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Jürgen Neffe

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Beschreibung

»Ein wirklich sensationell lesenswertes Buch über Charles Darwin.« Denis Scheck in »Druckfrisch«

Nach seiner international gefeierten Einstein-Biografie ist Jürgen Neffe erneut ein literarischer Coup gelungen: Zum 200. Geburtstag reiste er auf den Spuren von Charles Darwin um die Welt. Er folgte Darwins Weltumrundung auf der »Beagle«, der berühmtesten Route der Wissenschaftsgeschichte. Etappe für Etappe zeichnet Jürgen Neffe auch die geistige Reise Darwins zur Evolutionstheorie nach und beleuchtet die wissenschaftlichen, weltanschaulichen und religiösen Auseinandersetzungen unserer Tage.

Jürgen Neffe nimmt den Leser mit auf die berühmteste Reise der Wissenschaftsgeschichte.

• Mit 32 Seiten Farbbildteil.

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Seitenzahl: 836

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Inhaltsverzeichnis
 
Buch
Autor
Lob
Widmung
Prolog
 
Kapitel 1 - England und Nordatlantik
Kapitel 2 - Kapverdische Inseln
 
Copyright
Buch
In seiner mitreißenden Wissenschaftsreportage schildert der preisgekrönte Journalist, promovierte Biologe und Bestsellerautor Jürgen Neffe die Entstehung der Evolutionstheorie, die die Weltsicht der Menschen revolutionierte. Gleichzeitig beschreibt er den Menschen Darwin und dessen Wandlung vom gottesgläubigen Anhänger der Schöpfungsgeschichte zum Autor der »Entstehung der Arten« und damit zu einem der berühmtesten und umstrittensten Wissenschaftler aller Zeiten.
Mit einem Abstand von 175 Jahren führt die Route die beiden Männer von Brasilien nach Patagonien, durch Pampa und Feuerland, über Gebirgspässe in Südamerika, um Kap Hoorn und das Kap der guten Hoffnung, von den Galápagos- auf die Cocos-Inseln über Tahiti und Tasmanien, Neuseeland und Australien.
Gleichzeitig reist der Leser durch die Ideengeschichte der Biologie und parallel dazu durch die Geschichte des Lebens von seinen Anfängen vor vier Milliarden Jahren bis heute und darüber hinaus.
Autor
Jürgen Neffe, Jahrgang 1956, studierte Physik, Biologie und Philosophie. Er arbeitete zwanzig Jahre als Redakteur und Korrespondent für »Geo« und den »SPIEGEL«. Der promovierte Biochemiker wurde für seine journalistische Arbeit mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis. Er war Leiter des Hauptstadtbüros der Max-Planck-Gesellschaft und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Seine Einstein-Biografie gehörte zu den Top-Ten-Bestsellern des Jahres 2005. Die englische Ausgabe wurde 2007 zum »Book of the Year« gekürt.
»Wenn das Leben, wie die Dichter sagen, ein Traum ist, so sind es auf einer Reise gewiss die Visionen, welche am besten dazu taugen, die lange Nacht zu vertreiben.«
 
Charles Darwin, »Die Fahrt der Beagle«
Für Dich
Prolog
Sie haben mir die Lotsenkabine zugewiesen, steuerbord Raum 408, auf Deck 3 der Aliança Pampas: ein Containerschiff, knapp hundertfünfzig Meter lang und nicht mal fünfundzwanzig Meter breit - ein kleiner Zubringer nur für die Riesen, die sich andernorts durch die sieben Meere arbeiten. Drei auf drei Meter Behaglichkeit made in China, nicht gerade hübsch, aber praktisch eingerichtet. Die härteste Matratze meines Lebens, aber zwei Luken gen Westen, wo vorhin die Sonne nach ihrer üblichen Nordrunde ein glutrot loderndes Gemälde hinterließ.
Warum nicht hier beginnen, auf dem Wasser, im südlichen Atlantik, der uns so klein macht in seinem dunklen Unmaß? In einem Moment, da uns alle auf diesem Planeten etwas verbindet, das älter ist als das Leben selbst. Heute begehen wir Equinox, den Tag der gleich langen Nacht, in Grönland wie in Feuerland, im Tropengürtel wie daheim in Europa. Oder hier, wo meine Kerze gerade brennt, ungefähr fünfzig Meilen vor der Küste Patagoniens, ein paar Glockenschläge vor Mitternacht. Zweimal im Jahr nur vereint uns der Gleichtakt von Tag und Nacht, zwölf Stunden Sonnenlicht für jeden Ort auf Erden. Eine kindliche Gefühlslage aus Stolz, Heimweh und Gerechtigkeitsfreude hat mich ein Licht in mein Kabinenfenster stellen lassen.
Wir fahren von Montevideo Richtung Süden nach Puerto Deseado, zum Hafen der Sehnsucht, etwa auf gleicher Breite wie Le Havre im Norden. Siebzehneinhalb Knoten, Kurs 217 Südwest. Dort warten Tiefkühlcontainer, mit Fisch und Shrimps und anderem gefrorenen Meeresgetier gefüllt, jeder mehr als dreißig Tonnen schwer. Fischfang im Süden, Kaufkraft im Norden - eine dürre Linie im dichten Netzwerk der Handelswege zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage. Die Menschheitsmaschine versorgt sich mit Nahrung. Vierzig Tonnen Diesel pro Fahrtag für ein Sonderangebot beim Discounter in Deutschland oder North Dakota.
Sieben beindicke Kolben, fast das einzige Deutsche auf diesem Schiff einer deutschen Reederei, haben meinen Knochen längst ihre Schlagfolge beigebracht. Jetzt suchen sie mein Gemüt, wo schon das sanfte Rollen der Aliança Pampas seinen Platz gefunden hat. Das Pendeln des Kalenders an der Wand folgt lässig dem leichten Auf und Ab des Horizonts. In den hiesigen Breiten fängt heute der Frühling an, mein heimisches Jahrbuch verzeichnet Herbstbeginn. Wasser wirbelt hier rechtsherum durch den Abfluss des Waschbeckens, und die Sonne steht mittags im Norden. Wäre die Uhr auf der Südhalbkugel erfunden worden, liefen ihre Zeiger andersherum. Und der Globus daheim stünde auf dem Kopf.
»Half moon, calm sea«, hat Petro Khokhlov versprochen, und der Halbmond ist dem Wort des Kapitäns bislang nachgekommen. Eben ist er im Westen der Sonne gefolgt, die See zeigt sich weiterhin magenfreundlich und der Schiffsführer entspannt. Ruhiges Wetter und reibungslose Fahrt erlebt der Master als leichteren Dienst mit zufriedener Mannschaft. Die Crew-Liste führt achtzehn Mann. Fast alle haben sich erst hier auf dem Schiff kennengelernt. Unter Khokhlov, mit seinen fünfundfünfzig Jahren Ältester an Bord, rangieren fünf weitere Ukrainer, dann zwei Russen. Alle einfachen Arbeiten erledigen die Filipinos der Deckmannschaft.
Der Dritte Offizier und Benjamin heißt Yuriy Kovalchuk, kommt aus der Ukraine, ist größer, als er wirkt, und wirkt kräftiger, als er ist. Äußert er sich dienstlich, dann spricht er, als fülle er gerade ein Formular aus. Privat lässt er sich zu Geständnissen hinreißen, die kein anderer Offizier so machen würde. Mit seinen zweiundzwanzig Jahren ist Yuriy genauso jung, wie Charles Darwin war, als er im Dezember 1831 an Bord eines Vermessungsschiffs namens Beagle - Spürhund - von Plymouth aus England verließ. Es gibt kein Bild des jungen Abenteurers aus dieser Zeit. Das nächstbeste zeigt ihn vier Jahre nach seiner Heimkehr als gereiften Mann von über dreißig.
Doch ein Stück weit wie Yuriy will ich mir den jungen Charles vorstellen, als sich ihm überraschend die Chance seines Lebens bietet: ein wenig milchgesichtig, mit der nebelblassen Haut der Nordeuropäer, im Eifer leicht rotwangig, mitunter schüchtern und verträumt, dabei aber schlau, hungrig, neugierig und lernwillig. Einer, der alles richtig machen möchte und weiß, was er will, ohne genau zu wissen, was das ist.
An diesem Tag vergangenes Jahr kam ich von Nordwales nach Hause und hörte erstmals von dieser Reise, vertraut Darwin vor fast genau 175 Jahren seinem Tagebuch an, ungefähr in derselben Position, die wir gerade durchlaufen. Während der vergangenen Woche hat es mich oft bewegt, wie anders als heute meine Lage und meine Ansichten damals waren: Es amüsiert mich, mir meine Überraschung vorzustellen, hätte mir damals in den Bergen von Wales irgendjemand ins Ohr geflüstert: An diesem Tag nächstes Jahr wirst du vor der Küste Patagoniens kreuzen.
 
Mir geht es im Moment nicht viel anders. Vor gut einem Jahr stand ich im Museum für Naturgeschichte in New York vor einer wandgroßen Reproduktion jener Weltkarte, die mit feinen Linien die Route von Darwins Reise nachzeichnet und sich heute im Kleinformat in meinem Gepäck befindet. Hätte mir damals jemand anvertraut, ich würde sechzehn Monate später vor den Gestaden Argentiniens auf einem Containerschiff durch den nächtlichen Atlantik fahren, hätte ich nicht minder überrascht reagiert als der junge Reisende in der Fantasie seiner Rückblende.
Doch dann, im kühlen Museum, geschieht etwas Unerwartetes, eine jener scheinbar nebensächlichen Begebenheiten, die dem Lebensweg urplötzlich eine neue Richtung geben. Eine zierliche Frau mit zusammengebundenem weißem Haar und schwarzem Hängekleid, eine von denen, deren Schönheit auch im Alter nicht vergeht, führt eine Gruppe Jugendlicher vor die Karte mit Darwins Route. Keine tobende Meute, sondern eine lauschende Schar, so hält die kleine Dame ihre Begleiter in Bann. Sie gibt ihnen lange Zeit zum Schauen, dann sagt sie einen einzigen Satz in die andächtige Stille: »Hier könnt ihr sehen, wo die Natur zu ihm gesprochen hat.«
In diesem Moment habe ich meinen Entschluss gefasst. Als Biologe ist mir Darwins Evolutionslehre vertraut, als Wissenschaftshistoriker auch seine Lebensgeschichte mit der Weltumrundung als frühzeitigem Höhepunkt. Doch was ist auf der Reise, der einzigen seines Lebens, mit ihm passiert und was in ihm? Wie hat sich der Amateur unter den Naturkundlern, ein junger Mann ohne jede formale Ausbildung, während der fünf Jahre in einen Forscher verwandelt, der bald alle anderen überragen würde? Wie der angehende Priester in einen rationalen Denker, der sich später von Gott abwenden und das kalt wirkende Bild einer Entwicklung ohne Plan zeichnen würde, einer sich selbst überlassenen Schöpfung?
Was hat ihn als weisen Alten, längst zur Ikone gereift, in seinen Erinnerungen schreiben lassen: Die Reise der ›Beagle‹ ist das bei weitem bedeutungsvollste Ereignis in meinem Leben gewesen? Um das herauszufinden, will ich ihm nachfahren, ganz allein seine Strecke hinter mich bringen, die Orte aufsuchen, wo sich sein Erwachen und sein Sinneswandel vollzogen haben könnten - aber auch moderne Forscher und Labore, in denen der Mensch das Leben erforscht oder sich zum Autor der Evolution aufgeschwungen hat und versucht, Gott zu spielen.
Das Leben wird oft mit einer Reise verglichen. Aber gleichen Reisen nicht umgekehrt auch dem Leben? Beide haben einen Anfang und ein Ende, Geburt und Tod, dazwischen liegen Kindheit, Jugend, Reife und Alter. Eine Reise lässt sich darum ebenso wenig wiederholen wie ein Leben. Wer es dennoch versucht, vergeht sich an seinen Träumen. Was wir suchen, finden wir ohnehin nicht. Aber mit ein wenig Glück entdecken wir etwas, dem wir bisher nicht nachgespürt haben. In diesem Punkt will ich mir Darwin zum Vorbild nehmen: Er zieht los, als habe er von Anfang an verstanden, dass eine Weltreise dazu da ist, sich ein Bild von der Welt zu machen.
Die Fahrt der Beagle hat Darwin nicht nur um den Globus geführt. Sie steht am Beginn einer geistigen Reise, die unser heutiges Selbstverständnis als Menschen begründet. Als Erster formuliert er eine weltumspannende Theorie des Lebens und stellt die menschliche Existenz wie die aller Lebewesen auf eine natürliche, materielle Grundlage. Wir gehen alle auf denselben Ursprung zurück. Unsere Stammbäume bilden zusammen den Baum des Lebens. Erst vor erdgeschichtlich kurzer Zeit hat sich unsere Linie von der anderer Urmenschen getrennt, davor von Vormenschen, Affen, Plazenta-, Säugeund Wirbeltieren, Vielzellern, Einzellern, Bakterien.
Nicht ein planender Gott hat die überbordende Vielfalt des Lebens erschaffen, sondern ein planloser Prozess, in dem sich Zufall und Notwendigkeit verbinden. Wir haben uns wie alle anderen Lebewesen (gemeinsame Abstammung) durch den Mechanismus der natürlichen Auslese (Selektion) allmählich zu dem entwickelt (Evolution), was wir sind. Seit Darwin wissen wir, was die Welt des Lebendigen im Innersten zusammenhält: ihre Geschichte. Als Begründer eines neuen Weltbilds steht er im Rang eines Kopernikus.
Doch die narzisstische Kränkung, die Darwin der Menschheit zugefügt hat, reicht tiefer als der Verlust unserer zentralen Stellung im kopernikanischen Kosmos: Indem Darwin uns den Tieren zurechnet, raubt er uns den Sonderstatus, nach dem Vorbild des Schöpfers erschaffen worden zu sein. Das hat ihn wie keinen anderen Wissenschaftler zur Reizfigur gemacht - und seine Lehre anfällig für vielfältigen Missbrauch. Bibeltreue Kreationisten sehen in ihm den Antichrist und rufen zum heiligen Krieg gegen die Evolutionstheorie auf. Nationalisten, Rassisten und Eugeniker beschwören ihn, wenn sie den besseren Menschen propagieren. Sein Schlagwort vom Überleben des Tauglichsten, dem Survival of the fittest, ist zur Kampfparole kompromissloser Sozialdarwinisten geworden, die einer gnadenlosen Konkurrenz- und Ellenbogengesellschaft das Wort reden.
Andrerseits steht Evolution, die mit Darwins Namen verbunden ist wie das Kreuz mit Jesus, am Anfang der Weltformel des Lebens. Darwins wissenschaftliche Erben haben sie so weit entschlüsselt, dass wir inzwischen mit Geburtenkontrolle, Retortenbabys und gentechnisch veränderten Organismen die Evolution in die eigenen Hände genommen haben. Gleichzeitig sind wir selbst zum größten Evolutionsfaktor geworden. Wir haben unseren Heimatplaneten durch Überbevölkerung, Ressourcenausbeutung und Artenzerstörung an die Grenzen seiner Belastbarkeit gebracht. Als äußerst erfolgreiche Spezies besitzen wir sogar die Mittel, uns - vorsätzlich - selbst auszulöschen.
Noch lange bleibe ich im Museum vor der Karte unserer Erde stehen, auf der sich die Kontinente und Küsten nur in ihren Konturen zeigen, und folge dem dünnen Strich des Beagle-Kurses. Kanaren, Kapverden, Rio, Montevideo, Buenos Aires, Pampa und Patagonien, Feuerland und die Falklandinseln, die Gegend um Kap Hoorn, Beagle-Kanal und Magellanstraße, die Küste Chiles, Anden und Atacama, Galápagos und Tahiti, Neuseeland, Australien und Tasmanien, die Cocos-Inseln, Mauritius und nach einem kurzen Stopp in Kapstadt die kleinen Eilande St. Helena und Ascension.
Namen, mit denen wir etwas verbinden, erzeugen innere Bilder. Deshalb unternehmen wir jede Reise, ob wir wollen oder nicht, schon vor dem Aufbruch immer wieder in unserer Vorstellung. Vor dem geistigen Auge tauchen Silhouetten auf, Straßen und Städte, Menschen mit unterschiedlichen Gesichtern, Gewohnheiten, Lebensweisen. Wir sehen Inseln vor uns und Strände, Buchten, Berge, Täler, Flüsse, ganze Landschaften mit Gebirgen, Ebenen, Wäldern, exotischen Pflanzen und fremden Tieren.
Da erging es Darwin mit Sicherheit nicht anders als mir. So wie ich ihm folge, fügte er sich den Vorgaben der englischen Admiralität. Jeder Ort, den ich auf Darwins Spuren erreiche, ist am 11. November 1831 vom Geographical Office der königlichen Marine in dessen Anforderungskatalog für die Beagle-Expedition exakt festgelegt worden.
Eine festgelegte Route engt ein, schafft aber auch eine Art von Stabilität. Die Einschränkung der äußeren vergrößert die innere Freiheit, den vorgegebenen Rahmen mit eigenen Inhalten zu füllen. Die beste Art des Reisens ist daher das Reisen mit einem Zweck oder einem vorgegebenen Thema. Sollte mich jemand um Rat fragen, bevor er eine lange Reise unternimmt, schreibt Darwin, als er am Ende seiner fünfjährigen Exkursion Bilanz zieht, würde meine Antwort davon abhängen, ob er eine ausgeprägte Neigung für einen Wissenszweig besitzt, welche dadurch gefördert werden könnte. So wie Darwin sich ein Bild von der Welt gemacht hat, um daraus ein radikal neues Weltbild zu entwerfen, so bin ich aufgebrochen, um mir ein Bild von seiner Welt zu machen und es an unserer heutigen zu messen.
 
Oben auf der Brücke, drei Treppen über meiner Kabine, stehen die Offiziere zusammen und schauen schweigend in die anbrechende Nacht. Es herrscht eine Art Stille, wie sie nur die Männerwelt kennt. Fern im Westen, wo kurz zuvor die Sonne versunken ist, blinken vereinzelt Lichter vom Festland herüber. Der Mondschein bricht sich im Spiel der Wellen. Die Sterne haben ihr maßloses Zelt aufgeschlagen.
Das ist so eine Stunde, in der Heim- und Fernweh zusammenprallen, in der auch die härtesten Kerle in sich versinken oder mit sanftem Tenor, bevor sie wehmütig werden, mächtige Bilder im nächtlichen Himmel lesen: von den Meeren, die sie befahren, weil es irgendwo an Rindfleisch fehlt, an Tintenfisch oder Garnelen; von den Häfen, die sie anlaufen, und den Mädchen, die in kein Märchen passen wollen; von den Herren, denen sie dienen, ohne sie zu kennen; vom fernen Zuhause irgendwo in dieser großartigen Trostlosigkeit, ihren Frauen und Kindern, der studierenden Tochter, dem krabbelnden Enkel, vom Gemüsegarten hinterm Haus, das sie gerade abbezahlen, von den Plänen für die Zeit nach dem Reisen, an die sie selbst nicht so recht glauben.
Schau dich niemals um. Das ist die erste Regel aller Reisenden. Was geschehen ist und getan, das hat die Zeit für immer verfestigt. Schau nach vorn, dorthin, wo dein Wille noch wirken kann. Stell dich der Zukunft, den Herausforderungen der Stunde, deines Lebens, wenn sie an der Reihe sind.
 
Der Tag, an den sich Darwin vor der Küste Patagoniens in seinem Tagebuch so lebhaft erinnert, ist der 29. August 1831, wenige Monate vor dem großen Aufbruch. Beseelt von seinen Erlebnissen, kehrt er am Ende einer mehrtägigen Wanderung durch das nördliche Wales in sein Elternhaus in Shrewsbury zurück, einer aufgeräumten Kleinstadt nahe der englisch-walisischen Grenzlinie. Sein Geburtshaus, »The Mount«, steht in seiner schlichten Architektur noch so da wie damals - wie gemacht für die Abteilung der Finanzbehörde, die inzwischen darin Platz gefunden hat. Dort erwartet ihn ein Brief, wie man ihn nur einmal im Leben bekommt. Plötzlich verlangt ihm das Schicksal etwas ab, mit dem es ihn bis dahin weitgehend verschont hat: eine Entscheidung.
Bis zu dieser Stunde hat Darwin sein Dasein ziemlich ungezwungen und leichtlebig auf Kosten seines Vaters vertrödelt. Ein vergnügter Nichtsnutz, der keinem etwas zuleide tut, außer den Tieren, die er als begeisterter Jäger und guter Schütze in großer Zahl erlegt. Er hat noch nicht einen Penny durch Arbeit verdient, die Schule eher lustlos hinter sich gebracht, das Medizinstudium in Edinburgh nach vier Semestern geschmissen und die zwei Jahre Theologie in Cambridge allenfalls halbherzig erledigt.
Aber dort hat er Alexander von Humboldt gelesen, und seitdem hat er einen Traum: Er will auf dessen Spuren nach Teneriffa fahren. Nur deshalb hat er begonnen, Spanisch zu lernen. Nur deshalb hat er sich einen Inklinometer aus London kommen lassen und das Mobiliar in seinem Zimmer ein ums andere Mal anders schräg gestapelt, um mit dem Gerät die Neigungsgrade zu vermessen, als seien es Gesteinsschichten. Und nur deshalb hat er soeben seine geologische Exkursion durch Nordwales beendet, die er dank seiner Verbindungen gemeinsam mit Adam Sedgwick, einem der wichtigsten Erdkundler seiner Zeit, unternehmen durfte.
Ohne das Vorbild Humboldts wäre aus Darwin vermutlich ein Kirchenmann geworden, der in Oxford oder Cambridge als Professor sein Auskommen gefunden und seinen mehr oder weniger beachtlichen Beitrag zur Naturforschung geleistet hätte. Ohne die Abenteuer und Schriften des Deutschen gäbe es nicht das Jahrhundertbuch des Briten über Die Entstehung der Arten, das er achtundzwanzig Jahre später mit den Worten beginnt: Als ich mich als Naturforscher an Bord des ›Beagle‹ befand, war ich aufs höchste überrascht durch gewisse Merkwürdigkeiten in der Verbreitung der Tiere und Pflanzen Südamerikas sowie durch die geologischen Beziehungen der gegenwärtigen Bewohner dieses Erdteils zu den früheren.
Für die Chance, die sich nun bietet, sind Darwins frisch erworbene Kenntnisse, besonders die in der Geologie, kaum zu überschätzen. Der Brief kommt aus Cambridge, geschrieben von seinem Mentor, dem vormaligen Geologie- und jetzigen Botanikprofessor John Henslow. Der hatte ihm die Grundlagen der Pflanzenkunde nähergebracht und dabei seine außergewöhnlichen Talente erkannt: Neugier, Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, in großen Zusammenhängen zu denken. Dabei schloss er ihn so sehr ins Herz, dass seine Kollegen bereits über Darwin flüsterten: »Der Mann, der mit Henslow spazieren geht.«
Das Anliegen in dem Brief scheint äußerst dringend. »Man hat mich gebeten«, lautet der entscheidende Satz, »einen Naturforscher als Begleiter von Kapitän FitzRoy zu empfehlen, den die Regierung beauftragt hat, den äußersten Süden von Amerika zu vermessen.« Der Schiffsführer werde beileibe nicht jeden akzeptieren, nur einen echten Gentleman, den er sich mehr als Gefährten denn als reinen Sammler von Steinen und Knochen, Pflanzen und Tieren wünsche.
»Die Reise wird zwei Jahre dauern, und wenn Sie reichlich Bücher mitnehmen, können Sie alles schaffen, was Sie möchten.« Und dann noch die Mahnung: »Kurz gesagt denke ich, dass sich nie eine bessere Gelegenheit bot für einen Mann mit Eifer und Geist.« So spricht ein Freund und Gönner. »Haben Sie nicht den leisesten Zweifel oder Sorgen wegen Ihrer mangelnden Qualifikation«, schließt das Schreiben. »Denn ich versichere Ihnen, Sie sind genau der Mann, nach dem die suchen.«
Eben erst hat Darwin seine Teneriffareise um ein Jahr verschieben müssen. Er hat sich schon damit abgefunden, noch einmal zwei Semester Theologie in Cambridge abzusitzen. Und nun das. Noch weiß er keine Details, hat keine Ahnung von der Route. Er kennt auch nicht den Menschen, den er begleiten soll - außer dem einen Satz Henslows: »Kapitän FitzRoy ist ein junger Mann.« Noch muss er den Streit mit seinem Vater durchstehen, der die Reise ablehnt, weil er sie für eine teure Zeitverschwendung hält - und doch eine Hintertür offenhält: »Wenn du irgendeinen Mann von gesundem Menschenverstand finden kannst, der dir den Rat gibt zu gehen, so will ich meine Zustimmung geben.«
Der Rest ist schnell erzählt. Hätte Darwins Onkel Josiah Wedgwood, der angesehene Porzellanfabrikant und wahrhaft ein Mann von gesundem Menschenverstand, nicht umgehend jeden der acht Einwände seines Schwagers in überzeugender Weise widerlegt und damit den Weg frei gemacht für den Neffen, dann wäre die Evolutionslehre heute wahrscheinlich nicht mit dem Namen Darwin verbunden und die Tagundnachtgleiche in den Gewässern vor Argentinien ohne mein Kerzenlicht geblieben. Doch er hatte das Glück, dass ihm sein Vater im maßgeblichen Moment die Freiheit gab, erstmals allein über seinen Lebensweg zu befinden.
Darwins Altersgenossen Yuriy Kovalchuk, dem Dritten Offizier an Bord der Aliança Pampas, steht der Schritt aus dem väterlichen Schatten noch bevor. Er ist erst zum dritten Mal auf großer Fahrt und sagt, er wolle Seemann werden, genau wie sein Papa. Der hat als Chefingenieur gar nicht weit von hier auf einem anderen Frachtschiff Heuer gefunden. Vor dem Sohn liegen noch die beiden Ränge des Zweiten und des Leitenden Offiziers, bis er schließlich als Kapitän auf der Brücke das Sagen haben kann. Wenn man ihn allerdings dort sieht, so allein auf der nächtlichen Wache hoch oben über der schwarzen See, dann verwischen sich die Grenzen zwischen Wollen und Sollen, Auftrag und Neigung.
 
Als Darwin am 12. Februar 1809 auf die Welt kommt, erhält er wie ein Vermächtnis die Vornamen zweier Ärzte - den seines Vaters Robert und den von dessen verstorbenem Bruder Charles. Dem Toten wird die Ehre durch den Rufnamen für den Neffen erwiesen. Auch »Bobby«, wie seine drei älteren Schwestern den Jungen nennen, soll Arzt werden wie schon sein Vater und dessen Vater. Damit ist bereits das Wichtigste über Darwins Jugend gesagt. Außer, dass er seit seinem achten Lebensjahr ohne Mutter aufwachsen muss. Susannah Darwin, geborene Wedgwood, stirbt im Juli 1817, vermutlich an Bauchfellentzündung. Sie hinterlässt drei Töchter und zwei Söhne. Sohn Charles, der Jüngste, hat sie fast nur krank gekannt. Später wird er sich kaum noch an sie erinnern können. Nach ihrem Tod wird in der Familie nicht mehr von ihr gesprochen.
Vier Jahre vor Charles hat sie dessen Bruder Erasmus geboren, der mit der Bürde eines bedeutenden Namens ins Leben geht: Der Großvater Erasmus Darwin gehörte als erfolgreicher Arzt, Intellektueller, Dichter und politischer Kopf zu den bekanntesten Männern Englands. In den besseren Kreisen hat der Name Darwin großes Gewicht - er steht für Geist und Liberalität, aber auch für einen robusten Geschäftssinn. Zudem hat sich der Großvater, ohne den Vorgang zu verstehen, bereits Gedanken über Evolution gemacht. Damit hinterlässt er seinen Enkeln einen unerledigten Auftrag, den aber nicht Erasmus, sondern Charles erfüllen wird, nachdem ihn an jenem Tag Ende August 1831 die Chance seines Lebens ereilt.
Bis dahin hat er sich intuitiv lebensklug allen Festlegungen verweigert. Dem väterlichen Willen hat er sich allenfalls halbherzig gebeugt. Dafür musste er sich vom Vater übel beschimpfen lassen: »Du interessierst dich für nichts außer Schießen, Hunde und Rattenfangen, und du wirst dir selbst und deiner ganzen Familie zur Schande gereichen!« Wie jemand, der lieber auf die Ehe verzichtet, als einen Falschen zu heiraten, lässt er sich aller Schelte zum Trotz auf nichts ein, was nicht seinem Herzen entspricht. Mit der Sicherheit einer üppigen Erbschaft im Rücken kann er sich das auch leisten. Und im Nachhinein behält er recht damit, in stiller Sturheit auf seine Gelegenheit gewartet zu haben. Als ruhiger Rebell und schwarzes Schaf, das sich zeitlebens seinem Erzeuger beweisen muss, erfüllt er alle Voraussetzungen für einen außergewöhnlichen Lebensweg.
 
Auf der Aliança Pampas kann ich in der Person des Dritten Offiziers das Gegenmodell in Augenschein nehmen - den Jungen, der seinem Vater auf dessen eigenem Gebiet nacheifern will. Yuriy Kovalchuk wäre nicht der Erste, der daran scheitert. Draußen, auf der Brücke nach Steuerbord, hat er in der Milde der Nacht von seiner Freundin daheim in der Ukraine gesprochen und dabei geschluckt. Das wird er sich abgewöhnen müssen, wenn er einmal Zehntausende Tonnen unter sich haben will und eine Mannschaft, die er heil in den nächsten Hafen bringen muss. Beim ersten heftigen Unwetter vor ein paar Monaten, gesteht er kleinmütig, habe er sich ernsthaft gefragt, ob das wirklich das Richtige für ihn sei, das Seemannsleben.
Wir werden sehen, wie Darwin sich bei der ersten ernsten Herausforderung ebenfalls mit Selbstzweifeln plagen wird. Doch zunächst setzt er alles daran, um den Platz auf der Beagle zu bekommen. Er trifft sich in London mit Kapitän FitzRoy. Die beiden jungen Männer verstehen sich auf Anhieb - keineswegs selbstverständlich für zwei, die den entgegengesetzten Enden des politischen Spektrums zuneigen. Darwin, in der Whig-Tradition einer unitaristisch orientierten Familie aufgewachsen, steht aufseiten der Liberalen. Der durch und durch aristokratische Robert FitzRoy, ein illegitimer Nachfahre König Charles’ II., engagiert sich für die Gegenseite, die bis heute unter der Bezeichnung Tories bekannt ist. Eines verbindet die beiden zu diesem Zeitpunkt allerdings noch: der anglikanisch geprägte Glaube an Gott und die Schöpfung.
In seiner ungezwungenen Arglosigkeit lässt Darwin erst gar keine Zweifel daran aufkommen, der Richtige zu sein - selbst als FitzRoy mit physiognomischem Kennerblick kurz die Eignung des Jüngeren wegen der Form seiner Nase in Frage stellt. Der Kapitän ist wahrscheinlich einfach froh, auf einen so umgänglichen, ambitionierten jungen Mann aus gutem Hause und mit tadellosen Manieren zu stoßen. Er gibt dem anderen die erhoffte Zusage. Die beiden schließen für die Zeit ihrer Reise einen bisweilen brüchigen Pakt. Danach entwickeln sie sich rasch auseinander und werden zu erbitterten Gegnern.
Mit Yuriy und seinem Kapitän könnte die Sache, wenn alles gut geht, genau umgekehrt verlaufen. Petro Khokhlov, groß und bullig, mit flinken Blicken aus engen Schlitzen, stellt dar, was man einen mit allen Wassern getauften Seebären nennt. Wenn er lacht, dann tut er es mit seinem ganzen Körper. Aber wenn er wütend aufbraust und sein cholerisches Blut zur Ader lässt, dann reichen halbe Silben und knappe Gesten, dass jeder seine Ansagen versteht und widerspruchslos befolgt.
Noch sind die beiden einander nicht grün, wobei klar ist, wer den Ton angibt bei diesem ungleichen Paar. Am Morgen nach der goldenen Nacht haben sich der Himmel und die Miene des Masters verfinstert. Mittags befanden wir uns ein Stück südlich von Port Desire - das heutige Puerto Deseado. Vor dem schwarz verhangenen Horizont zeichnet sich kaum wahrnehmbar der Schattenriss der kleinen patagonischen Hafenstadt in die Regenschwaden. Damals gab es hier noch keine Siedlung. Es blies weiterhin frisch, und verstärkte sich in der Mitte des Tages zum heftigsten Sturm, den ich je gesehen habe. Bei dem Orkan kann das Schiff nicht einlaufen. Wir müssen hier draußen vor Anker gehen und ruhigeres Wetter abwarten.
Yuriy steht in schwerer Montur auf dem Vordeck. Er versucht zu verbergen, dass er friert und leidet. Zu seinem Unglück und gleichzeitig zu seinem Glück hat sich ihm mit dem raubeinigen, manchmal auch finster polternden Khokhlov eine echte Prüfung in den Lebensweg gestellt. Der weiß, dass Yuriy noch schwankt, und will ihm die Entscheidung erleichtern. Durch Härte.
Als Dritter Offizier muss Yuriy die Befehle zum Ankern auf Englisch an die Mannschaft weitergeben und sie gleichzeitig gegen das Tosen des Sturms per Funkgerät an den Kapitän auf der Brücke zurückschreien. »Give up chain!?« - »Give up chain!« So machen es Seeleute schon seit alten Tagen. Darwin muss das unzählige Male gehört haben. Ein Befehl gilt erst als verstanden, wenn er klar und deutlich wiederholt worden ist. Doch Yuriy kann es Khokhlov nicht recht machen. Wenn der nicht augenblicklich sein Echo vernimmt, und zwar in der Weise, wie er es hören will, brüllt er los. Alle an Bord können die Reifeprüfung über ihre Walkie-Talkies mitverfolgen. Wie der eine verzweifelt versucht, alles den erlernten Vorschriften gemäß richtig zu machen, und wie es ihm immer wieder auf Ukrainisch aus dem Gerät entgegenbellt. In der Muttersprache flucht es sich leichter.
Vermutlich hat Yuriy die Offiziersschule mit Bestnoten abgeschlossen. Aber die eigentliche Schule ist hier. Beim Ankern auf stürmischer See. Und wie er ankern kann, der Kapitän. Präzise auf den Punkt, so wie Fahrkünstler einzuparken verstehen. Er steht draußen auf der Brücke, schaut aufs aufgepeitschte Wasser und schreit seine Anordnungen in den Äther: »Stop engine!« - »Stop engine!«, kommt es prompt von der Maschine zurück.
Eine Weile bleibt das Ringen zwischen Lehrer und Schüler auf der Kippe. Dann zeigen die Schläge Wirkung. Mehr und mehr findet der Jüngere seinen eigenen Ton, brüllt den Männern seine Anordnungen zu - exakt so, wie sie es gewöhnt sind und wie sie es unter diesen Bedingungen auch brauchen: nicht als nachgebetete Worte des anderen, sondern als Befehle aus eigener Kraft.
Jetzt rollt die zweite Ankerkette unten genauso ab, wie es der Kapitän oben will. Das schwere Schiff kann sich sicher im Meeresboden verhaken. Aus dem Funkgerät gleiten in sanftem Bass runde, russisch klingende Worte. Yuriy steht der Schrecken noch im Gesicht. Aber er hat bestanden. Denn er hat verstanden. Das zeichnet einen guten Schüler wohl aus. Und einen guten Lehrer erst recht.
Am nächsten Morgen hat sich das Wetter beruhigt. Die Anker werden eingeholt, die Maschine wird gestartet. Sieben Kolben setzen sich in Bewegung, das Herz der Aliança Pampas schlägt. Wir fahren das kleine Stück Richtung Westen vorbei an der Pinguininsel in den Sund von Puerto Deseado. Ich sitze allein in der Offiziersmesse. Da kommt Yuriy, frisch geduscht und rasiert und in Freizeitkleidung, und setzt sich mir gegenüber an den Tisch. Er wirkt verändert, trotz der Spuren von Anspannung irgendwie gelöst.
»Ich habe nachgedacht.« Er schaut mich aus seinen blauen Augen geradewegs an. In den letzten Tagen bin ich für ihn zu einer Art Vertrauensperson auf Zeit geworden. Wem sollte er sich auch sonst öffnen? Erwachsenwerden ist ein ziemlich einsames Geschäft. »Mir bleiben genau zwei Möglichkeiten: Entweder ich halte das hier durch, oder ich gebe auf. Dazwischen gibt es nichts.«
Genau darauf kommt es an. Du musst bestimmen, wie viel vom Buch deines Lebens du selber schreiben willst. Und kannst. Davon hängt alles Weitere ab. Die Entscheidung kann dir niemand abnehmen. Meistens gibt es einen einzigen Moment, in dem sie fällt - oder nicht. Zweiundzwanzig Jahre sind kein schlechtes Alter dafür, die Welt zu umarmen. Darwin versteht das genau. Als ihm sein künftiger Kapitän die Route zeigt, ist seine Stunde gekommen.
Ich weiß, wie sich das anfühlt. Jede Fahrt beginnt mit der ersten Idee. Die Karte im Kopf, sie will sich mit Leben füllen. Das Werk aus dürren Strichen verlangt nach Bildern. Plötzlich weiß man, was man zu tun hat. Wenn es stimmt, dass auch Reisen eine Reife durchlaufen, dann hat in diesem Moment das Abenteuer des Lebens begonnen.
1
England und Nordatlantik
Warten in Plymouth · Seekrank · Verhinderte Landung in Teneriffa · Der Sammler · Vor den Kapverden
 
 
Es war keine leichte Geburt. Allein die Wehen zogen sich über mehr als acht Wochen hin. Darwin hat ihre Phasen sorgfältig dokumentiert. Am 24. Oktober 1831 beginnt er in Devonport, dem Marinehafen von Plymouth, sein Reisetagebuch: Nach angenehmer Fahrt von London abends hier angekommen. So banal beginnen die aufregendsten Abenteuer. Das Schreiben bietet ihm während der folgenden fünf Jahre - so lange dauert die Reise schließlich - Halt und Heimat für seine Gedanken.
Tags darauf geht er zum ersten Mal an Bord der Beagle. Einige Wochen zuvor hat er sie noch im Dock gesehen, wo sie mehr einem Wrack glich als einem Schiff mit dem Auftrag, die Welt zu umsegeln. Jetzt empfängt sie ihn in einem Zustand von Geschäftigkeit und Durcheinander. Überall wird gesägt und gehämmert, geputzt und gestrichen. Kapitän FitzRoy hat eine Totalrenovierung des einstmaligen Küstenfrachters angeordnet. Die Brigg erhält ein neues Deck. Es wird gleichzeitig so weit angehoben, dass darunter etwas mehr Raum zum Atmen entsteht.
Am folgenden Tag wird sich Darwin der Enge an Bord bewusst. Meine eigene private Ecke erscheint mir so klein, dass ich die Sorge nicht loswerde, viele meiner Dinge zurücklassen zu müssen. Sosehr sich Planer, Schiffsschreiner und -zimmerleute auch bemühen, den Platz an Bord bestmöglich zu nutzen, das Volumen des Dreimasters können auch sie nicht verändern: Auf knapp achtundzwanzig Metern Länge bei nicht einmal zehn Metern maximaler Breite müssen neben zehn Kanonen und Munition, Vorräten für Monate, Ausrüstung für alle Fälle und Instrumenten für die Vermessung der Küsten, Buchten und Inseln insgesamt vierundsiebzig Menschen mit ihrer persönlichen Habe Platz finden.
Mir bleiben nur ein Koffer und mein kleiner Rucksack, um meine Habseligkeiten zu verstauen. Kleidung für alle Klimazonen, für Tropen, Wüsten, Steppen, Hochgebirge und arktische Gefilde. Badelatschen neben Wanderstiefeln, Moskitonetz neben Wollmütze und Handschuhen, leichter Schlafsack, Waschzeug und Erste-Hilfe-Set, Taucherbrille und Schnorchel, Ersatzbrillen, Telefon, Kamera, Fernglas, Lupe, allerlei Ladegeräte, ein Satz Tage- und Notizbücher, Stifte. Nur für das Wichtigste fehlt der Platz: Literatur.
Darwin kann auf eine Bordbibliothek von rund hundert Büchern zurückgreifen - Reiseberichte, Bestimmungswerke, Monografien. Meine Bibliothek mit all seinen Schriften, die viele Bände füllen, mit Karten, Material über Länder und Leute, mit historischen Stichen, Briefen und dazu noch eine stattliche Sammlung von Musikstücken und ein paar Hörbüchern wiegt nicht mehr als der Laptop, auf dem sie gespeichert sind. Wo Darwin Tausende Steine, Fossilien, Skelette, Bälge, Felle, Insekten, Muscheln, eingelegte Meerestiere und getrocknete Pflanzen sammelt und in Kisten und Fässern nach Hause schickt, will ich mich auf gewichtlose Souvenirs beschränken. Nichts bringen, nichts mitnehmen außer Bildern und Geschichten.
Unter allen Mitreisenden genießt Darwin eine Sonderstellung. Da er dank seines Vaters selbst für die Kosten der Passage aufkommt, kann er sich im Rahmen der Route frei bewegen. Er trägt keine Verantwortung außer für sich selbst. Noch geht er davon aus, innerhalb weniger Wochen aufbrechen zu können. Seinem Bruder Erasmus schreibt er nach London: Was für ein herrlicher Tag wird der 4. November für mich sein. Mein zweites Leben wird dann beginnen, und er soll für den Rest meines Lebens wie ein Geburtstag sein.
Dieser Tag verstreicht jedoch wie der nächste und die darauf folgenden, ohne dass an eine Abreise überhaupt zu denken ist. Am 12. November kehrt Darwin begeistert von einem Besuch auf der Beagle zurück. Die Männer waren gerade damit fertig, sie zu streichen, und natürlich waren die Decks klar und die Dinge verstaut. Zum ersten Mal fühlte ich eine Art maritimer Leidenschaft; niemand konnte sie ohne Bewunderung betrachten. 21. November: Brachte alle meine Bücher und Instrumente an Bord der Beagle. 23. November: Dies war ein sehr wichtiger Tag in den Annalen der Beagle. Um ein Uhr wurde sie aus ihrer Vertäuung gelöst und segelte fast eine Meile bis Barnett Pool. Hier wird sie bleiben, bis der Tag der Abreise kommt.
Dort, in den Gewässern vor Plymouth, nehme ich erstmals die Spur der Beagle auf, nachdem ich wochenlang Darwins Lebensspuren durch England gefolgt bin - vom Geburtshaus in Shrewsbury über die Universitätsstadt Cambridge, wo ich in die heiligen Hallen des Darwin-Archivs vorgelassen wurde und seinen greisen Ururenkel Richard Darwin Keynes besuchte, über London bis zu seinem Wohnhaus im Dörfchen Downe in Kent, wo er alle wichtigen Werke verfasst hat. Im Hafen beginnt das Fragen, das mich auf der gesamten Reise begleiten wird. Die meisten Seeleute wissen von dem Schiff und seinem berühmten Passagier, kennen aber keine Details. Von hier sind schon so viele Weltreisende und Auswanderer aufgebrochen, dass Darwin kein besonderes Interesse zuteilwird. Ein Gefühl für alte Schiffe, höre ich immer wieder, könne ich mir genauso gut auf der nachgebauten Mayflower verschaffen. Doch ich will kein falsches Schiff, sondern den echten Ort.
Dann hilft mir das Glück, dem der Reisende oft mehr verdankt als Planung und Verstand. Ein alter, wetterharter Kapitän auf einem Ausflugsboot, er nennt sich Adrian, entpuppt sich als kundiger Hobbyhistoriker. Die Werft in Devonport, sagt er, wo die Beagle im Dock lag, sei heute militärisches Sperrgebiet. Aber die Stelle in Barnett Pool, wo sie so lange vor Anker ihrer Abfahrt harrte, kenne er genau. Kein Passagier protestiert, als er auf dem Weg über den Sund, der Devon von Cornwall trennt, einen Umweg macht, um mir den damaligen Liegeplatz der Brigg zu zeigen. Steuerbord liegt Plymouth mit seinen Promenaden und weißen Fassaden, den Jachthäfen und der alten Marinekaserne, die gerade in eine Anlage mit Bars, Lofts und Luxusapartments umgebaut wird. Vor uns das grüne Hügelland von Cornwall, und backbord hinter der Einfahrt zur Bucht, lockend und bedrohlich, die offene See. Von hier geht es grenzenlos in alle Welt.
»Damals der beste Startpunkt für Schiffe«, erklärt der Kapitän und steuert gefährlich schnell auf den Kiesstrand von Barnett Pool zu. »Kein Problem.« Er zeigt auf den Monitor seines Echolotgeräts. Das Ufer fällt fast senkrecht auf vierzig Meter Tiefe ab. Erst kurz vor dem Strand dreht er bei. »Das ist eine der besten Stellen, um auf das richtige Wetter zu warten. Von hier kann man fast an Land hüpfen. Ein paar Ruderschläge nur, das ist alles.« Kaum Dünung, nur ein leichtes Lüftchen weht im Windschutz der Küste.
Noch nächtigt Darwin an Land. Seine Ungeduld wächst mit jedem Tag. 30. November: Alle meine Gedanken drehen sich um die Zukunft, und nur mit größter Schwierigkeit kann ich über ein anderes Thema reden oder nachdenken. 4. Dezember: Ich schreibe dies erstmals an Bord, es ist nun etwa ein Uhr, und ich beabsichtige, in meiner Hängematte zu schlafen. Dann, nach wochenlangem Ausharren, macht sich erstmals eine Spur von Missmut breit. 5. Dezember: Seit Mittag bläst ein schwerer Sturm aus Süden und vielleicht werden wir den Hafen nicht verlassen können. … Ich kehrte sehr verzweifelt nach Hause zurück, beabsichtige aber, mir noch ein letztes Mal das Schlafen in einem sicheren festen Bett zu gönnen. 7. Dezember: Es wird von Tag zu Tag ermüdender, so lange im Hafen zu bleiben …
Am 10. Dezember soll es endlich losgehen. Um 9 Uhr holten wir unsere Anker ein und segelten kurz nach 10 los … wir hatten eine angenehme Fahrt, bis wir den Wellenbrecher umschifften … wo mein Elend begann. Mir ging es bald ziemlich schlecht, und in dem Zustand blieb ich bis zum Abend. … Ich litt entsetzlichst; solch eine Nacht habe ich noch nie verbracht, allenthalben nichts als Qualen. 11. Dezember: Es ging so weiter bis Sonntagmorgen, als beschlossen wurde, nach Plymouth zurückzukehren und dort bis zu einem günstigeren Wind zu bleiben.
In der Zange zwischen lähmendem Warten und der niederschmetternden Vorstellung der Fahrt auf See macht er sich am selben Tag Mut gegen die wachsende Verzweiflung. Nachdem ich nun so viel Zeit hatte, mir meine Meinung zu bilden, bin ich sicher, dass es recht war, das Angebot anzunehmen; dennoch halte ich es für fragwürdig, wie weit es zum Lebensglück beitragen wird. - Falls ich gesund bleibe und heimkehre und dann noch die mentale Stärke besitze, mich ruhig im Leben einzurichten, wird mein jetziger und künftiger Einsatz an Verdruss und an Wunsch nach Bequemlichkeit reichlich belohnt werden. 13. Dezember: Die grundsätzlichen Ziele sind 1. Sammeln, beobachten und lesen in allen Zweigen der Naturgeschichte, die ich irgendwie bewältigen kann. … Wenn ich nicht genug Energie aufbringe, mich selber während der Reise ständig zum Fleiß zu bewegen, welch großartige und außergewöhnliche Gelegenheit mich zu bessern würde ich wegwerfen. - Möge ich dies niemals auch nur einen Augenblick lang vergessen, dann habe ich vielleicht noch einmal die Chance, meinen Geist zu schärfen, die ich wegwarf, während ich in Cambridge war.
Womöglich hätte Darwin keinen heilsameren Schock erleben können als dieses zermürbende Vorspiel zur Reise seines Lebens. Sollte anfangs noch sein jungenhafter Leichtsinn im Spiel gewesen sein, so blasen ihm jetzt die Unrast des Geistes und das Elend seines Körpers alle Flausen aus dem Kopf. Zum ersten Mal fühlt der junge Mann so etwas wie Pflicht - und übernimmt Verantwortung, für sich und für die eigene Existenz. Nach all der Unentschiedenheit, den vergebenen Chancen, vergeudeten Jahren und Enttäuschungen für seinen Vater weiß er nun, dass er aus diesem Lebensgeschenk das Beste machen muss - wie ein guter Kartenspieler das Blatt erkennt, das so nie wiederkommt. In diesem Moment muss er sich selbst versprochen haben, dass sich der Einsatz auch lohnen soll.
Die Geburt der Reise ist in vollem Gang. Doch sie steckt, um im Bild zu bleiben, im Geburtskanal fest, und das Wechselspiel aus Wehen und Momenten der Erleichterung nimmt kein Ende. 14. Dezember: Befehle werden ausgegeben, morgen abzusegeln. Das Wetter verhindert den Start. 17. Dezember, die nächste Selbstermunterung: Der Reiz des Neuen, mich auf einem Schiff zu Hause zu wissen, hat sich noch nicht verbraucht, auch habe ich nicht aufgehört, über mein außergewöhnliches Glück zu staunen, etwas teilhaftig zu werden, das ich mir in meinen wildesten Träumen niemals vorstellen konnte. Wenn es begehrenswert ist, die Welt zu sehen, was für eine seltene und ausgezeichnete Möglichkeit ist dies.
Mittlerweile scheint sich Darwin auch mit dem Schlimmsten angefreundet zu haben, obwohl ihm die eigentliche Feuertaufe noch bevorsteht: die Fahrt auf offenem Ozean. Doch eingesperrt in der schützenden Bucht von Barnett Pool, wird ihm diese Aussicht von Tag zu Tag gleichgültiger. Er zeigt erste Anzeichen eines typischen Gefängniskollers: Sollen sie mich schlagen und treten, Hauptsache, ich komme hier raus.
19. Dezember: Die Chancen stehen bestens, dass wir morgen absegeln. - Das Lichten der Anker wird mit allgemeiner Freude bejubelt werden. 21. Dezember: Wir starteten um 11 Uhr mit einer leichten Brise aus NW … Während der mittleren Wache änderte der Wind seine Richtung, und um 4 Uhr … blies der Sturm aus SW. Der Kapitän schonte das Schiff, und wir kehrten mit elf Knoten die Stunde zu unserem guten alten Heimplatz zurück.
Die Geduld des Menschen lässt sich nur bis zu einem bestimmten Punkt strapazieren. Am ersten Weihnachtstag entlädt sich die Spannung der gesamten Mannschaft in einem heillosen Besäufnis. 25. Dezember: Im Augenblick befindet sich kein nüchterner Mann an Bord. 26. Dezember: Ein schöner Tag, und ein geeigneter, um abzusegeln. - Die Gelegenheit wurde versäumt dank der Trunkenheit und beinahe völligen Abwesenheit der Crew. Der Kapitän verhängt drastische Strafen. Statt in See zu stechen, verbringen etliche Seeleute den ganzen Tag in schweren Ketten, die vier schlimmsten Übeltäter werden wegen Aufsässigkeit sogar ausgepeitscht. Was für ein unglücklicher Beginn, so früh so viele unserer besten Männer bestrafen zu müssen. Dann brechen die Aufzeichnungen ab.
Erst elf Tage später kann Darwin wieder einen Stift halten und in sein Tagebuch schreiben. Den Eintrag datiert er auf den 27. Dezember zurück, den endgültigen Abreisetag der Beagle. Zwischenzeitlich hat er sich beinahe die Seele aus dem Leib gekotzt. Ich werde nun die gesamten, teuer erkauften Erfahrungen schildern, die ich mit der Seekrankheit gemacht habe. Zuallererst ist das Elend übermäßig und übersteigt bei Weitem alles, was sich eine Person, die nie mehr als ein paar Tage auf See war, überhaupt vorstellen kann. Ich fand die einzige Linderung in horizontaler Lage … Vor der Abfahrt habe ich oft gesagt, dass ich keinen Zweifel hätte, dass ich dieses gesamte Unternehmen häufig bereuen würde, aber ich dachte kaum, mit welcher Inbrunst ich das einmal tun würde. Mir war so schlecht, dass ich nicht einmal aufstehen konnte, um Madeira zu sehen.
Dann schließlich, am 6. Januar 1832, scheint sein Schicksalsgott Gnade walten zu lassen. Die Beagle steuert durch ruhigere Gewässer auf die Kanarischen Inseln zu. Mit dem so lange herbeigesehnten ersten Landgang auf Teneriffa soll die Reise nun endlich ihr Leben beginnen. Der schneebedeckte Vulkangipfel des Teide mit seinen gut 3700 Metern Höhe thront über den Wolken. Darwin hat noch nie einen so hohen Berg gesehen. Innere Bilder beginnen, sich an äußeren zu messen. Zum ersten Mal schildert er unmittelbar seine Eindrücke. Und seine Begeisterung: Es ist nun beinahe 11 Uhr, und ich muss einen weiteren Blick auf dieses lang ersehnte Objekt meiner Begierde werfen.
Doch dann. Oh Elend, Elend. Als sie gerade eine halbe Meile vor Santa Cruz, der Hauptstadt von Teneriffa, die Anker werfen wollen, kommt ein Boot längsseits, und dessen Kapitän macht ihnen die niederschmetternde Mitteilung, dass die Besatzung der Beagle wegen einer Cholera-Epidemie in England zwölf Tage in strengster Quarantäne bleiben müsse und das Schiff nicht verlassen dürfe. Kapitän FitzRoy überlegt nicht lange, lässt die Segel wieder setzen und Kurs auf die Kapverdischen Inseln nehmen, die anders als die Kanaren unbedingt angelaufen werden müssen.
»Keine Mühen sollen gescheut werden«, heißt es in der Anordnung des Geographical Office, »die Position zu verifizieren.« Selbst ein Zeitverlust von ein paar Tagen sollte kein Hinderungsgrund sein, um in »einer Serie chronometrischer Beobachtungen« den exakten Längengrad der kapverdischen Hauptstadt Porto Praya festzustellen.
Anders als die Kenntnis der Breitengrade, die sich allein anhand himmlischer Konstellationen wie Sonnenstand, Sternen- und Planetenposition mithilfe von Karten, Tabellen und präzisen Messinstrumenten haargenau bestimmen lassen, hängt die Ermittlung der geografischen Länge entscheidend von der Exaktheit der mitgeführten Uhren ab. Beide Informationen zusammen gehören zu den unverzichtbaren Basisdaten, mit denen Seeleute in den Weiten der Ozeane ihren Standort berechnen und einsame Inseln ansteuern können, Tausende Kilometer von nichts umgeben als dem immer gleichen Auf und Ab gewaltiger Ozeane. Heute nutzen sie Satellitenortung.
Der Standard für die Weltzeit, nach der die Beagle reist, wird an Greenwich, London, gemessen. Dort verläuft gemäß weltweiter Übereinstimmung der sogenannte Nullmeridian. Jeder Ort hat, je nach seiner Position auf dem Erdball, seine eigene Ortszeit bezogen auf Greenwich. Sie hängt vom Moment des jeweiligen Mittags ab, also davon, um wie viel früher oder später dort die Sonne im Zenit steht - ausgedrückt in Grad östlich oder westlich von Greenwich. Umgekehrt kann ein Kapitän auf hoher See, vereinfacht gesagt, durch das relativ simple Feststellen der Mittagsstunde mithilfe seiner Chronometer sehr genau die Position seines Schiffes in Längengraden bestimmen. Kapitän FitzRoy hat zum Vergleich zweiundzwanzig sorgfältig verpackte Präzisionschronometer in seine Kabine bringen lassen.
Kanaren, Kapverden - den Seeleuten auf der Beagle ist es einerlei, wo sie das erste Mal den Fuß an Land setzen. Nur einer ist untröstlich. »Dies war eine große Enttäuschung für Mr Darwin, der die Hoffnung hegte, den Gipfel zu besuchen«, notiert FitzRoy. »Ihn zu sehen - zu ankern und auf dem Sprung sein, an Land zu gehen, und dann gezwungen werden, sich zu entfernen ohne die leiseste Aussicht, Teneriffa wieder zu erblicken -, bedeutete für ihn ein wahrhaft großes Unglück.«
Die Insel wird auch »un pequeño continente« genannt, ein kleiner Kontinent mit allen Klimazonen, reichhaltiger Flora und Fauna, wie Darwin sie nur aus Büchern kennt, vor allem von Humboldt, der die vielen einheimischen Arten ebenso preist wie die einmalige Lavalandschaft im Hochland um den Teide. Wir haben vielleicht einen der interessantesten Orte auf der Welt verlassen, gerade in dem Moment, als wir nahe genug waren, dass jeder Gegenstand, ohne sie zu befriedigen, unsere äußerste Neugier weckte.
Und dann fängt er an zu schreiben. Wie unter Zwang zur Ersatzhandlung schildert er aus der Ferne die Form der Hügel und Täler Teneriffas, beschreibt die Kirchen der Stadt und die Farbe ihrer Häuser, die Geschützreihen, über denen leuchtend die Fahne des spanischen Königreichs weht. Lange behalten sie die Insel achtern im Blick, bis schließlich nur noch die Spitze des Teide über den Horizont lugt.
Doch der Geist spukt weiterhin in Darwins Kopf herum: Schon kann ich Humboldts Begeisterung für tropische Nächte verstehen. Sonnenuntergänge begeistern ihn, überschwänglich begrüßt er den Übertritt in die Tropen und vergleicht die frühsommerliche Witterung mit dem verregneten Elend in England. Eben so wie jeder Reisende in Urlaubsstimmung. Bei dem prächtigen Wetter hat sich sogar Darwins Seekrankheit verflüchtigt. Doch dann, am 10. Januar, passiert etwas, das wie eine Wendemarke seine Biografie in Vorher und Nachher teilt: Der Naturforscher in ihm bricht sich unweigerlich Bahn. Er wirft ein improvisiertes Netz aus Fahnentuch aus und lässt es hinter dem Schiff durchs Wasser gleiten. Am Abend holte ich eine Masse kleiner Tiere hoch, und morgen freue ich mich auf eine größere Ausbeute. Am nächsten Morgen nimmt er seine Beute in Augenschein und bestaunt den Reichtum der Farben und Formen. Es erzeugt ein Gefühl des Wunders, dass so viel Schönheit zu so einem geringen Zweck erschaffen worden sein soll.
Wie immer er das in diesem Moment auch meint: Hier meldet er erstmals Zweifel an der Schöpfung an. Warum sollte Gott beim Bestücken der Natur mit Lebewesen so verschwenderisch verfahren sein?
Am 16. Januar 1832 um elf Uhr nähert sich die Beagle St. Jago, heute São Tiago, der Hauptinsel des Kapverdischen Archipels. Um drei Uhr geht sie vor der Hauptstadt Porto Praya, heute Praia geschrieben, vor Anker. Nichts kann Darwin jetzt mehr aufhalten. Er geht erstmals in der Fremde an Land.
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Kapverdische Inseln
Ankunft in São Tiago · Das Prinzip Vergleich · Die Spur der Steine · Darwins Initiation · Die weiße Schicht · Ausflug ins Inselinnere · Ein Junge namens Sydney
 
 
Die besten Reisen beginnen mit dem geringsten Ballast. Überflüssiges hinter sich lassen, Gewissheiten aufgeben, frei und offen für das Neue loswandern - dabei alles erwarten, ohne etwas zu erwarten. Je mehr Gewicht wir über Bord werfen, desto leichter können wir uns einlassen auf das Spiel von Zufall und Schicksal, dem wir das Leben verdanken. Das Großartigste, was wir in der Fremde finden können, sind ohnehin wir selbst.
Die großen Reisenden wissen das. Auch der junge Darwin muss es gespürt haben, als ihm die kapverdische Hauptinsel São Tiago erstmals die Gelegenheit gibt, die Beagle zu verlassen und ein Land zu erforschen. Zunächst zeigt er sich noch ernüchtert. Die Umgebung von Porto Praya bietet von See her ein trostloses Bild. Mein Urteil fällt kaum günstiger aus. Ich habe noch kein Land erlebt, dessen Name so wenig zu seiner Wirklichkeit passt. Nur ein paar Wochen im Jahr, während und kurz nach der Regenzeit, zeigt es sich »verde«, grün, die übrige Zeit fast flächendeckend staubtrocken und graubraun.
Nach der Landung verändert sich der Eindruck. Da besitzt die neuartige Ansicht eines gänzlich unfruchtbaren Landes eine Erhabenheit, die mehr Vegetation verderben könnte. Unverstellt von Wäldern und Bewuchs, heben sich in scharfen Linien finstere Rücken vom diesig blauen Himmel ab. Der Horizont wird von einer unregelmäßigen Kette erhabener Berge eingefasst. Die Landschaft ist, durch die diesige Atmosphäre dieses Klimas betrachtet, von hohem Reiz, wenn denn ein Mensch, der frisch von See kommt, überhaupt etwas anderes als sein eigenes Glück fassen kann.
Über die Kanten der Höhenzüge stoßen weiße Passatwolken, die sich strichgerade in nichts auflösen. Längst erloschen der einst aus dem Ozean emporgestiegene Vulkan, dem dieses Eiland Form und Existenz verdankt. Abermillionen Jahre hatte das Wasser Zeit, tiefe Täler und dramatische Schluchten in die Gesteinsmassen zu schneiden. Dabei hat es ausladende, angenehm klimatisierte Hochebenen zurückgelassen. Außerhalb der Hauptstadt Praia mit ihren vielen unverputzt betongrauen, eng auf eng in die Seitentäler gedrückten Behausungen verleiht menschlicher Einfluss dem Land mit Terrassen, Obstplantagen, Agavenhecken und blühenden Gärten in den wenigen bewässerten Talsohlen hier und da sogar einen fast lieblichen Charakter.
Nach seinem ersten Landgang notiert Darwin: Es war ein wunderbarer Tag für mich, als ob man einem Blinden Augen schenkte - er ist überwältigt von dem, was er sieht, und kann es zu Recht nicht begreifen. Das sind meine Gefühle, und so mögen sie bleiben. Er macht das Beste, was ein Reisender auf unbekanntem Terrain im ersten Augenblick tun kann: Instinktiv begegnet er dem Unbekannten mit den unschuldigen Augen eines Neugeborenen, das zum ersten Mal die Welt in ihrem Licht erfasst. Noch geblendet von der Helligkeit, begreift er sie als Bündel von Fragen, die nach Antworten verlangen. Indem er diesen Blick zulässt, öffnet er seine Optik bis hin zur Totalen, in der alle seine Entdeckungen, Erlebnisse und Erkenntnisse Platz finden sollen.
Tastend bewegt er sich durch ein Wunderland. Noch ohne den strengen Sezierblick des Naturforschers lässt er Entzücken und Missfallen gleichermaßen zu. Ein Kokoshain darf einfach ein Kokoshain sein, die Banane schmeckt ihm nicht, denn sie ist leicht widerlich süß, er genießt erstmals das unaussprechliche Vergnügen, auf einer wilden und verlassenen Insel unter der tropischen Sonne umherzuwandern.
Diesen Ort haben weder Humboldt noch Darwins andere Vorbilder je betreten oder beschrieben. Von Anfang an ist er auf seine eigene Urteilskraft angewiesen. Dabei stellt er sein wichtigstes mentales Werkzeug auf die Probe, das ihm bis zum letzten Tag seiner Reise, wenn man so will, auch seines Lebens, helfen wird, sein Weltbild zu formen: Er vergleicht.
Damit tut er bewusst genau das, was das Leben, wie wir es kennen, vom Rest der Materie unterscheidet. Die Fähigkeit, zu erkennen, zu vergleichen und zu entscheiden, könnte Leben sogar ausmachen. Jedes Wesen, das Information aus seiner Umgebung aufnehmen kann, setzt sie zu seinem inneren Zustand in Beziehung. Schon eine Amöbe weiß, wohin sie sich bewegen muss, um an Nahrung zu gelangen. Alles, was unsere Sinne uns vermitteln, vergleichen wir bewusst oder unbewusst mit dem, was wir bereits wissen und kennen. Nur so können wir die Welt beurteilen, Neues erkennen und Entscheidungen fällen.
Selbst Moleküle, die kleinstmöglichen Körpern gleichen, »wissen« aufgrund ihrer Form, welche anderen zu ihnen passen oder nicht. Wenn sie einander nahekommen, können sie in fast allen Fällen nichts miteinander anfangen und bleiben neutral - so wie auch die allermeisten Lebewesen ohne gegenseitigen Einfluss nebeneinanderher leben. Sobald aber zwei Moleküle zueinanderpassen und sich finden, können sie sich mehr oder weniger fest verbinden und ganze Kaskaden von Abläufen auslösen.
Wenn man so will, finden und verbinden sich schon auf molekularer Ebene Partner, die Affinitäten zueinander besitzen. So gesehen steht eine Urform der Partnerschaft am Anfang des Lebens, der Ursprung der Liebe. Nur wer zur Verbindung fähig ist, findet den anderen. Das setzt sich fort bei den Zellen, die sich zu Geweben verschweißen, Organen, die Organismen bilden, ja sogar allen Individuen, deren Existenz sich nur aus Sicht der Gemeinschaft verstehen lässt. Gemeinsam können sie - wie Hammerkopf und Hammerstiel oder Pianist und Piano - Eigenschaften besitzen, die jedem Einzelnen fehlen. Dieses »Emergenz« genannte Phänomen durchzieht die Geschichte des Lebens wie ein roter Faden.
Im weiteren Sinne bildet das Zusammenwirken einzelner Einheiten sogar einen Grundpfeiler allen irdischen Lebens. Ei und Spermium müssen einander (über Oberflächenmoleküle) zunächst erkennen, bevor sie sich vereinigen können. Das Gleiche gilt für ihre jeweiligen Erbsubstanzen. Passen diese nicht gut genug zusammen, kommt es nicht zur Entwicklung von Embryo und Organismus. Die Grenzen können zwar fließend sein, doch wenn sie eindeutig sind, sprechen Biologen von eigenen Arten - jenes Phänomen, über das Darwin sein Leben lang nachdenken wird, ohne auch nur die Spur von molekularen Vorgängen zu kennen.
Über die Artenfrage besteht unter Fachleuten bis heute so große Uneinigkeit, dass manche sogar vorschlagen, den Artbegriff ganz zu streichen. Die tauglichste Definition fasst diejenigen Lebewesen in einer Spezies zusammen, die miteinander zeugungsfähige Nachkommen haben können und damit eine Fortpflanzungsgemeinschaft bilden. An den Grenzen, die Darwin immer wieder beschäftigt haben, stehen zum Beispiel Esel und Pferd. Sie gehören zwar unterschiedlichen Arten an, stehen sich biologisch aber so nahe, dass sie gemeinsam Nachwuchs zeugen können. Doch die Maultiere (Vater Esel) und Maulesel (Mutter Eselin) sind steril.
Von Beginn seiner Reise an setzt Darwin praktisch alles, was ihm wichtig erscheint, zueinander in Beziehung und stellt Zusammenhänge her. Sollte nur ein Faktor herausgehoben werden, der sein Erfolgsrezept verstehen lässt, dann diese Bereitschaft, alles an allem zu messen und jedes Detail als Baustein eines wahrhaft gigantischen Puzzles zu begreifen. Dieses Universelle macht das Geniale an Darwins Arbeit aus.
Bei alledem gestattet er sich zu Beginn, das zu sein, was er ist: ein ziemlicher Anfänger. Vor allem auf dem Gebiet der Biologie tritt er praktisch ohne fundiertes Vorwissen an, sieht man von den Käfern ab, die er schon als Junge gesammelt hat, ein paar englischen Pflanzen und einigen niederen Meeresorganismen, zu denen er während seines verpatzten Medizinstudiums in Edinburgh Zugang gefunden hat. Er beobachtet fast beliebig, sammelt praktisch ohne System ins Blaue hinein, hier ein paar Gewächse, dort ein paar Tiere.
Mitunter macht er Entdeckungen, die den Fachleuten längst bekannt sind, wie etwa die chamäleonartige Fähigkeit des Tintenfisches, sich unterschiedlichen Untergründen farblich anzupassen. »Ein Kind mit einem neuen Spielzeug könnte nicht entzückter gewesen sein, als er in St. Jago war«, schreibt Kapitän FitzRoy an Admiral Beaufort in London. Darwin jubelt: Ich befinde mich häufig in der Lage des Esels zwischen zwei Bündeln von Heu - so viele schöne Tiere bringe ich im Allgemeinen mit nach Hause.
Doch schon bei diesen ersten tastenden Schritten leistet Darwin etwas Erstaunliches, weshalb ihn Verhaltensforschung und Ökologie heute gleichermaßen als einen ihrer Begründer feiern: Er beobachtet die Lebewesen nicht nur in Aufbau und Gestalt, sondern auch in ihrer Lebensweise. Der häufigste Vogel ist ein Eisvogel (ALCEDO IAGOENIS), der zahm auf den Zweigen der Rizinusölpflanze hockt und sich von dort auf Heuschrecken und Eidechsen stürzt. Auch wenn er den Vogel hier einer falschen Art zuschreibt - jede Kreatur hat neben ihrem Haben auch ein Sein, jeder Organismus verhält sich, bewegt und ernährt sich, kämpft, kommuniziert und pflanzt sich fort. Erst beide zusammen, Haben und Sein, ergeben ein umfassendes Bild.
Darwin ermittelt die Nahrungsquellen einer Art der großen Meeresschnecke APLYSIA, bis heute ein beliebtes Forschungsobjekt der Nervenphysiologen. Dieser Hinterkiemer ernährt sich von dem feinen Seegras, das zwischen den Steinen im trüben und seichten Wasser wächst: Im Magen habe ich mehrere Steinchen gefunden, wie im Muskelmagen eines Vogels. Und wieder findet er einen Vergleich: Diese Schnecke stößt, wird sie gestört, eine sehr blasse violettrote Flüssigkeit aus, die das Wasser im Umkreis von einem Fuß verfärbt. Neben diesem Verteidigungsmittel verursacht ein scharfes Sekret eine scharfe, stechende Empfindung ähnlich jener, die von Physalia, also Portugiesischen Galeeren, erzeugt werden.
Genau diese detaillierten Beobachtungen und Gegenüberstellungen werden ihm später helfen, die Entstehung der Arten zu begreifen: Oft sind es, wie bei den berühmten Finken auf Galápagos, unterschiedliche Verhaltensweisen, etwa bei Fortpflanzung oder Ernährung, die trotz nahezu identischem Äußeren eine Aufspaltung in separate Spezies einleiten.
An den Korallen bewundert er deren erlesene Schönheit, gemessen an ihren unscheinbaren Verwandten in Schottland. Niemals in den wildesten Luftschlössern hatte ich mir einen so guten Bauplan vorstellen können. … Noch weniger hatte ich je erwartet, dass meine Hoffnungen, sie zu sehen, einmal in Erfüllung gehen würden.
 
Korallen schlagen die Brücke zu jenem Gebiet, auf dem Darwin gleich bei seinem ersten Landgang eine Art wissenschaftlicher Initiation erlebt: Geologie ist zurzeit meine Hauptbeschäftigung. Dank seines Schnellkurses in den walisischen Bergen bringt er praktisches und dank eines bemerkenswerten Umstands auch fundiert theoretisches Vorwissen mit: Kapitän FitzRoy hat ihm als Willkommensgeschenk den druckfrischen Band 1 der »Geologischen Prinzipien« von Charles Lyell überreicht, des damals wohl berühmtesten Erdkundlers Englands, wenn nicht der Welt. Darwins Cambridger Mentor Henslow hat ihm die Lektüre wärmstens ans Herz gelegt, ihn aber gleichzeitig davor gewarnt, »unter keinen Umständen die darin vertretenen Ansichten zu akzeptieren«.
Darwin hat »seinen« Lyell bereits sorgfältig studiert, als er auf den Kapverden an Land geht. Binnen weniger Tage traut sich der Anfänger zu, die Geologie der Insel São Tiago in groben Zügen verstanden zu haben. Sein sicheres Gespür für die wahren Verhältnisse an der Erdoberfläche hat ihn von Anfang an auf den richtigen Weg durch das Labyrinth der Gesteine und ihrer Schichtungen geführt. Für den Geologen muss die erste Untersuchung vulkanischer Felsen ein denkwürdiger Zeitpunkt sein, und kaum weniger für den Naturforscher der erste Ausbruch von Bewunderung, Korallen auf ihrem Heimatfelsen wachsen zu sehen.
Zu jener Zeit teilt sich die geologische Fachwelt in zwei Lager. Die »Katastrophisten« gehen davon aus, dass sich der Zustand des Planeten nur als Resultat gewaltiger Umwälzungen in der Vergangenheit erklären lässt - kataklystische, vermutlich von einer höheren Macht bewirkte Ereignisse wie die in der Bibel beschriebene »Sintflut«. Dieser Denkrichtung neigen Henslow und Adam Sedgwick zu, dem Darwin nach der gemeinsamen Exkursion in Wales letztlich die Mitfahrgelegenheit auf der Beagle zu verdanken hat. Sedgwick hat Henslow den Tipp gegeben, Darwin vorzuschlagen.
Charles Lyell steht im Gegenlager aufseiten der »Gradualisten«. Nach denen bräuchte es, um das aktuelle Bild der Erde zu verstehen, weder göttlichen Einfluss noch zielgerichtet formende Mächte in der Vergangenheit, sondern allein dieselben Gestaltungskräfte der Natur mit Vulkanismus, Vergletscherungen, Erdbeben und Erosion, wie sie auch heute noch zu beobachten sind. Die Oberfläche des Globus sieht Lyell in ständiger Auf-und-ab-Bewegung wie ein unendlich langsames Schwappen, das die Kontinente und Inseln anhebt oder absenkt.
Lyell gebührt wie keinem anderen das Verdienst, die Geologie erstmals als historische Wissenschaft etabliert und in seinen packenden, nach wie vor lesenswerten Schriften nacherzählt zu haben. Ohne ihn und sein Denken wäre aus Darwin niemals der Mann geworden, der die Biologie endgültig um die Dimension der Zeit erweiterte. So wie Humboldt in ihm den Entdeckergeist weckt, so wird Lyell zum geistigen Geburtshelfer des analytischen Denkers Darwin. Wie niemand vor ihm wird er die Welt über die Scheidelinie zwischen toter und lebendiger Materie hinweg als dynamisches System begreifen. Geologie und Gradualismus geben seinen Vorstellungen von Raum und Zeit die richtigen Größenordnungen von Takt und Maß. Dabei gelingt dem jungen Mann gleich zu Beginn seiner Karriere ein Schritt von erstaunlicher Eigenständigkeit: Er macht sich Lyells Denkweise in der Geologie zu eigen, ohne dessen theologische Sichtweise der Biologie zu übernehmen.
Im festen Glauben an die Schöpfung lehnt Lyell wie die meisten Koryphäen seiner Zeit die Idee von der Veränderlichkeit der Arten ab, wie immer neue Fossilienfunde sie nahelegen könnten. Solch evolutionäres Gedankengut gilt ihnen als Teufelszeug. Es stellt das religiöse Fundament und damit Gottes Allmacht infrage, der alle Arten, wie sie auf der Erde zu finden sind und waren, einzeln erschaffen hat.
Darwin tritt seine Reise als angehender anglikanischer Geistlicher im tiefen Vertrauen auf den Kreationismus an, die biblisch verbriefte Schöpfungsgeschichte. Eines jedoch unterscheidet den so harmlos wirkenden, stets freundlichen Weltreisenden von der Mehrzahl seiner Alters- und Zeitgenossen und vor allem von Kapitän FitzRoy: Auf der Suche nach neuen, wissenschaftlich begründeten Wahrheiten ist ihm nichts heilig. Erst diese innere Freiheit erlaubt es ihm, alles in Frage zu stellen und schließlich auch das Wirken des Schöpfers in Zweifel zu ziehen.
Nur aus dieser Sicht lässt sich verstehen, dass Darwin gleich zu Beginn seiner Reise eine erste eigenständige Entdeckung gelingt, die für ihn zu einer Art Erweckungserlebnis wird. Damals dämmerte zum ersten Male der Gedanke in mir, dass ich vielleicht ein Buch über die Geologie der verschiedenen von uns besuchten Länder schreiben könnte, und das durchschauerte mich mit Entzücken. Der tollkühne Gedanke eines blutjungen Amateurs, der vor allem eines verrät: sein Streben nach dem großen Wurf.
Ein vollkommen horizontales weißes Band