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Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow: Die ganze Menschheit ist ihm zu Dank verpflichtet. Geboren: 07.09.1939 Rettung der Erde: 26.09.1983 Gestorben: 19.05.2017 Der Mensch ist ein Versuch Gottes oder der Natur. Dank der Entscheidung von Stanislaw Petrow geht dieser Versuch weiter. Hoffentlich noch ein paar hunderttausend Jahre lang. Deshalb gehört die Nacht seiner Entscheidung in jedes Geschichtsbuch.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Kein Atomkrieg
Wie ich Stanislaw Petrow kennenlernte
Kein Atomkrieg in englischer Sprache
Wie ich Stanislaw Petrow kennenlernte in englischer Sprache
Kein Atomkrieg in russischer Sprache
Wie ich Stanislaw Petrow kennenlernte in russischer Sprache
Bilder der Begegnungen mit Stanislaw Petrow und Michail Gorbatschow
Gedicht über Stanislaw Petrow
Weltweite Berichterstattung über den Tod von Stanislaw Petrow
Danksagungen
Über den Autor
Die beiden Männer, Stanislaw Petrow und Michail Gorbatschow kannten die Gefahren des Einsatzes atomarer Waffen genau. Beruflich mussten sie sich sehr intensiv mit Atomwaffen beschäftigen. Diese Waffen wurden in den Kriegen in Korea, Vietnam, Afghanistan oder Kaschmir nicht eingesetzt, da sie ihrer Bestimmung nach als Vergeltungswaffen gegen einen atomaren Angriff gedacht sind. Wer immer diese Waffen als erster einsetzt, setzt sich und seinem Volk unabsehbaren und langfristig kaum beherrschbaren Folgeschäden aus. Während seines zwei wöchentlichen Aufenthalts in Deutschland hat mir Stanislaw Petrow die militärischen Befehlsstrukturen und Befehlsketten der atomaren Abwehr beschrieben, bis zu den finalen Code Freigaben. Der Einsatz atomarer Waffen verbietet sich auch aus militärischer Sicht. Zum einen besteht kein Militär weltweit aus Selbstmördern und im Militärrecht gibt es das Recht der Verweigerung von Befehlen, die offenkundig rechtswidrig sind. Während meiner 5 oder 6 Besuche in Russland habe ich eine Vielzahl von Menschen getroffen, die ich ohne Ausnahme als äußerst sympathisch kennengelernt habe. Nie hat mich jemand auf die Verbrechen der Hitler Armeen in Russland angesprochen oder mich gar als deutscher Nachfahre moralisch mitverantwortlich gemacht. Niemand weiß besser als wir Deutschen, welches Elend, Unglück, Leid und Tod der Geist des Nationalismus über unser Volk und andere Völker gebracht hat. Erst als dieser Geist des Nationalismus überwunden war, konnten sich die positiven Kräfte Deutschlands voll und ganz auf die Wirtschaftsentwicklung konzentrieren. Das Ergebnis war großer Wohlstand für alle Bürger Deutschlands und begründet bis heute unser großes Ansehen in der Weltgemeinschaft. Eine solche Entwicklung des Wohlstandes ist wegen der Größe des Landes, der vielfältigen Bodenschätze und der qualifizierten Bildung der Bevölkerung auch für alle Bürger Russlands möglich. Und ein weiteres Ansehen und Selbstwertgefühl Russlands als Großmacht in der Weltgemeinschaft wäre damit auch verbunden. Dieses Selbstwertgefühl – nicht wesentlich auf den Besitz riesiger Arsenale von Atomwaffen begründet- würde sich auf eigene Leistungen beziehen und hätte damit einen unermesslichen Wert für die Zukunft. Auch China begründet seine heutige Position als Weltmacht nicht im Wesentlichen auf seinen Status als Atommacht, sondern auf die Erfolge seiner wirtschaftlichen Entwicklung. Ich bin sicher, dass Stanislaw Petrow und Michail Gorbatschow wie alle vernünftig denkenden und handelnden Menschen einen Ersteinsatz von Atomwaffen als nur einem unzurechnungsfähigen Geist entsprungen betrachtet hätten. Ich bin deshalb so sicher, weil ich diese beiden Männer persönlich kennengelernt habe.
Wie ich diese beiden Männer traf und mich bei ihnen bedankte.
Es war mir nicht an der Wiege gesungen worden, dass ich einmal in meinem Leben derartige weltgeschichtliche Männer kennenlernen sollte. Im März 1951 in Oberhausen im Ruhrgebiet als Sohn sehr junger Eltern geboren. Der Schutt des Zweiten Weltkrieges war beseitigt. Infolge der vielen zerstörten Häuser und der zahlreichen Flüchtlinge bestand große Wohnungsnot. Und wer eine Wohnung hatte, heizte mit Kohlen. Das Plumpsklo hinter den Häusern wurde bei Tag und Nacht -auch im Winter-genutzt, da es noch keinen Anschluss an das öffentliche Kanalnetz gab. Die Kinder wurden samstags in einer Zinkwanne gewaschen. In diese Welt wurde ich geboren mit einer schweren Behinderung – vergleichbar mit der damals grassierenden Kinderlähmung. 10 Operationen waren nötig, um mich vor einem Leben im Rollstuhl zu bewahren. Krankheitsbedingt wurde ich erst mit 7 Jahren eingeschult, und meine Mutter hat mich nach einer Operation monatelang in die Schule getragen. Meine Eltern haben mich nach der Grundschulzeit nur deshalb aufs Gymnasium angemeldet, weil sie der Meinung waren: Der Junge braucht später einen Beruf im Sitzen. Kurz vorher war das Schulgeld abgeschafft worden, so dass auch Kinder von Bergleuten und kleinen Gewerbetreibenden weiterführende Schulen besuchen konnten. Nach einer Aufnahmeprüfung konnte ich deshalb das Gymnasium besuchen. Es war eine Zeit, in der ein normaler Arbeiter nicht davon geträumt hat, jemals ein Auto zu besitzen. In diese Zeit fiel auch das atomare Aufrüsten der Supermächte USA und Russland, der Bau der Mauer zwischen der DDR und Bundesrepublik und die Kuba-Krise. Der Kalte Krieg war voll entbrannt, so dass in meinem Abiturjahrgang 1971 die einhellige Meinung bestand: „In diese Welt kann man kein Kind setzen. Der 20-fache Overkill der Supermächte führt unweigerlich zum Atomkrieg.“ Kaum auszudenken, es wären seit 1971 keine Kinder geboren worden. Eine Welt ohne Menschen unter 53 Jahren. Rentenprobleme gäbe es nicht mehr, weil es keine Rentner mehr gäbe. Kindergärten, Schulen und Universitäten wären überflüssig. Eine Gesellschaft, die aus Angst vor dem Atomtod Selbstmord begangen hätte.
Nach dem Abitur nahm ich ein Studium der Rechtswissenschaften in Münster auf. Im 9.Semester nahm sich mein Vater im Alter von 46 Jahren aus Angst vor dem Tod durch einen Herzinfarkt das Leben. Meine Mutter war unversorgt. Ich gab das Studium auf und führte das Geschäft meines Vaters als 1 Mann-Betrieb fort. Das Beerdigungsinstitut lag am Boden, da ein Suizid zur damaligen Zeit geächtet war. Aber es gab auch noch den kleinen Kohlenhandel. Das Sortiment war überschaubar. Nusskohle, Anthrazit, Eierkohlen, Briketts und Koks. Ich erinnere mich an eine Begegnung mit zwei 14-jährigen Jugendlichen, als ich gerade schwarz von Kohlenstaub einen Sack mit Koks auf dem Rücken in einen Keller trug. Einer sagte zu dem anderen auf mich zeigend: „Guck mal, so kann man enden, wenn man in der Schule nichts lernt.“ Aber vielleicht bin ich auch ein Beispiel dafür, dass auch ein abgebrochener Student noch ein erfülltes Leben haben kann, wenn er das Glück hat, im „richtigen Leben“ zu leben. In diese Zeit fiel die neue Ostpolitik von Willy Brandt. Aber der Kalte Krieg mit aberwitzigen atomaren Aufrüstungen ging unvermindert weiter. Jeder wusste, dass es Waffen gab, die tatsächlich die Zerstörungskraft hatten, um unsere Erde vollständig vernichten zu können. Die Entdeckung und Produktion von Atomwaffen in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatte diese Voraussetzungen geschaffen. Zudem kam, dass diese Atombomben nicht nur per Flugzeug wie am Ende des Zweiten Weltkrieges über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen werden konnten. Inzwischen war es möglich Raketen über Kontinente hinweg von jedem Ort der Welt aus Bunkern, Flugzeugen, von Schiffen und aus U-Booten mit Atomwaffen auf andere Länder zu richten. Und wenn es jetzt noch zwei Weltmächte mit diesem Arsenal an Waffen gab, und diese Weltmächte den Einsatz dieser Erd-vernichtungsfähigen Waffen nicht ausschließen, dann kann sich eine Situation wie in der Nacht vom 26.09.1983 ergeben, in der ein Mann zum Vernichter oder Retter unserer bekannten Welt werden kann.
Die Nacht vom 26.09.1983
Die Nachtschicht vom 26.091983 begann wie immer. Eigentlich hatte Stanislaw Petrow dienstfrei. Aber ein Kollege hatte sich krankgemeldet und Stanislaw Petrow sprang ein. Er war am 07.09.1939 geboren. 44 Jahre alt und im Range eines Oberstleutnants, obwohl er kein direkter Angehöriger des sowjetischen Militärs war.
1953 hatten ihn die Eltern, denen das Geld für die Ausbildung eines zweiten Sohnes fehlte, im Alter von 14 Jahren zur Ausbildung in die Obhut des Militärs gegeben. Dies lag nahe da der Vater selbst Militärpilot gewesen war. Bereits als Jugendlicher war Stanislaw Petrow fasziniert vom Weltraum. Dieses Interesse verließ ihn sein Leben lang nicht. Sogar im Alter von über 70 Jahren ließ ihn diese Faszination nicht los und er blickte täglich versonnen in den Luftraum über sich. Dieses Interesse müssen seine Ausbilder erkannt und gefördert haben, denn sie ermöglichten ihm eine Ausbildung in Ingenieurswissenschaften. Es traf sich, dass er bei der Entwicklung des sowjetischen Atomwaffenprogramms und den dazugehörenden Raketenträgern von Beginn an dabei war. Auch an der Entwicklung der Computerprogramme war er nicht nur beteiligt, sondern hatte sie auch wesentlich mitentworfen und die Handbücher dazu geschrieben. Er kannte alle Systeme in- und auswendig. Im Jahre 1983 arbeitete er als Chefanalytiker im russischen Raketenfrühwarnzentrum Serpuchow 15 und galt bei allen Offizieren und Vorgesetzten als anerkannte Autorität in seinem Arbeitsbereich. Der Sitz des russischen Raketenfrühwarnzentrums und das in der Nähe befindliche Zentrum für die Auslösung des atomaren Gegenschlags war strengstes Staatsgeheimnis. Sie befanden sich südlich von Moskau und waren auf keiner Landkarte eingezeichnet. Die Armeeangehörigen lebten mit ihren Familien samt Schulen, Kindergärten, ärztlicher Versorgung und Lebensmittelmärkten hermetisch abgeriegelt auf diesem Militärgelände mitten im Wald. Die Vorschriften der Geheimhaltung beinhalteten die Verpflichtung aller Militärangehörigen insbesondere der Offiziere zu strengstem Schweigen über ihre speziellen und konkreten Tätigkeiten und Aufgaben. Diese Verpflichtung hatten alle Beschäftigten unterschrieben, und die Verpflichtung galt zeitlich unbeschränkt. Auch gegenüber ihren Familienangehörigen galt dieses Verschwiegenheitsgebot. Bei Verstößen unterlagen sie der geheimen Militärgerichtsbarkeit, und es drohten drakonische Strafen, die auch die Todesstrafe in ernsten Fällen einschloss. Stanislaw Petrow verabschiedete sich am Abend des 26.09.1983 von seiner Frau und den zwei Kindern, um seine Arbeit als Leiter des Raketenfrühwarnzentrums aufzunehmen. Niemand in der Familie kannte sein genaues Aufgabengebiet. Und weder er noch seine Familie ahnten, wie sehr die kommende Nacht das Leben von Millionen Menschen gefährden und ihr Leben verändern würde. Der Beginn der Nachtschicht zum 27.09.1983 zeigte keine Besonderheiten. Eine Schicht, wie es sie seit Jahren ohne Besonderheiten gegeben hatte – immer durch Routinearbeiten geprägt. Ein striktes Protokoll regelte jeden Aufgabenbereich, jede Handlungsanweisung bis ins kleinste Detail. Stanislav Petrow befehligte ca. 200 Militärangehörige mit einer Vielzahl im Rang von Offizieren. Es war ruhig, und alle Systeme arbeiteten korrekt. Einige Tage vorher hatte es ein technisches Problem minderer Bedeutung gegeben. Es war schnell erkannt und umgehend behoben worden. Nichts deutete auf Störungen oder Probleme für die kommende Nacht hin. Plötzlich, um 00.15 Uhr, mitten in der Nacht, wie aus dem Nichts, der Schock. Sirenen schrillten. Das Computerbild zeigte in leuchtenden Farben „START“! Ein Schrecken ergriff alle. Der Alarm zeigte, dass die Amerikaner den Abschuss einer atomaren Rakete in Richtung Russland gestartet hatten. Der eigentlich nicht für möglich gehaltene Ernstfall war da. Die Amerikaner griffen an. Mit dem Ziel, die Sowjetunion zu vernichten. Petrow sah, was der Computer meldete. In Montana war eine Minuteman-Rakete gestartet worden. In weniger als 30 Minuten würde sie auf russischem Gebiet einschlagen. Petrow sah in die panisch erschrockenen Gesichter aller Mitarbeiter. Später beschrieb er, was er dachte, was er fühlte und wie er handelte. Er sah, dass die Mitarbeiter von ihren Stühlen aufgesprungen waren, herumliefen und sich verwirrt anstarrten. Nach Sekunden der Schreck Starre wurde er aktiv. Er griff zum Mikrofon und befahl in strengem Tonfall, ihre Positionen einzunehmen und ihre Arbeit weiterzuführen. Dann griff er zum Telefon und stellte die Verbindung zum Experten der Satelliten Überwachung her. Er fragte, ob die Bilder der Satelliten Überwachung den Start der Rakete bestätigen könnten. Die Information, die er erhielt, war nicht wirklich hilfreich. Eine Wolkenformation verhinderte den Blick auf die amerikanischen Raketensilos, so dass der Start der Rakete weder ausgeschlossen noch bestätigt werden konnte. Er dachte nach. Es gab keine Fakten. Aber in seiner langjährigen Ausbildung war er immer mehr unterrichtet worden, dass ein amerikanischer Angriff mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer größeren Anzahl von Raketen erfolgen würde, um die Möglichkeiten des russischen Gegenschlages auszuschalten. Er erinnerte sich an das russische Sprichwort: „Niemand leert einen Wassereimer mit einem Teelöffel!“ Gemäß dem Protokoll griff er zum Telefon und meldete „vermutlich Fehlalarm“. Kaum, dass er den Telefonhörer aus der Hand gelegt hatte, schrillten die Sirenen erneut, und der Computer zeigte den Start einer zweiten Rakete mit der todbringenden Atomkraft an Bord an. Das Entsetzen wurde größer und erfasste alle Soldaten und Offiziere, die in dem Frühwarnzentrum arbeiteten. Stanislaw Petrow ließ sich davon nicht anstecken. Wieder forderte er im Befehlston alle auf, ihre Arbeitsposition nicht zu verlassen und ihre Arbeit fortzusetzen. Niemals hat er erklärt, dass er in diesem Augenblick an das gefährdete Leben seiner Frau und seiner Kinder gedacht hätte. Solche Emotionen ließ er nicht zu. Er konzentrierte sich voll auf seine Arbeiten, seine Funktion, seine Aufgabe. Abermals griff er zum Hörer, um das erneute Lagebild der Satelliten zu erfragen. Die Auskunft, die er erhielt, half ihm wieder nicht weiter. Das wolkenverhangene Gebiet ließ keine Erkenntnisse zu. Dann das Nerven zerreißende Geschehen. Die Sirenen schrillten und schrillten und schrillten. Die Computer meldeten den Abschuss einer dritten, vierten und fünften Rakete im Anflug auf die Sowjetunion. Nun erfasste auch Stanislaw Petrow ein Zweifel, ob die gemeldete Analyse „vermutlich Fehlalarm“ den Tatsachen entsprach. Er wusste, dass es in den USA in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt drei Fehlalarme gegeben hatte, die aber nach ein oder zwei Minuten als Fehlalarme erkannt werden konnten. In der UDSSR hatte es allerdings in derselben Zeit den vergangenen Jahrzehnten nicht einen einzigen Fehlalarm der Systeme gegeben. Aber er erkannte die selbst mitaufgebauten Systeme nur zu genau und hielt auch Fehlerquellen im System „OKO“ nicht für gänzlich ausgeschlossen. Was tun? Was konnte oder sollte er tun? Ihm war wie allen Offizieren die angespannte Weltlage zur damaligen Zeit sehr präsent. Der „Kalte Krieg“ war in eine heiße Phase getreten. Drei Wochen zuvor war eine Boeing des Korean Airlines Flug 007 auf dem Weg von Amerika nach Südkorea über dem offenen Meer von einem sowjetischen Jagdflugzeug abgeschossen worden. Das Passagierflugzeug war ohne Genehmigung weit in den russischen Luftraum eingedrungen. 269 Passagiere und Besatzungsmitglieder fanden den Tod. Darunter auch ein Kongressabgeordneter der USA. Zu glauben, die Entscheidung zum Abschuss dieses Verkehrsflugzeuges wäre ohne Zustimmung des damaligen Generalsekretärs der UDSSR, Juri Andropow, erfolgt, kann als unwahrscheinlich betrachtet werden. Niemand anderes dürfte es gewagt haben, die Entscheidungshoheit bei dieser Tragweite an sich zu reißen. Und Jri Andropow, der zu diesem Zeitpunkt auch das Amt des Staatspräsidenten der UDSSR innehatte, hätte die Entscheidungshoheit in dieser geopolitischen Lage nicht delegiert. Der damalige Präsident der USA, Ronald Reagan, bezeichnete den vorsätzlichen Abschuss des Flugzeuges als einen barbarischen Akt und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das niemals vergessen werden dürfe. Bereits 6 Monate vorher hatte Reagan die Sowjetunion als „Reich des Bösen“ bezeichnet. Mit diesen Worten und dem Abschuss des Zivilflugzeuges steuerte der „Kalte Krieg“ auf einen Siedepunkt zu. Juri Andropow hatte allen Ernstes in internen Kreisen verkündet, dass er mit einem Überraschungsangriff „Barbarossa“ (wie der damalige Überraschungsangriff Hitlers auf die UDSSR bezeichnet wurde) der Amerikaner auf die Sowjetunion rechne. Diese Befürchtungen Andropows waren auch Stanislaw Petrow bekannt. Und jetzt zeigten die Computer den Angriff amerikanischer Raketen an. Alle Augen waren auf Stanislaw Petrow gerichtet. Es musste eine Entscheidung getroffen werden. Und zwar in kürzester Zeit. Er dachte nach. Die erste Meldung eines Raketenangriffs hatte er als „vermutlich Fehlalarm“ gemeldet. Jetzt, nach den im Minutenabstand unter Sirenenlärm gemeldeten vier weiteren Alarmmeldungen, war er unsicher geworden, ob seine Analyse „vermutlich Fehlalarm“ richtig gewesen war. Die einhellige Ansicht, die er in jahrelangem Drill gelernt hatte: Ein amerikanischer Angriff würde mit einer Armada von Atomraketen beginnen, konnte falsch sein. Vielleicht waren zunächst 5 Raketen gestartet worden, um vorab einen Enthauptungsschlag vorzunehmen, d.h. die sowjetischen Kommandozentralen zu vernichten, um die Möglichkeit eines nuklearen Gegenschlags zu verhindern. Gemäß dem vorgegebenen Protokoll war er verpflichtet, die Computermeldungen weiterzugeben. Seine vorherige Analyse „vermutlich Fehlalarm“ konnte er nicht weitergeben, da er davon nicht mehr gänzlich überzeugt war. Aber er war überzeugt, dass bei Meldung der angezeigten weiteren Starts von vier Raketen seine Meldung von niemandem mehr hinterfragt worden wäre und der manisch misstrauische Andropow den russischen Atomgegenschlag befohlen hätte. Es war bekannt, dass Juri Andropow – einer der Organisatoren der gegen Deutschland kämpfenden karelischen Partisanenbewegung – bereits einmal einen urplötzlichen Angriff über Nacht auf sein Land erlebt hatte. Nämlich, dass der „Hitler-Stalin-Pakt“ oder wie der Vertrag im Russischen hieß „Molotow-Ribbentrop-Pakt“ am 22.06.1941 von jetzt auf gleich gebrochen wurde, und der Überraschungsangriff von Hitler auf die Sowjetunion begann. Juri Andropow war früher langjähriger Chef des russischen Geheimdienstes KGB gewesen und rechnete tatsächlich mit einem bevorstehenden Angriff des Westens auf die Sowjetunion. Deshalb waren die russischen Geheimagenten beauftragt, die Fenster einschlägiger Behörden und Institutionen im Westen nach Einbruch der Dunkelheit zu beobachten und Tätigkeiten, die auf Überstunden hindeuteten, nach Moskau zu melden. So wollte man auf Vorbereitungen eines Angriffs gegen die Sowjetunion schließen. In dieser hoch nervösen Zeit der Kremlführung fand die Nacht vom 26.09.1983 statt. Stanislaw Petrow hat später seine Entscheidung, die Starts der weiteren Raketenangriffe nicht protokollgemäß weiterzugeben, als „fifty to fifty“ - Entscheidung beschrieben. Entscheidend für ihn war, wie er es später einmal formulierte: „Ich wollte nicht für den Dritten Weltkrieg verantwortlich sein.“ Er kannte die russischen und auch die amerikanischen Analysen. Diese Berechnungen erwarteten im ersten Schlag in den USA und in der UDSSR den Tod der halben Bevölkerung. Und mit der zweiten Welle den Tod der gesamten Bevölkerung in beiden Ländern. In Kürze wäre 1 Milliarde Menschen getötet worden. Und in der Folge hätte kein Mensch auf der Erde überleben können. Seine Gefühle in den nächsten Minuten beschrieb er wie folgt: „Ich fühlte mich wie auf dem Weg nach Golgatha.“ Ein Vergleich wie der Gründer des Christentums sich auf dem Weg zu seiner Hinrichtungsstätte auf dem Hügel Golgatha gefühlt haben musste. Vergleichbare Gefühle können nur Verurteilte haben, die bewusst erleben, wie sie kurz vor ihrer Exekution stehen. Nach Minuten, die einer gefühlten Ewigkeit entsprachen, die Erlösung. Die Radarsysteme, die den Anflug der Rakete eine Minute vor dem Aufschlag auf russischem Gebiet angezeigt hätte, zeigten keine anfliegende Rakete an. Der Angriff der Amerikaner mit Atomwaffen fand nicht statt. Die Erleichterung bei allen, die die letzten Minuten erlebt hatten, war grenzenlos. Sie hatten überlebt und wieder ein Leben vor sich. Jubel brach aus. Wieder war es Stanislaw Petrow, der das Chaos der Freude nicht zuließ und alle streng aufforderte, ihre Arbeitsplätze einzunehmen und ihre Arbeit protokollgemäß fortzusetzen. Gegen Ende dieser Nachtschicht, am frühen Morgen des 27.09.1983, suchte ihn der diensthabende Befehlshaber der operativen Abteilung auf. Der Mann, der bei einer anderen Entscheidung Petrows den Abschuss der russischen Atomraketen auf Amerika hätte auslösen müssen. Beide Männer waren überwältigt von den Geschehnissen der vergangenen Nacht und dem Glück, diese Nacht überlebt zu haben. Sie umarmten sich lange und leerten gemeinsam eine oder mehrere Flaschen Wodka. Die Nerven von Stanislaw Petrow waren derart strapaziert worden, dass er in der Folge in einen 28-stündigen Schlaf fiel.
KEINE EHRUNG KEINE ANERKENNUNG
Die folgenden Untersuchungen über die Ursachen für die falschen Computermeldungen führten zu keinen zweifelsfreien Ergebnissen. Am wahrscheinlichsten wurde angenommen, dass die Computer erste Strahlen der aufsteigenden Sonne während der sogenannten Tag-Nacht-Gleiche als Raketenstarts werteten. Stanislaw Petrow hatte den Dritten Weltkrieg verhindert. Dieser Meinung waren alle, die diese Nacht miterlebt hatten. Sie schätzten seinen Verdienst so hoch ein, dass sie glaubten, nun würden als Dank Straßen, Häuser oder Einrichtungen nach ihm benannt werden. Aber dieser Euphorie stand die Staatsräson im Wege. Die erwiesene Fehleranfälligkeit der sowjetischen Atomabwehrsysteme durfte der Öffentlichkeit und damit der eigenen Bevölkerung, und insbesondere dem Feind, nicht bekannt werden. So überrascht es nicht, dass das russische Militär und die russische Regierung bis heute nicht öffentlich zugeben, in welcher realen Gefahr ihre Bevölkerung in dieser Nacht war. Dies könnte im umgekehrten Fall auch das amerikanische Militär und die amerikanische Administration nicht öffentlich zugeben. Das Erschrecken in der Bevölkerung wäre zu groß und der Glaube, dass Atomwaffen Sicherheit bieten, wäre dahin. Lobbyisten der Atomwaffenproduktion streuen auch gerne Zweifel daran, dass der Tod von Milliarden Menschen nahe war, ohne nachvollziehbare Fakten zu nennen. Das Schweigen aller, die Kenntnis von den Geschehnissen dieser Nacht hatten, war durch die Verschwiegenheitsverpflichtung gewährleistet. Aber wie mit dem Mann umgehen, der ein solches Ansehen und einen solchen Ruf wie Donnerhall im gesamten beteiligten Militärbereich gewonnen hatte. Eine Diskussion über die Verantwortung für die fehlerhaften Systeme musste verhindert werden. Ein Bauernopfer musste her. Ein hochnotpeinliches Verhör fand statt. Ein Verstoß gegen die Protokollvorschriften wurde Stanislaw Petrow vorgehalten. Er hätte jede Handlungsanweisung an die anderen Mitarbeiter schriftlich festhalten müssen. Stanislaw Petrow verteidigte sich mit den Worten „Dafür hätte ich eine dritte Hand gebraucht und die hatte ich nicht“. Dem hatte der Verhörende nichts entgegenzusetzen, denn die Unterlassung einer objektiv unmöglichen Handlung konnte ihm nicht wirklich vorgeworfen werden. Dann wurde ihm der Vorschlag unterbreitet, in das Protokoll einige Ergänzungen aufzunehmen. Stanislaw Petrow erkannte die Gefahr, die in diesem vergifteten Ansinnen lag. Er lehnte eine nachträgliche Änderung des Protokolls mit den Worten ab: „Dies wäre eine Urkundenfälschung. Und gegen jede Protokollvorschrift. Das mache ich nicht.“ Als Folge blieb übrig, dass ein Verweis ohne rechtliche Wirkung in seine Personalakte aufgenommen wurde. Er wurde ohne Änderung seines Ranges oder seiner Bezüge in einen mehr administrativen Bereich versetzt. Er wurde unter Druck gesetzt. Heute würde man es als Mobbing bezeichnen. Schließlich beantragte er, aus der Armee auszuscheiden. Fast 30 Jahre in der Armee, davon die meisten Jahre in Eliteeinheiten mit hohen Ordensauszeichnungen, waren an ihr Ende gekommen. So wurde dieser Mann auf elegante Weise kaltgestellt. Ohne Aussicht auf eine Beförderung oder einen weiteren Aufstieg seiner Karriere verbrachte er noch einige Jahre als Zivilist auf einem unbedeutenden Posten des industriellen militärischen Bereiches bis zu seinem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben. Später hat Stanislaw Petrow den Umgang mit ihm auf drastische Art beschrieben: „Es gibt ein russisches Sprichwort das besagt “ Der höher fliegende Vogel kackt dem unter ihm fliegendem Vogel auf den Kopf.“ Als Pensionär erhielt er eine Wohnung in Frjasino und pflegte seine an Krebs erkrankte Frau bis zu ihrem Tod. Und ich lebte zu dieser Zeit - wie auch heute noch- 300 bis 400 Meter Luftlinie entfernt von der ehemaligen Gute-Hoffnungshütte, einem der führenden Stahl- und Maschinenbaukonzerne Europas in Oberhausen-Sterkrade. Ich war mir sicher, dass im Ernstfall eine russische Atomrakete auf dieses Industriewerk gerichtet war. Eine Rakete auf den Kölner Dom oder die Lüneburger Heide zu werfen, macht ja auch weniger Sinn. Mein ganzes Leben stand im Zeichen des Kalten Krieges und ich stellte mir, wenn ich auf meinem Hof stand und nach oben in den Himmel blickte, immer vor, dass eine Rakete, im Falle eines Atomkrieges, die auf die Gute-Hoffnungshütte gerichtet war und sich um 200 Meter verirrt oder nicht treffsicher genug war, exakt über meinem Hof explodierte und ich für vielleicht eine halbe Sekunde den Atompilz sehen würde, Und dass jedes Leben für mich und meine Familie vernichtet würde. Ich gehörte zu einer Generation, die einen Atomkrieg für durchaus möglich hielt. Im Gegensatz zur Wiedervereinigung Deutschlands, die wir für das nächste Jahrhundert für ausgeschlossen hielten. Ähnlich wie die Möglichkeit, dass der Papst in Rom in absehbarer Zeit heiraten würde.
Der Bericht in der Bildzeitung