Klapperstörche und andere schräge Vögel - Vanessa Richter - E-Book

Klapperstörche und andere schräge Vögel E-Book

Vanessa Richter

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Beschreibung

Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt!

Es war schon schwierig genug, überhaupt schwanger zu werden. Jetzt freut sich Mia zwar unendlich über einen positiven Schwangerschaftstest, doch irgendwie ist ein Happy End trotzdem nicht in Sicht. Ihre geliebte Stadtwohnung fällt einem Brand zum Opfer und so ziehen Mia und ihr Mann Nils zu ihrer Mutter aufs Land. Nur vorübergehend, versteht sich. Schweine, Hühner und eine Mutter, deren trockene Art jeden auf die Palme bringt, will sich eine Großstadtpflanze wie Mia nicht länger als nötig zumuten. Die kommenden Monate verbringt sie also nicht nur damit, in Hechelkursen ihre innere Mitte zu finden und ihrem Bauch und weiteren Rundungen beim Wachsen zuzuschauen, sondern sich auch der fast aussichtslosen Wohnungssuche zu widmen. Und als hätte Mia damit nicht schon genug zu tun, verhält sich plötzlich Nils auch noch äußerst seltsam …

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Über das Buch

Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt …

Es war schon schwierig genug, überhaupt schwanger zu werden. Jetzt freut sich Mia zwar unendlich über einen positiven Schwangerschaftstest, doch irgendwie ist ein Happy End trotzdem nicht in Sicht. Ihre geliebte Stadtwohnung fällt einem Brand zum Opfer und so ziehen Mia und ihr Mann Nils zu ihrer Mutter aufs Land. Nur vorübergehend, versteht sich. Schweine, Hühner und eine Mutter, deren trockene Art jeden auf die Palme bringt, will sich eine Großstadtpflanze wie Mia nicht länger als nötig zumuten.

Die kommenden Monate verbringt sie also nicht nur damit, in Hechelkursen ihre innere Mitte zu finden und ihrem Bauch und weiteren Rundungen beim Wachsen zuzuschauen, sondern sich auch der fast aussichtslosen Wohnungssuche zu widmen. Und als hätte Mia damit nicht schon genug zu tun, verhält sich plötzlich Nils auch noch äußerst seltsam …

Über Vanessa Richter

Vanessa Richter, Jahrgang 1979, studierte Germanistik und Anglistik und versucht seitdem, ihren mehr oder weniger begeisterungsfähigen SchülerInnen die Feinheiten der deutschen und englischen Sprache näher zu bringen. Sie lebt mit Kind und Kegel zwischen Ruhrpott und Münsterland.

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Vanessa Richter

Klapperstörche und andere schräge Vögel

Komm raus, du bist umzingelt

Hier lag ich und versuchte, eine Wassermelone herauszupressen. Ich verfluchte innerlich jede Frau, die im Duzi-Duzi-Tonfall mit einem Strahlen in den Augen von dem Wunder der Geburt berichtete. Was sollte überhaupt dieses Gerede, Babys seien klein und zart?

In Anbetracht der Schmerzen, die ich erlitt, konnten diese Attribute auf das Kind, das soeben probierte, Kopf voran meinen Körper zu verlassen, unmöglich zutreffen.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich bereits seit zwei Stunden im Krankenhaus war. Wo zum Teufel steckte der betrügerische Mistkerl von Ehemann, der mir das alles eingebrockt hatte?

»Schätzchen, du darfst nicht verkrampfen. Immer schön mit den Wehen atmen.«

Die Beleidigungen, die ich der zutraulichen Hebamme an meinem Fußende in diesem Moment gern entgegenschmettern wollte, konnte ich nicht in Worte fassen. Ja, ich wollte ein Kind und mir war bewusst, dass eine Geburt mit Schmerzen verbunden war … theoretisch! Praktisch wünschte ich mir in diesem Augenblick, zur obersten Liga der Hollywoodstars zu gehören und einen Martini schlürfend, entspannt einer Leihmutter beim Gebären meines Kindes zuzuschauen.

Apropos Mutter! Bevor ich noch einen Tag länger mit ihr unter einem Dach wohnte, zog ich lieber mit Sack und Pack ins Krankenhaus. Betten gab es hier immerhin zur Genüge.

»Aaaaaaaaaaaaaaaaaaargh!«

»Du tönst ganz fantastisch, Schätzchen. Lass uns an deinem Schmerz teilhaben. Treibe dein Kind auf den Wellen der Wehen hinaus in die Welt.«

Bis eben hielt ich diesen Raum für einen Kreißsaal, inzwischen zweifelte ich, ob ich nicht versehentlich an einem Meditationskurs teilnahm. Und außerdem: Ich tönte nicht, ich zelebrierte einen ausgewachsenen Nervenzusammenbruch!

Wie war ich eigentlich hier gelandet?

Vorspiel

Ich erinnere mich lebhaft an den Tag, an dem Mutter meine kleine Schwester Molly und mich aufklärte. Wir saßen in der Badewanne, während sie uns die Anatomie der Frau anhand unserer eigenen Körper erläuterte. Es wäre um einiges leichter gewesen, anschließend ebenso anschaulich zu verdeutlichen, wo die Babys herkamen, wenn eine von uns beiden ein Junge gewesen wäre. Wir nackten Mädchen boten zunächst nur ein sehr einseitiges Bild bei der Darstellung dessen, was Mann und Frau zur Fortpflanzung benötigten. Zu allem Überfluss fehlte in unserer Familie nicht bloß ein Bruder, sondern auch ein Vater. Praktisch schon so lange, dass uns gar nicht klar war, dass die Väter unserer Freundinnen durchaus noch andere Aufgaben hatten, als die Brötchen zu verdienen und zu schimpfen, wenn die Kinderzimmer sich wieder messieähnlichen Zuständen näherten.

Dafür schaffte unsere Mutter es erstaunlich gut, zwei neugierige Mädchen weitestgehend jugendfrei in die Notwendigkeit des Liebesaktes einzuführen, ohne dabei auf die Raffinessen einzugehen. So saßen wir schließlich mit rauchenden Köpfen im kalten Badewasser. Aber wir fühlten uns gerüstet, um am nächsten Tag die Kinder im Kindergarten ausführlich über die Funktion eines Penis zu informieren. Die Erzieherinnen und insbesondere die anderen Mütter waren darüber not amused. Die 70er Jahre zeigten sich weit weniger aufgeklärt und emanzipiert, als man gemeinhin denkt.

Gute dreißig Jahre später – ich hatte mich inzwischen mehr als ausgiebig davon überzeugt, dass ein Mann und sein Penis durchaus noch andere Qualitäten aufwiesen – wurde das Thema plötzlich wieder aktuell. Ich wollte ein Kind und in Erinnerung an meine Jahre andauernde Aufklärung durch meine Mutter, Dr. Sommer und meine reichhaltigen Erfahrungen war ich der Meinung: Nichts leichter als das!

Denkste!

1000 Mal probiert

Der Dielenboden unter meinen Füßen knarzte, als ich die Küche betrat. Nils blieb bei meinem Anblick das Müsli fast im Hals stecken. Mein zerknautschter Gesichtsausdruck sprach Bände.

»Wieder nichts?«

»Hmpf!«

An meinem 35. Geburtstag hatten Nils und ich feierlich beschlossen, dass das Lotterleben ein Ende haben sollte und wir uns der Herausforderung stellen wollten, Eltern zu werden. Das war sieben Monate her und ich war immer noch höchst unschwanger. An diesem Tag hatte ich erneut in der leisen Hoffnung, es könnte geklappt haben, einen Schwangerschaftstest verbraten. Das ging auf Dauer ziemlich ins Geld. Ich hatte mir das definitiv alles anders vorgestellt. Mir schwebten die Horden von Teenagermädchen vor Augen, die reihenweise schwanger wurden, wenn ihnen ein Milchbubi gleichen Alters nur auf die Brüste schaute. Sex ohne Verhütung war für mich bisher gleichzusetzen mit prompter Schwangerschaft. Wieso hatte ich eigentlich jahrelang akribisch die Pille genommen, wenn ich offensichtlich sowieso nicht schwanger wurde. Das entbehrte jeglicher Logik.

Ich lehnte mich gegen das alte Küchenbuffet. Ein bisschen abgeblätterter Lack pikste mich in den Arm. Ich nahm mir ständig vor, es aufzuarbeiten. Eine Baustelle mehr in meinem Leben.

»Nils, vielleicht sind deine Schwimmer zu langsam. Das hört man andauernd.«

»Schwimmer?« Er schaute von seiner Zeitung hoch und sah mich irritiert an. Mein Mann hatte das Thema Schwangerschaft offenbar bereits wieder abgehakt.

»Sagt man doch so zu Spermien. Und wer weiß, ob deine nicht vergessen haben, ihre Ultra-High-Speed-Synthetik-Badehosen anzuziehen, bevor sie ins Rennen gehen. Und sich die Brusthaare zu rasieren!«

Nils zeigte mir einen Vogel und nahm einen weiteren Happen von seinem Müsli. Noch kauend erwiderte er: »Mia, meine Schwimmer könnten bei Olympia antreten und würden sogar ohne Schwimmanzug und mit starker Brustbehaarung trotzdem jeden Michael Phelps und Paul Biedermann dieser Welt im Schongang bezwingen. Möglicherweise machen wir irgendetwas falsch.«

»Deine Selbsteinschätzung in allen Ehren, aber das kannst du gar nicht wissen, ob deine Schwimmer zu langsam sind. Und was sollten wir falsch machen? Bei biederem normalem Blümchensex kann man gar nichts verkehrt anstellen. So werden andere auch schwanger.« Ich stemmte die Hände in die Hüften.

»Wir können auch gerne das Gegenteil von Blümchensex probieren, wenn es dann besser klappt.« Nils strich sich eine dunkle Locke aus dem Gesicht und lächelte etwas dümmlich. Ich konnte förmlich sehen, wie sich das Porno-Gedankenkarussell in seinem Kopf drehte.

Mir war jegliche Lust auf Stellungskonversation vergangen. Frustriert ließ ich mich auf unsere Ledercouch in der Küche fallen und knibbelte an meiner Unterlippe herum. Es nutzte alles nichts. Ich würde wohl oder übel den Weg zu meiner Frauenärztin einschlagen müssen. Ein Besuch dort war bei mir fast so beliebt wie ein Termin beim Zahnarzt. Außer der jährlichen Krebsvorsorge hatte es bisher keinen Anlass gegeben, der mich dorthin getrieben hätte. Mir schauderte es schon vor den unzähligen Schwangeren, mit denen ich viel zu viel Zeit im Wartezimmer verbringen musste. Das hieß bei meiner Ärztin nicht ohne Grund so. Ich konnte mir förmlich ausmalen, wie sie da saßen mit ihren dicken Bäuchen, über die sie ständig geistesabwesend streichelten. Zum ersten Mal in den sieben Monaten, die wir versuchten, ein Kind zu bekommen – oder wie Nils es charmant nannte, mir einen Braten in die Röhre zu schieben – war ich wirklich niedergeschlagen.

Wenigstens blieb ich vom familiären Druck befreit. Meine Mutter Eva ging vollkommen in ihren großmütterlichen Pflichten für die beiden kleinen Satansbraten meiner Schwester Molly auf. Nur kurz nach unserer Hochzeit vor fünf Jahren hatte sie eine Phase des exzessiven Drängens. In der erklärte sie uns bei jeder Begegnung, die logische Konsequenz einer Eheschließung sei eine Schwangerschaft. Nachdem Molly dann in Vorleistung gegangen war, schlief ihre Penetranz bei uns glücklicherweise ein. Der Besuch bei meiner Frauenärztin würde es hoffentlich auch unnötig machen, das Thema Kinderwunsch jemals in unserer Familie breittreten zu müssen.

Feuer, Wasser, Erde

»Kaffee?«

»Nein danke. Ein Mineralwasser wäre nett.« Ich zog die Beine an und setzte mich auf der hölzernen Küchenbank in den Schneidersitz. Schon als Kind saß ich so am liebsten.

»Mit Milch und Zucker?«

»Mutter, ich möchte bitte ein Mineralwasser.«

»Die Dame stellt Ansprüche? Hier hast du ein Glas, bedien dich am Wasserhahn.«

Ich seufzte. Nur vierzig Minuten Fahrtzeit trennten unsere Altbauwohnung im Herzen der Stadt und das kleine Bauernhaus meiner Mutter am Rande des Waldes voneinander. Doch gefühlt lagen Welten dazwischen. Ich war kein ausgesprochenes Luxusweibchen, aber ich liebte die angenehmen Dinge des Lebens. Ob Eierkocher, Lockenstab oder Trockner, ich besaß jedes noch so unnötige Gadget. Außerdem konnte ich Stunden in Designerboutiquen verbringen. Gepflegte Garderobe, teure Schuhe, beheizbare Eisportionierer, das war nichts, das meine Mutter zu beeindrucken vermochte.

»Möchtest du einen Joghurt?« Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und hielt mir eine Schüssel hin.

»Was ist da drin?« Ich hoffte auf Obst oder besser noch auf Puffreiskügelchen oder Schokoladenstücke.

»Der ist aus Ziegenmilch. Selbst angesetzt.«

Urgs! Ich hätte es mir denken können. Ziegen, Schweine, Hühner, auf dem Hof tummelte sich allerlei ländliches Getier. »Ich verzichte. Laktoseintoleranz.« Nichts gegen die kleinen Lügen des Alltags.

»Neumodischer Schnickschnack. Du solltest vernünftig essen. Nicht immer diesen Fertigkram. Du siehst blass und abgespannt aus.«

Einen Moment lang überlegte ich, ob ich ihr von unserem unerfüllten Kinderwunsch erzählen sollte. Doch auch wenn diese Frau in ihrem klitzekleinen bäuerlichen Mikrokosmos lebte, so nannte sie ein abgeschlossenes Psychologiestudium ihr Eigen. In alter Analytikermanier würde sie sicherlich eine psychische Blockade dafür verantwortlich machen, dass wir immer noch kinderlos waren, und mich zu peinlichen Entspannungsübungen nötigen. Darauf verzichtete ich liebend gern. Sie hielt mir nach wie vor die Schüssel unter die Nase. Hätte sie bloß nicht angefangen, von Fertigessen zu sprechen. Nun bekam ich Hunger auf eine Pizza mit Frühlingsrollengeschmack. Ich war einfach zu sehr Werbejunkie um mich solchen Neuerungen der Lebensmittelindustrie zu entziehen.

»Wo bleibt deine Schwester? Bestimmt stillt sie wieder stundenlang. Ich sehe es kommen. In einigen Jahren sitzt sie in der Schule bei einem Elternsprechtag und die Lehrerin wird erstaunt dabei zusehen, wie ein Siebenjähriger nuckelnd an Mollys ausgepackter Brust hängt.«

Ich glaubte zwar nicht, dass es so weit käme, würde aber auch keine größeren Geldsummen auf diese Ansicht verwetten. Nachdem mein Hunger nun geweckt war, starrte ich auf den Ziegenjoghurt, entschied mich jedoch in Gedanken an Muttermilch endgültig dagegen.

»Ruf sie an. Oder schrei einfach rüber. Bei deinem Organ wird sie dich über die paar hundert Meter Distanz ohne Probleme hören.« Meine Schwester war so freundlich, den Part der guten Tochter zu übernehmen und in Mutters Nähe zu ziehen. So musste ich mich nicht allzu oft dazu genötigt fühlen, Pumps gegen Gummistiefel zu tauschen.

»Vielleicht filzt sie wieder Pantoffeln.«

»Sie umfilzt Seifen, Mutter.«

»Was auch immer, deine Schwester ist ein Sonderling.«

Sprach die studierte Psychologin, die auf einem Bauernhof lebte und Joghurt selbst ansetzte. Aber zugegeben: Molly ging sehr in ihrem Ökodasein auf. Sie mahlte sogar ihr Mehl in einer Getreidemühle selbst und bekam nach eigenen Angaben von Geschmacksverstärkern Lippenherpes. Den Frischkäse mit Schokoladengeschmack, den ich zum Frühstück verspeist hatte, würde man in ihrem Kühlschrank niemals finden.

»Huhu!« In diesem Moment betrat die verlorene Tochter die Küche. Auf den Rücken gebunden meinen zweijährigen Neffen.

»Ist das etwa wieder neu?«, fragte Mutter mit Blick auf das maisgelbe Tragetuch, in das Fokko eingebunden war.

»Dir auch einen guten Tag, Mama. Und ja, das ist neu. Die Farbe fehlte mir noch für meinen Regenbogenstapel.« Molly strahlte, als hätte sie soeben einen Millionengewinn im Lotto verkündet.

Was ich für Designerkleidung ausgab, investierte Molly in Tragetücher. Ihre Söhne waren bald viel zu schwer, um sie damit durch die Gegend zu schleppen. Aber meine Schwester war eine A.T.T.A. – eine anonyme Tragetuchabhängige. Bei ihr in den Schränken stapelten sich mehr Tücher als bei anderen Leuten Unterhosen.

Ein schlammverkrusteter Fietje tauchte hinter ihr auf.

»Gibt es bei euch zu Hause keine Dusche?« Ich rümpfte die Nase.

»Schmutz ist wichtig für die Abwehr.« Mutter und Molly unisono.

Ich glaubte das ohne Weiteres. Doch wenn ich mir Mollys Haus ansah, das von der Haustür bis zum letzten Zimmer mit Fußtapsen, abgelegter, lehmiger Kleidung und Sandspielzeug dekoriert war, packte mich das kalte Grausen. Ich liebte Ordnung und Sauberkeit. Meine Kinder würden später unsere Wohnung nur durch eine Schleuse betreten dürfen, in der sie alles ablegen mussten, das zu chaotischen Zuständen führen konnte.

Fietje schaute mich erstaunt an. »Was machst du denn hier, Tante Mia?«

Ich war wirklich zu selten da, wenn schon einem Vierjährigen meine Anwesenheit spanisch vorkam. Und ehrlich gesagt kannte ich selbst keine befriedigende Antwort auf seine Frage. Ich hasste das sogenannte Idyll meiner Kindheit mit einer Mutter, deren spröde Direktheit jeden normalen Menschen auf die Palme brachte. Die Ruhe und Abgeschiedenheit mitten in der grünen Pampa waren mir ein Graus. Ich war ein Stadtmensch durch und durch. Ich genoss die fußläufige Nähe zu Supermärkten, Friseuren und anderen Dienstleistern, ich liebte sogar den Verkehrslärm, der mich abends in den Schlaf brummte. Unsere Altbauwohnung aus dem letzten Jahrhundert mit ihren hohen, stuckverzierten Decken und knarzenden Dielenböden war einzigartig, so etwas konnte man auf dem Land nicht finden.

Dann dämmerte es mir. »Ich bin hier, weil ich deine Oma und deine Mama liebhabe und sie sich im Großstadtdschungel verlieren würden, wenn man sie dort allein ließe.«

Mein Neffe nickte zufriedengestellt, griff sich den Ziegenjoghurt, um ihn genüsslich in sich hinein zu löffeln. Ich betrachtete das kleine Schmuddelkind liebevoll und mir wurde bewusst, dass man seine Familie nehmen musste, wie sie war: nur eben wohldosiert.

Man wird alt wie eine Kuh und lernt immer noch dazu

Am Ende eines Mittwochs im Oktober traf mich die Erkenntnis, dass manche Männer tatsächlich mehr über uns Frauen wussten als wir selbst.

Meine Frauenärztin war ein Mann. Zumindest an diesem Tag. Denn als ich nach gefühlten vierzig gelesenen Klatschzeitschriften, von denen mindestens die Hälfte aus einer Zeit stammte, als Charles und Diana noch glücklich verheiratet waren, das Behandlungszimmer betrat, begrüßte mich nicht meine mir bekannte Frauenärztin. Stattdessen saß dort ein wirklich junger Mann – Typ Doogie Howser –, scheinbar der Vertretungsarzt. Er blätterte in meiner eher übersichtlichen Akte.

»Wie kann ich Ihnen helfen, Frau Vomhoff?«

Geh zur Schule und mach deinen Abschluss!

Meine Hände wanderten umher und fanden keinen Platz. »Ich versuche seit einiger Zeit, bisher erfolglos, schwanger zu werden und brauche Ihre Hilfe.«

Doogie grinste. Konnte das sein? Grinste der Typ mich jetzt tatsächlich breit an?

»Also, nicht von Ihnen persönlich, ähm, obwohl doch irgendwie. Wo steckt Frau Doktor Springer?«

Gott, ging’s noch peinlicher?

»Sie verprasst ihre Millionen in Las Vegas. Ich bin ihre Vertretung.«

»Millionen? Vegas?«

Allmählich verwirrte dieser Mann mich.

»Ein Scherz. Frau Doktor Springer macht Urlaub in der Uckermark, sie führt einen Esel durch die Landschaft, wenn ich das korrekt verstanden habe.«

Mein Gesichtsausdruck musste Bände sprechen, denn er beeilte sich, hinzuzufügen: »Das ist jetzt wirklich ernst gemeint. Ich hätte auch Las Vegas vorgezogen. Aber kommen wir zu Ihrem Problem und halten ein paar Eckdaten fest. Haben Sie einen regelmäßigen Zyklus mit Eisprung?«

»Öhm, ich bekomme meine Periode, also habe ich auch einen Eisprung, oder?«

»Nein, das ist nicht unbedingt gesagt. Führen Sie keine Temperaturkurven oder machen Ovulationstests?«

Die Fragezeichen in meinem Gesicht wurden immer größer. Wovon sprach der gute Mann da? Und wie schaffte ich es, mir nicht die Blöße geben zu müssen, dass ich null Ahnung hatte?

»Mmmh, natürlich … also vielleicht … eher doch nicht.«

Nicht so gelungen.

»Wenn Sie nicht wissen, wann Sie Ihren Eisprung haben, ist die Wahrscheinlichkeit, den richtigen Tag für Geschlechtsverkehr zu treffen, sehr gering.«

Geschlechtsverkehr? Bei diesem Wort stellte ich mir meine Oma in Liebestötern und meinen Opa im Feinrippunterhemd vor. Und wieso gab es richtige und falsche Tage, um ein Kind zu zeugen? Hatte ich so wenig im Biologieunterricht aufgepasst? Ungeschützter Sex war für mich bisher gleichzusetzen mit der Zeugung eines Kindes. Sicherlich hatte ich von einem Eisprung gehört. Aber in meiner Vorstellung sprang das Ei am Anfang des Monats und wartete dann einige Wochen darauf, befruchtet zu werden.

Ich sah Doogie leicht verzweifelt an. »Hilfe, bitte?«

Nach einer kurzen Untersuchung, bei der er zumindest rein körperlich nichts an meinem gebärfähigen Mittdreißigerkörper zu beanstanden hatte, hüpfte ich erleichtert wieder vom Stuhl.

Doogie lächelte aufmunternd. »Ich gebe Ihnen jetzt ein paar Broschüren zur natürlichen Familienplanung mit. Später gehen Sie in die Apotheke und besorgen sich Ovulationstests, mit denen Sie bestimmen können, wann Sie Ihren Eisprung haben. Anschließend timen Sie den Geschlechtsverkehr auf Ihre fruchtbaren Tage. Sie haben doch einen Mann? Ohne den geht es nämlich nicht.«

Ob ich einen Mann … ob ich einen Mann …? Jetzt machte er sich endgültig über mich lustig.

»Und wenn nicht? Stellen Sie sich dann zur Verfügung?«

Touché!

Aber der Arzt, von dem ich mir nicht vorstellen konnte, dass ihm viele Frauen vertrauten, lachte nur.

»Und wenn es dann innerhalb eines Jahres nicht geklappt hat, sehen wir weiter.«

»Wie meinen Sie das? Innerhalb eines Jahres? Wieso sollte es so lange dauern?«

»Die Chance, selbst bei bester Zeitplanung, schwanger zu werden, beträgt gerade mal fünfundzwanzig Prozent. Da ist es normal, dass es sich eine Weile ziehen kann.«

Hmpf! Etwas desillusioniert verließ ich die Praxis. Immerhin um die Erkenntnis reicher, dass die Zeiten, in denen Nils und ich aus Spaß an der Sache miteinander schliefen, vorerst vorbei waren. Dass das monatliche Zeitfenster, um schwanger zu werden, deutlich kleiner war, als von mir angenommen. Dass manche Männer offenbar über die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale einer Frau mehr wussten, als diese selbst. Und schließlich, dass man in der Uckermark mit Eseln wandern gehen konnte.

Erna, wat kosten die Kondome?

Kondome, die Pille, Tampons, all das waren Dinge, die ich grundsätzlich nicht gerne einkaufte. Angeborene Scham? An meiner Erziehung konnte es eigentlich nicht liegen. Meine Mutter hatte aus Mangel an Luftballons an einem unserer Geburtstage sogar Kondome aufgeblasen. Meine Schwester Molly realisierte das erst zwanzig Jahre später als wir durch ein Fotoalbum blätterten. Vielleicht war aber auch gerade meine Erziehung der Grund dafür, wieso mir der Kauf von Hygieneartikeln und Verhütungsmitteln so unangenehm war. Quasi ein Fremdschämen für meine Kindheit. Also schickte ich für gewöhnlich Nils in den Drogeriemarkt. Das führte zwar mitunter dazu, dass ich Tampons in Größenordnungen erhielt, von denen ein Exemplar für eine ganze Woche reichte. Doch diese kleinen Fehleinkäufe nahm ich hin.

An diesem Tag wollte ich über meinen Schatten springen, falls ich mehr Fragen haben sollte, als Nils mir beantworten konnte. Ich gestand es mir selten ein, aber ohne meinen Ehemann war ich in vielen Belangen nicht lebensfähig. Verliebt hatte ich mich in ihn ganz oberflächlich wegen seines guten Aussehens. Jedoch liebte ich ihn dafür, dass er meinem chaotischen Wesen Halt gab. Er war der einzige Mensch, der es schaffte, mir meine unüberlegten Hirngespinste auszureden. Wie damals, als ich unser gesamtes Erspartes dafür verwenden wollte, das marode Freibad am Stadtrand zu kaufen und wieder auf Vordermann zu bringen. Ich hatte mich bereits als Großgrundbesitzerin im Bademeisteroutfit gesehen. Nils konnte leider einige schlagende Argumente gegen meine Idee aufweisen, obwohl ich bis heute der Meinung war, dass ich es hätte schaffen können.

Und ich liebte ihn dafür, dass es ihn tatsächlich glücklich machte, mir unangenehme Dinge abzunehmen.

Hier stand ich also in der Apotheke meines Vertrauens, oder wohl eher Nils’ Vertrauens, und kaute mir auf der Unterlippe herum. Der Bubi-Arzt hatte mich mit einem Haufen Broschüren versorgt und mir sogar einige Stellen darin mit einem Textmarker angestrichen. Darin lesend wartete ich hinter einer älteren Dame, die sich ausführlich über Inkontinenzprodukte informieren ließ. Ich stellte mir einen ergrauten Nils vor, wie er dort in fünfzig Jahren mit seinem Rollator für mich stehen würde, um mir überdimensionale Damenbinden zu kaufen. Dann spielte es zumindest keine Rolle mehr, ob er wieder die falsche Größe kaufte.

Die ältere Dame zog offensichtlich zufrieden mit einem Paket Binden mit Flügeln so groß wie Dumbo-Ohren ab und ich war an der Reihe.

»Ich hätte gerne einen Eisprungtest«, flüsterte ich.

»Wie bitte? Könnten Sie ein wenig lauter sprechen?«

Ich blickte mich um und räusperte mich: »Einen Eisprungtest, bitte.«

»Sie meinen einen Ovulationstest?«

»Ja?«

»Möchten Sie einen herkömmlichen Streifentest oder die digitale Variante?«

Hilfe! Es ging schon wieder los. Ich fühlte mich zum zweiten Mal an diesem Tag wie ein Volldepp. Ich konnte die gute Frau nur nett anlächeln und fragend mit den Schultern zucken. Sie fühlte sich gleich darin bestärkt, den Beraterton anzuschlagen und mich mit Informationen zu überschütten.

»Ich würde Ihnen den digitalen Test empfehlen. Sehr zuverlässig und es gibt kein Rätselraten. Bei den normalen Streifentests müssen wie bei einem Schwangerschaftstest zwei Linien erscheinen, jedoch wird ein Eisprung erst dann angezeigt, wenn beide Linien gleich dick sind. Da kann man schon einmal unsicher werden. Bei dem digitalen Test blinkt ein hübsches kleines Ei auf dem Display. Idiotensicher!«

Ich hätte gern beleidigt reagiert, aber in meinem Fall war idiotensicher höchstwahrscheinlich die beste Wahl, die ich treffen konnte.

»Dann den digitalen Test.«

Inzwischen hatte ein junger Mann die Apotheke betreten, der gleich so überwältigend laut hustete, dass kein Zweifel daran bestand, was er kaufen wollte. Vermutlich keine Ovulationstests. Die Apothekerin tippte in ihrem Computer herum und lächelte mich schließlich an.

»Mein Computer spuckt mir gerade die Preise nicht aus, aber meine Kollegin weiß das bestimmt. Einen Moment bitte.«

Und dann sah ich wie in Zeitlupe, wie ihr Mund sich öffnete und sie in wenig diskreter Lautstärke rief: »Frau Krause, weißt du, was die digitalen Ovulationstests kosten?« Ich fühlte mich schmerzlich an die Anti-Aids-Kampagne mit Hella von Sinnen erinnert und hoffte darauf, dass sich entweder sofort ein Erdloch auftun würde, in dem ich versinken konnte, oder dass der Schnupfentyp neben mir genauso viel Ahnung von Babymach-Hilfsmitteln hatte wie ich. Doch der grinste mich mit seiner leicht rot umränderten Nase tatsächlich breit von der Seite an. Erdloch, Erdloch, Eeeeeeerdloch, wo blieb dieses verdammte Erdloch?

Fünf Minuten später kam ich mit hochrotem Kopf durch mein Erdloch aus der Apotheke gekrochen. In meiner Tüte Ovulationstests im Wert von schlappen dreißig Euro. Und eine Packung Folsäure, die laut der Apothekerin notwendig für die gesunde Entwicklung des Kindes war. Ich fragte mich ernsthaft, wieso es wichtig war, dass ich etwas einnahm für ein Kind, das wir noch nicht einmal gezeugt hatten. Aber da die kleine Broschüre vom Frauenarzt dasselbe behauptete, fühlte ich mich ausnahmsweise nicht übers Ohr gehauen. Zusätzlich hatte ich ein Fieberthermometer erworben – natürlich auch digital –, das mir mit zwei Nachkommastellen als der Porsche unter den Kinderwunsch-Thermometern angepriesen worden war. Genauer ging es angeblich nicht. Ich hatte das untrügliche Gefühl, zu viel Geld ausgegeben zu haben. Ob mich das alles schneller schwanger machte, war dahingestellt. In meinem nächsten Leben würde es hoffentlich Universitäten geben, die im Fernstudium Seminare zum Thema Kinderwunsch anboten. Für mein jetziges Leben hatte ich auf jeden Fall beschlossen, ab sofort nur noch in Onlineapotheken einzukaufen.

Murphy’s Law

»Morgenheimer Marzipan – Männer mögen mehr Mandeln!«

»Dein Ernst?« Ich zog die Nase kraus.

Meine Kollegin Linda Gräulich zuckte mit den Schultern. »Alliterationen ziehen immer. Ich dachte, wir machen dazu Fotos von einem muskelbepackten nackten Beau in einem Haufen Mandelkernen.«

Ich kicherte. »Das spricht dann aber eher die weibliche Klientel an.«

»Unterschätze niemals die Masse der schwulen Marzipanliebhaber.« Sie zeigte mir grinsend den Mittelfinger.

Jedes Mal, wenn ich neue Leute traf und man sich im üblichen Smalltalk-Geplänkel über seine Jobs austauschte, bekam ich anerkennende Blicke. Ich arbeitete als Werbetexterin. Andere Menschen verbanden das offenbar sofort mit höchster Kreativität und einem Arbeitsleben zwischen Telefon, Promis, den schönsten Schauplätzen und Latte Macchiato. Tatsächlich arbeitete ich aber in keiner der renommierten großen Agenturen der Stadt, sondern in einem relativ mittelmäßigen kleinen Unternehmen. Offiziell waren wir gar nicht so miserabel, immerhin gab es uns seit vielen Jahren. Intern nannten wir uns dennoch gern selbst die mieseste Agentur jenseits des Universums. Es lag gar nicht so sehr an den Mitarbeitern, eher an unserem Chef Clemens Meyer, der einfach kein Gespür für gute Aufträge hatte. So quälten wir uns die meiste Zeit mit regionaler Plakat- und Radiowerbung herum. Nils fragte mich häufig, wieso ich mich nicht woanders bewerben wollte. Dafür reichte mein Ehrgeiz jedoch schlichtweg nicht. Ich verdiente bei Meyer & Meyer ordentliches Geld und außerdem würde ich sowieso erst einmal zu Hause bleiben, wenn ich endlich Mutter geworden war. Falls das jemals klappen würde. Aber seit Neustem war ich bekanntlich mit allen Mitteln gewappnet.

»Wie wäre es mit ›Jungs haben Nüsse, echte Männer haben Mandeln – iss Morgenheimer Marzipan‹?«

Ich zeigte Richtung Tür. »Apropos echte Männer, was ist denn mit unserem Kollegen Clausfeld los?«

Unser Praktikant, der sonst gut gelaunt jeden Raum geradezu enterte, schlurfte kalkweiß zu seinem Schreibtisch.

»Clausi, was ist los? Hat die Alte dich rausgeschmissen?« Linda Gräulich schob ihren Schreibtischstuhl schwungvoll zurück. »Ich koch mal Kaffee. Sieht so aus, als wäre ich nicht die Einzige, die einen gebrauchen kann.«

Claus Clausfeld starrte nur aus großen Augen zu mir. Der machte mir wirklich Angst. Ich stand auf und ging zu ihm hinüber. »Du siehst aus, als wäre dir mindestens eine peruanische Springbeutelratte über die Leber gelaufen. Hast du Redebedarf?«

»Ich bin zweiundzwanzig.« Mehr brachte er nicht heraus.

»Angenehm. Ich bin fünfunddreißig.«

»Ich habe nicht einmal einen Job.« Er schluckte.

»Na ja, so schlimm ist es hier nun nicht, dass man es als arbeitslose Grauzone bezeichnen müsste. Und mit Anfang zwanzig muss man noch nicht den Beruf fürs Leben gefunden haben.«

»Ich verdiene so gut wie nichts«, stammelte er.

»Richtig, verdienen tust du nichts, wenn du heute so weiterarbeitest. Aber bekommen wirst du vermutlich trotzdem was.« Ich zwinkerte ihm zu. Das arme Würstchen musste doch aufzumuntern sein.

»Ich werde Vater.« Mit diesen Worten stützte er sein Kinn auf die Hände und starrte ins Leere.

»Ähm, Glückwunsch?« Nun war auch ich beinahe sprachlos.

Da hatte es wieder zugeschlagen: Murphy’s Law. Ich mühte mich mit Mitte dreißig ab, schwanger zu werden, um die Welt mit künftigen finanzkräftigen Rentenkasseneinzahlern zu bevölkern. Und der Storch suchte erbarmungslos abermals nur die heim, die sich ihre Lebensplanung gerade so ganz anders vorgestellt hatten. Frechheit! Der Tag war gelaufen.

Schneeweißchen und Rosenrot

Molly und ich waren so grundverschieden, dass man sich fragte, wie es möglich war, dass wir im selben Haushalt aufgewachsen waren. Mutter war zwar recht unbefangen, was Sexualität betraf, doch im Hinblick auf ihre Lebensumstände tatsächlich weder das eine noch das andere Extrem. Sie war einfach nur ein typisches Landei. Aber da sie uns immer schon machen ließ, wie wir wollten, ohne uns einen Stempel aufzudrücken, war es vielleicht gar nicht so ungewöhnlich, dass wir so unterschiedlich waren.

Allerdings erfüllte Molly nicht jedes Klischee einer Öko-Tussi. Sie besaß trotz aller Leidenschaft für ihren alternativen Lebensstil eine große Schwäche für Ikea, die keiner in unserer Familie so recht verstand. Sie konnte Ewigkeiten Sofas Probe sitzen und Betten testliegen. In der Lampenabteilung bekam sie im wahrsten Sinne des Wortes leuchtende Augen und in der Stoffabteilung war sie vermutlich die beste Kundin des Standortes.

Wenn man sie aufzog, dass sie unmöglich bei Ikea einkaufen könnte, allein die Massen von Kerzen, die dort angeboten würden, sprang bei ihr sofort der Verteidigungsmechanismus an. Nur 0,1 % der weltweiten Palmölproduktion würde überhaupt für Ikea-Kerzen benötigt und dieses Palmöl sei nachhaltig produziert worden.

Wir nickten schmunzelnd ab, wie sie sich den Schweden schönredete, und da ich auch gern zu Ikea fuhr, hatten meine liebe Ökoschwester und ich schließlich auch etwas gemeinsam. Seit Ikea vegetarisches Bio-Essen anbot, stromerten wir so oft durch diesen Laden, dass ich mir manchmal abends in unserem Wohnzimmer gar nicht mehr so sicher war, ob wir nicht vielleicht immer noch in der Möbelausstellung saßen.

Ich stocherte etwas lustlos in meinem Bio-Pfannkuchen herum, den Molly mir schöngeredet hatte, obwohl ich im Schwedenshop lieber einen Hotdog gegessen hätte, während sie ihre Stoffausbeute auf dem Tisch verteilte und begutachtete. Das Neonlicht verlieh ihren blonden Haaren einen Gelbstich und ich fragte mich, ob meine genauso aussahen.

»Hieraus nähe ich eine Latzhose für Hauke.« Sie tippte auf einen Stoff mit lauter gruseligen Menschenköpfen darauf.

»Molly, dein Mann ist 40 Jahre alt. Meinst du, er ist nicht ein bisschen zu alt dafür?«

»Quatsch, das ist doch total Retro.«

Ich stellte mir Hauke in seiner selbst genähten Gruselgesichter-Stofflatzhose vor, wie er ein Meeting mit lauter Anzugträgern leitete.

»Und wofür ist der hier?« Ich zeigte auf einen Stoff mit Hasen und Igeln und malte mir vor meinem inneren Auge ein Hemd mit gestärktem Kragen dazu aus, das Hauke dann unter seiner Latzhose tragen konnte.

»Das verrate ich nicht.« Molly lächelte mich geheimnisvoll an.

»Los, rück raus!« Ich vermutete gerade mit Entsetzen, dass ich nächsten Sommer ein Hase-und-Igel-Kleid tragen würde. Schnell trank ich einen Schluck Wasser. Ich wollte nicht in Versuchung geraten, meine ehrliche Meinung zu solch einem Projekt abzugeben.

»Ich nähe etwas für dein Baby. Verdirb mir nicht die Freude.«

Doch kein Kleid! Erleichterung hat viele Gesichter. Bei mir äußerte sie sich mit einem lauten Pffff-Laut, den Molly offenbar missverstand.

»Mia, nicht verzweifeln, das klappt schon bald. Wenn ich gewusst hätte, dass du bisher so unbedarft an die Sache rangegangen bist, hätte ich dir längst auf die Sprünge geholfen. Immerhin habe ich bereits zwei Kinder. Jetzt bist du gut gerüstet und es wird gar nicht lange dauern, bis du schwanger wirst. Und dann kann ich meinen Neffen oder meine Nichte einkleiden.«

Ich war gar nicht verzweifelt. Ich war das erste Mal seit Langem hoch motiviert und auch sehr sicher, dass ich nun nicht mehr endlos auf unser Wunschkind warten musste. Dass ausgerechnet Molly mir Nachhilfe geben wollte, brachte mich zum Kichern.

»Meine liebe Schwester, du und Hauke, ihr seid so fruchtbar wie die von Trapp-Familie. Du konntest gar nicht so schnell gucken, wie dein Mann dich geschwängert hat. Das würde ich gern sehen, wie du Nils und mir auf die Sprünge hilfst.« Ich schob mir lachend einen weiteren Bissen meines Pfannkuchens in den Mund und überlegte, wie er wohl schmecken würde, wenn er nicht aus Bio-Produkten hergestellt worden wäre.

Molly schnaubte. »Papperlapapp! Hauptsache, du legst bald nach. Die Jungs sind sonst zu groß, um mit ihrem Cousin oder ihrer Cousine zu spielen. Und ich gedenke nicht, nur deinetwegen noch ein Kind in die Welt zu setzen.«

»Nicht? Denk an die vielen Tragetücher, die du noch kaufen könntest, wenn du wieder ein Baby hättest«, feixte ich.

Sie bekam große Augen und raffte ihre Stoffsammlung zusammen, um sie in die gelbe Tüte zurückzustopfen. Dann sagte sie bestimmt: »Sei lieber froh, dass wir die Familienplanung abgeschlossen haben und ich Zeit habe, klitzekleine Pucksäcke für deinen zukünftigen Nachwuchs zu nähen.«

Ach, wenn sie nur recht behielte.

Storchenmonopoly

Eines Abends spielten wir Monopoly. Während Nils, Molly und ihr Mann Hauke sich voller Eifer um die Schlossallee und Bahnhöfe zankten wie drei Zehnjährige, malte ich mir im Kopf neue Ereigniskarten aus. Mein Leben war zum Storchenmonopoly geworden.

»Holen Sie den besoffenen Storch aus der Kneipe, lesen Sie ihm Paragraph 1 der Storchenordnung vor: ›Du sollst Kinder bringen‹. Schmeißen Sie eine Ladung Folsäure ein. Legen Sie sich entspannt zurück und warten Sie, bis er (ob Mann oder Storch bleibt hier Ihrer Phantasie überlassen) seinen Pflichten nachkommt.«

Wenn es nur so einfach wäre. Unsere bisherigen Bemühungen, ein Kind zu zeugen, liefen folgendermaßen ab: Wir hatten Sex, wie wir seit jeher Sex gehabt hatten, nur dass wir nicht mehr verhüteten. Das hatte uns bis dato genau null Babys gebracht. Statt Spielspaß, bei dem ungewiss war, ob man damit gewinnen könnte, musste jetzt also ein Plan her für einen Arbeitssieg. Es war, als hätten wir bisher zwar viele Straßen beim Monopoly gekauft, aber nur solche Verliererstraßen wie die Badstraße.

Ich hatte immer wieder die schlimmste Storchenmonopolykarte des Jahres gezogen:

»Sie kriegen Ihre Periode, Sie kriegen sie sofort. Sie gehen nicht über das SCHWANGER-FELD, Sie ziehen keine Schwangerschaftshormone ein.«

Nun war ich gewappnet mit neuen kleinen Hilfsmittelchen. Seit zwei Wochen schluckte ich täglich Folsäure und maß jeden Morgen brav meine Temperatur. Ein sichtbarer Anstieg sollte anzeigen, dass ein Eisprung stattgefunden hatte. Blieb die Temperatur dann mehr als zwei Wochen in Hochlage, bestand die Möglichkeit einer Schwangerschaft. So viel hatte ich inzwischen verstanden. Das Messen selbst erwies sich jedoch als zweifelhafte Wissenschaft. Es gab die Vorgabe, direkt nach dem Aufwachen zu messen und sich dabei möglichst nicht unter seiner warmen Bettdecke hervorzupellen, da dies sofort die Temperatur beeinflussen könnte. Ich hatte das Thermometer also auf meinen Nachttisch gelegt, so dass ich noch im Bett liegend messen konnte. Das Einzige, wogegen ich mich standhaft weigerte, war die Empfehlung des Messortes. Das genauste Ergebnis sollte es für Körperöffnungen geben, in die ich nicht bereit war, ein Thermometer zu schieben. Allein die Eventualität, dass Nils es sich bei der nächsten Grippe in den Mund schob, schloss dies aus. Direkt am zweiten Tag tastete ich nach dem Weckerklingeln nach dem Lichtschalter meiner Nachttischlampe. Es gab einen Knall und statt Licht umhüllte mich weiter Dunkelheit. Und nun? Ich sollte doch mein Bett nicht verlassen, aber im Dunkeln konnte ich unmöglich das Display des Thermometers erkennen. Wenn ich nun ganz schnell aus dem Bett hüpfte, mit dem Schalter an der Tür die Deckenlampe anschaltete und wieder zurück sprintete, dürfte das doch eigentlich keinen Unterschied für die Temperatur machen. Ich warf also die Bettdecke zurück, hechtete los, rannte Richtung Tür und knallte mit voller Wucht gegen die offene Schranktür, die Nils mal wieder nicht zugemacht hatte. Ich sah Sterne. Ich hatte das bislang für einen Mythos gehalten, aber ich sah sie tatsächlich. An diesem Morgen sparte ich mir das Messen, denn ich kühlte mit einer Kühlkompresse nicht nur das Hörnchen auf meiner Stirn, sondern vermutlich auch meine Temperatur herunter. Ich war schon froh, dass mir der Zusammenstoß nicht auf dem Rückweg passiert war. Dann hätte ich bestimmt noch einen hübschen Fettabdruck am Spiegel hinterlassen, wie eine Taube, die gegen ein Fenster flog.

Aber ich tat das als Startschwierigkeit ab. Bald würde ich hoffentlich die beste Storchenmonopolykarte des nächsten Jahres ziehen können:

»Sie kriegen ein Baby, Sie kriegen es in neun Monaten, gehen Sie über die Felder morgendliche Übelkeit, Gefühlsschwankungen und geschwollene Füße und dann ins Krankenhaus. Gehen Sie direkt dorthin und nehmen Sie Ihr Baby entgegen. Sie haben das Spiel gewonnen.«

Übers Ziel hinausgeschossen

Ich matschte Hackfleisch mit aufgeweichten Brötchen zusammen und summte den Babysitter Boogie vor mich hin. Nils schien so viel Lebensfreude an einem Montagabend suspekt zu sein.