Das Alphabet der sexualisierten Gewalt - Laura Leupi - E-Book

Das Alphabet der sexualisierten Gewalt E-Book

Laura Leupi

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Beschreibung

Beißende Gerüche, starrende Stühle und leise Lakenworte sind die stummen Zeugen einer Gewalt, für die Laura Leupis Buch eine Sprache sucht. Doch nicht nur die erlebte Gewalt will beschrieben werden, auch die Folgen, die Dissoziation, der Verlust des Vertrauens in die Welt. Wie verändert sich die Wahrnehmung des Zuhauses, wenn eine Person in diesem vermeintlichen »Safe Space« sexualisierte Gewalt erfährt? Wie können wir über Vergewaltigung sprechen, wenn wir selbst das Wort nicht unbefangen aussprechen können? ›Das Alphabet der sexualisierten Gewalt‹ ist eine autofiktionale Spurensuche. Es versammelt Begriffe, fantastische Geschichten und politische Zaubersprüche, die als Ausgangspunkt dienen, um über sexualisierte Gewalt und ihre Auswirkungen nachzudenken. Es ist ein Versuch, der prekären Erinnerung ein Gefäß zu geben – und an eine selbstbestimmte Zukunft zu denken.

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Das Alphabet der sexualisierten Gewalt

LAURA LEUPI

Das Alphabet der sexualisierten Gewalt

MÄRZ

INHALT

GEBRAUCHSANWEISUNG

A

B

CONTENT NOTE

C

GERÜCHE

TANZBODEN

BRIEFMARKEN

D

NACHTTISCH

E

STOFF / PILLING

F

G

HOSENTASCHEN

PARKETT

H

INNENHOF

I

BILDERRAHMEN

J

K

L

M

HOMEOFFICE

SCHLÜSSELBUND

N

SEIFE

O

P

Q

ZIMMERTÜRE

R

S

T

U

DOG TAG / GRABSTEIN

V

W

ORANGENSCHALEN

X

NISCHE / LÜCKEN

Y

ZEHEN

Z

Ä Ö Ü

EPILOG

ENDNOTEN

DIE OFFENLEGUNG DER QUELLEN BEDEUTET NOCH LANGE NICHT DIE OFFENLEGUNG DER GEHEIMNISSE.

DANKE

GEBRAUCHSANWEISUNG

Dieser Text ist für die Haarigen gemacht. Lesen Sie ihn hemmungslos. Fügen Sie Ihre Gedanken und Kaffeeflecken hinzu. Fertigen Sie Kopien an und verteilen Sie sie in den Briefkästen Ihres aufgewerteten Stadtquartiers. Lesen Sie ihn ihrer Großmutter vor und der Person, die Ihr Treppenhaus putzt. Legen Sie ihn unter Ihr Kopfkissen, auf Ihren Fenstersims, oder legen Sie ihn weg.

Und vergessen Sie nicht zu atmen.

Und vielleicht ist dieser ganze Text, diese ganze Schreibbewegung ein Platzhalter, das Erschaffen eines Ortes, an dem diese Leere endlich einen Raum bekommt. Kein Text, sondern ein Platz, auf dem steht: »Hier ist etwas, das sich nicht sagen lässt.« Was nicht dasselbe ist wie Schweigen.

Wir brauchen Sätze, um von unseren Traumata nicht sprechen zu können.

Kim de l’Horizon, Blutbuch

A

A steht für Angst,

die wir nicht haben sollten, uns aber anerzogen wird: Angst vor dem öffentlichen Raum, Angst vor Verletzungen, Angst vor Sex, Angst vor der Nacht, Angst vor dem Fremden, Angst vor der Angst. Die Angst verweist uns zurück an den Herd und den MANN ans Gewehr.

A steht für Alltag.

A steht auch für Anwält:in, anal, Abwärtsspirale,Angela Davis.

B

B steht für Brennnesseltee.

B steht für Bundesamt für Statistik.

CONTENT NOTE

Das ist eine Geschichte über einen Raum, der zu Schimmel neigt.

Das ist ein Versuch, im Schreiben die Konturen zu ertasten, also herauszufinden, wie das, was in ihrer Mitte liegt, in Worten zu fassen ist.

Das ist ein Versuch, der Erinnerung entlang zu waten, um sie sichtbar zu machen.

Das ist ein Versuch, Spuren zu hinterlassen.

Das ist ein Versuch ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Das ist also eine Spurensicherung / Spurensuche.

Das hat alles und nichts mit mir zu tun.

C

C steht für Catcalling, Cyberstalking, Care-Arbeit.

GERÜCHE

Ich wohne in einer Wohnung in einem Haus ohne Garten, mit einem kleinen Balkon und einer Küche und einem Badezimmer und drei Schlafzimmern. Der Nachbar sammelt stinkende Schuhe vor seiner Wohnungstür, und immer, wenn ich nach Hause komme, muss ich mir die Nase zuhalten. Mit zugehaltener Nase klettere ich mühselig die Treppen hoch, bis in den obersten Stock. Es kommt vor, dass ich vergesse, die Nase wieder loszulassen, sodass ich noch Stunden später mit zugehaltener Nase in der Küche sitze.

TANZBODEN

Im Zimmer steht ein Bett. Das Bett ist sehr groß, so groß, dass ich darin versinke und verschwinde. Ich schwimme in den Bettlaken, die wie große Bettwellen über mich hereinbrechen. Manchmal ist das Bett auch sehr klein, so klein, dass meine Körperenden über das Bett hinausragen. Ich versuche, meine Körperenden einzuziehen, aber sie kleben am Boden fest. Meine Körpermitte liegt still auf dem Bettlaken, und während ich schlafe, beginnen die Bettwellen zu tanzen. Meine Körperenden tanzen mit, obwohl ich nie tanzen wollte, und später werden sie mich fragen, wie es nur so weit kommen konnte.

(Vielleicht vermuten Sie bereits, dass es hier um ein Verbrechen geht. Nur ist es ein Verbrechen, das von den Schweizer Strafverfolgungsbehörden bzw. vom Schweizer Strafgesetzbuch, Artikel 189 und 190 nicht als solches anerkannt wurde, weshalb es keinen Prozess, keine Rechenschaft, keine Verurteilung etc. geben wird. Schuld sind einige Jahrtausende Patriarchat und Geschlechternormen, an die wir uns so hingebungsvoll klammern. Wobei ich Sie dennoch bitten möchte, Schuld und Sühne gleich wieder zu vergessen. Es wird hier keine Strafe und keine Härte gefordert, kein Gefängnis als Lösungsansatz vorgeschlagen. Aber meine Zeug:innen werden Sie sein. Sie werden versuchen, gemeinsam mit diesem Text das Geschehen und seine Auswirkungen zu erforschen. Und etwas Kontext bekommen Sie auch dazu, versprochen. Vielleicht sogar etwas zum Mitmachen. Bear with me, haben Sie Geduld.)

Einige Gedanken:

Die Vorstellung einer geordneten, linearen Zeit ist die ultimative Manifestation des kapitalistischen,

weißen

cis heteronormativen Patriarchats. Ein Weg, eine Geschichte, eine Version. Wer und was nicht mitkommt, fällt unter den Küchentisch.

Die Vorstellung einer geordneten, linearen Zeit übt Gewalt aus auf alle, deren Uhren anders ticken.

Gewalterfahrungen drehen die Zeiger um.

Ich weiß nicht genau, was ich zwischen 2017 und 2019 getan habe, und ich träume davon, alle Uhrzeiger der Welt in die Luft zu jagen.

BRIEFMARKEN

Im Duschvorhang haben sich Postkarten eingenistet. Die Postkarten fixieren mich. Ich sage ihnen, dass sie glotzen können, wie sie wollen, während ich beginne, meinen Körper heftig mit Seife einzureiben. Die Seife schäumt bis in die letzten Ritzen meines Körpers, und auch mein Mund, meine Augen und meine Nase sind irgendwann bedeckt. In meinen Ohren bildet die Seife kleine Blasen, und wenn sie platzen, kitzelt etwas hinter meinem Bauchnabel. Mit Seifenhaut steige ich aus der Dusche, öffne die Badezimmertüre, um meine Seifenspur auch in der Küche zu hinterlassen und den Postkarten eine Lektion zu erteilen. Laut lasse ich meine Seifenblasen platzen. Doch den Postkarten ist es egal.

D

D steht für Dickpic.

D steht für Depression.

D steht für Dunkelziffer.

D steht für Diskriminierung.

D steht für Definitionsmacht.

NACHTTISCH

Dem Stuhl wachsen Haare. Ich versuche, sie mit Haarwachs zu bändigen, doch die Haare wachsen immer wieder zurück, immer weiter, Richtung Boden, Richtung Wände auch. Bald schon, ich weiß es, wird mein ganzes Zimmer aus Haaren bestehen. Dann werde ich durch die Haarwellen waten und der Weg vom Bett in die Küche wird einer beschwerlichen Wanderung gleichen und ich werde jeden Morgen sehr stolz sein, dass ich es geschafft habe.

Neben dem Bett steht ein sehr kleiner dreieckiger Tisch, auf den mensch Schlüssel legen kann oder Blumen oder die Tabakkrümel, die sich in der Jackentasche sammeln, oder Schokoladenstücke. Mit meinen Händen voller Tabakkrümel umkreise ich das Bett. Es ist ganz weiß und meine Tabakkrümelhände hinterlassen Sprengsel wie kleine dunkle Löcher im weißen Weiß. Ich versuche sie wegzuwischen, aber es gelingt mir nicht, denn die Tabakkrümel bleiben an meinen Händen kleben.

Ich starre das Bett an. Das Bett starrt zurück.

Gestern habe ich keine einzige Zigarette geraucht.

Im Nachhinein glaube ich, dass ich gar nicht verstummt bin, weil ich a) sehr viel sagte, aber meine Worte nicht gehört und nicht als das verstanden wurden, was ich sagte, zu sagen versuchte, und sich b) auch stumme Menschen mitteilen, wenn auch mit anderen Alphabeten.

Ich frage meine Suchmaschine, was HOME ist. Sie findet about 25,270,000,000 results in 0.73 seconds. Ein HOME ist etwas, was Menschen kaufen / mieten (www.homegate.ch, www.home.ch) und was mit Gegenständen gefüllt (www.athome.com) bzw. durch eigene Arbeit (www.heimwerker.de) errichtet und verbessert werden muss. HOME ist auch ein Animationsfilm aus dem Jahr 2015, ein Lied von Michael Bublé und eine Möglichkeit, Werbung für Schokolade, den Coop-Onlineshop oder Handyabos zu machen und über das Corona-Virus zu informieren. HOME ist auch where the heart is.

Home is not a place, it is a feeling.

Home is wherever I’m with you.

Home is the nicest word there is.

Home is where your Wi-Fi connects automatically.

Home is where mom is.

Home is not where you are from, it is where you belong.

Home is the story of who we are and a collection of all we love.

Home is where you are loved the most and act the worst.

Home is a shelter from storms – all sorts of storms.

A man’s home is his castle, until his queen arrives.

Wie stellen Sie sich mich vor?

Die Frage der sprachlichen Genauigkeit ist zwingend, egal wie zweifelhaft die Behauptung einer Umsetzungsmöglichkeit derselben erscheint. Wer »Miss-brauch« sagt, impliziert den »Ge-brauch«, impliziert also, dass es einen richtigen, guten, zweckmäßigen, effizienten etc. Gebrauch eines Objekts – oder eines Subjekts, also einer Person, also auch von mir – gäbe, so wie, sagen wir, mensch ein Küchenmesser zum Schneiden der Zwiebeln gebraucht und nicht, um es einer anderen in missbräuchlicher Weise in den Rücken zu rammen.

HOME ist auch der gefährlichste Ort der Welt für Frauen, trans Personen, nicht-binäre Personen, (gender-)queere Personen und Kinder. Nirgends ist die Gefahr so groß, Gewalt zu erfahren, wie im HOME. Gewalt durch den:die Lebenspartner:in im Kontext des HOME ist die weltweite Todesursache #1 für Frauen (und genderqueere Personen)1 zwischen 16 und 44.2 Die Website, auf der ich diese Zahlen finde, weist mich durch eine blinkende, rote Glühbirne darauf hin, wie ich »meine Spuren im Internet verwischen« kann, falls ich fürchte, dass eine Person im HOME herausfinden könnte, dass ich mich zu Gewalt im HOME informiert habe.

Im HOME erfahren auch cis Männer und alle, die als solche gelesen werden, Gewalt. Doch wenn sie die Polizei anrufen, sind sie es selbst, die festgehalten werden.

Denn einen MANN, der Hilfe braucht, gibt es

a) nicht,

b) erst recht nicht, wenn die Gewalt von einer FRAU ausgeht,

c) auch in den Augen der Polizei nicht, und das ist Teil des Problems.3

E

E steht für Ehre, ein Konzept für den Scheiterhaufen der brennenden Barrikaden.

E steht für Ekel.

E steht für essen, erinnern, Einweghandschuh, Empowerment.

STOFF / PILLING