Darf's ein bisschen Meer sein? - Vanessa Richter - E-Book

Darf's ein bisschen Meer sein? E-Book

Vanessa Richter

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Beschreibung

Tilda Gockel hat sich die Erfüllung ihres Berufswunsches Journalistin irgendwie anders vorgestellt, als sie vor vier Jahren ihrer Heimat Langeoog den Rücken kehrte und nach Hamburg ging. Anstatt Artikel über Lokalpolitik oder Kultur zu schreiben, versauert sie in der Anzeigenabteilung. Doch dann bietet ihr der Redaktionsleiter eine einmalige Möglichkeit: Gemeinsam mit ihrem hochattraktiven Kollegen soll sie einen vermeintlichen Skandal in einem veganen Bio-Hotel aufdecken. Ausgerechnet auf Langeoog. Denn besagtes Hotel wird zu allem Überfluss auch noch von Tildas Onkel Ecki betrieben. Doch Tilda riecht endlich ihre Chance und kehrt zurück auf die Insel. Während Kollege Sebastian sich in die Recherchen stürzt, wird Tilda von Tag zu Tag mulmiger. Immerhin weiß zu Hause niemand von ihrer unerfolgreichen Journalisten-Karriere. Und ist Onkel Ecki wirklich ein Betrüger? Dann steht plötzlich auch noch ihre Jugendliebe Justus vor ihr und das Gefühlschaos ist perfekt…

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Darf's ein bisschen Meer sein?

Die Autorin

Vanessa Richter, Jahrgang 1979, studierte Germanistik und Anglistik und versucht seitdem, mehr oder weniger begeisterungsfähigen pubertierenden Halbwüchsigen die Feinheiten der deutschen und englischen Sprache näher zu bringen. Sie lebt mit Kind und Kegel zwischen Ruhrpott und Münsterland.

Das Buch

Tilda Gockel hat sich die Erfüllung ihres Berufswunsches Journalistin irgendwie anders vorgestellt, als sie vor vier Jahren ihrer Heimat Langeoog den Rücken kehrte und nach Hamburg ging. Anstatt Artikel über Lokalpolitik oder Kultur zu schreiben, versauert sie in der Anzeigenabteilung. Doch dann bietet ihr der Redaktionsleiter eine einmalige Möglichkeit: Gemeinsam mit ihrem hochattraktiven Kollegen soll sie einen vermeintlichen Skandal in einem veganen Bio-Hotel aufdecken. Ausgerechnet auf Langeoog. Denn besagtes Hotel wird zu allem Überfluss auch noch von Tildas Onkel Ecki betrieben. Doch Tilda riecht endlich ihre Chance und kehrt zurück auf die Insel. Während Kollege Sebastian sich in die Recherchen stürzt, wird Tilda von Tag zu Tag mulmiger. Immerhin weiß zu Hause niemand von ihrer unerfolgreichen Journalisten-Karriere. Und ist Onkel Ecki wirklich ein Betrüger? Dann steht plötzlich auch noch ihre Jugendliebe Justus vor ihr und das Gefühlschaos ist perfekt…

Vanessa Richter

Darf's ein bisschen Meer sein?

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinSeptember 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-504-3

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Nachwort

Leseprobe: Strandkorbflüstern

Empfehlungen

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Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 1

Ansage Anrufbeantworter:

Hallo, hier spricht die elektrische Zahnbürste. Der Anrufbeantworter kann leider gerade nicht ans Telefon gehen, weil er eine Orgie mit dem Glätteisen und dem Toaster in der Küche feiert. Aber ich nehme Ihre Mitteilungen gern entgegen. Nachrichten nach dem Bzzzzzz!

Vier neue Nachrichten. Erste neue Nachricht. Freitag 17.35 Uhr

»Was? Wie? Wer spricht da? Tilda, bist du das? Ich bin es, dein Vater! Du weißt, ich kann mit diesem neumodischen Schnickschnack nichts anfangen. Sag doch mal was. Hallo? Wenn du nicht mit mir redest, dann leg ich jetzt auf! Hallo?«

Zweite neue Nachricht. Freitag 17.37 Uhr

»Tilly, Schätzchen, hier ist Mama. Papa wollte eigentlich nur wissen, ob du wenigstens dieses Jahr zu seinem Geburtstag kommst. Ist doch ein runder! Und wir haben dich so lange nicht mehr gesehen. Wir vermissen dich. Küsschen! Ach so, hier ist Mama. Sagte ich das bereits?

Dritte neue Nachricht. Freitag 17.42 Uhr

»Tilly, Schätzchen, hier ist noch mal Mama. Das hätte ich fast vergessen! Dein neuer Artikel über die Elbphilharmonie ist geradezu sensationell! Dies war ein Anruf von Mama! Küsschen.«

Vierte neue Nachricht. Freitag 18.09 Uhr

»Hey, Schwesterchen! Was geht? Hast du immer noch diesen oldschool Anrufbeantworter? Wann erreicht man dich endlich mal per WhatsApp? Na ja, egal! Kaufst du ein Geschenk für Papa? Wenn ja, würdest du deinen Lieblingsbruder vielleicht daran beteiligen? Bin momentan etwas klamm. Bis denne, Frau Starreporterin!«

Starreporterin! Schön wär’s! Ich kicke die unbequemen Ballerinas, in denen ich ständig Druckstellen am großen Zeh bekomme, von den Füßen. Erst den linken, er verfehlt nur knapp die Obstschale auf dem Couchtisch, dann den rechten. Zack! Volltreffer! Dort, wo normalerweise Äpfel und Bananen liegen sollten, ist sowieso nie irgendetwas Essbares zu finden, außer ab und zu ein Stück Schokolade. Ich lasse mich schwungvoll dicht neben dem Beistelltisch, auf dem das Telefon steht, auf das Sofa fallen. Wie gut, dass sich sogar bei herrlichstem Sommerwetter, wie es Hamburg in diesen Tagen verwöhnt, nie ein Sonnenstrahl in mein Wohnzimmer verirrt, sonst könnte man bestimmt den Staub aus den dunkelgrünen Sofakissen aufwirbeln sehen. Direkt vor meiner Fensterscheibe streckt sich betongrau und düster die Fassade des benachbarten Hochhausbunkers lichtschluckend in die Höhe. Mein Ausblick besteht aus unzähligen vergilbten Satellitenschüsseln, Graffiti und einem abgetretenen schmuddeligen Perserteppich, der bereits seit mehreren Monaten selbst bei Regen und Sturm vor einem der Fenster hängt. Aber ich habe das alles schließlich so gewollt. Na gut, ich hatte mir meine Zukunft als Journalistin in Hamburg etwas rosiger ausgemalt. Zwar habe ich es geschafft, einen Job beim renommierten Abendkurier zu ergattern, statt Leitartikel über Weltpolitik oder wenigstens über wichtige lokalpolitische Themen zu verfassen, hocke ich allerdings in der Redaktion für Anzeigen und berate tagtäglich schniefende Angehörige bei der Entscheidung, ob der St. Pauli Totenkopf eventuell noch eine Nummer größer neben den Namen des Verstorbenen passt. Oder ich muss mir von stolzen Brauteltern erzählen lassen, dass keine Anzeige je groß genug sein kann, um die Liebe auszudrücken, die der Schwiegersohn in spe für ihre Tochter empfindet. Das sind die Anrufe, die ich besonders hasse, erinnern sie mich nur an Dinge, die ich vorzugsweise verdrängen möchte. Mein Verdienst reicht gerade eben so für meine winzige Dreißig-Quadratmeter-Bude in einem in die Jahre gekommenen Hochhausblock. Ich habe jedoch Pläne, mich hochzuarbeiten. Eines Tages werde ich erhobenen Hauptes über Echtholzparkett statt über schmuddeligen Linoleumboden schreiten und meinen Theodor-Wolff-Preis im Regal bewundern. Wieso eigentlich tiefstapeln? Irgendwann schaffe ich es über den Großen Teich und gewinne einen Pulitzerpreis! Okay, mit neunundzwanzig Jahren müsste ich dafür möglicherweise bereits einige Sprossen weiter oben auf der Karriereleiter stehen, aber ich bin eben eine Spätberufene! Ach, was rede ich mir ein? Ich bin auf dem besten Wege, als alternde Singlefrau mit mies bezahltem Job in einer schrecklichen Wohnung zu enden. Mein selbstmitleidiges Seufzen hallt erschreckend laut durch mein karg eingerichtetes Wohnzimmer. Roadrunner wirft mir von seiner Kuscheldecke auf dem Fußboden mit seinen dunklen Dackelaugen einen fragenden Blick zu. SchlechtenTaggehabt? Oh ja! Der Hund und ich verstehen uns auch ohne Worte.

Ich strecke den Arm aus und lösche die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter mit vier schnellen Klicks. Ich würde lügen, hätte ich beteuert, beim Anblick des blinkenden Lämpchens nicht auf ein paar aufregende Mitteilungen zu hoffen. Einladungen zu Partys oder besser noch eine Rückmeldung all der Redaktionen, bei denen ich mich im Laufe der Zeit beworben habe und auf deren Anruf ich wider besseres Wissen insgeheim nach wie vor warte. Stattdessen bombardiert mich nur die Verwandtschaft in geballter Form mit ihren Anfragen. Die sitzen auf ihrer idyllischen Insel in dem Irrglauben, ich führe in Hamburg ein pompöses Jetsetleben.

Aber daran bin ich wohl selbst schuld. An meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag hatte ich beschlossen, dass das Leben einfach mehr zu bieten haben muss als den Job als Fleischereifachverkäuferin in der Metzgerei meiner Eltern, Gockel – Geflügel und Meer. Und so verließ ich die beschauliche Insel Langeoog vor vier Jahren, um in der Großstadt zu leben und als Journalistin zu arbeiten. Großspurig hatte ich getönt, die Zeitungen würden sich nur so um mich und meine journalistischen Fähigkeiten reißen. In Wirklichkeit hatte ich mich von Praktikum zu Volontariat gehangelt, ohne eine nennenswerte Anstellung zu erhalten. Ohne Studium oder jahrelange praktische Erfahrungen war keine Zeitung bereit, mich einzustellen. Vermutlich war ich diesbezüglich einfach zu blauäugig gewesen, aber ich bin mir sicher, dass ich nur noch mehr Geduld brauche.

Als ich letztes Jahr den Job beim Abendkurier angenommen habe, war meine Familie so stolz, dass ich es nicht übers Herz gebracht habe, ihnen zu beichten, dass ich nur in der Anzeigenredaktion sitze. Kurzerhand habe ich zu einer Notlüge gegriffen und behauptet, die Artikel, die unter dem Autorenkürzel tgo erscheinen, seien von mir, Tilda Gockel, obwohl der Reporter Tilmann Gorki dahintersteckt. Seitdem bejubelt meine Mutter jeden der vermeintlich von mir verfassten Artikel und erzählt ungefragt Hinz und Kunz auf der Insel, dass ihre Tochter Journalistin beim Abendkurier sei. Und ich bete inständig, dass sie niemals dahinterkommen wird, dass dies der Wahrheit nur entfernt nahekommt.

Die Türklingel reißt mich aus meinen Gedanken, wobei man das penetrante Surren, das wie eine röchelnde Hummel mit Asthma klingt, nur mit Mühe als Türklingel erkennen kann. Roadrunner gibt ein freudiges Bellen von sich und robbt, so zügig es ihm möglich ist, in Richtung Tür. Seit einem Bandscheibenvorfall vor zwei Jahren sind seine Hinterläufe gelähmt, was ihm jedoch nichts von seinem Enthusiasmus genommen hat, Besucher gebührend zu empfangen. Ich überhole ihn sehr zu seinem Ärger auf halbem Weg, kneife ein Auge zu und spähe durch den Türspion. Ein riesiges milchig blaues Auge glotzt von der anderen Seite zurück. Erschrocken springe ich mit einem kleinen Satz nach hinten und trete dabei fast auf Roadrunner, der mich inzwischen eingeholt hat.

»Ich kann genau hören, dass Sie zu Hause sind, Frau Gockel! Nun machen Sie schon die Tür auf.« Die krächzende Stimme gehört zu Frau Schimmelpfennig, die eine Etage unter mir lebt. Für ihre siebenundachtzig Jahre besitzt sie ein erstaunlich feines Gehör, um nicht zu sagen, ein extrem empfindliches, denn zu ihrer Lieblingsbeschäftigung zählt, sich tagtäglich darüber zu beschweren, dass der Hund sie durch Rutschgeräusche wahlweise beim Fernsehen, Bügeln, Kochen oder Stricken stört. Das Argument, dass ein leicht behaarter Bauch auf Linoleumboden beinahe lautlos ist, lässt sie nicht gelten. Ich beschließe spontan, mich tot zu stellen und leise zurück zu meiner Couch zu schleichen.

»Ich habe ein Paket für Sie angenommen, aber wenn Sie das nicht haben wollen, kann ich ja gehen.« Ihr Tonfall hat ins nahezu Flötenhafte gewechselt, und ich bin mir sicher, dass sie mir nur eine bösartige Falle stellt. Ich habe überhaupt nichts bestellt! Sobald ich die Tür aufmache, hält sie mir bestimmt bloß abermals Vorträge über Ruhezeiten in Mehrfamilienhäusern. Ich will mich gerade umdrehen, als ich einen dumpfen Knall vernehme. Roadrunner winselt kurz auf.

»Es liegt jetzt vor Ihrer Tür, das nehme ich auf gar keinen Fall wieder mit nach unten. Erstens wiegt es Tonnen, und ich bin schließlich keine sechzig mehr, zweitens kommt ein ganz widerlicher Gestank aus dem Paket, und drittens tropft es. Was haben Sie sich da bitte schön schicken lassen?«

Ach, verdammt! Ein stinkendes nasses Paket kann nur eins bedeuten: ein weiterer misslungener Versuch meiner Mutter, mir ein Stück Heimat zukommen zu lassen. Ergeben öffne ich die Tür, vor der Frau Schimmelpfennig nach wie vor steht und mich unter ihrer rosastichigen Dauerwellenperücke wie gewohnt grimmig ansieht. »Ich wusste doch, dass Sie da sind. Ihr komischer Kläffer hat übrigens zum wiederholten Mal den kompletten Vormittag Lärm veranstaltet. Schu-schu-schu, so ging das die ganze Zeit. Leinen Sie ihn doch wenigstens an, wenn Sie zur Arbeit fahren. Das erträgt ja kein Mensch. Ich konnte kaum verstehen, was Richterin Salesch zu sagen hatte. Dabei war es diesmal besonders spannend. Da ging es um eine Frau, die mit einem durch Schlangengift manipulierten Vibrator ermordet wird, der eigentlich ihrer besten Freundin gehört. Und da …«

»Guten Tag, Frau Schimmelpfennig. Danke, dass Sie mein Paket entgegengenommen haben. Der Hund wird ab sofort im Körbchen liegen, versprochen!« Mit diesen Worten unterbreche ich sie, bevor sie weiter ins Detail geht, schnappe mir den Karton und schlage die Tür schnell wieder zu. Wenn sie jemanden zum Diskutieren sucht, sollte sie bei Herrn Rühlemann aus dem Erdgeschoss klingeln und ihm erklären, dass Elvis Presley schon vor über vierzig Jahren gestorben ist. Er wird ihr in passendem Kostüm direkt das Gegenteil beweisen wollen. In den vier Jahren, seit ich hier wohne, habe ich zumindest die Nachbarn, die nicht der ständigen Mietfluktuation zum Opfer gefallen sind, recht gut kennengelernt.

Die dubiose Sendung trage ich mit weit von mir gestreckten Armen in meine Pantryküche, die einen Teil des Wohnzimmers einnimmt, und stelle sie dort auf dem Fußboden ab. Roadrunner kommt hinter mir her gerobbt. Nicht mal die Krallen an seinen Pfoten erzeugen Geräusche auf dem Linoleum, ich frage mich wirklich, was die werte Frau Nachbarin da immer zu hören glaubt. Der Hund schnüffelt interessiert an dem Päckchen, niest drei Mal hintereinander und tritt dann den Rückzug an. Ich bilde mir ein, zu sehen, wie seine grauen Schnauzhaare sich kräuseln. Jedenfalls würde es mich nicht wundern, es riecht tatsächlich ziemlich streng. Mit einem Messer bewaffnet wage ich es, den Karton zu öffnen. Zwischen undichten Eiswürfelbeuteln, in denen statt Eis nur noch Reste von Wasser stehen, entdecke ich, in Frischhaltefolie verpackt, einen Mett-Igel inklusive der Zwiebel-Stacheln und einer Oliven-Nase, ein Dutzend Würstchen, vier Schälchen selbst gemachten Fleischsalat, einen Kringel Knoblauchfleischwurst und diverse Lagen aufgeschnittener Frischwurst, die inzwischen nicht mehr den allerfrischesten Eindruck erweckt. Dazu zehn große Gläser Frühstücksfleisch, das vermutlich sogar genießbar ist, doch leider überhaupt nicht meinem Geschmack entspricht. Kopfschüttelnd klappe ich den Deckel wieder zu. Ein- bis zweimal im Jahr gibt meine Mutter ein Paket auf, das sie randvoll mit Delikatessen aus der Metzgerei füllt. Dabei beweist sie fatalerweise wenig Feingefühl für Kühlketten, mit dem Ergebnis, dass insbesondere die Sommerpakete in sehr fragwürdigem Zustand bei mir eintreffen. Alle Versuche, sie davon zu überzeugen, nichts weiter zu schicken, hat sie bisher rigoros ignoriert. Man sollte glauben, eine Metzgersfrau verfügt über mehr Verstand, was Lebensmittel und deren Haltbarkeit betrifft, aber da überwiegt offenbar der Wunsch, die verlorene Tochter mit ordentlichen Wurstwaren in der aus ihrer Sicht kulinarisch unterversorgten Großstadt zu beglücken.

Bevor meine Wohnung von Maden und anderem Getier heimgesucht wird, beschließe ich, das gut gemeinte Ekelpaket wegzuwerfen und den Weg zur Mülltonne gleich für einen Spaziergang mit Roadrunner zu nutzen. Beim Griff zu seinem Rollstuhl, einem Gestell mit gepolsterter Kunststoffschale, zwei kleinen dicken Luftreifen und einem Stützrad, rastet mein kleiner Dackel beinahe aus vor Freude, was in seinem Fall bedeutet, dass er sich mithilfe seiner Vorderläufe wie ein Berserker im Kreis dreht. Mir wird bereits beim Anblick der vielen Drehungen schwindelig. Mit seinem Hunderollstuhl ist er so flott unterwegs wie ein gesunder Hund, auch wenn er damit in jedem Fuchsbau stecken bleiben würde. Die findet man auf unserer Gassiroute in Wilhelmsburg eher selten, ich brauche daher nicht zu befürchten, jemals kostspielige Feuerwehrrettungseinsätze bezahlen zu müssen.

Glücklicherweise gibt es in meinem ansonsten wenig komfortablen Haus einen Aufzug, sodass ich es mir sparen kann, Fleischpaket und Hund vom vierten Stock die Treppen hinunter schleppen zu müssen. Die Aufzugskabine riecht normalerweise nach einem Mischmasch aus Schweiß, Kellerraummuff und einem Hauch Oma-Parfüm, was nun allerdings vollkommen vom Odeur des Mett-Igels und seiner Wurstfreunde übertüncht wird. Roadrunner steht neben mir und wippt mit dem Köpfchen, was er sich als Ausgleich zum fehlenden Schwanzwedeln angewöhnt hat. Ich halte den Atem an, bis sich die Türen im Erdgeschoss wieder öffnen, und stürme in Richtung frischer Luft. Dummerweise schieße ich mit etwas zu viel Schwung um die Ecke und pralle, Nase und Ekelpaket voran, irgendwo gegen.

»Aua! Sie müssen wohl auch erst noch einen Fußgängerführerschein machen! Ach, Tilda, du bist es!« Mein umgerempeltes Hindernis wechselt von einer zornig krausgezogenen Stirn zu einem strahlenden Lächeln, das sofort verschwindet. »Was stinkt hier denn so?«

»Tut mir leid Bibi, der Geruch ist der Grund für meine überstürzte Flucht aus dem Fahrstuhl. Ich habe hier einen kleinen Gammelfleischskandal zu entsorgen.« Ich werfe meiner Nachbarin aus dem fünften Stock einen entschuldigenden Blick zu und deute auf mein Paket, dessen Pappverpackung sich dank einer Mischung aus Fleischsaft und geschmolzenen Eiswürfeln an der Unterseite langsam aber sicher aufzulösen droht.

»Das ist ja furchtbar!« Bibi rappelt sich hoch, schüttelt ihr wasserstoffblondes Haar, das sich, toupiert und mit Haarspray fixiert, wie es ist, keinen Millimeter bewegt, und streicht ihren blauen Minirock glatt.

»Nicht wahr? Ich finde auch, dass es widerlich riecht.«

»Doch nicht das!«

»Wie? Was denn?«

Sie hebt anklagend den Finger. »Es ist furchtbar, dass Tiere sterben mussten, und ihr Tod dann noch nicht einmal gewürdigt wird. Was für eine traurige Verschwendung von Leben.«

»Ach so! Na ja, meine Eltern verarbeiten nur Biofleisch, du kannst sicher sein, dass die Tiere bis zu ihrem Tod artgerecht gehalten wurden und glücklich und zufrieden vor sich hin gemuht, gegrunzt und gekräht haben.«

»Du bist auch von vorgestern, oder? Du glaubst doch selbst nicht, dass Bio grundsätzlich bedeutet, dass Schweine, Rinder oder Hühner leben wie auf einem Bullerbü-Hof, oder etwa doch?«

Mir entweicht ein kaum hörbarer, entnervter Seufzer. Seit ich in diesem Haus wohne, ist Bibi mir trotz der zehn Jahre, die sie älter ist als ich, eine gute Freundin geworden. Ihren Ansichten über Tierhaltung zu lauschen, ist mitunter jedoch etwas anstrengend. Ich bin nun mal eine Metzgerstochter durch und durch, schließlich habe ich vor meinem Berufswechsel sogar eine Ausbildung zur Fleischereifachverkäuferin abgeschlossen. Auch wenn das nicht mein Traumjob war, habe ich dennoch meine Vorliebe für Fleisch und Wurst nie abgelegt. »Du und dein nobles Gewissen! Du solltest mal nach Langeoog fahren. Mein Onkel hat da letztes Jahr ein veganes Biohotel eröffnet, das wäre bestimmt das Richtige für dich.«

Bibi verengt ihre Augen zu Schlitzen, was die Fältchen in ihren Augenwinkeln zu kleinen Kratern werden lässt. »Dieses riesige Hotel mit Spa-Bereich, das komplett auf tierische Produkte verzichtet und über das so viel in der Zeitung berichtet wurde? Nee, lass mal, das klingt spannend, aber vegan ist nichts für mich! Du weißt doch, ich bin Flexitarier!«

»Flexi-was?« Den Ausdruck höre ich zum ersten Mal.

»Na, ich bin so eine Art Teilzeit-Vegetarier! Fleisch gibt es bei mir maximal ein bis zwei Mal im Monat und dann nur welches von meinem persönlichen Fleischdealer!«

»Triffst du den heimlich in einer dunklen Gasse und tauschst Geld gegen Kuh, oder wie muss ich mir das vorstellen?«

»Quatsch! Der kauft das Fleisch auf einem Hof in Mecklenburg-Vorpommern, auf dem ein Bauer tatsächlich noch auf ursprüngliche Landwirtschaft und Tierhaltung setzt. Da leben die Nutztiere wie ihre wilden Vorfahren. Das hat seinen Preis, aber das schmeckt man auch! Und in rationierten Portionen gibt er es dann an seine Kunden weiter, von denen ich einer bin. Läuft alles übers Internet.«

Ich stelle mir die Fleischjunkies vor, wie sie zitternd sekündlich ihre Maileingänge aktualisieren, um zu sehen, ob es endlich Neuigkeiten über ihre nächste Ration Schweinshaxe gibt. Trotz einer familieneigenen Bio-Metzgerei landen auf meinem eigenen Teller leider nur die abgepackten Waren aus dem Discounter. Und das aus gutem Grund! »Wie kannst du dir denn dieses Luxusfleisch leisten?«

»Solange man so selten Fleisch isst wie ich, kann sich das jeder leisten, selbst wenn es sonst nicht für viel reicht.« Bibi deutet mit einer Grimasse auf unseren Wohnbunker, der über mehr Klingelschilder verfügt als ein Tausendfüßler über Beine.

Roadrunner unterbricht unser Geplänkel mit einem quietschenden Gähnen. Er will augenscheinlich lieber eine Runde um den Block rollen.

»Du hast ja recht«, gebe ich zu. »Aber die Tiere, die für dieses Fleisch hier gestorben sind, haben die ewigen Jagdgründe schon vor langer Zeit erreicht. Zu langer Zeit! Das Paket wandert jetzt in den Abfall!«

»Ich schicke dir gern eine Mail mit der Internetadresse von meinem Flexitarierforum. Da kannst du dir einen Überblick verschaffen, wie viele Tiere heutzutage für die Fleischproduktion sterben müssen, obwohl ein Großteil davon letztlich auf dem Müll landet. Überflussgesellschaft!« Das letzte Wort spuckt sie förmlich aus.

»Ja, mach das, ich guck bestimmt mal rein«, lüge ich. »Und nun gehe ich Gassi.«

»Ich glaube, dein Hund braucht keinen Auslauf mehr.«

»Wie?« Ein Blick auf den Boden genügt, um zu verstehen, was Bibi damit meint. Roadrunner steht inklusive seines Hunderollstuhls in einer großen Pipipfütze. Und ich bilde mir ein, dass er anklagend zu mir hochschaut. Ich hab dir doch gesagt, dass ich muss. Für Tiere, tote wie lebendige, habe ich heute offensichtlich kein gutes Händchen.

Kapitel 2

Dicht über den asphaltierten Bürgersteigen sieht man die Luft flirren, ansonsten scheint sie dagegen stillzustehen, und sie legt sich wie eine schwere viel zu warme Wolldecke um meinen Körper. Der hat als direkte Reaktion auf die ungewohnt heißen Temperaturen sofort begonnen, an den besonders exponierten Stellen Achsel, Stirn und unter den Brüsten Schweiß abzusondern. Immer wieder wische ich mir die Tropfen aus dem Gesicht, die nur von meinen Augenbrauen auf dem Weg nach unten gebremst werden. Wie gut, dass ich mich dem Trend eines hippen haarlosen Brauenstrichs widersetzt habe, denn so verhindern die feinen Härchen immerhin kurzfristig, dass mir der Schweiß unmittelbar in die Augen fließt. Gegen meine inzwischen durchnässte Bluse kann ich leider wenig unternehmen außer von Zeit zu Zeit zu versuchen, mir mit dem Stoff einen Hauch Luft auf die Haut zu fächeln. Da meine U-Bahn ausgefallen ist, war die darauffolgende doppelt so voll, und ich hatte in dem überfüllten Abteil unfreiwillig nähere Bekanntschaft mit fremden verschwitzen Körpern geschlossen, was ebenso wie die Tatsache, dass ich nun spät dran bin, nur noch zu mehr Schweißausbrüchen meinerseits geführt hat. Als ich endlich das imposante Gebäude des Abendkurier zwischen Alster und Elbe betrete, hat mein Oberteil einen ungewollten Batiklook angenommen, und die Wirkung meines Deos scheint dazu rapide nachzulassen. Es sei denn, der Geruch, der mir in die Nase steigt, stammt von Gerda, der Empfangsdame, die mir stets etwas zu gut gelaunt eine Begrüßung entgegenschmettert. Da das Foyer besser temperiert ist als ein Kühlschrank, werfe ich alle Hoffnungen über Bord, dass die dezente Schweißnote von jemand anderem als von mir ausgeht.

»Guten Morgen«, murmele ich, als ich schnurstracks an ihrem dauerlächelnden Antlitz vorbei in Richtung der Anzeigenredaktion laufe. Die liegt im Erdgeschoss und gehört scheinbar zu den einzigen Räumlichkeiten, bei denen an Fenstern gespart wurde. Wer braucht schon Tageslicht! Die wenigen schlitzartigen Fenster des Großraumbüros reichen jedenfalls nicht aus, um ohne weitere Beleuchtung durch Neonröhren arbeiten zu können. Die wichtigen Ressorts der Zeitung, wo die Leute sitzen, deren Namen oder zumindest Kürzel unter den Artikeln erscheinen, befinden sich alle in den oberen Etagen mit einem phänomenalen Ausblick auf Hamburg. Und das weiß ich nur, weil dort auch die Kantine zu finden ist.

»Fräulein Gockel!« Die Türklinke bereits in der Hand, bremst mich Gerdas Stimme mitten in der Bewegung aus. Erstaunt werfe ich einen Blick zurück. Habe ich vielleicht Dreck an den Schuhen, den ich nun überall verteile, oder wieso spricht sie mich erneut an?

Das festgetackerte Lächeln im Gesicht, winkt sie mich mit dem Zeigefinger zu sich heran. »Kommen Sie doch mal!« Ihr verschwörerischer Tonfall weckt tatsächlich meine Neugier. Gehorsam tapere ich zu ihrem Empfangstresen, hinter dem sie thront wie die Queen höchstpersönlich. Wenn sie mir gleich eine Ersatzbluse oder ein Deodorant anbietet, muss ich sie allerdings leider umbringen und wie das Fleischpaket meiner Mutter sofort entsorgen.

»Heute wird ein besonderer Tag für Sie.«

»Wie bitte?« Ich verstehe nicht recht, worauf sie hinauswill.

»Ich habe da etwas gehört.« Sie zwinkert und zeigt weiterhin ihre makellosen Zähne.

Nun werde ich hellhörig, denn Gerda ist nicht bloß eine Empfangsdame, sie ist ein wandelndes Informationszentrum, insbesondere für die Informationen, die nicht in den allgemeinen Rundmails stehen. Wenn sie sagt, sie habe etwas gehört, dann handelt es sich dabei meist um pikante Details: ungeplante Schwangerschaften, Affären oder Kündigungen. Dass die ausgerechnet mich betreffen, wage ich zu bezweifeln, denn außer Gerda und meinen Kolleginnen aus der Anzeigenredaktion kennt beim Abendkurier vermutlich niemand sonst auch nur meinen Namen, geschweige denn irgendwelche Neuigkeiten aus meinem Leben. Ganz davon abgesehen ist mein Leben völlig ereignislos. Sie kann folgerichtig gar nichts Ungewöhnliches über mich erfahren haben. Es sei denn, man will mich feuern! Oh Gott, das muss es sein, ich werde gefeuert! Aber Stopp! Hat sie nicht gesagt, es würde ein besonderer Tag für mich werden? Oder meint sie damit, es wird ein besonders schlechter? Bevor ich weiterspekuliere, sollte ich einfach mal nachhaken. »Und was genau haben Sie gehört?«

Jetzt klimpert sie wahrhaftig mit den Wimpern. »Nichts Bestimmtes, lassen Sie sich überraschen!«

»Ich soll was? Das ist doch nicht Ihr Ernst! Sie werfen mir so einen Brocken vor die Füße und lassen mich dann am langen Arm verhungern?« Beinahe hätte ich mit dem Fuß aufgestampft wie ein bockiges Kind.

Gerdas zuckersüßes Lächeln verwandelt sich in ein Haifischgrinsen, man kann förmlich spüren, wie sie sich in ihrer Macht suhlt, so deutlich mehr zu wissen als alle anderen.

»Möglicherweise stimmt es ja gar nicht, was mir zu Ohren gekommen ist, daher nur so viel, es könnte sein, dass Sie bald nicht mehr in der Anzeigenredaktion arbeiten werden.«

Meine Kniescheiben scheinen sich abrupt in eine knorpellose Masse zu verwandeln, und ich kralle mich erschrocken an der Kante des Tresens fest, um nicht umzufallen. Also will man mich wirklich feuern! Aber wieso? In Gedanken gehe ich alle Verfehlungen der vergangenen Zeit durch. Mir fallen nicht viele ein. Ich vergesse ständig, Geld in die Kaffeekasse zu werfen, darüber könnte sich jedoch höchstens meine Kollegin Lisa aufregen, die dafür sorgt, dass immer genug Kaffeepulver vorhanden ist. Letzte Woche habe ich innerhalb der Arbeitszeit bei einer Gewinnspielhotline von Radio Energy angerufen, um ein Auto zu gewinnen, was eine völlige Schnapsidee war, ich habe nämlich nicht einmal einen Führerschein. Ist das etwa herausgekommen? Ich habe doch mein Handy benutzt! Gibt es in der Redaktion jemanden, der mich angeschwärzt hat?

»Fräulein Gockel?«

»Hm?« Hat sie noch irgendetwas gesagt?

»Müssen Sie nicht langsam mit der Arbeit beginnen?«

»Ach so, ja.« Solange ich meinen Job weiterhin habe, sollte ich mir besonders viel Mühe geben, vielleicht kann ich damit meinen Hals aus der Kündigungsschlinge winden.

Über weitere Verstöße meinerseits nachdenkend, betrete ich das Büro. Eine Welle schwüler Luft schlägt mir entgegen, die durch zwei brummende Standventilatoren nur aufgewirbelt anstatt heruntergekühlt wird. Eine zusätzliche Sparmaßnahme in der Anzeigenredaktion. Während wir schwitzen, sitzen die Redakteure über uns in ihren klimatisierten Räumen und schlürften literweise Kaffee. Mehr als eine Tasse würde hier unten zu sofortigem Hitzschlag führen. Das Hamburger Wetter macht eine Klimaanlage im Regelfall zugegeben selten nötig, aktuell würde ich allerdings alles für einen kühlen Arbeitsplatz geben. Gerdas Worte über meine Zukunft bei dieser Zeitung im Hinterkopf, schlendere ich, zum Gruß nickend, durch die Reihen. Außer meinem eigenen kleinen Schreibtisch sind bereits alle anderen Telefonplätze belegt, und das stete Murmeln der Kolleginnen, die Texte für Anzeigen entgegennehmen, erfüllt den Raum. Ich rücke mir den Stuhl zurecht und ziehe eine Flasche Mineralwasser aus meiner Handtasche. Die fühlt sich trotz einer Nacht im Kühlschrank nach der kurzen Strecke draußen längst an wie lauwarmer Tee, aber angeblich sind warme Getränke zum Durstlöschen sowieso besser geeignet als kalte. Falls ich tatsächlich meinen Job verliere, benötige ich am Ende des Tages wohl eher einen Schnaps. Danach öffne ich die Schublade und krame zwischen alten Müsliriegeln, unzähligen Kugelschreibern und Werbegeschenken eine Dose Deo hervor. Verstohlen blicke ich mich um, ehe ich durch die obere Öffnung meiner Bluse zwei Sprühstöße unter meinen Achseln verteile. Der Ventilator neben meinem Platz suggeriert zumindest den Hauch eines Luftzuges. Nun fühle ich mich gewappnet, einen weiteren zähen Arbeitstag hinter mich zu bringen. Ich logge mich an meinem Computer ein und setze das Headset auf. Der erste Anruf lässt nicht lange auf sich warten.

»Guten Tag, Sie sind verbunden mit der Anzeigenredaktion des Abendkurier, mein Name ist Tilda Gockel, was kann ich für Sie tun?«, flöte ich mein Sprüchlein in das Mikro.

»Moin, ich will eine Anzeige aufgeben.« Die Stimme der Frau klingt gelangweilt. Ich kann das gut verstehen, nach einem Jahr mit immer denselben Worten, die ich für die Anzeigen aufnehme, geht es mir nicht anders.

»Ja, da sind Sie genau richtig bei mir. Welche Rubrik soll es denn sein?«

»Was gibt es denn?«

»Traueranzeigen, die fröhlichen Familienanzeigen, Stellenangebote, Immobilien oder den Gebrauchtmarkt«, zähle ich alles auf.

»Hm.«

»Hm? Soll das heißen, Sie wissen nicht, in welche Rubrik Ihr Text am besten passt? Vielleicht lesen Sie mir einfach mal den Text vor, und ich mache Ihnen dann einen Vorschlag.« Ich unterdrücke ein Seufzen, manchen Kunden muss man wirklich alles aus der Nase ziehen.

»Hm.« Das zweite Hm wird von einem verächtlichen Schnauben unterlegt. »Gibt es unter Umständen so etwas wie fröhliche Traueranzeigen?«

»Wie bitte?« Ich bin selten irritiert von dem, was die Leute am anderen Ende der Leitung mir so erzählen, aber diese Frage erwischt mich in der Tat eiskalt.

»Na, wenn ich beispielsweise sagen möchte: Harald, es ist so schön, dass du endlich die Radieschen von unten siehst, deine Witwe Uta und ich können es gar nicht abwarten, dein Geld zu verprassen, mach’s gut, alter Frauenheld, und grüß uns die Hölle, passt das doch irgendwie in keine der von Ihnen genannten Rubriken, oder?«

»Öhm.« Jetzt ist es für mich an der Zeit, einsilbig zu werden. Ist das womöglich ein Test meines Chefs, um meine Souveränität zu prüfen? Der Grund, wieso dieser Tag laut Gerda ein besonderer für mich werden soll?

»Ach, wissen Sie was, schreiben Sie es zu den Familienanzeigen, es ist ja letztlich ein fröhliches Ereignis, ich für meinen Teil freue mich jedenfalls darauf, sein Geld mit vollen Händen auszugeben. Soll ich es Ihnen erneut diktieren?«

Ich nicke abwesend, bis mir auffällt, dass die gute Frau mich ja gar nicht sehen kann. Mein »Ja, bitte« kommt allerdings etwas kieksig heraus, sodass ich mich erst einmal räuspere. Der Club der ausgelassenen Witwen – wenn der Tod des Partners ein Grund zur Freude ist. Ein neuer Trend?, formuliere ich in Gedanken eine Schlagzeile, wie häufig, wenn ich eine eher skurrile Anzeige auf den Tisch bekomme. Manchmal setze ich mich nach Feierabend sogar an meinen Laptop zu Hause, schreibe den passenden Artikel und stelle mir vor, wie er im Abendkurier erscheint. Ich habe bereits einen stattlichen Ordner voll, auch Texte zu anderen Themen finden sich darin, hauptsächlich aus Politik und Kultur.

»Hallo, sind Sie noch dran?«

Ich muss mich abermals räuspern. »Natürlich, ich höre!«

Nach der fröhlichen Traueranzeige reihen sich die üblichen Anrufe aneinander, bis mir die Hochzeitsanzeigen viel zu vieler viel zu glücklicher Paare zu den Ohren herausquellen. Ein weiterer Nachteil dieses Jobs, ich werde am laufenden Band mit dem Leid, vor allem aber auch mit dem Glück anderer konfrontiert, und das trifft bei mir eine ziemlich empfindliche Stelle, einen leeren Fleck in meinem Herzen, der sich immer weiter in meinem Körper auszubreiten droht. Für einen winzigen Augenblick blitzt ein Gesicht vor mir auf, und ich wische es mit einer imaginären Handbewegung schnell weg. Die Vergangenheit soll sicher verschlossen in der hintersten Ecke meines Hirns bleiben. Um diesem schmerzhaften Gefühl zu entkommen, füge ich statt des lächelnden Brautpaares zwei fies grinsende Teufel in die letzte Anzeige ein, die ich gerade online aufgenommen habe, und ergänze den Text geringfügig. Josefine und Tim forever … in hell. Einen Moment starre ich die Vorlage an, dann ändere ich sie zurück und beschließe, dass es eindeutig Zeit für eine Pause ist.

Trotz der vorherrschenden Hitze in der Anzeigenredaktion steht mir der Sinn nach einer Tasse Kaffee. In unserer überschaubaren Küche, in der sich nicht mehr als zwei Personen gleichzeitig aufhalten können, entdecke ich meine Kollegin Miriam, die den Hals reckt, um durch das winzige Fenster zu schauen, das sich zwar nicht öffnen lässt, aber einen hervorragenden Ausblick auf die gegenüberliegende Seite des u-förmigen Gebäudes freigibt. Dessen Räume beherbergen das Wochenendmagazin, ein Ressort, das hier im Haus fast so stiefmütterlich behandelt wird wie das der Anzeigen, nur dass die Kollegen im Gegensatz zu unseren Sehschlitzen über richtige Fensterfronten verfügen.

»Na, wen beobachtest du?«

Miriam zuckt ertappt zusammen, dreht sich um, und erst als sie mich erkennt, weicht die Röte langsam wieder aus ihren Wangen. »Ach, du bist es bloß.« Mit einem Grinsen deutet sie mit dem Kinn in Richtung Fenster. »Schau mal, wer heute mit dem Fahrrad zur Arbeit gekommen ist.«

Ich spähe durch die Scheibe, und mir entweicht ein entzücktes Seufzen. Mit dem Rücken zum Fenster steht der schönste Hintern des ganzen Abendkurier, und das in Radlerhosen! Knielangen hautengen Radlerhosen, an deren Enden durchtrainierte braun gebrannte Waden zum Vorschein kommen. Es fehlt nicht viel, dass ich mir die Nase am Fensterglas platt drücke. Ich seufze erneut, denn wirklicher Worte bedarf es gar nicht.

»Nicht wahr?« Miriam kichert mädchenhaft und legt den Kopf schief.

In diesem Moment beugt sich der zum Hintern dazugehörige Mann nach vorn, sodass wir seine prachtvolle Rückansicht – prall und muskulös zugleich – noch besser bewundern können, was wir zeitgleich mit einem finalen Seufzer quittieren.

Sebastian Lauterbach ist nahezu der alleinige Grund, weshalb es sich lohnt, zur Arbeit zu gehen. Miriam und ich haben seinen ersten inoffiziellen Fanclub gegründet, der selbstverständlich nur zwei ständige Mitglieder besitzt, die sich täglich in der Kaffeeküche zu einem Fantreffen verabreden. Als Redakteur beim Wochenendmagazin, das jeden Samstag als Beilage beim Abendkurier erscheint, schreibt er insbesondere über kulinarische Themen, Neueröffnungen von Restaurants, Ernährungstrends oder saisonale Nahrungsmittel. Obwohl ich mich für das Thema gar nicht so überragend begeistere, verschlinge ich jeden seiner Artikel, einfach um mir vorzustellen, wie er zu Recherchezwecken in einem Lokal sitzt, an einem Glas Wein nippt und nonchalant die Karte studiert. Zusätzlich zu einer sehr ansehnlichen Rückseite hat er viele weitere Attribute, die ihn als Sahnehäppchen ausweisen, zumindest, wenn man auf Männer steht, die als Italiener durchgehen könnten. Sein schwarzes Haar fällt ihm leicht gewellt bis zu den Ohren, seine großen Augen mit dichten ellenlangen Wimpern sind ebenso dunkel wie seine markanten Augenbrauen. Dazu ein Teint, der immer die Sehnsucht nach Sonne und Süden in mir weckt. Eigentlich müsste er Luigi oder Giovanni heißen, ich frage mich, ob in seiner Ahnenreihe Südländer auftauchen. Meine Ahnenreihe hingegen muss seit Jahrhunderten aus Nordlichtern bestehen, denn ich bin optisch das genaue Gegenteil. Neben meiner käsigen Hautfarbe, deren einziger Farbtupfer aus einer riesigen Ansammlung von Sommersprossen besteht, haben meine Augen ein wässriges Blau, und meine blonden Haare wirken stets etwas rotstichig. Vermutlich waren vor langer Zeit ein paar Wikinger unter meinen Vorfahren. Insgesamt sehe ich also aus wie jemand, der zu lange im Keller eingesperrt wurde. Aber ich rede mir ein, dass Dunkel und Hell bekanntermaßen die perfekte Kombination ist, Dominosteine, Yin und Yang, die deutsche Nationalmannschaft, Schokoküsse.

»Mmhm, Schokoküsse!«

»Was?«

»Ähm, ich meine, davon hätte ich jetzt gern einen.«

Miriam zieht die Brauen in die Höhe. »Du hast gerade Sebastian Lauterbachs Hintern vor der Nase, wie kannst du da an Süßkram denken?«

»Du bist verheiratet, wie kannst du da an fremde Hintern denken?«

»Und du bist überhaupt nicht an Männern interessiert, sondern an einer Karriere als Journalistin, wenn ich dich an deine eigenen Worte erinnern darf, und trotzdem schmachtest du den Hintern an.« Miriam streckt mir lachend die Zunge heraus.

Ja, ja! Es stimmt, ich habe der Männerwelt abgeschworen, um mich voll und ganz darauf zu konzentrieren, meinen beruflichen Werdegang voranzutreiben. Aber deswegen darf ich doch attraktive Hintern bewundern! Nur weil ich beschlossen habe, der Liebe in meinem Leben keinen Platz mehr zu lassen, muss ich ja nicht zwangsläufig lustlos dahinsiechen wie in einem Klosterorden.

Der Hintern besitzt auch ein Gesicht, und das dreht sich in diesem Moment zu uns hin. Wie auf Kommando ducken wir uns unterhalb des Schießschartenfensters.

»Meinst du, er hat uns gesehen?«

»Wir benehmen uns wirklich wie zwei dumme kleine Teenagermädchen, das muss aufhören!« Entschlossen strecke ich mich aus der Hocke nach oben und wage einen Blick in Sebastians Richtung. Der ist inzwischen in ein Gespräch vertieft und schält sich dabei einen Apfel mit einem Taschenmesser. »Kannst wieder hochkommen.«

Mit einem unüberhörbaren Knacken ihrer Kniegelenke steht Miriam auf. »Müsste mal wieder Sport treiben«, murmelt sie und reibt sich das Knie. Mit einem Nicken deutet sie Richtung Sebastian. »Isst der eigentlich jeden Tag Äpfel? Müssen ihm die nicht langsam zum Hals heraushängen?«

In der Tat sieht man Sebastian Lauterbach die meiste Zeit irgendwelches mitgebrachtes Grünzeug verspeisen. Während wir uns in der Kantine an Gyros, Pommes, Schnitzel und Gulasch laben, ist er dort leider nur höchst selten anzutreffen. Wenn, dann sitzt er zusammen mit seinen Kollegen aus dem Wochenendressort an einem der Tische und schlürft Mineralwasser durch einen Strohhalm.

»Na ja, die Figur kann ja nicht von ungefähr kommen«, erkläre ich und versuche mir vorzustellen, wie Sebastian wohl nackt aussehen könnte.

Miriam wirft mir einen dieser Blicke zu, bei denen ich jedes Mal ein bisschen Angst vor ihr kriege. »Na, du hast gut reden, bist doch selbst so ein Strich in der Landschaft, dabei futterst du, was du willst.«

Ich mache eine entschuldigende Geste, mit zu viel Gewicht habe ich tatsächlich nicht zu kämpfen, ganz im Gegenteil, ich wünsche mir an den interessanten Stellen ein paar Pfunde dazu, damit ich nicht länger aussehe wie eine hagere Spinne. Was mir an Busen und Po fehlt, gleiche ich bedauerlicherweise nur durch lange Arme und Beine aus. Meine diätgeschädigten Freundinnen sehen jedoch nur meinen flachen Bauch und weisen mich in schöner Regelmäßigkeit neidvoll darauf hin. Statt mich für meinen überragenden Stoffwechsel zu rechtfertigen, tippe ich auf meine Armbanduhr. »Ich glaube, wir sollten unsere Pause langsam beenden.«

»Stimmt, Sebastian ist ebenfalls schon an seinen Schreibtisch verschwunden.«

Gemeinsam verlassen wir mit unseren dampfenden Bechern die Kaffeeküche, als die Großraumbürotür mit Schwung aufgerissen wird.

»Leute, das ist Cindy. Sie kommt vom Wilhelm-Gymnasium und macht hier eine Woche lang ihr Praktikum. Die da oben haben mal wieder keine Lust, jemanden zu betreuen, ihr wisst ja, wie das läuft.« Hubert, der als Oberchef für die ungeliebten Ressorts aus dem Erdgeschoss fungiert, lässt seinen Bass durch unser Büro dröhnen, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob einige von uns sich in Telefongesprächen befinden oder nicht. Vor sich her schiebt er ein junges Mädchen, das ich optisch irgendwo zwischen Rocky Horror Picture Show und Edward mit den Scherenhänden einordne. Ihr schwarz-pinkes Haar trägt sie in einem Undercut-Schnitt, aus ihrem ansonsten blassen Gesicht stechen blutrot geschminkte Lippen hervor, aus denen sich soeben eine quietschgrüne Kaugummiblase aufbläht, um anschließend effektvoll mit einem Knall zu zerplatzen. Sie ist in eine schwere dunkle Lederkluft gehüllt, doch auf ihrer Stirn zeigt sich zu meinem Erstaunen nicht ein einziger Schweißtropfen. »Cindy, die Damen werden sich sicherlich gut um dich kümmern.« Hubert streckt den Daumen in die Höhe, zwinkert in die Runde und schnalzt mit der Zunge, bevor er die Tür hinter sich schließt.

»Whatever!« Cindy hebt eine gepiercte Augenbraue und steuert nach kurzem Suchen auf einen leeren Stuhl zu, welcher ausgerechnet meiner ist. »Anzeigen, hm?« Sie greift nach meinem Wackeldackel, den ich mir als kleines Gimmick auf den Schreibtisch gestellt habe, und lässt dessen Kopf wippen, indem sie einmal mit dem Finger dagegenschnipst.

»Also eigentlich ist das mein …«, beginne ich meinen Satz und verstumme dann wieder. Cindy mag vermutlich erst fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein, trotzdem hat sie offensichtlich bereits nach einer Minute begriffen, dass eine Stelle in der Anzeigenredaktion so ziemlich das Ödeste ist, das einem passieren kann, und mit Journalismus ungefähr so viel zu tun hat wie Wrestling mit Eiskunstlauf. Das rechtfertigt dennoch nicht, dass sie auf meinem Platz sitzt. Um ihr dies klarzumachen, stelle ich demonstrativ meine volle Kaffeetasse auf den Schreibtisch. Ohne ein Wort zu verlieren, nimmt sie diese und trinkt einen großen Schluck. »Nächstes Mal bitte ohne Zucker.«

Ich öffne und schließe meinen Mund ein paar Mal wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber es kommen keine Laute heraus. Die hat vielleicht Nerven. Entschlossen greife ich nach meiner Tasse, ich habe nur nicht mit Cindys Gegenwehr gerechnet, denn die hält den Henkel fest umschlossen.

»Was soll das? Hol dir deinen eigenen Kaffee«, raunzt sie mich an.

»Also, das ist doch … das ist …!« Mit aller Kraft ziehe ich an der Tasse und bemühe mich zu ignorieren, dass ich mir dabei fast die Finger verbrenne. »Das ist meine!«

In diesem Moment lässt Cindy los, und ich setze zu einem triumphierenden Kommentar an, aber mein Arm hat noch zu viel Schwung, und kann nicht verhindern, dass selbiger samt der Tasse katapultartig nach hinten schießt. Ich spüre, wie die Tasse meinen Fingern entgleitet. Cindys »Oh« klingt in meinen Ohren wie in extremer Zeitlupe abgespult. Ich kann nicht sehen, was hinter mir passiert, mir ist allerdings klar, dass es nichts Gutes sein kann. Ein lautes Chr-Geräusch, gefolgt von einem nicht unerheblichen Knall, untermalt meine Annahme, obwohl ich zunächst nicht zuordnen kann, wie es zustande gekommen ist. Als ich mich umdrehen will, um der Sache auf den Grund zu gehen, liegt die Redaktion urplötzlich im Halbdunkel. Die Deckenbeleuchtung ist ausgefallen, die Bildschirme aller Rechner sind schwarz, nur durch die schmalen Fenster fällt spärlich das Tageslicht. Für einen kurzen Augenblick ist es mucksmäuschenstill, bis ein aufgebrachtes Murmeln den Raum erfüllt.

»Was zum Teufel hast du gemacht, Tilda?«, vernehme ich Miriams Stimme zischend neben mir.

»Wieso ich?«

»Der Ventilator, sie hat den Ventilator geschrottet!«, erklärt Cindy wichtigtuerisch, wobei ihre pinken Haare im dämmrigen Licht des Raumes gespenstisch leuchten.

Ich blicke mich suchend um. Tatsächlich steht einer der beiden Standventilatoren direkt hinter mir. »Ich habe den überhaupt nicht berührt«, starte ich piepsend den Versuch, mich zu rechtfertigen.

Bei genauerem Hinsehen erkenne ich jedoch, dass der Inhalt meiner Kaffeetasse anscheinend komplett auf dem Ding gelandet ist. Ich schlucke. Von Technik verstehe ich nicht viel, aber hier kann selbst ich eins und eins zusammenzählen. Kurzschluss!

»Jetzt ruf doch mal jemand den Hausmeister. Hier ist ja ganz offensichtlich eine Sicherung rausgeflogen. Ich hatte gerade einen heulenden Witwer am Telefon, der eine halbseitige Anzeige aufgeben wollte«, motzt eine meiner Kolleginnen.

»Mach doch selbst, wenn du so schlau bist.«

»Tilda soll es machen, die trägt schließlich die Schuld!«

»Leu-heu-te! Beruhigt euch doch mal!«

Und dann bricht ein Tumult aus.

»Also, ich war es aber nicht ganz allein, Cindy war genauso dran beteiligt«, versuche ich mich aus der Affäre zu ziehen. Nicht extrem erwachsen, einen Teenager zum Sündenbock zu erklären. »Ich bring den Ventilator jetzt zum Hausmeister und bitte ihn, die Sicherung wieder reinzudrehen, in Ordnung?«, schiebe ich daher kleinlaut hinterher, selbst wenn mir nicht wirklich jemand zuzuhören scheint.

Ich trete einen Schritt vor und spüre, wie sich etwas vor meinem Schienbein straff spannt. Verdammt, das Kabel des Ventilators. Während mich diese Erkenntnis ereilt, falle ich auch schon Nase voran nach vorn. Reflexartig halte ich mich am nächstbesten Gegenstand fest. Leider ist dieser nicht besonders standfest, sodass ich zusammen mit dem ramponierten Ventilator gegen einen der Schreibtische krache. Es knirscht, poltert und klirrt, und mir entweicht ein spitzer Schmerzensschrei, als ich mit der Hüfte auf die Tischkante knalle. Augenblicklich herrscht wieder Ruhe im Büro.

»Tilda?«, durchbricht Miriams besorgte Stimme die Stille.

Ich rappele mich auf und betrachte entsetzt das Chaos. Der fehlende Strom ist noch das kleinste Übel. Der umgekippte Ventilator ist in einen der Computermonitore gefallen und hat diesem einen dicken Sprung beschert. Nun liegen sie in trauter Zweisamkeit reif für den Schrotthändler auf dem Fußboden. Dieser ist, ebenso wie ein Großteil der Schreibtische, Computer und Kolleginnen in einem nicht unerheblichen Umkreis, von Kaffeesprenkeln bedeckt. Mich überkommt der unbändige Wunsch, die Uhr dringend einige Minuten zurückzudrehen.

»Doch ganz cool hier!« Cindy lehnt sich zufrieden in meinen Schreibtischstuhl und grinst.

Kapitel 3

Ich ziehe den geschmolzenen Käse vom Spätzleteller mit der Gabel so weit nach oben, bis der Käsefaden reißt. Danach stochere ich weiter lustlos in meiner Portion herum. Sie haben die gesamte Anzeigenredaktion für zwanzig Minuten in die Zwangspause geschickt, bis die Schäden im Büro behoben sind. Zu allem Überfluss betrifft der Stromausfall die komplette untere Etage, sodass nicht bloß wir vorübergehend arbeitsunfähig sind. Selbstverständlich hat keine meiner Kolleginnen damit hinterm Berg gehalten, wer für den Schlamassel verantwortlich ist, allen voran Cindy, das fiese Frettchen, die meiner Ansicht nach der Auslöser des Ganzen ist. Nur Miriam hat schweigend neben mir gestanden und betreten auf den Boden gestarrt.

Heute wird ein besonderer Tag für Sie. Gerdas Worte hallen wie ein Echo in meinen Ohren. Ja, ein besonders bescheidener. Wie hätte sie jedoch wissen sollen, dass ich den halben Redaktionsraum in Schutt und Asche legen würde? Das ergibt alles keinen Sinn. Falls ihre Information tatsächlich in einer mir drohenden Kündigung besteht, habe ich nun auf jeden Fall jegliche Chancen verspielt, dies noch zum Guten zu wenden. Das ist eine Katastrophe! Natürlich ist der Job in der Anzeigenredaktion nicht das, was mir vorschwebte, als ich Langeoog verlassen habe, aber immerhin arbeite ich bei einer Zeitung, und eines Tages, so habe ich es mir bisher zumindest erhofft, werde ich den Aufstieg eine Etage höher schon schaffen. Diesen Traum habe ich mir am heutigen Tag vermutlich mit einem effektvollen Knall für immer vermasselt.

Miriam stößt mich mit dem Ellenbogen in die Seite, sodass ein Spätzle von meiner Gabel auf den Tisch katapultiert wird. »Schau mal, da kommen die Kollegen vom Wochenendmagazin.«

»Die schauen ziemlich grimmig drein. Müsste der Strom nicht längst wieder da sein?« Am liebsten würde ich mich unter der Tischplatte verstecken.

»Na. Leute! Was treibt euch denn um diese Uhrzeit in die Kantine?« Miriam setzt ein ahnungsloses Gesicht auf.

Einer der Kollegen, dessen Namen ich nicht kenne, lässt sich schnaufend neben uns auf einen Stuhl fallen. Sein Hinterteil ragt bedrohlich über die Sitzfläche hinaus. »Irgend so ein Idiot hat einen Kurzschluss verursacht. Nachdem die die Sicherung wieder reingedreht haben, fuhr die Hälfte unserer Rechner nicht mehr hoch. Da muss jetzt der Systemadministrator ran. Wir haben gehört, jemand hat Kaffee in einen Ventilator gekippt? Armer Irrer! So bescheuert kann doch keiner sein. Wisst ihr was Genaueres?«

Die Hitze kriecht so blitzartig in meine Wangen, dass sogar ein Blinder mit dem Krückstock erkennen müsste, wer die Schuldige ist. Miriam hüstelt gekünstelt und schüttelt den Kopf. Dabei sieht sie jedoch so aus, als müsse sie jeden Moment vor Lachen platzen. Na, vielen Dank!

»Ich hol mir mal Nachschlag«, murmele ich und schiebe meinen mehr als halb vollen Teller von mir weg, um aufzustehen. Glücklicherweise scheint der Kollege aus dem Wochenendressort zu sehr mit seinen Spekulationen beschäftigt zu sein, um das Naheliegende zu begreifen. Obwohl die Kantine klimatisiert ist, rinnt mir der Schweiß inzwischen in Strömen am Körper hinab, so als hätte man mich direkt in den Saunaaufguss gestellt. Gerdas Worte vom Morgen haben mich misstrauisch gemacht, nun befinde ich mich allerdings in einem Zustand akuter Panik. Mein Herz pumpt das Blut in einer Geschwindigkeit durch meine Adern, die nicht gesund sein kann. Ich brauche diesen Job! Selbst wenn ich als Kassiererin im Supermarkt oder als Zeitungsbotin unter Garantie nicht weniger Geld verdienen würde, so kommt die Stelle in der Anzeigenredaktion doch meinem Wunsch, als Journalistin zu arbeiten, immerhin noch am nächsten.

Ich lasse meinen Blick über die Gesichter an den Tischen und in der Reihe vor der Essensausgabe schweifen, um dann festzustellen, dass ein Gesicht fehlt. Wo steckt überhaupt Sebastian? Offenbar nutzt er die Zwangspause nicht, um zusammen mit den Kollegen etwas zu essen. Vermutlich stählt er seinen Körper bei einer Rennfahrt auf dem Rad. Der Gedanke an den Anblick seines Pos hilft mir, meine Laune zumindest kurzzeitig ein wenig zu heben.

»Frau Gockel?«

»Wie? Also, ich meine, ja.«

Vor mir ist eine kleine untersetzte Frau mit grauem Kurzhaarschnitt aufgetaucht, die mich jetzt von unten fragend anschaut. Sie trägt ein elegantes dunkelblaues Kostüm, ist schätzungsweise Mitte fünfzig, und auch, wenn sie mir nicht gänzlich unbekannt vorkommt, habe ich keine Ahnung, wo ich sie einordnen soll.

Sie setzt eine erleichterte Miene auf. »Sehr gut, ich war mir nicht so sicher, ob ich Sie hier finden würde, in Ihrem Büro waren Sie nicht, da herrscht ja das absolute Chaos! Nun, egal! Bin ich eben in die Kantine gekommen, und die Damen da hinten, die ich gefragt habe, sagten mir, Sie tragen die Haare mit Stiften hochgesteckt, da konnte ich Sie gar nicht übersehen.« Sie lacht gackernd und räuspert sich, als sie merkt, dass ich ihr nicht folgen kann. Ich greife mir irritiert an den Hinterkopf. Tatsächlich habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, mein Haar, das mir offen fast bis zur Hüfte reicht, zu einem Knoten zu zwirbeln und mit Bleistiften festzustecken. Aber was will sie denn nun eigentlich von mir?

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

»Oh ja, das können Sie. Kommen Sie mit, Sie haben jetzt einen Termin!«

Überrascht blicke ich mich suchend um. Meint sie wirklich mich?

»Hopp, hopp, junge Dame, Herr Hofner hat nicht endlos Zeit. Und ich ebenso wenig. Ich muss zurück an meinen Schreibtisch.« Sie klopft mit dem Zeigefinger auf ihre Armbanduhr und setzt sich dann mit wackelndem Hintern in Bewegung, ohne darauf zu warten, ob ich ihr folge.

Dazu fühle ich mich allerdings gerade nicht in der Lage. Pietrus Hofner ist der Leitende Redakteur des Abendkurier, der Oberchef sozusagen. Ich hatte bisher nie die Chance, ihn persönlich zu sprechen, denn er isst nie in der Kantine, und ins Anzeigenressort verirrt er sich schon überhaupt nicht. Wir beobachten ihn jeden Morgen ehrfurchtsvoll durch die Glastür unseres Büros, wenn er ein paar Worte mit Gerda wechselt, bevor er im Fahrstuhl verschwindet. Ich höre abrupt auf zu schwitzen, stattdessen scheint mein Körper von einer Sekunde zur nächsten völlig ausgetrocknet zu sein. Meine Zunge klebt an meinem Gaumen fest, und statt meines »Warten Sie« kommt nur noch ein Krächzen aus meinem Mund. Der Chef des Abendkurier bestellt einen nicht einfach so spontan zu einem Termin. Zumindest kein unbedeutendes Licht wie mich. Aber um mich zu feuern, würde er doch seine Sekretärin beauftragen oder Hubert, meinen direkten Chef! Du meine Güte! Mein kleiner Ventilatorunfall muss schlimmer gewesen sein, als ich befürchtet habe. Sie werden mich verklagen! Das muss es sein! Ich werde den Arbeitsausfall aller Mitarbeiter und die Einnahmeneinbuße aller nicht angenommenen Anzeigen übernehmen müssen. Das wäre mehr als nur mein finanzieller Ruin, das wäre sicherlich das endgültige Aus, in Hamburg als Journalistin Fuß zu fassen. Ich spüre, wie meine Kniegelenke erneut ihren Dienst quittieren, und sinke auf den Fußboden.

Die Frau, die sich mir zwar nicht vorgestellt hat, von der ich inzwischen aber stark annehme, dass sie Hofners Sekretärin ist, wirft endlich einen Blick nach hinten und bremst. »Frau Gockel!« Sie marschiert auf mich zu. »Frau Gockel? Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«