Damit der Staat den Menschen dient - Thomas Maizière - E-Book

Damit der Staat den Menschen dient E-Book

Thomas Maizière

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Beschreibung

Ein Spitzenpolitiker steht Rede und Antwort

Thomas de Maizière steht Rede und Antwort. Dabei nimmt er die Politik und sich selbst in die Pflicht, weil er nicht möchte, dass in diesem Land die Banken, die Unternehmen, die Gewerkschaften regieren. Wann aber funktioniert Politik, wann dient sie den Menschen – und wann nicht? Welchen Anspruch hat er an sich selbst? Kurzum, was heißt das: Macht und Regieren?

In diesem Buch gewährt de Maizière außergewöhnlich tiefe Einblicke in das Innenleben der Politik. Er äußert sich offen über bedeutende politische Ereignisse wie die Verhandlungen zur Wiedervereinigung oder den Kampf der Großen Koalition gegen die Weltfinanzkrise. Mit Leidenschaft verteidigt er die Politik – und spart dabei nicht mit Kritik, auch an der eigenen Partei. Gleichzeitig wehrt er sich vehement gegen die weitverbreitete Stimmung, Politiker seien korrupt, egoistisch und könnten das Land nicht regieren. Er spricht über das Fundament seiner Werte, die Verantwortung von Soldaten und die historische Schuld des Militärs im Zweiten Weltkrieg; über die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit und erlaubte Notlügen; über seinen Glauben an die Auferstehung; wie ihn Niederlagen und Verletzungen weiterbringen und welche Ratschläge seines Vaters er noch heute berücksichtigt.

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Seitenzahl: 560

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THOMAS DE MAIZIÈRE

IM GESPRÄCH MIT STEFAN BRAUN

Damit der Staat den Menschen dient

ÜBER MACHT UND REGIEREN

Siedler

Erste Auflage

Copyright © 2013 by Siedler Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, HamburgSatz: Ditta Ahmadi, BerlinISBN 978-3-641-10382-8

www.siedler-verlag.de

Inhalt

KAPITEL 1 Über gute und schlechte Politiker

KAPITEL 2 Familie, Schule, Freunde, Kirche – Welt und Werte

KAPITEL 3 Wehrdienst, Studium, Westberlin – Der Weg in die Politik

KAPITEL 4 Mauerfall, Einigungsvertrag, Kampf um die Würde des Ostens – an der Seite von Lothar de Maizière

KAPITEL 5 Lehrjahre im Osten – Ankommen in einer neuen Welt, erst Schwerin, dann Dresden

KAPITEL 6 Umzug ins Kanzleramt – Bestehen-Müssen in einer neuen Liga

KAPITEL 7 Große Koalition I: Erst im Glück, dann im Clinch

KAPITEL 8 Große Koalition II: »Euer Geld ist sicher« – der Kampf gegen die Weltfinanzkrise

KAPITEL 9 Im zweiten Kabinett Merkel

KAPITEL 10 Einzelspieler, Mannschaftssport, CDU

Vorwort

»Anmut sparet nicht noch Mühe; Leidenschaft nicht noch Verstand; daß ein gutes Deutschland blühe; wie ein andres gutes Land.« Thomas de Maizière mag diese Zeilen sehr. Wäre es nach ihm gegangen, hätte Bertolt Brechts »Kinderhymne« 1990 Deutschlands Nationalhymne werden können. Als er an der Seite seines Vetters Lothar de Maizière die Verhandlungen zur Wiedervereinigung begleitete, träumte er davon, sie durchzusetzen. Eine echte Chance dafür gab es nicht. Trotzdem zitiert er den Text gerne. Und wenn er das tut, klingt es wie ein Bekenntnis. »Und weil wir dies Land verbessern; lieben und beschirmen wir’s; und das Liebste mags uns scheinen; so wie andern Völkern ihrs.«

Thomas de Maizière ist seit dreißig Jahren in der Politik. Er hat in den achtziger Jahren beim Staatsmann Richard von Weizsäcker und beim Stadtbürgermeister Eberhard Diepgen gelernt. Er hat die Wiedervereinigung hautnah miterlebt, später die Staatskanzleien in Schwerin und Dresden geleitet und für acht Regierungschefs gearbeitet. Sein heutiges Amt ist das siebte als Minister und das dritte unter Angela Merkel. Er ist ein Westdeutscher, der sich als ostdeutscher Politiker verortet. Nur wenige haben eine so breite Erfahrung; nur wenige genießen über Parteigrenzen hinweg ein solches Ansehen und Vertrauen. In Porträts wird der 59-Jährige als Preuße der Regierung bezeichnet, als Merkels spröder Maschinist, als Mechaniker im Machtgetriebe. Trotzdem gehört er in repräsentativen Umfragen zu den beliebtesten Politikern in Deutschland, und das nicht, weil er besonders laut oder besonders spektakulär auftritt. Er wirkt bescheiden. Er hat sich um seine Ämter nicht beworben, sondern ist bis jetzt immer gefragt worden.

Eine Biografie, auch eine selbstverfasste, gibt es bis heute nicht. Umso mehr weckt der Mann Neugier. Wie konnte Thomas de Maizière werden, was er heute ist? Was hat ihn geprägt? Wie hat der Westdeutsche in ostdeutschem Auftrag den Weg zur Wiedervereinigung erlebt? Wie den Aufbau in den neuen Ländern? Und wie das Regieren im Kanzleramt Angela Merkels? Welche Fehler hat er bei all dem gemacht? Was denkt der Christdemokrat über die CDU? Und was möchte er, der schon so viele Stationen hinter sich hat, noch werden? Eine Biografie im Gespräch, immer wieder verknüpft mit Fragen zu aktuellen Problemen – das ist die Idee, die zu diesem Buch geführt hat.

Als ihn meine Anfrage für das Projekt erreichte, dachte er vier Wochen nach, ob er sich darauf einlassen sollte. Dann sagte er zu – und stand Rede und Antwort über alles, was sein Leben und seine politische Arbeit, was mögliche Fehler und die Schwierigkeiten des Regierens ausmacht. Er erzählt von der prägenden Rolle seines Vaters. Er berichtet über die auch schmerzhaften Erfahrungen mit Helmut Kohls CDU im Einigungsprozess. Er schildert Erfolge und Misserfolge, ob in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen oder im Kanzleramt in Berlin. Und er liefert einen tiefen Einblick in das Innenleben von Regierungen. Seien es die schwierigen Abwägungen im Kampf gegen den Terror, die Suche nach dem richtigen Weg gegen die Weltfinanzkrise oder das komplexe Verhältnis zwischen Union und FDP im schwarz-gelben Bündnis. Thomas de Maizière verteidigt Politik nicht, indem er sie schönredet. Er verteidigt sie, indem er sie transparent macht. Vielleicht rührt daher eine Offenheit, die nicht üblich ist in der Hauptstadt.

Die Gespräche für dieses Buch fanden im Sommer und Herbst 2012 statt. Als er sie in geschriebener Form noch einmal las, verlangte er nicht, Wichtiges wegzulassen oder Anderes plötzlich hinzuzufügen. Er schilderte und analysierte – und lieferte auf diese Weise das, was das Buch sein möchte: Erzählte Geschichte.

Stefan Braun, im Januar 2013

KAPITEL 1 Über gute und schlechte Politiker

Herr de Maizière, wozu braucht man einen wie Sie? Wozu braucht man Politiker?

Ich möchte, dass in diesem Land gewählte Politiker entscheiden und das letzte Wort haben, nicht die Wirtschaft, nicht das Geld, nicht der Adel. Ich bin also ein Anhänger vom Primat der Politik. Und dafür braucht man Politiker, die die Polis, das Gemeinwesen, organisieren. Die gibt es auf verschiedenen Ebenen. Das sind zum Beispiel ehrenamtliche Stadträte in einer kleinen Gemeinde, die einen ganz anderen Beruf haben. Dabei ist etwas sehr interessant: Als Berufspolitiker bezeichnet man oft und ein bisschen verächtlich diejenigen, die von der Politik leben. Gemeint ist nach meiner Auffassung aber etwas anderes. Gemeint sind die, die 100 Prozent ihrer Zeit in den Dienst der Politik stellen. Das ist der Ausgangspunkt. Und wenn sie das tun, dann sollen sie auch dafür bezahlt werden. Die Perspektive ist für mich also eine andere. Es geht darum, das Gemeinwesen zu organisieren. Und es geht darum, dass das gewählte Politiker tun.

Sie sagen: organisieren. Sie meinen: die Macht haben.

Auch. Es geht um die Frage, wer führt. Und zum Führen braucht man Macht. Ohne Macht geht es nicht. Ich halte deswegen auch die zum Teil in bürgerlichen Kreisen und in der deutschen Geistestradition weitverbreitete Verächtlichmachung von Macht für ganz verkehrt. Jede Institution, jede Firma, jede Organisation hat Machtstrukturen. Die sind oft informell und nicht geregelt und manchmal auch intransparent. Aber die Politik hat in der Demokratie transparente Machtregeln. Dagegen wird manchmal verstoßen, leider. Aber sie sind prinzipiell strukturiert und transparent in der Demokratie. Wenn eine Regierung abgewählt und eine neue Regierung gewählt wird, dann wollen die Bürger, dass sich etwas ändert. Dann muss die Politik – also die neue Regierung – auch die Macht haben, das zu tun. Sie muss das durchsetzen können. Demokratie braucht Macht.

Das Ansehen der Politik hat in den vergangenen Jahren kontinuierlich abgenommen. Man traut ihr nicht viel zu und misstraut ihrer Macht. Warum?

Es gibt zwei sich widersprechende Kritikpunkte in diesem Zusammenhang. Die eine Kritik lautet, die Politik sei längst machtlos geworden, die eigentlichen Strippenzieher seien die Banken, irgendwelche Märkte, Zeitgeistströmungen, Ratingagenturen, Medien, Umfragen. Alles Mögliche habe die Macht, nur die Politik nicht. Deshalb müsse die Politik endlich wieder in ihre Rechte gesetzt werden. Wir sollen uns dazu bemächtigen, das zu tun, was nötig wäre, um die Macht der anderen zu beschränken. Gleichzeitig wird der politischen Klasse, jedenfalls einem nicht unerheblichen Teil der politischen Klasse, wenig zugetraut. Wir seien nicht gut genug, wir könnten nicht regieren. Manche sagen, wir seien zu korrupt, zu anfällig, zu berufspolitisch und hätten zu wenig praktische Erfahrung. Sie sagen, wir seien zu faul, die Diäten seien zu hoch und so weiter und so fort. Und genau das passt nicht zusammen. Man kann nicht sagen, dass wir nichts können, und gleichzeitig verlangen, wir sollen es jetzt aber richten. Und deswegen habe ich mir seit einiger Zeit vorgenommen, die politische Klasse zu verteidigen.

Fällt Ihnen das nicht schwer, wenn immer wieder Affären vorkommen wie mit Karl-Theodor zu Guttenberg oder dem früheren Bundespräsidenten Christian Wulff?

Nein, das fällt mir nicht schwer. Es gibt in jeder Berufsgruppe, in jeder Gruppe Ausreißer in der einen oder anderen Richtung. Aber eine Verallgemeinerung zu Lasten der Politik – dagegen wehre ich mich massiv. Man kann nicht den ganzen Berufsstand schlechtmachen, weil es die eine oder andere Ausnahme gibt.

Was unterscheidet gute von schlechten Politikern? Gibt es für Sie da klare Kriterien?

Ja. Wenn ich eben gesagt habe, dass Demokratie Macht braucht, Führung auf Macht angewiesen ist, dann kommt als Nächstes die Frage, wofür man die Macht nutzt. Ein guter Politiker zeichnet sich dadurch aus, dass er etwas erreichen will und dafür Macht anstrebt, nutzt und verteidigt. Und wenn er sie verliert, demütig wieder abtritt. Einen schlechten Politiker interessiert nur die Macht oder der Einfluss oder die Position als solche, nicht aber das, was man damit macht. Ja, vielleicht will er damit gar nichts machen, hat vielleicht gar keinen inhaltlichen Ehrgeiz. Da liegt meines Erachtens ein zentraler Unterschied. Dazu gibt es Eigenschaften, die einfach Professionalität ausmachen. Man muss fleißig arbeiten können; man muss sich konzentrieren können; man muss zuhören können, stressfähig sein, verhandeln können. Wer nicht verhandeln kann, ist kein guter Politiker. Dazu muss man auch nachts fit bleiben können, in langen Sitzungen. Und man muss – ein sehr wichtiger Punkt – die Menschen mögen. Wer die Menschen nicht mag, wird kein guter Politiker. Viele von denen, die etwas können in der Gesellschaft, schreckt der Gedanke ab, in die Politik zu gehen, weil sie in Wahrheit die Menschen nicht mögen oder sich nicht mit Menschen umgeben wollen, von denen sie glauben, dass sie sie nicht mögen. Das gehört aber dazu: Man muss es aushalten können, dass es Menschen gibt, die einen nicht mögen – und mit denen man doch viel zu tun hat. Und schließlich gibt es Tugenden, die braucht man auch in der Politik, aber nicht nur da. Ich meine Tugenden wie Loyalität, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Anständigkeit. Ohne die geht es auch nicht.

Dürfen Politiker Angst vor der nächsten Wahl haben?

Ja. Es wäre unmenschlich, anderes zu verlangen. Aber die Angst darf nicht dazu führen, dass man nichts mehr tut. Das wäre schlecht. Dann sollte man es lassen.

Wie viel Kritik müssen Politiker aushalten können?

Ziemlich viel. Und das machen sich die meisten Menschen – die Wählerinnen und Wähler – nicht klar. Schüler schimpfen gnadenlos über den Lehrer. Dem Lehrer selbst gegenüber sagen sie das nicht. Mitarbeiter schimpfen oder loben oder tadeln den Chef, sagen es ihm aber nicht, und es steht nicht in der Zeitung. In der Politik ist es oft umgekehrt. Politiker werden meistens öffentlich übertrieben kritisiert und im Privaten übertrieben gelobt. Das ist eine schwer auszuhaltende Spannung, derer man sich als Politiker bewusst sein muss. Wenn man sich dessen nicht bewusst ist, hält man das übertriebene Lob für angemessen und die übertriebene Kritik für unverschämt. So leben viele Politiker in einem wahnwitzigen Wechselbad und müssen sehr stabil sein, um nicht die Bodenhaftung zu verlieren oder in Frust zu ertrinken. Sie müssen eigentlich zum Lob wie zur Kritik Distanz wahren, weil beides unangemessen ist. Deswegen muss man als Politiker Freunde pflegen, die einen nicht so viel loben, einen nicht übertrieben kritisieren, sondern einen ganz normal behandeln.

Was heißt das: normal behandeln?

Erstens, dass sie einen bei vermeintlichen Höhenflügen auf dem Teppich und in Phasen schärfster Kritik über Wasser halten. Wie echte Freunde eben. Und zweitens, dass die Frage, ob man gerade gut ist oder schlecht, ob man gut oder schlecht geredet hat, gut oder schlecht entschieden hat, gut oder schlecht aussieht, einfach keine Rolle spielt. In der Politik spielt diese Frage andauernd die Hauptrolle. Dauernd gibt es Umfragen, dauernd werten Journalisten, dauernd schauen Mitarbeiter auf die Sitzungsleitung – andauernd heißt es nur: Daumen hoch oder runter. Und ich gebe gerne zu, dass auch ich dauernd gut sein will, aber nicht dauernd gut bin. In einer echten Freundschaft spielt genau das keine Rolle. Es ist einfach kein Kriterium. Das ist wunderbar. Selbst wenn man über Politik redet, geht es nicht nach diesem Kriterium, und das ist sehr, sehr wichtig. Manche Medien oder andere, die sich öffentlich äußern, glauben dagegen offenbar, dass jede Art von Zurückhaltung, zivilisatorischer Zurückhaltung, die überall sonst üblich ist, nicht mehr gelten muss, wenn es um Politiker geht.

Sie wünschen sich mehr Schutz?

Mich stört einfach, dass öffentlich in einem Ausmaß Kritik geübt wird, wie man es außerhalb der Politik nicht kennt und nicht ertragen muss. Die Diskrepanz zwischen persönlichem Zuspruch und öffentlicher Kritik – sie ist in der Politik einzigartig und verwirrt auch. Politiker müssen eine quasi selbstverständliche Zurschaustellung erdulden. Sie müssen es aushalten, dass ihr Privatleben ausgeforscht wird. In Amerika geht es so weit, dass ein Präsidentschaftskandidat seine Blutwerte veröffentlichen muss, damit man glaubt, dass er gesund ist. Ehegeschichten. Was aus den Kindern wird. Einfach überall wird geforscht und nach Fehlern und Mängeln gesucht. Da haben wir die Maßstäbe verloren. Etwas weniger Lob und etwas weniger Kritik, jedenfalls in der Sprache, in der Tonlage – das wäre viel besser. Vor allem wäre es schöner, wenn die Kritik mehr aufs Politische bezogen wäre, nicht so sehr aufs Persönliche. Was ist alles über die Frisur der Bundeskanzlerin geschrieben worden? Oder auch über die angebliche Färbung der Haare ihres Vorgängers? Und das Gewicht von Helmut Kohl? Und ich weiß nicht was noch alles. An sich ist das alles unerhört oder sagen wir ungehörig. Warum schreibt man darüber? Man ist als Politiker doch nicht Objekt öffentlicher Zurschaustellung wie ein Zootier!

Der frühere Bundespräsident Horst Köhler hat von einem politisch-medialen Komplex in der Hauptstadt gesprochen, der ihm sehr missfallen hat. Die Wochenzeitung Die Zeit sprach nach dem Rücktritt von Köhlers Nachfolger Christian Wulff von einem Medienpranger. Leben Politiker inzwischen an einem Medienpranger?

So weit würde ich nicht gehen. Der Präsident des Bundesrates hält zu Beginn seiner Amtszeit immer eine Rede, und der Chef des Bundeskanzleramtes antwortet. Das habe ich mal zusammen mit Ole von Beust gemacht. Ole von Beust hat eine sehr kluge Rede gehalten. Er hat gesagt: »Wir haben geglaubt, wenn wir von Bonn nach Berlin ziehen, dann ziehen wir von einer diesem Land unangemessenen Provinz in das wirkliche Leben. Das ist Berlin.« Und dann hat er die Frage gestellt, ob wir heute, dreizehn, vierzehn Jahre nach dem Umzug, in Berlin nicht in einer viel künstlicheren Welt leben als in Bonn. Eine Welt, die sich sehr stark um sich selbst dreht. Soziologen sprechen von einem »selbstreferentiellen System«. An der Beobachtung ist etwas dran. Es gibt in Berlin eine Aufgeregtheit darüber, wer etwas zuerst gesagt hat. Ob einer mit einem Lob in Wahrheit einen besonderen Unterton verbindet, der vielleicht kritisch sein könnte. Ob dadurch, dass einer jemanden nicht lobt, er denjenigen in Wahrheit in die Tonne treten will. Es gibt ein merkwürdiges und unangenehmes und gefährliches »Aufeinanderbezogensein« von einem bestimmten Typus von Journalisten und einem bestimmten Typus von Politikern, die sich gegenseitig negativ befruchten.

Was meinen Sie damit genau?

Ich versuche es mit einem Beispiel: Da wird in einem so genannten Hintergrundgespräch etwas Negatives über einen anderen Politiker gesagt, vielleicht wird richtig über ihn hergezogen. Dann darf der Journalist das eigentlich nicht schreiben, aber in Wahrheit soll er es ein bisschen einfließen lassen in das, was er schreibt. Damit beide ein bisschen davon profitieren. Der Politiker, weil ein anderer Politiker schlechter dasteht. Und der Journalist, weil er etwas Exklusives bekommt. Das ist ein sich gegenseitig bestätigender Mechanismus des Wichtigseins. Für mich ist das aber nur eine Schein-Wichtigkeit! Ich habe, als ich schon eine Weile Chef des Kanzleramtes war, gesagt: »Ich begegne hier lauter Scheinriesen.« Der Scheinriese ist bei »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer« einer, der in der Wüste lebt – Turtur heißt er. Und vor dem fürchtet man sich von Weitem, weil er so groß aussieht und keine Freunde hat. Lukas, der Lokomotivführer, und Jim Knopf nähern sich ihm trotzdem und stellen fest, dass das in Wirklichkeit gar kein Riese ist, sondern ein armer, kleiner, zerbrechlicher, liebenswerter Mann, der keine Freunde hat, weil er von Weitem so groß aussieht. Das ist die Figur des Scheinriesen, und davon habe ich in Berlin ganz viele getroffen. Nicht nur in der Politik, sondern auch unter Lobbyisten, bei Leuten, die früher wichtig waren, bei Journalisten, bei Kulturleuten und so weiter und so fort. Doch was da in Berlin wichtig erscheint, hat schon in Potsdam und Magdeburg keine Wirkung mehr. Es interessiert die Menschen weithin nicht, und das gilt genauso für die Menschen in Hamburg, München, Stuttgart oder Dresden. Die Berliner Welt ist da völlig verrückt, und ich habe versucht, mich davon, so gut es eben geht, zu lösen.

Bräuchte Berlin einen Ehrenkodex?

Ja, mehr Distanz und eine klarere Rollenverteilung. Ich habe bis heute ein Problem damit, dass bestimmte Cheflobbyisten Mitglieder des Deutschen Bundestages sind. Das ist schon besser geworden, aber das gibt es immer noch. Außerdem finde ich, dass ein Regierungsmitglied nicht mit einem Journalisten betrunken im Straßengraben liegen sollte.

Haben Sie wirklich dieses Bild vor Augen?

Ich meine damit Folgendes: Es werden zu viele Handynummern ausgetauscht, es werden zu viele SMS geschickt. Wenn Nähe nichts ist, was ausnahmsweise erarbeitet wird, sondern die Nähe das scheinbar Selbstverständliche ist und Distanz herzustellen etwas Mühsames wird, dann ist die Welt nicht in Ordnung. Umgekehrt wäre es richtig. Es wird zu viel geduzt. Politiker und Journalisten sitzen zu viel in den gleichen Kneipen. Es wird zu sehr über die Performance und zu wenig über die Substanz geredet. Das gilt übrigens sicher für viele Hauptstädte. Das ist in Washington wohl auch so und in Paris und London ebenso. Allerdings ist in Deutschland etwas anders: Wir haben in der Stadt Berlin außerhalb der Politik sehr wenige Top-Positionen. Es gibt sehr wenige Vorstandsvorsitzende von wirklich großen Unternehmen. Auch die Verlage haben, bis auf Springer, ihre Chefs nicht in der Hauptstadt. Die Chefredakteure und Verleger der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sitzen nicht in Berlin. Für das ZDF und die ARD gilt das Gleiche. Das bedeutet, dass die zweite, dritte oder vierte Führungsebene dieser Medien in Berlin unangemessen großes Gewicht bekommt. Ähnliches gilt für die Wirtschaft. Auch das führt zu einem Teil dieser Verzerrungen im Umgang.

Stört Sie das aus Etikette-Gründen?

Ich glaube, wenn ein Wirtschaftsminister, ein Finanzminister, ein Kanzler häufiger mit dem Chefredakteur einer großen überregionalen Zeitung zusammenkämen und der Leiter der Politikredaktion dieser Zeitung dabeisäße, wäre die Distanz größer. Gleiches gilt für die Wirtschaft. Ich kann und will allerdings nicht mit Gewalt das Gegenteil herbeiführen. Das ist eben so, das ist unsere föderale Struktur. Ich beschreibe nur Arbeitsbedingungen und funktionale Zusammenhänge, so wie ich sie kritisch wahrnehme.

KAPITEL 2 Familie, Schule, Freunde, Kirche – Welt und Werte

Die Familie Thomas de Maizière entstammt einer preußisch-hugenottischen Familie, in der Bildung und Musik groß geschrieben werden. Er wird unter dem vollen Namen Karl Ernst Thomas de Maizière am 21. Januar 1954 als Kind von Ulrich und Eva de Maizière in Bonn geboren. Thomas de Maizière ist der Jüngste in der Familie, seine Geschwister Barbara, Cornelia und Andreas sind zum Teil deutlich älter. Seine älteste Schwester Barbara Pieper wird später Sozialwissenschaftlerin; Cornelia von Ilsemann wird Lehrerin und macht in der Bildungsverwaltung Karriere, und Andreas de Maizière wird Bankmanager. Die Familie wechselt wegen des Berufs des Vaters häufig ihr Zuhause. In den ersten Lebensjahren von Thomas de Maizière zieht sie mit nur kurzen Aufenthalten von Bonn nach Hannover, dann nach Koblenz, wenig später nach Hamburg und schließlich wieder zurück nach Bonn. Erst als Thomas de Maizière zehn Jahre alt ist, wird die Familie sesshaft; ihre Heimat wird Bonn, die damalige Hauptstadt am Rhein.

Seine Mutter Eva de Maizière, geb. Werner, entstammt einer großbürgerlichen Bankiersfamilie aus Hannover. Diese hatte einst mit kleinen Krediten für Bauern ihr Geschäft begonnen und daraus allmählich eine erfolgreiche Bank gemacht. Kunst und Musik spielten in dieser Familie eine große Rolle. Der Großvater gestattete seinen Kindern den Luxus eines »freien Jahres«, in dem sie nach dem Schulabschluss machen durften, was sie mochten, wie es in der Familie erzählt wird. Sie durften »die Welt sehen« oder auch einfach auf Studienreise durch Deutschland gehen. Eva wird Hauswirtschaftslehrerin. Als ihre Kinder allmählich das Haus verlassen, arbeitet sie als Malerin und Bildhauerin. Seine Großeltern mütterlicherseits erlebt Thomas de Maizière nicht mehr. Der Großvater erliegt 1940 einer schweren Krankheit; die Großmutter ist bei seiner Taufe noch dabei, stirbt aber im Dezmber 1956.

Sein Vater stammt aus der französischen Hugenottenfamilie Maizière, die im 17. Jahrhundert vor der großen Verfolgung aus Frankreich geflohen und in Brandenburg aufgenommen worden war. In der Familie de Maizière wird die Pflicht, dem Staat und dem Gemeinwohl zu dienen, zu einem prägenden Element – und zum Grundverständnis des Vaters Ulrich wie des Sohnes Thomas. Ulrich de Maizière wächst ohne Vater auf, spielt begeistert Klavier und macht in Hannover Abitur. Er tritt 1930 als Offiziersanwärter in die Reichswehr ein und steigt in den Jahren danach als Offizier in der Wehrmacht auf, bis er – nach mehreren Einsätzen an der Front – im Februar 1945 Generalstabsoffizier im Oberkommando des Heeres wird. In dieser Rolle nimmt er in den letzten Kriegswochen auch an Lagebesprechungen bei Adolf Hitler im Bunker der Reichskanzlei teil. Nach Kriegsende gerät er in britische Kriegsgefangenschaft; als er 1947 zu seiner Familie zurückkehrt, macht er, der eigentlich auch gerne Pianist geworden wäre, eine Ausbildung als Buch- und Musikalienhändler und arbeitet anschließend in einer Hannoveraner Buchhandlung. Dies ändert sich, als er kurz vor Weihnachten 1950 einen Brief des früheren Oberst Graf von Kielmansegg erhält. Beide kennen sich aus den Kriegsjahren und vertrauen einander. Nun will Kielmansegg ihn in die »Dienststelle Blank« nach Bonn holen. Diese soll nach dem Willen von Bundeskanzler Konrad Adenauer unter der Leitung des CDU-Politikers Theodor Blank den Aufbau der Bundeswehr vorbereiten. Nach der Gründung der Bundeswehr 1955 wird Ulrich de Maizière Oberst im Verteidigungsministerium und anschließend in kurzer Folge Kommandeur einer Brigade, Kommandeur der Schule für Innere Führung in Koblenz und dann Kommandeur der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. 1964 wird er Inspekteur des Heeres, zwei Jahre später Generalinspekteur. Er unterstützt die Einführung der Wehrpflicht und gilt als einer der »Väter« des Konzepts der Inneren Führung und des Staatsbürgers in Uniform. 1972 geht er in den Ruhestand.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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