das alles hier, jetzt - Anna Stern - E-Book

das alles hier, jetzt E-Book

Anna Stern

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Beschreibung

"das alles hier, jetzt." handelt vom Umgang mit dem Tod einer eng befreundeten Person und einer Reise quer durch Raum und Zeit. Stern beschreibt eindringlich die Ohnmacht in den Wochen nach dem Tod und den Sog des Erinnerns, der die Vergangenheit festhalten will, bevor die Erzählung in einer unerhörten Befreiungsaktion aus der Trauer mündet. Ananke stirbt jung nach kurzer Krankheit und hinterlässt im Freundeskreis eine unerträgliche Lücke. Sie trauern und beschwören die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit: die Erlebnisse in Kinder- und Jugendtagen, die enge Verbundenheit der gesamten Gruppe, wunderschöne Sommer, auch erste Konflikte. Die Freunde suchen verzweifelt, finden aber keinen Ausweg aus ihrer Lähmung. Bis eine radikale Idee alles erneut auf den Kopf stellt: Auf geht's zu einem befreienden Road-Trip, mit einem ganz klaren Ziel … In jeweils kurzen Fragmenten des Jetzt und der Vergangenheit kontrastiert Anna Stern die trauernden Freunde mit der schillernden Welt der guten Erinnerungen, die durch geschlechtsneutrale, unbekannte Vornamen immer auch leicht entrückt wirkt. Im zweiten Teil des Romans, der linear erzählt wird und der Bewegung entsprechend Tempo aufnimmt, entdeckt der Leser eine bisher unbekannte erzählerische Seite von Anna Stern. das alles hier, jetzt." ist ein rasend schönes und zutiefst menschliches Buch über Familie, Freundschaft und Verlust, über das Erinnern und Aufgehen im Anderen, und ein weiterer Meilenstein im Schaffen einer der bemerkenswertesten Autorinnen der Schweiz.

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Anna Sterndas alles hier, jetzt.

Roman

Der Salis Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Wir danken dem Kanton St. Gallen, dem Kanton Zürich und der Stadt Zürich für die Unterstützung dieses Buches.

 

Anna Stern

 

das alles hier, jetzt.

 

Roman

Verlag

Elster & Salis AG, Zürich

 

[email protected]

 

www.elstersalis.com

Lektorat/Korrektorat

Patrick Schär für Torat GmbH

Satz

Peter Löffelholz für Torat GmbH

Umschlaggestaltung

André Gstettenhofer

Umschlagbild

1953 Mercedes Benz, mbheritage

Gesamtrealisation

www.torat.ch

Gesamtherstellung

CPI Books GmbH, Leck

 

3. Auflage 2020

 

© 2020, Elster & Salis AG, Zürich

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN 978-3-03930-000-6

 

eISBN 978-3-03930-001-3

ANMERKUNG ZUR E-BOOK-AUSGABE:

Die Wiedergabe des korrekten Buchsatzes der gedruckten Ausgabe ist leider aufgrund der technischen Beschränkungen im ePub-Format nicht möglich. Wir haben uns entschlossen, den lesefreundlichsten Kompromiss zu wählen und haben dafür das links/rechts-Schema der gedruckten Ausgabe aufgelöst, wo notwendig. Es gibt in der vorliegenden E-Book-Version einige Male mehrere schwarze Texte hintereinander und ebenso mehrere graue Texte. Dies war von der Autorin so nicht beabsichtigt, hat aber keinen wesentlichen Einfluss auf die erzählte Geschichte

für anette

j’ai mis longtemps à découvrir […] qu’il n’y avait rien à corriger, seulement à prendre – tout à prendre – et que tout ce qui avait été, était et serait, se suffisait en soi.

claude simon

sie liefen noch immer, rannten, galoppierten, denn man musste laufen, rennen, galoppieren, man musste laufen, laufen, immer weiter laufen, als könne das nie, wirklich niemals aufhören.

lászló krasznahorkai

Inhalt

februar bis juli

Danke

zur autorin

Quellennachweis

februar bis juli

ananke stirbt an einem montag im winter, nachmittags zwischen sechzehn und siebzehn uhr.

wir schenken uns nichts. das einzige, was wir uns geben, sind unsere namen: ananke gibt mir den namen ichor.

der monat zeigt sich landesweit ausgesprochen trüb. in berglagen gehört er zu den kältesten februarmonaten der letzten dreißig jahre. nur selten fällt wenig schnee bis ins flachland. auf das monatsende hin bringt kontinentale kaltluft aus nordosten eine kurze kältewelle.

um dieselbe zeit, anfänglich unerklärt, der wechsel vom ich zum du.

im gegensatz zu schnee, regen, nebel ist kälte in der regel unsichtbar.

dein aufenthalt in london neigt sich dem ende zu. es ist samstag, die erste aprilwoche ist eben vorbei, und du sitzt mit einem glas milch im museumscafé und liest zeitung. in gedanken bist du immer noch in der ausstellung, somewhere in between, die du nun schon zum dritten oder vierten mal besucht hast, über synaesthesie, das leben unter wasser und die bedeutung der genetik in der modernen tierhaltung nachsinnend: du liest nur unaufmerksam. trotzdem bleibst du hängen, fahren deine augen immer wieder über den kleinen kasten unten rechts, unter einer abbildung der kathedrale von salisbury: did you see anything out of the ordinary? it may be that at the time nothing appeared out of place or untoward, but with what you now know you remember something that might be of significance. your memory of that afternoon and your movements alone could help us with missing pieces of this mystery. the weather was poor that day, so there were not as many people out and about. ganz automatisch fragst du dich, was du an dem tag, auf den sich der zeugenaufruf bezieht, getan hast, ein tag ende märz. zuerst ist da nichts, weiß ist es, still ist es. dann, oh kacke, sagst du, sagst du laut und stehst auf, oh verdammte affenkacke. du suchst nach deinem telefon, suchst die nummer für ananke, ananke im süden, ananke hinter den bergen, legst dir die worte zurecht, tanti auguri, wie konnte das bloß vergessen gehen, wie konntest du diesen tag: your memory of that afternoon. doch noch bevor es zu tuten beginnt, heißt es an deinem ohr: questo numero non è valido, einmal, zweimal, du lässt die hand sinken, was für eine verdammte affenkacke das, aber wirklich.

es ist bereits abend, bereits dunkel, als dich der anruf erreicht; als swann bittet, setz dich; als swann sagt, ananke ist tot. einen moment noch glaubst du, ein weiteres chronon lang besteht die möglichkeit. dann das klirren, dann die splitter, du kniest am boden und sammelst auf, was von früher übrig ist, swanns atem weiter in deinem ohr, scharf die kanten der scherben und das blut an deinen fingern rot. du fragst nichts: es gibt keine zulässigen antworten, nicht auf das wie, nicht auf das warum. du sagst, ich komme nach hause, eden und ich, wir kommen nach hause, jetzt.

jedes jahr der schwimmkurs, die jagd nach abzeichen (fisch, krebs, pinguin und eisbär), in der ersten woche der sommerferien. oft ist das wetter schlecht, kühl für die jahreszeit und nicht selten regnerisch; und selbst wenn es einmal nicht regnet, selbst wenn einmal die sonne scheint, liegen die wiesen am see so früh am morgen dennoch im schatten der großen bäume, und das gras ist feucht vom tau der nacht. ihr seid in diesen tagen allein im freibad, und das ganze hat stets einen hauch von abenteuer: swann packt am morgen nicht nur eure badesachen und handtücher in eure rucksäcke, sondern stets auch nektarinen und laugenbrötchen, eine kleine packung apfelsaft und, wenn ihr glück habt, eines dieser bleistiftlangen, vakuumierten würstchen, von denen dir die mit der grünen schrift besser schmecken als die mit der roten oder blauen, auch wenn avi sagt, dass sich die würstchen im geschmack nicht unterscheiden. und auch steckt swann euch immer heimlich ein geldstück zu, mit dem ihr euch pommes kauft oder ein eis oder mehr von dem sauren gummizeug, den lakritzschnecken und cola-fröschen, als ihr in einem tag essen könnt, und zum abschied gibt es ein weihwasserkreuz auf die stirn. doch das alles, die ganze freiheit, die ganze freude, die darin steckt, in der pause zwischen zwei schwimmlektionen vom sprungturm in den see zu springen oder schlotternd und mit klappernden zähnen in eine reife nektarine zu beißen, den zuckrigen saft aus den mundwinkeln und über das kinn rinnend, all das vermag nicht zu ändern, dass du diese woche insgeheim hasst, dass die furcht davor, den test am ende, wie im ersten jahr, nicht zu bestehen, dich daran hindert, die freiheit, die freude zu genießen.

du gehst in den winter hinaus, blind, in die nacht. die tränen gefrieren in deinen augenwinkeln, auf deinen tauben wangen. die kälte trifft dich gestalt-, geruch-, weiter auch geräuschlos: keine menschen, nirgends. nicht mehr.

als ananke und du das erste mal allein zusammen in die stadt dürft, kauft ihr euch pyjamas im partnerlook. anankes ist blau und deiner ist rot, und auf den langen hosenbeinen und ärmeln sind faustgroße sterne abgedruckt und monde, der umriss weiß gezeichnet, das innere gelb. als du mit dem pyjama nach hause kommst, bricht swann in schallendes gelächter aus, ein gelächter, das du nicht verstehst. du trägst den pyjama in der folgenden nacht und in der nacht darauf, in allen weiteren nächten darauf, bis die hosenbeine nur noch zur mitte deiner waden reichen und der stoff an knien und ellbogen langsam durchsichtig wird. es ist nicht so, dass dir der pyjama gefällt, dir je gefallen hätte; dir gefällt primär die vorstellung, nachts, wenn du im dunkeln liegst, von ananke, weniger als hundert meter luftlinie von dir entfernt: ananke im selben pyjama, in derselben dunkelheit, vielleicht dieselben träume träumend.

du findest eden beim training. du setzt dich auf die bank vor der umkleidekabine am waldrand, in sichtweite des gestüts, du lehnst dich ans holz zurück, die augen geschlossen, die schwärze, die kälte, in der stille das schnauben der pferde, fern der verkehrslärm in der stadt. du hast immer geglaubt, auflösung, zerfall beschreibe einen langsamen prozess, ein gebäude zerfällt im lauf der zeit, radionuklide besitzen halbwertszeiten von dreißig, von fünfundzwanzigtausend, von vierzehn milliarden jahren. doch nun, hier, in der winter-dämmerung, nach dem anruf, nach swanns worten: alles ging viel zu schnell. es fehlt etwas zwischen davor und danach, und die scherben, das blut an deinen händen: du siehst das vorher nicht mehr, weißt nicht, wie du es wieder ganz machen kannst. dann bewegung aus richtung des waldes, edens schritte auf kies, die herzschläge, die deine komplettieren. du stehst auf und trittst in die dunkelheit, die mittlerweile vollkommen ist, hier, zwischen den bäumen. du gehst auf eden zu und sagst, eden, und ihr bleibt stehen, zwei teile eines ganzen, spiegel im spiegel, und du sagst es, du sagst es das erste mal laut: ananke ist tot. dein atem als wolke, die sich im schwarz auflöst.

du bist vier jahre alt, und es ist herbst, und es ist ein besonderer tag. du wachst früh auf, bist schon ganz aufgeregt: heute. heute ist der tag. du kletterst aus dem bett und schleichst noch im nachthemd aus dem zimmer, das parkett kalt an deinen schwitzigen kinderfüßen. im haus ist es ganz still, noch ist außer dir niemand wach: eden schläft, und avi und swann schlafen, und egg, egg schläft sowieso immer, egg ist ja auch bloß ein baby. du steigst vorsichtig die treppe hinab, stufe für stufe, auf das holz lauschend, hoffend, dass es nicht plötzlich knarrt. in der küche liegen bereits eure kleinen rucksäcke auf dem tisch, deiner in blau und edens in grün, auf deinem ein bär, auf edens ein elefant. du hast swann oft genug geholfen, du weißt, wie man das macht, nimmst salz und mehl aus dem küchenkarussell und die hefe aus dem kühlschrank, legst alles auf der kücheninsel bereit, auch die große schüssel, auch die waage, und steigst dann auf den schemel an der anrichte und beginnst. später sitzt du neben eden im fahrradanhänger, zwischen euch die schüssel, der kessel, und avi tritt vorne in die pedale. du boxt eden in die seite, eden sagt, aua, hör auf, das tut weh. du sagst, hör selber auf, nenn mich nicht mehlteufel, das ist gemein. stimmt doch, swann hat es doch gesagt, du bist ein kleiner mehlteufel, hat swann gesagt. du streckst die zunge raus und boxt deinen zwilling noch einmal in die seite; avi sagt, schluss jetzt, ihr zwei, sonst kehren wir um. im wald riecht es gut, nach tannennadeln und moos und feuchtem holz. ihr fahrt bis zur feuerstelle am bach, dicht gefolgt von bas mit ananke und vaska im anhänger; fred hat schon ein eigenes rad, es ist rot, und seit dem sommer braucht fred auch die stützräder nicht mehr. ihr kinder macht euch auf die suche nach feuerholz, fred und vaska und ananke, eden und du, doch der unerwartete regen von letzter nacht erschwert euch die aufgabe. trocken, habe ich gesagt, sagt bas, als ihr mit ästen und großen rindenstücken beladen zur feuerstelle zurückkehrt, trocken, kinder, ihr wisst doch, was trocken heißt. fred erklärt, dass ihr es versucht, dass ihr überall geschaut habet, bis zum hexenstein hinauf habet ihr gesucht, doch es sei alles feucht, feucht sei das trockenste, was ihr habet finden können. na dann, sagt avi, dann müssen wir wohl aus feucht trocken machen, wenn wir nicht verhungern wollen. während sich die anderen um das feuer kümmern, gehst du mit vaska und ananke noch einmal los. ihr seid auf der suche nach schlangenbrotstecken, so und so lang und so und so dick, genau wisst ihr nicht, wie lang und wie dick, doch wenn ihr sie seht, so seid ihr überzeugt, dann wisst ihr es. vaska kann schon mit dem taschenmesser umgehen, und wenn ihr einen guten stecken erspäht, dann ruft ihr vaska, und vaska sägt den ast ab. als ihr mit sieben stecken zum platz am bach zurückkehrt, brennt das feuer noch nicht richtig, doch erste flammen züngeln an der reisigpyramide im steinkreis, rot und orange und helles, heißes gelb. noch einmal glück gehabt, sagt avi zu fred und hebt die hand zum high five, gut gemacht, feuerindianer. fred sieht wirklich ein bisschen aus wie ein indianer, mit schwarzen schmieren im gesicht, auf den wangen und auf der stirn, doch als fred die kriegsbemalung wegwischen will, wird alles nur noch schlimmer vom ruß und dreck an den fingern. bis das feuer gut brennt, bis die glut heiß genug ist, um die kürbissuppe im schwarzen kessel zu erhitzen, heiß genug auch, damit ihr den brotteig um eure stecken wickeln und knusprig backen könnt, spielt ihr verstecken und fangen, und fred schwingt sich sogar an einem seil über das rauschende wasser und bis ans andere ufer. später sitzt ihr ums feuer, eure gesichter rot mit herbstlicher kälte, mit müdigkeit und feuerhitze, und ihr esst von der suppe und von dem brot, während avi euch die legende von den cherokee-indianern erzählt, die geschichte davon, wie das feuer auf die erde, der rabe zu seinem schwarzen federkleid, der uhu zu seinen augenringen und die zornnatter zu ihren schwarzen schuppen kam.

das licht ist zu hell in den zügen, sodass du die augen geschlossen hältst; die welt ist zu laut, und gleichzeitig fürchtest du, dich in der stille zu verlieren. eden neben dir, auch blind, auch stumm: ihr braucht nicht darüber zu reden, die bilder in edens kopf, die worte, jede angst: du kennst sie auch so.

als ihr am bahnhof die treppen hochsteigt, setzt leichter schneefall ein, flocken, die bei der ersten berührung schmelzen: nichts bleibt zurück über den augenblick hinaus. das letzte stück, über die wiesen, durch den wald, geht ihr hand in hand. edens griff, finger, die sich an deine klammern, nägel schneiden halbmonde in haut, doch du lässt nicht los, könntest nicht, wenn du wolltest. klammerst selbst. dann das haus, dann auch: swann und egg und avi. ihr seid angekommen: zu hause. in der mitte. am anfang. dort, wo einst alles.

jetzt, als eden und du am abend von anankes tod nach hause kommt, als swann euch entgegenkommt und euch in den arm nimmt, als avi euch die stirn küsst, erkennst du: familie ist nicht blut; ist nicht gene. familie ist erinnerungen; ist tränen, die sich auf müden wangen mischen; familie ist, was du daraus machst. was du familie sein lässt.

ananke ist dein feuerwerk. weihnachten ist vorbei, silvester steht vor der tür. folglich: es ist noch dunkel, als der wecker klingelt, vier, halb fünf, du weißt nicht mehr, worauf ihr euch geeinigt habt. du schlägst die decke zurück, schlüpfst in die strumpfhose und den rollkragenpullover, warm einpacken, hat swann gesagt, es wird eisig kalt. du schiebst den vorhang zur seite, es liegt schnee, und mond und sterne leuchten klar. in der küche kocht eden milch auf, die ihr mit mehr schokopulver als gewöhnlich und im stehen trinkt, dein blick dabei auf den mit schnur zusammengebundenen pfannendeckeln auf dem tisch ruhend, auf edens trompete, die danebenliegt. dann ab auf die straße, dann ab zu fred und vaska und ananke, und es heißt los: lärm machen und leute aus dem bett jagen, süßigkeiten sammeln und bas und avi mit dem alten spruch geld aus der tasche locken: so geht dieser tag los, so hört das jahr auf: heut’ ist silvester, morgen neujahr, gib mir fünf franken oder ich rupf dich am haar. später dann: die müden morgenstunden im warmen bett; die vom zucker klebrigen zähne, die gruslig verfärbten lippen; kartoffelsuppe am mittag und schneeballschlachten am nachmittag. noch später schließlich: rimuss und pizza aus dem holzofen; tischbomben und kartenspiele; und das beste, das größte, das schönste zum schluss: raketen und lady crackers, sprühende sonnen und der sternenregen der vulkane: komme, was wolle, zusammen schaffen wir das.

du sitzt in deinem alten, lichtlosen zimmer am fenster, draußen liegt der garten im dunkeln. du kannst die tanne nicht sehen, die es nicht mehr gibt, auf der ihr zehn, fünfzehn, zwanzig meter in die höhe geklettert seid. du kannst die fußballtore nicht sehen, die leto für eden und dich hat schweißen lassen: jetzt vom rost zerfressen, die netze in fetzen, gras und kletterrosen sich um die torpfosten windend. der erdhügel, eure alp, hinter dem die johannisbeersträucher selbst bei tageslicht im schatten liegen. der verfallene hasenstall an der westseite: du erinnerst dich an die marotten von milli, das weiche schwarze fell von neni und grappa, den schreck, als ihr aus dem urlaub zurückkamt und adge geköpft im außengehege lag. wenn du aufsiehst, weiter hinaus in die dunkelheit, ist da die leere der nicht erleuchteten fenster; der fenster, in denen ananke nicht mehr ist; der fenster, hinter denen ihr gemeinsam am boden, am tisch saßt und spieltet, kuchen aßt, fernsaht; fenster, von denen du weißt, wie das drinnen von draußen aussieht und das draußen von drinnen; und fenster, hinter denen irgendwo bas und roan stecken, fred und vaska und ash – und die gleichen fragen klumpenhaft im bauch sitzen haben wie du.

es klingelt an der tür, doch du öffnest nicht. es klingelt erneut, und als du öffnest, steht ananke vor dir: gekommen, um sich zu verabschieden. dir fehlen die worte für fragen, ihr umarmt euch, ananke drückt dir einen zettel mit der neuen adresse in die hand. du starrst darauf (denkst an den mais und den fluss und das meer unter dem mond) und fragst, ob du zu besuch kommen darfst. noch nicht; lieber nicht; später vielleicht. du erwachst und kannst dich nicht bewegen. cato liegt neben dir, und du kannst atemzüge hören, die nicht deine eigenen sind.

eden sucht halt bei aristoteles. kommt in dein zimmer und sagt, das allerbeste nämlich ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. du schweigst; egg ebenfalls.

stunden, nachmittage, tage verbringt ananke plötzlich in otals haus am waldrand, einem haus ohne wände, ohne türen, einem haus, das ein einziger großer raum ist, eine halle, ein saal. zukunft hieß für otal ursprünglich: zum ballett und tanzen. dann: münchmeyer-syndrom und damit muskel-, binde- und stützgewebe, das langsam in knochen verwandelt wird. die verknöcherung beginnt am hals, im nacken, schreitet von oben nach unten fort: otals fibrozyten heilen wunden nicht zu narbengewebe, sondern zu knochen ab. ananke hat es sich in den kopf gesetzt: otal wird zwar nie beim ballett tanzen, doch das heißt nicht, dass otal nie tanzen wird. und so lernt ananke die tanzschritte und gibt sie an otal weiter, stunde um stunde, nachmittag um nachmittag, in dem türenlosen haus oben am waldrand.

ananke ist tot. so steht es in der todesanzeige, die du vor zwei tagen aus der zeitung ausgeschnitten hast: du hast nicht geträumt. da steht ananke und dann die jahreszahlen. die namen der eltern, der geschwister, die fast auch deine eltern, deine geschwister sind: bas. roan. fred. vaska. ash.

du stehst auf der trittleiter und blinzelst in das dunkel des hühnerstalls. wie viele, fragst du eden. eden steht am maschendrahtzaun und sucht mit den augen das freilaufgehege ab. vier, sagt eden, nein warte, fünf, ich sehe fünf. bist du sicher. zähl doch selber. du schiebst den ärmel deines pullis richtung ellbogen, hältst den atem an. egg sitzt mit einer büchse hühnerfutter auf dem boden, pickt sonnenblumenkerne zwischen den weizen- und gerstenkörnern hervor, kauend, feuchtrot blitzt die zunge zwischen den lippen hervor, schlangenhaft und fasrige schalenreste ausspuckend. eden steht nun hinter dir, sagt, jetzt mach schon. du streckst deinen arm aus in das dunkel des stalls, du hast ananke und vaska schon tausendmal dabei zugesehen, so schwierig kann es nicht sein. bei der ersten berührung mit dem stroh erschrickst du, obwohl du sie erwartet hast. vorsichtig schiebst du die halme beiseite, blind, drückst deine schulter gegen die stallwand, um weiter, um tiefer, dabei jederzeit bereit, deine zitternde hand vor einem spitzen schnabel zurückzuziehen: vier, fünf, wer sagt, dass eden richtig zählt. weiter, tiefer, du zitterst nervös, fühlst schweiß die feinen bachbette deiner handfläche entlangrinnen; dennoch nimmst du wahr, dass das innere des strohhaufens warm ist, wärmer. dann stoßen deine fingerspitzen auf das erste ei, schließen sich um das reinweiße, noch lauwarme oval, das du vorsichtig in edens handfläche legst. siehst du, sagt eden, geht doch.

ihr trefft euch am hafen, vienna, cato, eden und du. ihr öffnet den mund; es fehlen die worte. ihr schließt die augen; erinnerungen tanzen. ihr streckt die hände aus; und fasst ins leere. eure tränen fallen in den abgrund zwischen tag und nacht und werden zu sternen, die in der dunkelheit leuchten.