Darf ich vorstellen: Legasthenie - Fiona Coors - E-Book

Darf ich vorstellen: Legasthenie E-Book

Fiona Coors

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Beschreibung

Fiona Coors ist vor allem bekannt als Hauptkommissarin Kerstin Klar in "Der Staatsanwalt" im ZDF. In ihrem ehrlichen und lebensbejahenden Buch outet sich die Schauspielerin als Legasthenikerin. Sie beschreibt auf berührende Art und Weise ihre wichtigsten persönlichen Lebensstationen als individuellen Weg voller innerer Stärke, intuitiver Kraft, authentischer, neugieriger Lebendigkeit. Darüber hinaus beleuchtet sie die ihr wichtig gewordenen Werte- und Sinnfragen, vor denen wir alle im Leben stehen, und plädiert für eine spirituelle Lebensdeutung, in einer liebevollen, achtsamen Art des wertschätzenden Umgangs miteinander.

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Ihr Kamphausen Media-Team

FIONA COORS

MitStefan Rieß

Darf ich vorstellen:Legasthenie

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© 2022 Kamphausen Media GmbH, Bielefeld

[email protected], www.kamphausen.media

Lektorat: Nicole Mahne

Gesamtgestaltung und Satz: Tina Agard Grafik und Buchdesign, Esslingen am Neckar, www.tina-agard.de

Coverfoto: © Mirjam Knickriem

Fotos im Buch: © privat

Typo-Grafiken: © iStockphoto: Andrei Kisliak

ISBN Print: 978-3-95883-591-7

ISBN eBook: 978-3-95883-592-4

1. Auflage 2022

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

Die Verwendung dieses Buches ist für den privaten Gebrauch gedacht und nicht zur Gewinnerzielungsabsicht Dritter (in der Öffentlichkeit).

Die Rechte an jeglicher öffentlichen Nutzung der Rituale liegen bei Verlag und Autorin. Holen Sie sich ggf. bitte die Nutzungsrechte ein.

INHALT

Prolog

TEIL 1: BIOGRAFISCHES

MÄDCHEN IN BREDOUILLE

Das fehlende Echo

Englische Fee, Berliner Schnauze

Schwanensee

Märchen von A bis Z

Platzwunden

Showtime

LEGAS-TEENIE

Liebe und andere Peinlichkeiten

Donald Duck

Mutterseelenallein

Girls just want to have fun

Sprung ins kalte Wasser

REIFEPRÜFUNG

Nesthäkchen

Jobben

Schattenseiten

Schock

ABSCHIED UND AUFBLÜHEN

Mother Ocean

Bedingungslos

Igor und die Kartoffelgruppe

Begräbnis reloaded

Bonuspaket

ALLES SUTSCHE, ODER WAS?

Klein-Esalen

Erfüllung mit Hindernissen

Ambrosische Stunden

Am Set

Himalaya

TEIL 2: PRAKTISCHES

DIE TOOLBOX

Vorwort

Just do it

Body Emo Mind – BEM

Natur – der Tempel

Zuhören

Wertschätzung

Catch a breath

Freundlichkeit

Lady Tea

Let’s go crazy

Lampenfieber

Panther-Modus

Bauchgefühl

Der Radar

Blindwalks

Augenblicke

Lauschen

Orange

Extended heart

Schnupper dich durch

Einmal im Jahr

Bühne ist überall

Sweat

Fifteen minutes a day

Geht auch ohne

Nagelbrett

Die Eiskönigin

Milch & Honig

Danksagung

Sammelsurium

Diagnostisches

PROLOG

Vor drei Jahren – ich war zur Berlinale in die Hauptstadt gereist – ging ich am Freitagabend durch die Straßen zu irgendeinem „glamourösen“ Schauspieler:innen-Empfang. Es war Februar, ich fröstelte. Plötzlich fiel mein Blick durch ein Fenster im Parterre auf einen Flatscreen und ich sah mich dort selbst. Eigentlich sollte mich das nicht überraschen, ich war häufig im Fernsehen zu sehen. Trotzdem war ich für ein paar Momente verdutzt und hielt inne. Ich war gleichzeitig vor und hinter der Scheibe. Als Kommissarin war ich gerade dabei, einen Verdächtigen zu verhören, der versuchte, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Ich wurde neugierig, wer da wohl in seinem Wohnzimmer saß und „Der Staatsanwalt“ im ZDF schaute. Ich fantasierte, wie es wohl wäre, einfach zu klingeln. Die mir bis dahin unbekannten Menschen würden öffnen und die Kommissarin, die im Wohnzimmer immer noch ermittelte, würde plötzlich in Abendgarderobe vor ihnen stehen. Ich hätte beim Späti nebenan kurz Bier und Chips besorgt, um nicht mit leeren Händen dazustehen. Ich malte mir aus, wie es wäre, wenn sie mich hereinbitten würden für einen gemeinsamen Fernsehabend. Der Empfang könnte warten. Wir würden uns kennenlernen, plaudern, miteinander lachen.

Die Kälte erinnerte mich daran, dass es an der Zeit war, meiner blühenden Fantasie nicht weiter nachzuhängen. Ich verabschiedete mich von meinem Fernsehselbst und machte mich wieder auf meinen Weg durch das nächtliche Berlin. Der kleine gedankliche Ausflug hinterließ ein gutes und warmes Gefühl in mir. Begegnungen waren mir in meinem Leben seit jeher das Wichtigste gewesen. Die Liebe für echten Kontakt war meinen Wegen stets ein Leitstern, schon immer war ich an den Geschichten von Menschen interessiert.

Meine Geschichte tritt in der Öffentlichkeit meist hinter meinen Rollen zurück. Ich werde gesehen als die toughe Kommissarin, auch mal als die verschlagene Kriminelle oder die aus einer „Katie Fforde“-Verfilmung.

Wenn ich von Leuten erkannt werde, irgendwo in der Öffentlichkeit, ist das meistens ein ziemlich normales Ereignis. So gut wie nie ist jemand aufdringlich oder gar übergriffig, sodass es mir unangenehm wäre. Vielleicht trage ich selbst auch zu dieser Normalität bei, indem ich mich schlicht wie Fiona verhalte. Für ein paar nette Worte, für einen kurzen Kontakt ist so gut wie immer Zeit. Jede Begegnung ist irgendwie interessant. Es passieren auch verrückte Sachen und das gar nicht mal so selten. Viele wissen im ersten Moment nicht, woher sie mich kennen. Dann kommen die absurdesten Fragen: „Entschuldigung, waren Ihre Kinder zufällig im Kindergarten in sowieso, Jahrgang soundso?“ Es wird wild spekuliert, ob ich auf irgendeinem Werbeplakat mein schönstes Lächeln zeige oder sogar in der Politik bin. Häufig wittern Frauen in mir eine Mutter, die sie schon mal in der Schule ihrer Kids gesehen haben. Man kennt mein Gesicht, aber nicht immer gleich den Zusammenhang, die Schauspielerin hat nicht jeder sofort im Sinn. Irgendwie genieße ich das auch. Bis ich die Sache aufkläre, bin ich Fiona und jemand kennt mich. Mehr nicht. Wenn es dann klarer wird, dass sie mich im Fernsehen gesehen haben, wird der Kontakt häufig abrupt distanzierter. Ich kann es fast auf der Stirn lesen: „Oh, Entschuldigung, na dann …“ – ein offensichtliches Zurückweichen. Ich bin nicht mehr die andere Mutti oder die Politikerin. Ich bin nicht mehr regional. Plötzlich bin ich jemand öffentlich Bekanntes. Das Unmittelbare unserer Begegnung geht verloren. Häufig scheint es den Betreffenden leicht peinlich, als hätten sie sich in der Etage geirrt.

Manchmal können wir uns auf der falschen Etage treffen. Die Peinlichkeit verpufft und am Ende sprechen wir über die Bananen, die wir gerade kaufen, bio oder nicht bio, Fair Trade oder nicht. Es entspannt mich, wenn sich die Vorstellungen, die andere von mir haben, relativieren und eine ganz natürliche Begegnung übrigbleibt.

Ich war doch etwas zu spät für den Empfang. In meiner Kindheit war das Zuspätkommen eine traurige, unbewusste Bewältigungsstrategie von mir, doch mittlerweile war ich zu einem pünktlichen Menschen geworden. Anscheinend war es noch kälter geworden. Berlin war um diese Jahreszeit ein ungemütliches Pflaster, aber vielleicht lag es auch an meinem zu dünnen Kleid.

Mit der jetzigen Hauptstadt verbinde ich viele schöne Kindheitserinnerungen, die mir jetzt wieder in den Sinn kamen und auf die ich gerne meine Aufmerksamkeit richtete. Schon als Kind war es wichtig, Unangenehmes auszublenden und mich auf die schönen Aspekte des Lebens zu konzentrieren. Und die eisige Luft, der ich gerade ausgesetzt war, war definitiv unangenehm. Also besser Zuflucht finden in alten Zeiten. Meine Großeltern lebten hier in Berlin und ich habe in meinen Schulferien viel Zeit bei ihnen verbracht. Mein geliebter Opa und meine geliebte Oma, von der ich so viel Unterstützung erfuhr. Auf das Gute auszuweichen, das hatte ich perfektioniert. Im Hintergrund lauerte immer ein unheilvoller Druck. Ich bin Legasthenikerin und meine Schulzeit war alles andere als ein Zuckerschlecken. Ich hatte große Schwierigkeiten, mit Buchstaben, Wörtern und inhaltlichen Zusammenhängen umzugehen, also die Schwierigkeit, lesen und schreiben zu lernen. In meiner gesamten Schulzeit blieb ich ohne Unterstützung, nie wurde ich als Legasthenikerin erkannt. Ich war mit meinen Beeinträchtigungen auf mich selbst gestellt und musste mich alleine durchschlagen.

Es gibt viele Kinder, die wegen ihrer legasthenischen Schwächen stigmatisiert werden, doch schon mangelnde Unterstützung kann weitreichende Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung haben. Ein mangelnder Selbstwert, der sich tief in der Seele verankert, die kontinuierliche Angst, Fehler zu machen, als Versager entlarvt zu werden. Mannigfaltige Stresssituationen, die wiederum generelle körperliche Symptome auslösen wie Erröten, Schwitzen oder Herzrasen. Ein Teufelskreis. Durch die Beeinträchtigung sind Kinder häufiger schwierigen Situationen ausgesetzt, welche die oben genannten Symptome hervorrufen, die wiederum noch mehr Stress verursachen. Um all das zumindest einigermaßen in Schach zu halten, etablieren sich unterschiedlichste Verhaltensmuster. Beispielsweise immer so zu tun, als sei man perfekt, oder der Versuch, sich so unsichtbar wie möglich zu machen, oder oder oder …

Ich bin Legasthenikerin. Circa fünf Prozent aller Kinder in Deutschland sind Legastheniker:innen. Folglich sind circa fünf Prozent aller Menschen in Deutschland Legastheniker:innen. Vielleicht ist die Dunkelziffer noch viel höher, als man glaubt. Viele von ihnen sind unerkannt, wie auch ich es lange Zeit war.

DAS FEHLENDE ECHO

Lange Zeit, bevor ich über mein Handicap Bescheid wusste, habe ich die eine oder andere Auffälligkeit gerne darauf geschoben, zweisprachig aufgewachsen zu sein. Und mit „lange Zeit“ ist eine wirklich sehr lange Zeit gemeint. Erst mit Anfang 30 hat sich mir langsam erschlossen, dass ich Legasthenikerin bin. Der Umstand des späten Erkennens umfasst die ganze Tragik meiner legasthenischen Geschichte. Während meines Heranwachsens gab es keinen einzigen Menschen, dem meine durchaus offensichtlichen Schwierigkeiten aufgefallen wären, der meine Fehler ernst genommen hätte, um zu ergründen, womit ich zu kämpfen hatte. Es gab keine Hand, die sich mir entgegengestreckt hätte, um meine Probleme einzusortieren. So habe ich mir Erklärungen zusammengereimt. Mein Vater sprach mit mir deutsch, meine Mutter englisch. Ich nahm an, ich hätte ein Problem mit meiner Bilingualität. Ich träumte beispielsweise auf Englisch, dachte aber auf Deutsch. Es kursierten eine Menge „denglischer“ Vokabeln in meinem Kopf. Heute weiß ich, dass meine Mühen, mich in der Buchstabenwelt zurechtzufinden, nicht darauf zurückzuführen waren. Natürlich war ich in beiden Sprachen legasthenisch und meine Orientierungsprobleme beim Lesen und Schreiben hingen nicht mit meinem zweisprachigen Aufwachsen zusammen. Während meiner Schulzeit gab es noch kein Bewusstsein für Legasthenie, zumindest nicht in der alternativen Schule, die ich besuchte. Meine Schwierigkeiten im Umgang mit Wörtern und Buchstaben wurden nicht erkannt. Niemand wusste, dass Buchstaben bei mir zu fliegen begannen, sie immer wieder die Plätze in den Wörtern tauschten, plötzlich auftauchten und auch wieder verschwanden.

Meine „vorlegasthenischen“ Jahre im Kindergarten waren frei und unbelastet gewesen, ich wurde noch nicht am Abgrund der Schrift alleingelassen. Wir haben unglaublich viel gebastelt. Ich mochte das. Wenn ich im Kindergarten zwischen den anderen Kindern saß und wir Tiere aus bunten Pappen zusammenklebten, war ich innerlich erfüllt von Freude. Das Entstehen der Kreaturen war für mich so, als würde ich am Lebendigwerden teilnehmen. Ich klebte den Löwen zusammen und gleichzeitig wurde er vor meinen Augen zum Leben erweckt. Es brauchte nie viel, um meine Fantasie anzukurbeln. Andererseits brauchte es viel, um meine Fantasie wieder anzuhalten. Ich fand meist kein Ende. Ich wollte den ganzen Zoo, die ganze Arche Noah, da waren keine Grenzen und keine Müdigkeit. Ich war ein lebendiges und vor Kreativität übersprudelndes Kindergartenkind, pur, ungebremst, noch unreif natürlich in dieser gewaltigen Lebensspur. Ich hatte im Kontakt mit dieser Kraft eine enorme Geschwindigkeit, war eine ausdauernde Sprinterin schöpferischen Ausdrucks. Die Ära der Papptiere war eine bunte und unbegrenzte Zeit, ganz im Gegensatz zu meiner Schulzeit, die mich ohne Unterstützung mit öden Buchstabenbergen konfrontierte, die so ermüdend und abstrakt sein konnten.

Ausgerechnet zu Beginn der ersten Klasse trennten sich meine Eltern. Mein geliebter Vater verließ die gemeinsame Wohnung. Er, der erste Mensch, der mir in adäquater Weise ein Gegenüber war. Er hat mit mir Kasperletheater gespielt, jede Figur erhielt ihre eigene Stimme. Wir tobten Schreie ausstoßend durch die Wohnung. Gemeinsam haben wir Höhlen gebaut und zu lauter Musik getanzt. Mit anderen Worten, er war genauso quirlig und kreativ wie ich. Mit ihm zusammen war meine Welt in Ordnung. Wenn sein Beruf ihn nicht außer Haus zwang, war er außerdem ein Bindeglied zu meiner stilleren Mutter. Er hat es meiner Mutter leicht gemacht, mit meiner Lebendigkeit Schritt zu halten. Die Trennung meiner Eltern war eine Katastrophe. Sie waren nicht mehr in der Lage, miteinander zu kommunizieren. Zwischen ihnen herrschte eine fast schon gespenstische und eisige Stille. Vor allem meine Mutter in ihrer Enttäuschung und unterdrückten Wut verweigerte jeden Kontakt. Mein Vater prallte an diesen Mauern ab und strich zu schnell die Segel. Ich war diejenige, die darunter am meisten litt, denn der kalte Krieg führte dazu, dass ich meinen Vater wesentlich weniger zu sehen bekam und meine Mutter kaum mehr Zeit für mich hatte.

Eigentlich hatte es mit meinen Eltern romantisch begonnen. Hochschwanger stand meine Mutter im Frühling 1972 auf einer Leiter in der Altstadt von Hameln und ließ ihrer künstlerischen Begabung freien Lauf. „Sunshine Music“ schrieb und malte sie im schönsten Hippie Style über den Schallplattenladen, den sie bald gemeinsam eröffnen wollten. Meine beiden Blumenkinder-Eltern. Sie waren alternativ, aber nicht extrem. In jedem Fall wurde ich hineingeboren in ein Heim voller guter und progressiver Musik. Der Laden war ein Magnet für die junge Szene in Hameln. Mein Vater war regelmäßig in London und brachte von dort die angesagtesten Poster auf den Kontinent – also nach Hameln. Die Poster von Rockgrößen der 60s und 70s – Jimi Hendrix, die Stones, Led Zeppelin, Beatles – verkauften sich wie geschnitten Brot. Das deckte die Kosten des Ladens allerdings bei Weitem nicht. Doch meine Eltern hatten ihre Freude daran, eine gute Platte nach der anderen für ihre Kundschaft aufzulegen, die vor allem kam, um Tee zu trinken, den sie kochten und großzügig ausschenkten. Es war mehr ein Happening als eine Goldgrube. Ein Jahr später ging die Sonne leider schon wieder unter. Für meinen Vater war das eine existenzielle Situation. Seine gesamten Ersparnisse steckten in „Sunshine Music“. Doch der Laden war Geschichte. Er war nach wie vor Besitzer aberhunderter Langspielplatten. Um die Familie zu ernähren, ist er in den Monaten danach als Schallplattenvertreter durch die Lande gezogen. Zu seinem Glück und dem unserer kleinen Familie kam seine Schauspielkarriere allmählich wieder mehr in Schwung. Seit seiner Kindheit stand er vor der Kamera.

Mein Vater ist ein grundsätzlich verspielter Mensch, offen und kontaktfreudig und wie ich temperamentvoll. Meine wilde und ungestüm kreative Seite konnte hier bestens andocken. Es war wunderbar für mich, mit ihm zu toben, er war einer meiner frühesten und größten Fans, hat meine selbst ausgedachten Theaterstücke mit einer überdimensional großen Videokamera aufgenommen. So wie er Höhlen für uns beide baute, tat er das auch für mich und übernachtende Freundinnen. Ein Traum für mich als Kind. Er war immer für Verrücktheiten zu haben und hat sich dafür richtig ins Zeug gelegt. Dabei ist er kein Rabauke. Er ist auch ein sehr feiner Mensch, ein stiller Denker. In unseren ruhigen gemeinsamen Momenten konnte ich mich an ihn kuscheln und er hat mir vorgelesen.

Die Trennung meiner Eltern war eine tiefe Erschütterung und hat mich mehr geprägt, als ich mir lange Zeit selbst eingestanden habe. Eine seelische Belastung, die bis in mein erwachsenes Leben hineinreichte, auch wenn ich das nicht immer bewusst gespürt habe. Es lag nicht an der Oberfläche meines Alltags, aber ein unbewusster Schmerz von damals war noch lange in meine Seele eingebrannt, wie man es von Traumata kennt. Mein damaliges Leid habe ich mit der Zeit verarbeitet und es hat seinen Platz in der Vergangenheit meines Lebens. Doch damals war es ein Schock, als mein Vater bei uns auszog. Ich war gerade sieben Jahre alt und begriff erst mal gar nicht, was das bedeutete. Ich werde nie vergessen, wie ich eines Nachts aus dem Schlaf gerissen wurde, weil meine Eltern sich laut anschrien. Starr vor Schreck lag ich im Bett. Dann trat Stille ein. Ich wagte mich verschlafen in den Flur unserer Altbauwohnung und stand mit nackten Füßen mitten im Chaos. Der lange Gang war übersät von Jacken, Taschen und Schuhen. Linker Hand am Ende des Ganges im Wohnzimmer saß meine Mutter heftig weinend auf dem Sofa, so hatte ich sie noch nie erlebt. Rechter Hand am anderen Ende des Ganges im Schlafzimmer hockte mein Vater und hielt den Kopf in seinen Händen. Tapsig und scheu lief ich, über die Kleidungsstücke stolpernd, zuerst in Richtung Wohnzimmer. Unsicher blieb ich in der Tür stehen, sah meine Mutter an, doch sie winkte ab. Ich stolperte den Gang zurück, diesmal in Richtung Schlafzimmer. Unsicher stand ich in der nächsten Tür. Mein Vater hob den Kopf und öffnete sofort seine Arme: „Ach Fiona, komm mal her.“ Ich lief in seine Arme, an mehr kann ich mich nicht erinnern.

Es war der Anfang vom Ende. Meinen Vater hatte ich damals als die passende Antwort auf mich erlebt, als Förderer meines Wesens und meiner kreativen Kräfte, aber er verließ das gemeinsame Heim. Plötzlich war er nicht mehr da, nicht als lebendiges Gegenüber und auch nicht als Unterstützung in meinem beginnenden Schulalltag. Seine Abwesenheit ließ einen Teil in mir mit der Zeit verkümmern. Er wurde zum fehlenden Echo meiner Kindheit.

In diesen schrecklichen Monaten wurde ich eingeschult, ich habe daran kaum Erinnerungen. Die Lethargie hatte mich in dieser Zeit ziemlich im Griff. Ich fühlte mich oft wackelig, meine mir eigene Freude und Lebendigkeit waren für etliche Wochen verstummt. Es war ein gewaltiger Einschnitt in meinem Leben. Die wilden Zirkusspiele waren erst mal vorbei. Behutsam kümmerte ich mich um meine zwei kleinen Kanarienvögel, doch ich träumte nicht mehr vom Fliegen. Mein Vater, der mich, wenn er nach Hause gekommen war, stets hochgehoben und wild in die Luft geworfen hatte, sodass ich kreischte vor Vergnügen, war nicht mehr da.

Zumindest teilweise begann meine Lebensfreude nach einigen Monaten Schritt für Schritt wieder aufzuflammen und meine kreative Kraft war ohnehin nicht unterzukriegen. Aber für eine lange Zeit ging mir meine Unbekümmertheit verloren, eine Freude, die wie ein wildes Pferd frei und ungebunden über die Weiten der Prärie galoppieren konnte.

In der Obhut meiner Mutter bekam ich dafür keine Unterstützung. Ohne meinen Vater war meine Mutter von meiner Lebendigkeit häufiger genervt. „You are like your father. Stop it, it’s enough. Calm down.“ Wenn ich dann enttäuscht und frustriert war, kam ein „Stop pouting!“ Pouting – das heißt schmollen. Ich war ihr also zu viel geworden. Meine Lebendigkeit war der meines Vaters zu ähnlich und sie wollte nicht an ihn erinnert werden. Einzig in den Ferien zu Besuch bei meinen Berliner Großeltern konnte das Feuer meiner Lebendigkeit frei brennen und lodern. Ihr Zuhause war eine wilde Oase für mich, mit Rollerskates und Faxen. Diese Zeiten waren leider immer viel zu kurz.

Heute weiß ich, wie enorm die innere Belastung für mich damals gewesen ist: die zunehmend hohe schulische Anstrengung und die Tatsache, dass ich meinen Vater vermisste, er nicht mehr Teil meines Alltags war, und meine Mutter zu wenig Zeit für mich hatte. Darüber hinaus hat weder mein Vater, der sich um meine schulischen Belange nicht kümmerte, noch meine Mutter, die meine täglichen Schwierigkeiten eigentlich hätte erkennen können, jemals meine Probleme mit Lesen und Schreiben gesehen oder ernst genommen. Beide haben den Stress, unter dem ich stand, nie wahrgenommen. Meine Mutter war zu überlastet und zu sehr mit ihrem eigenen Leid beschäftigt, und mein Vater hat sich mit mir zusammen liebend gerne auf die schöne Seite des Lebens geschlagen. Er hat sich wohl von meiner freudvollen und kreativen Seite blenden lassen.

Eigentlich war ich häufig überfordert mit meinen Gefühlen, meinen Ängsten, meinen Schwächen, mit meinen Hausaufgaben, mit meinem Alleinsein.

ENGLISCHE FEE, BERLINER SCHNAUZE

Das Frausein ist in meinem Leben von Beginn an eine zentrale Angelegenheit, nicht nur biologisch. Die großen weiblichen Figuren, die mich prägten, waren meine Mutter und meine Oma väterlicherseits. In ihnen nahm ich die ersten wesentlichen femininen Qualitäten wahr, die mich tief inspirierten: die romantisch-sensible, fast mystische Ausstrahlung meiner Mutter, die als Engländerin unser Heim in ein kleines britisches Zuhause verwandelt hatte. Und das typisch berlinerisch-lebensfrohe Naturell meiner Oma, die mich in zuverlässigen mütterlichen Armen hielt.

Meine Mutter war eine eher unnahbare Frau. Doch ging von ihr auch etwas Sinnlich-Geheimnisvolles aus, mit ihren rotgelockten Haaren und den Sommersprossen, die ihr Gesicht zierten. Für mich als Kind, zumal als Mädchen, war das anziehend. Immer konnte ich in ihr eine für mich ausgesprochen spannende, sensible innere Welt fühlen, die mir jedoch meist verschlossen blieb und mich daher unbefriedigt zurückließ. Nur selten öffnete sich ihr Inneres und gab ihre zarte Feinheit frei. Für mich waren diese Momente von seltener Kostbarkeit, endlich konnte sich meine ebenfalls vorhandene zarte und sensible Wesensseite in ihr spiegeln. Dies waren außerordentliche Augenblicke von tiefer Entspannung und innigem Kontakt.

Meine Mutter war eine schöne Frau und ich bewunderte sie für diese Schönheit. In meinem Empfinden schien sie immer wie von Engeln umgeben. Wenn wir Ausflüge unternahmen und in der Natur waren, erlebte ich sie stets als behutsame Beobachterin: „Look, there is a little place for the fairies …“ Sie machte mich in ihrer leisen Art aufmerksam auf kleine und kleinste Details, und so wurde ich sensibilisiert für die Großartigkeit der Schöpfung: grazil schaukelnde Moosblüten, schillernde Käferchen, betörendes Vogelzwitschern, das plätschernde Plaudern eines Bachs, alles war ihr wie ein göttliches Geschenk, auch wenn sie es so nicht nannte, und das fand Anklang in mir. Ihre herrliche englische Stimme lenkte meine Sinne auf das Lebendige und mein Herz zu einer verzauberten Empfindung. Wenn ich mich heute daran erinnere und ihre sensible Feinheit fühle, die damals meine blühende Fantasie inspirierte, tauchen in mir Bilder aus Geschichten wie „Die Nebel von Avalon“ auf. Meine Mutter hätte gut als weise Frau und naturverbundene geweihte Priesterin in diesen fantastischen Roman gepasst. Auch wenn ich diesen Wesenszug als Mädchen noch nicht so genau benennen konnte, hat er mich seelisch berührt, ungeachtet meiner größtenteils unerfüllt gebliebenen Sehnsucht nach mütterlicher Geborgenheit. Außer in den oben erwähnten kostbaren Momenten war unsere Beziehung von einer gewissen emotionalen Distanz geprägt. Auch körperlicher Kontakt war ihr immer unangenehm. So gerne hätte ich mehr mit ihren wunderbaren Haaren gespielt, mich an sie gekuschelt.

Diese unmittelbare Wärme habe ich bei ihr immer vermisst. Gleichwohl war unser Zuhause nicht kühl, denn sie hatte ein besonderes Händchen, ein warmes und kuscheliges Heim zu kreieren, und in der Regel hat sie gut und zuverlässig für mich gesorgt. Meinem Aufwachsen eine beständige Form zu geben war ihr ein zentraler Wert, für den sie bereit war, mehr zu investieren, als eigentlich gesund für sie war. Nach der Trennung von meinem Vater bewältigte sie streckenweise sogar mehrere Jobs parallel. Die waren nicht immer gut bezahlt, aber meine Mutter kämpfte darum, unseren Lebensstandard zu erhalten, und die Unterhaltszahlungen waren dafür bei Weitem nicht ausreichend. Unsere großzügige Altbauwohnung in Hamburg-Winterhude wollte sie partout nicht aufgeben. Ihr war es wichtig, unser heimeliges Nest zu erhalten, das wir schon seit Jahren bewohnten. Ich glaube, dass es ihrer Seele gutgetan hat. Vielleicht wollte sie sich aber auch nur etwas beweisen. Der Gedanke, sozial abzusteigen, in einen sozialen Brennpunkt umziehen zu müssen, war ihr ganz sicher ein Horror. Unbedingt wollte sie mir meinen Ballettunterricht weiter ermöglichen, kleinere Urlaube machen, dann und wann auf Ibiza, nach England in ihre Heimat reisen, zu ihrer Familie.

So hat sie zwar wie eine Löwenmutter um die Äußerlichkeiten gerungen, doch für mich blieb wenig Zeit. Die wenigen gemeinsamen Stunden sog ich entsprechend in mich auf. In diesen Momenten genoss ich – ich kann es nicht besser sagen – die fantastische Aura meiner Mutter. Heute glaube ich, dass sie eine ausgeprägte spirituelle Ader hatte, die ihr selbst wahrscheinlich ganz und gar unbewusst war. Darin bestand wohl auch ein Teil der Anziehung zwischen ihr und meinem Vater, der sich im Gegensatz zu ihrer versteckteren Art ganz offen mit Spiritualität auseinandersetzte. Ich selbst bin ihrer weiblichen, intuitiven und vor allem zutiefst sinnlichen Spur in meinem Leben sehr dankbar, sie legte einen Grundstein für meine eigene spirituelle Entwicklung. Außerdem war sie, wenn die Zeit es erlaubte, ein Anlaufpunkt für meine kreativen und fantastischen Ideen und Einfälle. An ihre Grenzen kam sie mit meiner mir eigenen ungestümen Lebendigkeit.

Dafür hatte ich meine Berliner Oma. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass meine Oma so ziemlich der Gegenentwurf zu meiner Mutter war. Bodenständig in einem sehr geerdeten Sinne, dazu laut, direkt und ehrlich. Sie war ein sicherer Hafen für meine eigene, manchmal geradezu übersprudelnde Lebendigkeit und für meine ausgeprägte Emotionalität. Immer war sie interessiert, egal, wie intensiv meine Gefühle in Wallung waren. „Na meene Kleene, wat los?“, hat sie dann gesagt, sich zu mir gesetzt und zugehört. Wenn notwendig, hat sie mich in die Arme genommen. Hier konnte ich die Geborgenheit erleben, die ich bei meiner Mutter immer schmerzlich vermisste. Mit ihr zusammen habe ich das Fahrradfahren, Schlittschuhlaufen und auch Schwimmen gelernt. Hierfür hat sie lange Fahrten durch Berlin in Kauf genommen. Denn zu meiner fröhlichen Expressivität gesellte sich ein zierliches und empfindsames, manchmal auch überaus empfindliches Wesen. Die Wassertemperatur normaler Schwimmbäder war für mich wie Eisbaden, ich schlotterte in kürzester Zeit vor Kälte, die Lippen blau und zitternd.

„Meene Kleene, dat wird ja nischt. Du brauchst warmes Wasser!“ Gesagt, getan, und so saßen wir im Auto Richtung Therme, am Steuer mein Opa. Auch ihn liebte ich über alles. Er war als junger Mann im Krieg gewesen, Koch zwar, aber mit Sicherheit hatte er genug Gräuel miterlebt. Trotzdem hatte er sich, zusätzlich zu seinem Humor, eine liebevolle Behutsamkeit in seinem Herzen bewahren können. Er war der Einzige, von dem ich mir wirklich gerne die Haare waschen ließ. Meine Oma war dafür einfach zu ruppig. Unter ihren Händen lief immer wieder Shampoo in meine empfindlichen Augen. Ganz anders mein Opa, der, obwohl ein durchaus robuster Mann, meine Haare mit bemerkenswerter Zartheit und Engelsgeduld wusch, wie sonst keiner in der mir damals bekannten Welt. Es fühlte sich für mich immer ein wenig so an, als hielte er nicht nur meine Haare, sondern auch meine Seele sanft in seinen Händen.

Doch zurück zu meiner Oma, die, wie gesagt, der Gegenentwurf zu meiner Mutter war. So sehr sie mich unterstützte, konnte es gelegentlich passieren, dass sie, wie beim Haarewaschen, die ebenfalls in mir vorhandene zarte Seite übersah. Ich erinnere mich an einen Besuch im Zoo. Eines der absoluten Highlights war die Robbenfütterung. Die Traube der Kinder samt Eltern oder Großeltern, die diesem besonderen Ereignis beiwohnte, war immer groß. Der Tierpfleger verteilte Fische, die man selbst zu den Robben werfen konnte. Das war eine einmalige Attraktion. Zumindest für meine Oma, die sich ihren Weg, mit mir im Schlepptau, in die erste Reihe bahnte, um einen Fisch zu ergattern. Sie war dabei nicht egoistisch im engeren Sinne, eher ihre vehemente Art ist mit ihr durchgegangen. In jedem Fall hatte ich plötzlich einen kalten toten, etwas glitschigen Fisch in der Hand. Was sollte ich nun damit anfangen? „Na – nun wirf, meene Kleene!“

Auf der anderen Seite hat sie mir immer viel zugetraut. Mit fünf Jahren konnte ich selbstständig den Gasherd anmachen, natürlich unter ihrer liebevollen Obhut, und meinen Kakao zubereiten. Dafür hatte ich meine Tasse. Sie hatte ein natürliches Verständnis für die kleinen Rituale, die für Kinder so gut und wichtig sind. Mit ihr zusammen habe ich meine ersten Schritte als Köchin gemacht. Liebe geht bekanntlich durch den Magen. Ihre Graupensuppe koche ich noch heute.

SCHWANENSEE

Als ich fünf Jahre alt war, brachte meine Mutter mich zum Ballettunterricht in die Stage School in Hamburg. Ich hatte den richtigen zarten Körper, die perfekten Füße und ein gutes Rhythmusgefühl. In den Anfangsjahren war der Ballettunterricht sehr spielerisch, später wurde es zunehmend strenger. Es ging viel um Körperhaltung, Posen und dergleichen. Meine Tanzlehrerin bescheinigte mir jede Menge Talent. Ich liebte alles am Ballett, die Tutus, das Rosa, die anmutigen und gleichzeitig bis in die Fingerspitzen exakten Körperhaltungen und Bewegungsabläufe, meine Ballettschule und vor allem die Musik. Über Jahre hinweg habe ich zu Hause regelmäßig den Nussknacker und den Schwanensee gehört. Dabei bin ich Pirouetten drehend durch mein Zimmer getanzt und stellte mir währenddessen die Tänzerinnen und die Prima Ballerina vor. Mit zwölf durfte ich endlich in echten Spitzenschuhen tanzen. So lange hatte ich darauf gewartet. An der Stange und vor allem auf den Spitzen war ich super, ich hatte Kraft in den Füßen und den Beinen. Doch zu meinem Leidwesen begannen dunkle Wolken am Horizont zu erscheinen. Allmählich wurden die Choreografien immer anspruchsvoller und komplexer, der Anfang eines schmerzlichen Dramas. In Windeseile sollte mir mein über alles geliebtes Ballett durch die Finger rieseln. Menschen mit Legasthenie haben oftmals Schwierigkeiten, serielle Abläufe zu wiederholen. Das legasthenische Gehirn kann in verschiedenen Teilleistungsbereichen Schwächen aufweisen, unter anderem dann, wenn es um die Verarbeitung räumlicher Wahrnehmung und die Orientierung im Raum geht, die sogenannte Raumorientierungsschwäche, die zu meinen erwähnten Schwierigkeiten mit Choreografien führte.

Ich stand in der Mitte der anderen Mädchen und bin in der Parallelität der Bewegungen schnell konfus geworden und herausgefallen. Es war so frustrierend für mich. Zu Hause hörte ich Tschaikowskis wunderbare Musik und improvisierte dazu, freie Bewegungsabläufe waren ein Leichtes für mich, doch die Choreografien wollten nicht klappen. Ich trainierte wie wild, weil ich es unbedingt schaffen wollte, aber trotzdem verlor ich mehr und mehr den Anschluss. Ich hielt mich für dumm und unfähig, die Selbstbewertungen, die unweigerlich entstehen, wenn solche Situationen alleine bewältigt werden müssen.

Als Kinder sind wir angewiesen auf die wohlwollende Unterstützung Erwachsener. So kann unser Selbstbewusstsein reifen und wir können uns als selbstwirksam erleben. In meiner abgeschiedenen Kammer der unerkannten Legasthenie wurde mir immer bewusster, dass ich den Schwanensee nie würde tanzen können.

Mit 13 habe ich meine große Liebe im wahrsten Sinne des Wortes an den Nagel hängen müssen. Meine Spitzenschuhe fanden ihren Platz an meiner Zimmerwand, zwischen all den Ballettpostern, neben meinen völlig durchgetanzten ersten Ballettschuhen. Ich konnte nicht mehr mithalten. Mir ging eine meiner größten Ressourcen verloren.

MÄRCHEN VON A BIS Z

Auf der Waldorfschule lernten wir das Alphabet mittels Märchenerzählen. Natürlich wirkten die Figuren und Handlungen unheimlich stark auf mich. Ich fühlte mich in erster Linie zu Aschenputtel hingezogen, dessen Schicksal von hässlichen Gemeinheiten besiegelt schien. Meine Fantasie und mein Herz ritten mit Aschenputtel zum Prinzen, deshalb war der Anfangsbuchstabe A für mich völlig zweitrangig. Sobald es um ein Schloss ging – und im Märchen geht es immer um ein Schloss! –, war ich im Nu in Kostüme gehüllt und von pompösen Requisiten umgeben, trug eine goldene Krone und saß vor dem offenen Kamin, einen Babyhausdrachen zu meinen Füßen. Das A war mir zwar nicht egal, aber es drang gar nicht erst bis zu mir durch vor lauter Kopfkino. Es war nicht die Menge an Bildern, die ich assoziierte, es gab eine andere Hürde, die mir beim Lesen im Weg stand.

Die meisten wissenschaftlichen Quellen sprechen davon, dass die Fixierung der Wörter ungleich länger dauert. Bis zu viermal mehr Zeit braucht ein Legastheniker:innen-Auge, um Buchstaben oder Wortteile zu erfassen. Es gelingt nicht, die Wortbilder in den Langzeitspeicher zu bringen, und so müssen die Wörter immer wieder neu erarbeitet werden. Das erklärt übrigens auch, warum Legastheniker:innen Wörter unterschiedlich falsch schreiben, was Außenstehende wiederum nicht nachvollziehen können.

Unabhängig von einer Wortgedächtnisschwäche war es in meinem damaligen Erleben genau dieses Mehr an Zeit, das Lücken entstehen ließ, die sich unwillkürlich und viel zu schnell mit meinen Bildern füllten, sodass meine Aufmerksamkeit abgelenkt war und meine Konzentration auf den Text in sich zusammenfiel. Ich verlor den Anschluss.

Stell es dir vor wie im Museum: Eine Besuchergruppe folgt einer Führung durch die Ausstellungsräume und du hinkst immer ein bisschen hinterher. Weil jedes Bild schon in deiner Fantasie eine volle Geschichte erzählt, ohne alle Fakten – von wem, wann, Hintergründe, die dich nicht die Bohne interessieren. Die Verzögerung macht dir aber nur echte Sorgen, wenn du merkst, dass die Gruppe, in der du eben noch mittendrin standst, plötzlich weg ist. Dann wird es unangenehm, vielleicht spürst du einen kurzen Schreck, du musst losrennen und möglicherweise rollen die anderen mit den Augen, weil du schon wieder mal die Hälfte verpasst hast und jetzt sogar störst. Du musst es dir gefallen lassen, als langsame Schnecke zu gelten.

Um auf das Märchen-Alphabet zurückzukommen, ich hatte Mühe, die aufblitzenden Bilder gleich wieder loszulassen, um an den Buchstaben dranzubleiben. Dafür hakte mein Gehirn aber nicht nur Fakten ab, sondern spendierte mir einen besonderen bildlichen Detailreichtum. Wir lasen in der Schule beispielsweise den Satz: „Ein schönes Reh steht mitten im Wald. Es ist braun.“ Die Farbe Braun ist das eine, das Reh das Nächste, bis zu den Bäumen kam mein Gehirn nicht mehr mit. Meine Aufmerksamkeit war vollkommen gebannt und fasziniert von dem Tier. Ich sah es vor meinem inneren Auge. Ein so zartes Tier, man möchte es unbedingt streicheln. Mit all meinen Sinnen fühlte ich die Szene: der sanfte Blick, der dampfende Atem, die langen Wimpern an den Lidern, die über den Augen auf- und niedergehen. Die Ohren zucken ein wenig. Meine Mitschüler waren längst eine Seite weiter, nur ich stand noch bei dem anmutigen Tier. Leider gab es dafür so selten Verwendung im Unterricht.