begleiten (Leben Lernen, Bd. 326) E-Book

Roland Kachler

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Beschreibung

Ein beziehungsorientierter und traumafundierter Traueransatz - Ein neuer Ansatz in der Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen - Praxisorientiert mit zahlreichen Beispielen - Autor hält Vorträge, gibt Workshops und andere Veranstaltungen Kinder und Jugendliche erleben viel häufiger schwere, nicht selten auch traumatisierende Verlustsituationen als gemeinhin angenommen. Besonders der Verlust von nahestehenden Menschen – das Thema dieses Buches – hat prägende, oft destruktive Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, auch wenn diese von der Umwelt oft nicht wahrgenommen und verstanden werden. Im Zentrum des hypnosystemischen Ansatzes zur Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen steht erstmals ein innovativer bindungs- und beziehungsorientierter Grundgedanke: Kinder und Jugendliche dürfen den Verstorbenen als inneren Begleiter bewahren und weiter eine innere Beziehung zu ihm leben. Mit vielen konkreten Anregungen, Methoden und Ritualen zeigt der Autor, wie nach einem schweren Verlust das Trauma des Todes und zugleich die Gestalt des Verstorbenen integriert werden können. Der systemische Ansatz umfasst auch die begleitende Arbeit mit den Angehörigen. Dieses Buch richtet sich an: - Kinder- und JugendlichentherapeutInnen - MitarbeiterInnen an psychologischen Beratungsstellen - systemische FamilientherapeutInnen - MitarbeiterInnen von Kinderhospizen und Kinder-Trauergruppen  

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Seitenzahl: 208

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Roland Kachler

Kinder im Verlustschmerz begleiten

Hypnosystemische, traumafundierte Trauerarbeit mit Kindern und Jugendlichen

Klett-Cotta

Zu diesem Buch

Der Verlust nahestehender Menschen hat prägende, oft destruktive Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, auch wenn diese von der Umwelt oft nicht wahrgenommen und verstanden werden. Oft sind trauernde Kinder und Jugendliche nach einem schweren Verlust zugleich auch traumatisiert. Hier werden erstmals traumaspezifische Methoden vorgestellt, um das Verlusttrauma zu lösen. Im Zentrum des hypnosystemischen, traumabezogenen Ansatzes zur Trauerbegleitung von Heranwachsenden steht erstmals ein innovativer bindungs- und beziehungsorientierter Grundgedanke: Kinder und Jugendliche dürfen den Verstorbenen als inneren Begleiter bewahren und weiter eine innere Beziehung zu ihm leben. Mit vielen konkreten Anregungen, Methoden und Ritualen zeigt der Autor, wie nach einem schweren Verlust das Trauma des Todes und zugleich die Gestalt des Verstorbenen integriert werden können. Der systemische Ansatz umfasst auch die begleitende Arbeit mit den Angehörigen.

Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.

Alle Bücher aus der Reihe ›Leben Lernen‹ finden Sie unter: www.klett-cotta.de/lebenlernen

Impressum

Leben Lernen 326

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © iStock/amenic181

Gesetzt von Eberl & Kœsel GmbH, Altusried-Krugzell

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-89271-0

E-Book: 978-3-608-11667-0

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20522-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

»Plötzlich bist du weg und nicht mehr da!«

1. Dynamik verschiedener Verluste – differenzieren und verstehen

2. Verluste als Bindungstraumata und als prolongierte Monotraumata – nicht unterschätzen!

3. Traumatisierende Kontexte beim Verlust – konkrete Traumatisierungen berücksichtigen

4. Sekundäre Verluste – nicht übersehen!

5. Vorangegangene Bindungs- und Beziehungsqualität dazunehmen

6. Trauerbegleitung oder Trauertherapie?

Kapitel 2

»Ich will nicht traurig sein und bin es doch!«

1. Kinder und Jugendliche trauern entsprechend ihrer psychischen Entwicklung – Entwicklungspsychologie beachten

2. Kinder und Jugendliche trauern punktuell und phasenweise – Abwehrmechanismen und Dissoziation berücksichtigen

3. Kinder und Jugendliche trauern für sich allein – Scham und Parentifizierung akzeptieren

4. Kinder und Jugendliche trauern indirekt und symbolisch – Symbole der Trauer verstehen lernen!

5. Kinder und Jugendliche trauern mit regressiven Reaktionen – Regression erlauben und halten!

6. Kinder und Jugendliche trauern handelnd und spielend – aufgreifen und als Rituale nutzen

7. Kinder und Jugendliche trauern körperlich – Körpersymptome als Trauerausdruck und Beziehungsversuch verstehen

8. Kinder und Jugendliche trauern die Trauer der anderen – die übernommene Trauer sehen

9. Kinder und Jugendliche trauern anders: Jungen trauern anders – Mädchen auch

Kapitel 3

»Und Papa ist dort auf einem Stern!«

1. Kinder und Jugendliche wollen und brauchen eine innere Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen

2. Kinder und Jugendliche in ihrem Schmerz und ihrer Trauer begleiten – mit der Realität des Verlustes leben lernen

3. Kinder und Jugendliche in ihrem Verlusttrauma begleiten – das Bindungstrauma heilen und erlebte Traumatisierungen lösen

4. Ein Metamodell für den Trauma-, Trauer- und Beziehungsprozess mit dem Ziel einer weitergehenden Entwicklung von Kindern und Jugendlichen

5. Fünf Zielhorizonte als Aufgaben nach einem schweren Verlust

6. Symptome als Folgen von Blockaden und Einseitigkeiten im Trauma-, Trauer- und Beziehungsprozess

Kapitel 4

»Wir brauchen Sie jetzt!«

1. Die Angehörigen würdigen und Kooperation erbitten

2. Erste Verlusttrauma-, Trauer- und Beziehungsdiagnostik

3. Anbieten der fünf Zielhorizonte und Settingfragen vereinbaren

4. Die Angehörigen für die achtsame Wahrnehmung des Kindes oder Jugendlichen sensibilisieren

5. Den Angehörigen die Trauma-, Trauer- und Beziehungsprozesse der Kinder und Jugendlichen erklären

6. Die Angehörigen zu einer erlaubenden und ermutigenden Haltung anregen

7. Die Angehörigen zur Begrenzung und Verantwortungsübernahme ihrer eigenen Trauer anregen

8. Die Angehörigen beim Verbalisieren der Traumatisierungs- und Trauergefühle unterstützen – bei sich und den Kindern und Jugendlichen

9. Die Angehörigen zum Erinnern an den Verstorbenen anregen

10. Die Angehörigen zu einer begrenzten Verortung des verstorbenen nahen Menschen anleiten

11. Die Angehörigen zum behutsamen Benennen der Realitäten des Verlustes anleiten

12. Arbeit mit verändertem Familiensystem und veränderter Position des trauernden Kindes

13. Normalität leben – so weit wie möglich!

Kapitel 5

»Du bist jetzt nicht allein!«

1. Das trauernde Kind oder den Jugendlichen kennenlernen und Bindung anbieten

2. Präsenz, Sicherheit und haltende Haltung vermitteln – Struktur einer Sitzung

3. Normalität und Alltagsleben unterstützen

4. Ressourcen und Stärken stärken

5. Selbstberuhigung und Gefühlsregulation lernen – den Körper einbeziehen

6. Symbolische Helfer- und Begleitpersonen installieren

7. Lindernde Selbstfürsorge einüben lassen

8. Konkrete und symbolische haltende Trauer- und Beziehungsorte aufbauen

9. Abwehr und Vermeiden ausdrücklich erlauben

10. Absichtsloses Spielen ermöglichen

11. Zu Realisierungs- und Beziehungsarbeit überleiten

Kapitel 6

»Du darfst weiter lieben!«

1. Zu einer inneren Beziehung ermutigen

2. Erinnerungen an den verstorbenen nahen Menschen aktivieren und bewahren lassen

3. Beziehungsgefühle spüren und gestalten lassen

4. Die innere Beziehung durch Kommunikation und Rituale lebendig werden lassen

5. Einen sicheren Ort für den geliebten Menschen finden und einrichten lassen

6. Konfliktklärung in der Beziehung zum verstorbenen Menschen und Lösung von Schuldgefühlen

Kapitel 7

»Ja, der Tod deines lieben Menschen tut so sehr weh!«

1. Die vierfache Trauer von Kindern und Jugendlichen

2. Zum Trauern und zum Verabschieden der Trauer ermutigen

3. Die Arbeit an der eigenen Trauer des Vermissens – die Realisierungsarbeit und die Externalisierung der Trauer

3.1 Vorbereitung der Realisierungsarbeit und der Externalisierung der Trauer

3.2 Realisierungsarbeit als behutsame Annäherung an die Realität

3.3 Trauerarbeit als Gestaltungs- und Externalisierungsarbeit der Verlustgefühle

4. Die Transformation der identifikatorischen Trauer

5. Die Arbeit an der übernommenen Trauer

6. Die Arbeit an der Trauer über die Sekundärverluste

Kapitel 8

»Du darfst wieder fröhlich sein!«

1. Zum weitergehenden Leben ermutigen

2. Den geliebten Menschen als Begleiter ins und im Leben installieren  – mitgehend oder freundlich zuschauend

3. Die Loyalität zum verstorbenen nahen Menschen ins weitergehende Leben transformieren

4. Lösen und Verabschieden von Dissoziation, Schmerz und Trauer ermutigen

5. Zum eigenen Leben und zur weitergehenden Entwicklung einladen

6. Leben mit dem bleibenden Fehlen des verstorbenen nahen Menschen

7. Bewusster Abschluss der Trauerbegleitung – vom Kind oder Jugendlichen und von den Angehörigen

Literatur

Vorwort

In dem von mir entwickelten neuen, beziehungsorientierten Ansatz steht im Zentrum, dass der Tod zwar das Leben eines nahen Menschen beendet, aber nicht die Liebe zu ihm. Deshalb spüren, gestalten und leben die Trauernden nach schweren Verlusten eine weitergehende innere Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen. So ist dieser hypnosystemische Traueransatz immer ein Trauer- und! Beziehungsansatz, der Trauernde darin unterstützt, zum Verstorbenen eine innere Beziehung zu finden und so zu leben, dass diese für das eigene Weiterleben hilfreich wird.

Der hypnosystemische Traueransatz war zunächst für Erwachsene gedacht. Doch nachdem ich mein erstes Trauerbuch für den Trauer- und Beziehungsprozess bei Erwachsenen veröffentlicht hatte, meldeten sehr bald viele Eltern oder Elternteile ihre Kinder wegen eines schweren Verlustes an der psychologischen Beratungsstelle, die ich damals leitete, an. Der Tod eines Elternteils, eines Geschwisters oder eines wichtigen Großelternteils ist für Kinder und Jugendliche oft so schmerzlich, häufig auch so traumatisierend, dass sie psychologische Begleitung brauchen. In der Arbeit mit diesen Kindern und Jugendlichen habe ich den hypnosystemischen Traueransatz für sie weiterentwickelt. In diesem hypnosystemischen, also beziehungsorientierten, Ansatz (s. dazu auch Seite 50 f.) erhält der Verstorbene einen wichtigen Platz beim trauernden Kind oder Jugendlichen und wird zu einem inneren Begleiter in einer weitergehenden inneren Beziehung zu ihm. Ich zeige in diesem Buch, wie wir als Trauerbegleiter und Trauerbegleiterinnen Kinder und Jugendliche unterstützen können, eine hilfreiche innere Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen zu finden und in ihre Entwicklung zu integrieren. Ich stelle auch viele neue Methoden dar, die trauernden Kindern und Jugendlichen helfen, ihren Verlustschmerz und ihre Trauer zu gestalten und schließlich so zu verabschieden, dass sie sich wieder ganz auf ihr Leben und ihre Entwicklung einlassen können.

In meiner Arbeit mit trauernden Heranwachsenden wurde aber deutlich, dass viele von ihnen nach einem schweren Verlust zugleich auch traumatisiert sind. Dies wurde in der bisherigen Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen zu wenig berücksichtigt. Das ist nun der zweite gänzlich neue Teil in diesem Traueransatz: Trauernde Kinder und Jugendliche sind je nach Schwere des Verlustes sehr häufig auch traumatisierte Kinder und Jugendliche. Wie diese Verlusttraumatisierung aussieht, wie sie sich auf den Trauer- und Beziehungsprozess auswirkt und wie sie vor allem mit den hier vorgestellten Methoden gut behandelt werden kann, stelle ich in diesem Buch dar.

Ich danke den Kindern und Jugendlichen, die sich mit mir und meinem hypnosystemischen, traumafundierten Traueransatz auf den Weg gemacht haben. Ebenso danke ich den Eltern und Angehörigen, dass sie mir viele konkrete Einblicke in die Trauer- und Beziehungsprozesse ihrer Kinder gaben.

Gleichzeitig habe ich mit vielen Erwachsenen gearbeitet, die als Kind einen wichtigen nahen Menschen, meist einen Eltern- oder Geschwisterteil, verloren haben. Hier konnte ich zusammen mit den Patienten und Patientinnen im Rückblick erkennen, wie sie damals den schweren, oft traumatisierenden Verlust erlebt haben, wie sie darauf reagierten und wie sie versuchten, ihn zu bewältigen. In dieser Arbeit mit dem gespeicherten traumatisierten und trauernden Kind von damals – dem Kind-Ego-State – konnte ich mein hier vorgestelltes Modell eines hypnosystemischen, traumafundierten Traueransatzes, der immer zugleich ein Beziehungsansatz ist, prüfen und vertiefen. Deshalb bedanke ich mich bei den Erwachsenen, die mir ihre Erfahrungen als traumatisiert-trauerndes Kind zur Verfügung gestellt haben.

So fließen hier also Erfahrungen ein von traumatisiert-trauernden Kindern und Jugendlichen, von deren Eltern oder Elternteilen und deren Berichten und von heutigen Erwachsenen, die als Kind einen nahen Menschen verloren haben. Daraus ist nun ein weiterführender, neuer Ansatz entstanden, den Sie als Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleiter, als Beraterinnen und Berater und als Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen von traumatisiert-trauernden Kindern und Jugendlichen ganz direkt, praxisnah und hoffentlich sehr hilfreich einsetzen können.

Roland Kachler                                                                  Remseck bei Stuttgart,März 2021

Kapitel 1

»Plötzlich bist du weg und nicht mehr da!«

Schwere und traumatisierende Verluste bei Kindern und Jugendlichen

Kinder und Jugendliche erleben viel mehr Verlustsituationen als gemeinhin angenommen (Röseberg & Müller, 2014). Besonders der Verlust von nahestehenden Menschen – das Thema dieses Buches – hat weitreichende, prägende Auswirkungen auf ihre Entwicklung, auch wenn diese von der Umwelt oft nicht wahrgenommen, selten wirklich gewürdigt und verstanden werden (Franz, 2008).

1. Dynamik verschiedener Verluste – differenzieren und verstehen

Die zwölfjährige Lea und die achtjährige Lili besuchen ihre Mutter wieder im Krankenhaus. Sie ist schon länger an Krebs erkrankt und nun seit einigen Tagen im Krankenhaus, weil es ihr plötzlich schlechter ging. Noch hoffen und glauben sie und ihr Mann, dass es eine Chance auf Heilung gibt. Doch Lea und Lili sehen, dass ihre Mutter Tränen in den Augen hat. Die beiden spüren, dass bei diesem Besuch etwas ganz anders ist als sonst. Als sie am anderen Morgen in die Küche kommen, sitzen dort ihr Onkel und ihre Tante am Küchentisch. Ihr Vater eröffnet ihnen, dass ihre Mutter in der Nacht verstorben ist. Lea schreit und wirft sich schluchzend auf ihr Bett, Lili rennt in den Garten zu ihren beiden Kaninchen.

Je nahestehender und wichtiger im Bindungserleben eines Kindes und Jugendlichen, desto massiver wirkt sich ein Verlust eines nahestehenden Menschen aus:

Verlust eines Elternteils

Dieser Verlust wiegt neben dem Tod eines Geschwisters wohl am stärksten und wirkt meist auch traumatisierend, fällt doch mit dem Tod eines Elternteils eine der wichtigsten und nahesten Bezugspersonen weg (Senf, 2014; Luecken, 2008).

▶ Beachte1

Der Tod eines oder beider Elternteile hinterlässt bei Kindern und Jugendlichen ein Verlusttrauma mit entsprechenden Traumareaktionen. Der Tod eines Elternteils hinterlässt im Leben und gefühlt auch in der Psyche und im Körper eine große Leerstelle. Gefühle des Verlustschmerzes, des Fehlens und Vermissens gehen dann in intensive Trauer, oft auch in Verzweiflung über. Gleichzeitig ist der Tod eines Elternteils eine existentielle Bedrohung für Kinder und Jugendliche, die nur durch die Präsenz des anderen Elternteils teilweise kompensiert werden kann. Sollten beide Eltern zum Beispiel bei einem Unfall sterben, wird das Beschriebene verschärft.

▶ Beachte

Zur Mutter besteht über die Schwangerschaft und den Oxytocin-Ausstoß beim Stillen, den Geruch der Mutter und viele körpernahe Beziehungserfahrungen eine einzigartige Bindung. Deshalb kann die Mutter durch keine andere Beziehungsperson ersetzt werden. So wirkt dieser Verlust in aller Regel besonders traumatisierend! Je jünger die Kinder beim Tod der Mutter sind, umso näher ist die Bindung und umso mehr fehlt ihnen die Mutter, auch wenn es noch keine inneren Objektbilder von der Mutter gibt. Ähnliches gilt – freilich in abgeschwächter Form – für den Verlust des Vaters.

War der verstorbene Elternteil vor seinem Tod zum Beispiel an einem Krebs lange erkrankt, hat auch dies schwere belastende Auswirkungen. Hier hat das Kind oder der Jugendliche oft intensiv mit dem erkrankten Elternteil empathisch mitgelitten und eine emotionale Verantwortung für ihn übernommen. Die damals schon erlebte Verlustangst hat sich durch den Tod des Elternteils bewahrheitet und diese bestätigt. Bei einem plötzlichen, unerwarteten Tod sind der Schock, die Dissoziation, die Verstörung und das nicht Begreifen-Können bei dem trauernden Kind oder Jugendlichen besonders ausgeprägt und bewirken ebenfalls ein Verlusttrauma.

Verlust eines Geschwisterteils

Die Geschwisterbeziehung ist eine der frühesten, massiv prägenden Beziehungen eines Kindes, die auf lange Zeit und Zukunft bis ins hohe Alter angelegt ist.

▶ Beachte

Auch der Tod eines Geschwisterteils wirkt traumatisierend und stellt ein Verlusttrauma dar!

Die Geschwister haben einen gemeinsamen Ursprung und eine ähnliche Gen-Ausstattung. Sie teilen eine gemeinsame Umwelt, die gemeinsame Familie und deren Rituale und Geheimnisse. Mit dem Verlust eines Geschwisters fehlen nun auf Dauer ein an der Seite mitgehender Begleiter und ein freundschaftliches Gegenüber (Beerwerth, 2014). Schwester und Bruder sind als individuelle Personen, aber auch in ihrer familiären Position und lebensbegleitenden Funktion unersetzlich. Bei dem Tod eines älteren Geschwisters fehlt beispielsweise der Beschützer oder die Beschützerin.

▶ Beachte

Ein Geschwister kann von niemandem kompensiert oder gar ersetzt werden. Die bisherige Beziehung zum verstorbenen Geschwister ist so einmalig und besonders, dass dieses immer fehlen und vom zurückbleibenden Geschwister vermisst wird. Dies müssen wir anerkennen und damit das verstorbene Geschwister und seine Bedeutung selbst würdigen.

Auch hier ist eine dem Tod vorangehende lange Krankheitszeit des verstorbenen Kindes unbedingt zu berücksichtigen. War die Geschwisterbeziehung sehr konfliktträchtig, gibt es beim überlebenden Geschwister immer auch Schuldgefühle, insbesondere die Überlebensschuld, aber manchmal auch das hoch tabuisierte Gefühl der Erleichterung über seinen Tod. Beide Gefühlsbereiche müssen neben dem Schmerz und der Trauer angesprochen und bearbeitet werden.

Verlust eines Großelternteils

Mit dem Tod eines Großelternteils verliert zunächst ein Elternteil einen eigenen Elternteil. Diese Trauer und die mit dem Tod verbundenen Pflichten und Belastungen etwa seitens der Mutter führen häufig dazu, dass diese für die Trauer der Enkel emotional nicht präsent ist. Für die Enkel ist der Tod, je nach Bedeutung und Wichtigkeit des Großelternteils, zum Beispiel einer liebevollen gelassenen Großmutter, mehr oder weniger massiv (Schroeter-Rupieper, 2014). Ist diese Großmutter eine über alles geliebte Bezugsperson, die andere familiäre oder elterliche Defizite ausgleicht, ist deren Verlust für eine Enkelin oder einen Enkel oft sehr schwerwiegend und massiv. Stirbt ein Großelternteil sehr früh, fehlen den Enkeln eine lange Strecke der besonderen großelterlichen Zuwendung. Häufig wird der Verlust eines Großelternteils vom Umfeld unterschätzt.

Verlust von Freunden und Schulkameraden

Freunde und Schulkameraden nehmen etwa ab dem vierten Lebensjahr häufig die Rolle von Zweit-Geschwistern ein und besitzen so über eine bestimmte Phase eine hohe, emotional prägende Bedeutung für Kinder und Jugendliche. Der Verlust kann deshalb durchaus sehr intensiv sein, auch wenn dieser meist durch die Unterstützung der Eltern ohne professionelle Trauerbegleitung bewältigt werden kann.

Tod anderer Bezugspersonen wie Erzieherin oder Lehrerin

Erzieherinnen, Lehrerinnen, Trainer oder andere Bezugspersonen stellen für Kinder und Jugendliche häufig idealisierte Elternfiguren dar, sodass deren Verlust für sie durchaus schmerzlich sein kann. Sie verlieren mit ihnen nicht nur wichtige Bezugspersonen, sondern auch Projektionsgestalten für ihre Wünsche und Ideale. Hier ist eine erste Krisenintervention, dann eine gute Begleitung und Aufarbeitung innerhalb der Institution entscheidend (Witt-Loers, 2015, 2016).

Verlust weiterer wichtiger Verwandter und von Freunden oder Bekannten der Familie

Diese Verluste können in aller Regel von den Eltern und im Familiensystem begleitet und von Kindern und Jugendlichen gut bewältigt werden. Manchmal aktualisiert ein solcher Verlust beim Kind den Verlust eines Eltern-, Geschwister- oder Großelternteils.

Verlust von Tieren

Tiere werden von Kindern und Jugendlichen als personales Gegenüber verstanden und sind deshalb häufig als Verlust einer »Person« zu verstehen. Je wichtiger ein Tier ist, häufig in prekären Familiensituationen oder Entwicklungsphasen, desto stärker wird es betrauert. In der Trauer um ein Tier kann die Fähigkeit des Trauerns und des Abschiednehmens eingeübt werden. Hilfreich ist hier eine empathische Begleitung durch die Eltern und verschiedene Rituale (Meier, 2018).

2. Verluste als Bindungstraumata und als prolongierte Monotraumata – nicht unterschätzen!

Die sechzehnjährige Nadine kommt von der Schule nach Hause. Als sie klingelt, öffnet niemand, wie sonst üblich, die Haustür. Sie schließt die Türe auf und ruft freudig den Namen ihrer vierzehnjährigen Schwester, die zu Hause sein müsste, durch das Haus. Dann sieht sie über sich ihre Schwester im Treppenhaus. Sie scheint dort zu klettern. Nadine ist schon ganz erleichtert. Doch als sie ihre jüngere Schwester anspricht, reagiert sie nicht, und als sie sie anstößt, ist diese ganz steif und bewegt sich nicht. Nadine versteht nicht, was das zu bedeuten hat. Dann sieht sie, dass ihre Schwester an einem Seil hängt. Erstarrt und zitternd sinkt Nadine im Treppenhaus nieder und verharrt wohl zwanzig Minuten in dieser Erstarrung, bis sie mit ihrem Handy ihre Mutter alarmieren kann.

Bei einem Verlust erleben Kinder und Jugendliche den Entzug einer zentralen Bindungsfigur und damit eine massive Verletzung, also eine Traumatisierung des Bindungssystems (Brisch, 2020; Cohen, Mannarino & Deblinger, 2017). Kinder und Jugendliche erleben das Entreißen der Bezugsperson als schmerzende Verwundung und tiefe Verunsicherung in ihrem Bindungsbedürfnis. Das Bindungssystem von Kindern und Jugendlichen ist elementar auf die Präsenz von Bindungspersonen angewiesen. Die alltägliche Aktualisierung und Bestätigung durch sprachliche und nonverbale Kommunikation gibt dem Kind oder Jugendlichen Schutz und Sicherheit in seinem Bindungssystem, sodass dieses im Heranwachsen sicher und stabil werden kann. Fehlt nun durch einen Verlust eine wichtige Bindungsperson – insbesondere beim Verlust eines Eltern- oder Geschwisterteils –, wird das Bindungssystem als Ganzes in Frage gestellt. Das Bindungssystem ist nicht auf einen Verlust eingestellt und deshalb bei Kindern und Jugendlichen sehr verletzlich und verletzbar.

Der Verlust als Bindungstrauma ist besonders massiv bei folgenden Verlustsituationen:

Plötzliche und unerwartete Verluste

Ein plötzlicher Verlust wie der Tod eines Eltern- oder Geschwisterteils durch einen Unfall treffen das Kind unversehens in gänzlicher Schutzlosigkeit, überwältigen das Kind emotional und bringen es in eine existentielle Ohnmacht, aus der es kein Entkommen gibt. Mit dieser Verlusttraumatisierung setzen dann sehr rasch verschiedene Traumareaktionen wie Freezing, Numbing und Dissoziation ein.

Gewaltförmige Verluste, insbesondere Suizid, Mord und Unfall

Bei gewaltförmigen Verlusten erleben die Kinder und Jugendlichen die Vernichtung des nahen Menschen und dabei die Vernichtung eines Teils ihres Selbst. Sie übersteigen jede Möglichkeit des Begreifens und Verstehens in diesem Alter, sodass dann ebenfalls die dissoziativen Traumareaktionen einsetzen.

Das verletzliche Bindungssystem muss mit dem Fehlen des Bezugsobjekts umgehen und sich neu organisieren. Dabei unterscheidet sich ein Verlusttrauma deutlich von anderen Traumatisierungen in der Kindheit.

Kindliches Verlusttrauma ist keine Komplextraumatisierung

Traumatisierungen durch emotionale, körperliche oder sexuelle Gewalt erstrecken sich meist über längere Zeit, sodass es hier in aller Regel zu einer sequentiellen Traumatisierung kommt. Zudem wird das Bindungssystem auf der existentiellen Ebene des Vertrauens zerstört. Hier sprechen wir von einer Komplextraumatisierung (Weinberg, 2017).

Bei einem Verlusttrauma bleibt dagegen die grundsätzliche Beziehungsfähigkeit des Kindes erhalten, nicht zuletzt auch, weil es eine innere Beziehung zum Verstorbenen findet und so das Bindungssystem sein Beziehungsobjekt nicht ganz verliert. So bleibt das Bindungssystem über längere Sicht gesehen beim Kind funktionsfähig, sodass es mit dem Fehlen des Bezugsobjektes umgehen und sich neu organisieren kann. Genau für diese gelingende Neuorganisation des kindlichen oder jugendlichen Bindungssystems bieten wir Trauerbegleitung an.

Verlusttrauma in Kindheit und Jugend als prolongiertes Monotrauma

Ein Verlusttrauma ist zunächst meist ein einmaliges, auf einen begrenzten Zeitraum bezogenes traumatisierendes Ereignis, insofern können wir von einem Monotrauma sprechen. Allerdings werden Kinder und Jugendliche mit dem Verlust und den daraus entstehenden Folgen wie der bleibenden Abwesenheit des nahen Menschen immer wieder erneut konfrontiert, sodass es zu Retraumatisierungen kommen kann. Insofern wird das Monotrauma wiederholt und wir sprechen deshalb von einem prolongierten Trauma.

Auch wenn ein kindliches oder jugendliches Verlusttrauma sehr schwer ist und dabei auch traumatisierend wirkt, bleibt ein Kind oder Jugendlicher grundsätzlich beziehungsfähig. Zwar ist Beziehungsfähigkeit besonders durch die Angst vor einem weiteren Verlust eingeschränkt, aber nicht wie bei einer Komplextraumatisierung im Grundsatz in Frage gestellt oder massiv in seiner Funktionsfähigkeit gestört.

Wir können deshalb das Bindungstrauma eines Verlustes auch weitgehend heilen, indem die zurückbleibenden Angehörigen und wir als Begleiter und Begleiterinnen eine Bindung anbieten. Zentral für die Heilung des Verlusttraumas ist aber die innere Beziehung zum verstorbenen nahen Menschen, der als inneres Beziehungsobjekt erhalten bleibt. Genau diese heilsame innere Beziehung unterstützen wir durch den hier vorgestellten beziehungsorientierten, hypnosystemischen Traueransatz.

3. Traumatisierende Kontexte beim Verlust – konkrete Traumatisierungen berücksichtigen

Der achtjährige Jonas liebt seine kleine Schwester Katrin über alles. Sie spielen zusammen im Garten. Seine Schwester verbirgt sich beim Versteckspielen beim kleinen Teich. Jonas sucht seine Schwester, aber er findet sie zunächst nicht. Dann sieht er sie halb untergetaucht im Gartenteich. Sie bewegt sich nicht. Jonas rennt ins Haus und alarmiert seine Mutter. Diese bricht schreiend zusammen, als sie ihre Tochter im Gartenreich offensichtlich ertrunken vorfindet. Sofort kommen Nachbarn und bergen das Mädchen aus dem Teich und bringen es in das Wohnzimmer. Jonas steht erstarrt daneben, bis ihn die Nachbarn in ein Nebenzimmer ins Haus bringen. Dort hört er, wie der Notarzt kommt. Die Geräusche im Wohnzimmer machen ihm großeAngst. Dann öffnet sich die Tür und der Vater sagt ihm, dass etwas Schlimmes geschehen ist.

Traumatisierende Umstände und konkrete traumatisierende Erfahrungen haben eine eigene traumatisierende Wirkung auf das Erleben von Kindern und Jugendlichen und verstärken das Bindungstrauma. Das Bindungstrauma und die traumatisierenden Erfahrungen ergeben ein Verlusttrauma im Vollbild.

▶ Beachte

Das Bindungstrauma eines schweren Verlustes und traumatisierende Erfahrungen im Kontext des Todes des nahen Menschen machen ein Verlusttrauma bei Kindern und Jugendlichen aus.

Folgende konkrete Situationen mit traumatisierenden Wirkungen sind häufig anzutreffen:

Miterleben des Todes des nahen Menschen

Der Tod eines nahen Menschen wird meist bei Verkehrsunfällen direkt erlebt. Die Ohnmacht des sterbenden nahen Menschen und die eigene Ohnmacht als miterlebendes Kind oder Jugendlicher verstärken sich gegenseitig. Das Miterleben der unmittelbaren Vernichtung des nahen Menschen und die eigene Hilflosigkeit aktivieren dann verschiedene traumatische Reaktionen.

Auffinden des verstorbenen nahen Menschen

Hier ist insbesondere das Auffinden des nahen Menschen nach einem Suizid massiv traumatisierend. Aber auch der achtjährige Jonas im obigen Fallbeispiel spürt beim Auffinden seiner leblosen Schwester die unmittelbare Bedrohung für sie und sich selbst, die dann durch die weiteren Geschehnisse auf schreckliche Weise bestätigt wird.

Miterleben der Überbringung der Todesnachricht

Nicht selten bekommen Kinder und Jugendliche direkt oder indirekt mit, wie die Todesnachricht überbracht wird. Dabei verstehen sie nicht, was hier passiert und was die Nachricht und die Reaktionen der anderen Betroffenen zu bedeuten haben.

Miterleben eines emotionalen Ausbruchs einer mitbetroffenen Bezugsperson

Verstörend wirkt für Kinder und Jugendliche das Zusammenbrechen einer wichtigen Bezugsperson beim Erfahren der Todesnachricht, am Sarg oder bei der Bestattung. Auch das Schreien oder schluchzende Weinen überfordert Kinder und Jugendlichen in ihren Bewältigungsmöglichkeiten und konfrontiert sie mit der Schwäche der Bezugsperson und der eigenen Hilflosigkeit.

Zwar verstehen Kinder, oft auch Jugendliche bis zum 14. oder 15. Lebensjahr, nicht, was in der traumatisierenden Verlustsituation geschieht, aber sie spüren unmittelbar über den Körper, dass etwas außergewöhnlich Bedrohliches und Überwältigendes passiert. Nun droht eine emotionale Überflutung, der die Kinder und Jugendlichen ohne reife Abwehrmechanismen ausgesetzt wären. Deshalb setzen sofort folgende archaische, evolutionsbiologisch angelegte Schutzprozesse (Peichl, 2012) ein:

Desorientierung und Verwirrung

Die Kinder und Jugendlichen erleben eine tiefgreifende Desorientierung und Verwirrung. Der Kopf ist ganz leer oder alles dreht sich. Später erleben sie sich oft als verwirrt und im Raum orientierungslos. Nicht selten entwickeln sich daraus später auch Schwindel- oder Ohnmachtsattacken.

Lähmung und Freezing

In der traumatisierenden Verlustsituation setzt dann eine Lähmung in allen Muskeln und im Freezing das Einfrieren aller Gefühle und Körperregungen ein. Später zeigt sich das bei Kindern und Jugendlichen oft in ganz kurzen Momenten von Erstarrung. Häufig ist auch der Zugang zu den Trauergefühlen durch die Erstarrung blockiert.

Benommenheit und Betäubung

Kinder und Jugendliche erleben nun auch eine Benommenheit wie nach einem Schlag gegen den Kopf und eine Betäubung ihrer Gefühle, das sogenannte Numbing. Sie scheinen dann gegenüber emotionalen Situationen unempfindlich und scheinbar resilient.

De-Realisierung und De-Personalisierung