26,99 €
Geistige Behinderung ist kein rein kognitives Problem, auch die (sozio-)emotionale Entwicklung kann beeinträchtigt sein und verzögert oder unvollständig ablaufen. Dadurch entstehen unter Umständen schwere Verhaltensauffälligkeiten und in der Folge psychische Störungen. Dies kann zu weitreichenden Konsequenzen wie vermeidbaren Krankenhausaufenthalten, hohen psychopharmakologischen Behandlungen, Arbeits- und Wohnplatzverlust bis hin zur Exklusion aus der Gesellschaft führen. Unter Einbezug des emotionalen Entwicklungsaspekts ermöglichen Tanja Sappok und Sabine Zepperitz einen neuen, ganzheitlichen Blick auf Menschen mit geistiger Behinderung. Verhaltensauffälligkeiten können vor diesem Hintergrund besser verstanden und zielgerichtete pädagogisch-therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden. Die Autorinnen tragen mit "Das Alter der Gefühle" dazu bei, die psychische Gesundheit und Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung substanziell zu verbessern, indem sie allen im Gesundheitswesen und in der Eingliederungshilfe Tätigen ein wirksames Hilfsmittel zur Hand geben, um die damit verbundenen Herausforderungen zu meistern. Das Buch wurde für die zweite Auflage grundlegend überarbeitet – es wurde unter anderem an das neue Diagnostikinstrument SEED angepasst, das Zusammenspiel von emotionaler Entwicklung und psychischer Erkrankung wird neu thematisiert und das Entwicklungsmodell um die Phase der 2. Individuation bzw. der Adoleszenz erweitert.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 283
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das Alter der Gefühle
Das Alter der Gefühle
Tanja Sappok, Sabine Zepperitz
Tanja Sappok
Sabine Zepperitz
Das Alter der Gefühle
Über die Bedeutung der emotionalen Entwicklung bei geistiger Behinderung
2., überarbeitete Auflage
Tanja Sappok, PD Dr.
Sabine Zepperitz, Dipl.-Pädag.
Berliner Behandlungszentrum für psychische Gesundheit bei Entwicklungsstörungen
Evangelisches Krankenhaus
Königin Elisabeth Herzberge gGmbH
Herzbergstrasse 79
10365 Berlin
Deutschland
Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Kopien und Vervielfältigungen zu Lehr- und Unterrichtszwecken, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Copyright-Hinweis:
Das E-Book einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.
Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.
Anregungen und Zuschriften bitte an:
Hogrefe AG
Lektorat Psychologie
Länggass-Strasse 76
3012 Bern
Schweiz
Tel. +41 31 300 45 00
www.hogrefe.ch
Lektorat: Dr. Susanne Lauri
Bearbeitung: Dr. Annette Fahr
Herstellung: René Tschirren
Umschlagabbildung: © Marcel Jancovic by shutterstock
Umschlag: Claude Borer, Riehen
Satz: punktgenau GmbH, Bühl
Format: EPUB
2., überarbeitete Auflage 2019
© 2016, 2019 Hogrefe Verlag, Bern
(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-95955 -9)
(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-75955-5)
ISBN 978-3-456-85955-2
http://doi.org/10.1024/85955-000
Nutzungsbedingungen:
Der Erwerber erhält ein einfaches und nicht übertragbares Nutzungsrecht, das ihn zum privaten Gebrauch des E-Books und all der dazugehörigen Dateien berechtigt.
Der Inhalt dieses E-Books darf von dem Kunden vorbehaltlich abweichender zwingender gesetzlicher Regeln weder inhaltlich noch redaktionell verändert werden. Insbesondere darf er Urheberrechtsvermerke, Markenzeichen, digitale Wasserzeichen und andere Rechtsvorbehalte im abgerufenen Inhalt nicht entfernen.
Der Nutzer ist nicht berechtigt, das E-Book – auch nicht auszugsweise – anderen Personen zugänglich zu machen, insbesondere es weiterzuleiten, zu verleihen oder zu vermieten.
Das entgeltliche oder unentgeltliche Einstellen des E-Books ins Internet oder in andere Netzwerke, der Weiterverkauf und/oder jede Art der Nutzung zu kommerziellen Zwecken sind nicht zulässig.
Das Anfertigen von Vervielfältigungen, das Ausdrucken oder Speichern auf anderen Wiedergabegeräten ist nur für den persönlichen Gebrauch gestattet. Dritten darf dadurch kein Zugang ermöglicht werden.
Die Übernahme des gesamten E-Books in eine eigene Print- und/oder Online-Publikation ist nicht gestattet. Die Inhalte des E-Books dürfen nur zu privaten Zwecken und nur auszugsweise kopiert werden.
Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Audiodateien.
Anmerkung:
Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.
Gewidmet unseren Patienten
Inhalt
Vorwort zur aktualisierten Auflage
Vorwort zur ersten Auflage
1 Emotionale Entwicklung – eine Einführung
1.1 Emotion und Kognition im Dialog
1.2 Konzeptualisierung von „emotionaler Entwicklung“
1.3 Die Entwicklung des emotionalen Gehirns
1.4 Die Neuroanatomie des emotionalen Gehirns
1.5 Entwicklungstheorien und Entwicklungsaufgaben
1.5.1 Emotionale Referenzierung
1.5.2 Objektpermanenz
1.5.3 Bindung
1.5.4 Theory of Mind: Mentalisierungsfähigkeit
1.5.5 Emotionsentwicklung
1.5.6 Affektregulation
1.5.7 Emotionale Bedürfnisse
1.6 Der entwicklungsbasierte Ansatz und Erwachsensein
2 Emotionale Entwicklungsphasen der Skala der Emotionalen Entwicklung – Diagnostik (SEED)
2.1 SEED-Phase 1: Adaption (Referenzalter: 1.–6. Lebensmonat) – SYMBIOSE
2.2 SEED-Phase 2: Sozialisation (Referenzalter: 7.–18. Lebensmonat) – SICHERHEIT
2.3 SEED-Phase 3: Erste Individuation (Referenzalter: 19.–36. Lebensmonat) – AUTONOMIE
2.4 SEED-Phase 4: Identifikation (Referenzalter 4.–7. Lebensjahr) – ICH-BILDUNG
2.5 SEED-Phase 5: Realitätsbewusstsein (Referenzalter: 8.–12. Lebensjahr) – ICH-DIFFERENZIERUNG
2.6 SEED-Phase 6: Zweite Individuation (Referenzalter: 13.–18. Lebensjahr) – IDENTITÄT
3 Die Erhebung des emotionalen Entwicklungsstands
3.1 Die Skala der Emotionalen Entwicklung – Diagnostik: SEED
3.2 Die Erhebung des emotionalen Entwicklungsstands mit der SEED
3.3 Die Auswertung der SEED
3.4 Die Erhebung der SEED und Ableitung pädagogischer Interventionen am Fallbeispiel
3.5 Andere Verfahren zur Entwicklungsdiagnostik
4 SEED: Die Meilensteine der emotionalen Entwicklung
4.1 Domäne 1: Umgang mit dem eigenen Körper
4.2 Domäne 2: Umgang mit Bezugspersonen
4.3 Domäne 3: Umgang mit Umgebungsveränderungen –Objektpermanenz
4.4 Domäne 4: Emotionsdifferenzierung
4.5 Domäne 5: Umgang mit Peers
4.6 Domäne 6: Umgang mit der materiellen Welt
4.7 Domäne 7: Kommunikation
4.8 Domäne 8: Affektregulation
5 Verhaltensstörungen
5.1 Der emotionale Entwicklungsstand als Schlüssel zum Verständnis von Verhaltensstörungen
5.2 Emotionale Entwicklung und Verhaltensstörungen: Ein Fallbeispiel
5.3 Umschriebene emotionale Entwicklungsstörungen
5.3.1 Phase 1: Die Kontaktstörung
5.3.2 Phase 2: Die desintegrierte Verhaltensstörung
5.3.3 Phase 3: Die desorganisierte Verhaltensstörung
5.3.4 Phase 4: Die Identifikationsstörung
5.4 Nichtbeachtung des emotionalen Entwicklungsstands
6 Psychische Störungen
6.1 Die Bedeutung des emotionalen Entwicklungsstands für die Entstehung psychiatrischer Störungen
6.2 Psychiatrische Störungen und emotionale Entwicklung im Dialog
6.3 Das Dilemma der Kategorisierung
7 Die Umsetzung des emotionalen Entwicklungsansatzes in der heilpädagogischen Praxis
7.1 Allgemeine Aspekte
7.2 Besonderheiten im Kindes- und Jugendalter
8 Entwicklungsbasierte Betreuungs- und Behandlungsansätze
8.1 Fallbeispiel für SEED-Phase 1
8.2 Fallbeispiel für SEED-Phase 2
8.3 Fallbeispiel für SEED-Phase 3
8.4 Fallbeispiel für SEED-Phase 4
8.5 Fallbeispiel für SEED-Phase 5
8.6 Fallbeispiel für SEED-Phase 6
Resümee
9 Pädagogische Interventionen
10 Entwicklungsbasierte, multiprofessionelle Fallkonferenzen – Grenzen und Chancen
Schlussbetrachtung
Danksagung
Definitionen und Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Die Autorinnen
Sachregister
Die aktualisierte, komplett überarbeitete Auflage wurde aus mehreren Gründen notwendig. Zum einen ist mit der Veröffentlichung der ersten Version der SEED (Skala der Emotionalen Entwicklung – Diagnostik; Hogrefe 2018) ein Instrument zur erhebung des Emotionalen Entwicklungsstandes erschienen. Dieses diagnostische Instrument geht über den von Anton Došen konzipierten Interviewleitfaden (SEO) hinaus und wird gegenwärtig in umfangreichen Studien in verschiedenen Zentren Europas validiert. Dieses Buch kann nun komplementär zu SEED benutzt werden, um die Ergebnisse in der klinischen Praxis und dem Lebensalltag umzusetzen. Darüber hinaus haben wir gemeinsam mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus der NEED-Forschungsgruppe (Network of Europeans on Emotional Development) in den letzten drei Jahren weitere Erkenntnisse zum emotionalen Entwicklungsansatz gewonnen, die wir den Nutzern unseres Buches nicht vorenthalten möchten. Nicht zuletzt war das Interesse an unserem Buch erfreulich groß, sodass die Entscheidung auf der Hand lag, jetzt eine weitere, aktualisierte Auflage zu drucken, die auch noch Anregungen und Rückmeldungen der Leser aufgreift.
Wir haben den Aufbau verändert: Theorie und Praxis sind stärker miteinander verwoben. Wir haben neue Erkenntnisse aus der Neuroanatomie des Gehirns beschrieben und berichten über aktuelle Studienergebnisse zum Zusammenhang von Verhalten und emotionaler Entwicklung. Darüber hinaus wurde das Zusammenspiel von emotionaler Entwicklung und psychischer Erkrankung in einem eigenen Kapitel thematisiert. Neu ist auch die umfassende Beschreibung der Meilensteine der emotionalen Entwicklung für alle Domänen und Entwicklungsphasen. Das Entwicklungsmodell wurde um eine weitere Phase erweitert: Phase 6, die Phase der 2. Individuation bzw. der Adoleszenz wurde konzeptualisiert! Die größte Herausforderung liegt unserer Erfahrung nach in der Übersetzung des Ergebnisses der Diagnostik in konkrete pädagogische Tipps für den Alltag des Menschen. Hierfür haben wir zusätzlich zum überarbeiteten pädagogischen Werkzeugkasten einen Katalog „Hilfreicher Fragen“ erstellt, mit dem das Finden von pädagogischen Ansätzen und Hinterfragen von Haltungen angeregt werden soll. Wir möchten damit unseren Beitrag leisten, diagnostische Ergebnisse in den Alltag der Menschen zu übertragen. Schlussendlich hat Rita Erlewein ein Kapitel zur Arbeit mit dem emotionalen Entwicklungsansatz mit Kindern und Jugendlichen ergänzt.
Wir haben mit der aktualisierten Auflage unser Konzept, verschiedene Berufsgruppen zusammenzubringen und multiprofessionell zu arbeiten, weiter vertieft. Diagnostik ist ohne die praktische Anwendung wenig hilfreich. Erst das Zusammenwirken von Praxis und Theorie führt zu einer fachlich fundierten Betreuung von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung.
Tanja Sappok und Sabine Zepperitz,
Berlin im Juni 2019
Dieses Buch ist aus der klinischen Praxis im Rahmen der gesundheitlichen Betreuung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung und psychischen Auffälligkeiten heraus entstanden. Es ist das Produkt langjährig gewachsener Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen, wie Ärzten und Pflegenden, aber auch Pädagogen, Heilpädagogen, Heilerziehungspflegern, Psychologen und verschiedenen therapeutisch arbeitenden Berufsgruppen. Das damit verbundene Aufeinandertreffen unterschiedlicher, ausbildungsbedingter „Philosophien“ oder Haltungen hat zu zahlreichen Diskussionen geführt. Insgesamt haben wir die unterschiedlichen Blickwinkel als große Bereicherung empfunden und bei der Entwicklung einer gemeinsamen Herangehensweise von der Vielfalt profitiert. Dieser konstruktive interne Diskurs ist im kontinuierlichen Austausch mit den unsere Patienten begleitenden Helfersystemen weiterentwickelt worden. Ein Ergebnis dieses Prozesses ist dieses Ihnen nun vorliegende Buch. Wir möchten damit dazu beitragen, die psychische Gesundheit und Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland zu verbessern, und die im Gesundheitswesen und in der Eingliederungshilfe Tätigen unterstützen, die damit verbundenen Herausforderungen zu meistern.
Auch wenn der emotionale Entwicklungsansatz unseres Erachtens die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen in der modernen Gesellschaft substanziell verbessern kann, sind damit auch bestimmte Gefahren verbunden. Als Ergebnis eines Jahrzehnte andauernden Emanzipationsprozesses – und endgültig mit der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonventionen – werden erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung auch als Erwachsene gesehen und behandelt. Die Folge ist ein wertschätzender, aber auch erwachsen-distanzierter Umgang. Die Einbeziehung des emotionalen Entwicklungsaspektes erweitert den Begriff von „Erwachsensein“: Erwachsensein mit „kindlichen“ Bedürfnissen! Daraus entsteht allerdings ein erneutes Spannungsfeld und auf keinen Fall darf dies bedeuten, die gesellschaftlichen Entwicklungsschritte zurückzugehen und diese Menschen „wie Kleinkinder“ zu sehen und zu behandeln. Wir möchten vielmehr dazu anregen, die Menschen mit ihren körperlichen, intellektuellen und emotionalen Anteilen und Kompetenzen wahrzunehmen, all diese Persönlichkeitsanteile differenziert zu betrachten und ihnen das selbstbestimmte Ausleben ihrer individuellen Fähigkeiten und Potenziale zuzugestehen. Wir trauen es den Bezugspersonen von Menschen mit Behinderungen zu, diesen nächsten Schritt in der Begleitung und Förderung zu gehen. Durch die daraus resultierende, bedarfsgerechte Unterstützung und Behandlung von Menschen mit Behinderungen kann deren Gesamtpersönlichkeit weiterentwickelt und die Lebensqualität verbessert werden!
Tanja Sappok und Sabine Zepperitz,
Berlin im Juli 2015
Eine Anfang 20-jährige Frau mit schwerer intellektueller Entwicklungsstörung kratzt und beißt sich selbst und läuft unruhig durch die Räume. Die Unruhe tritt vor allem in Wartesituationen auf oder wenn es ihr körperlich nicht gut geht, z. B. bei Hunger. Sie kann nicht alleine essen oder sich anziehen. Oft genügt sie sich selbst, schaukelt, kuschelt sich gerne auch tagsüber mal in ihr Bett, zwirbelt ihr Haar oder kaut auf einem Gummitier herum. An Mitbewohnern hat sie keinerlei Interesse und sucht nur den Kontakt zu den Betreuern. Sie lebt in einer Wohngruppe mit sieben weiteren Mitbewohnern und arbeitet acht Stunden täglich in einer externen Fördergruppe (2-Milieu-Prinzip).
Ein Mitte 20-jähriger Mann mit mittelgradiger intellektueller Entwicklungsstörung kann sich nicht allein beschäftigen, wirkt innerlich getrieben und läuft viel umher. Immer wieder wendet er sich wahllos an Betreuungspersonal, ist distanzlos und jammert, besonders wenn sich die Betreuer mit jemand anderem beschäftigen. Beharrlich setzt er seinen eigenen Willen durch. Ansonsten ist er ein freundlicher, neugieriger Mensch, der einfache Zusammenhänge und Symbolfunktionen verstehen kann. Seine Unruhe und seine beständige Suche nach Zuwendung sind für die Mitarbeiter so belastend, dass ihm sein Werkstattplatz gekündigt wurde. Die Situation in der Wohngruppe verschärft sich dadurch weiter, weil er den ganzen Tag zu Hause ist.
Diese Beispiele machen deutlich, dass Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung häufig Verhaltensweisen zeigen, die ihre Angehörigen, Betreuenden und Fachleute im Gesundheitswesen herausfordern. Um diese besser zu verstehen und einen angemessenen Umgang damit finden zu können, sollte neben der körperlichen und intellektuellen auch die emotionale Entwicklung betrachtet werden. Im Umgang mit Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung orientieren wir uns zunächst am Lebensalter und an den kognitiven Fähigkeiten, wohingegen das emotionale Entwicklungsalter häufig nicht bekannt ist und daher wenig berücksichtigt wird (vgl. Abbildung 1). Daraus können Überforderungssituationen entstehen, die zu schweren Verhaltensstörungen oder gar zu psychischen Krankheiten wie z. B. Depressionen führen können.
Abbildung 1: Die Begegnung richtet sich zunächst nach dem körperlichen Entwicklungsstand, gefolgt von der kognitiven Entwicklung; der emotionale Entwicklungsstand wird häufig am wenigsten berücksichtigt. Das kognitive Alter entspricht bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung immer einem niedrigen Referenzalter, als das biologische Alter vorgibt. Insbesondere bei Verhaltensstörungen oder psychischer Erkrankung ist das emotionale Referenzalter im Vergleich zur kognitiven Entwicklung noch niedriger.
Bei der eingangs vorgestellten jungen Frau zeigt sich ein emotionales Referenzalter von ca. einem halben Lebensjahr. Ihr großes Ruhebedürfnis, der Wunsch nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung, die überwiegende Beschäftigung mit dem eigenen Körper und das fehlende Interesse für Gleichrangige sind Ausdruck ihres emotionalen Entwicklungsstands. Das vorrangige Bedürfnis ist „körperliches und seelisches Wohlbefinden“, die Entwicklungsaufgabe „Reizverarbeitung“. Daher sollten Betreuende die Rolle des verlässlichen Versorgers einnehmen, körperorientierte und sensorische Angebote machen und ausreichend Ruhe- und Erholungszeiten ermöglichen.
Das emotionale Referenzalter des jungen Mannes wiederrum beträgt ca. 3 Jahre, er befindet sich emotional in der im Volksmund sogenannten „Trotzphase“. Sein vorrangiges Bedürfnis ist daher „Autonomie“ und es besteht ein Autonomie-Ablöse-Konflikt. Die zentrale Entwicklungsaufgabe ist die „Individuation“, also die Ablösung von wichtigen Bezugspersonen und das Selbsterleben als eigenständige, unabhängige Person. Dabei helfen klare Strukturen und Regeln und für ihn überschaubare Lebensbereiche, in denen er sein Bedürfnis nach „Selbstbestimmung“ ausleben kann. Ganz praktisch kann der Tagesablauf klar strukturiert werden. Einheitliches, konsequentes Handeln im Team ist wichtig. In bestimmten Bereichen, z. B. beim Tischdecken oder Wäschesortieren, kann ihm Verantwortung übertragen werden. Durch direktes, unmittelbares Lob wird erwünschtes Verhalten verstärkt. Durch häufige Zuwendung – unabhängig vom Verhalten – wird er in seiner Person bestätigt. Dadurch muss er sich die Aufmerksamkeit nicht mehr einfordern, Unruhe und Distanzlosigkeit nehmen ab und er kann sich länger selbst beschäftigen.
Durch die Kenntnis des emotionalen Entwicklungsstandes gelingt es der Umgebung besser, sich in den Menschen hineinzuversetzen und ihn, seine Bedürfnisse und sein Verhalten zu verstehen. Ist das Vorgehen auf den emotionalen Entwicklungsstand abgestimmt, können eine Weiterentwicklung der Persönlichkeit angestoßen, Problemverhalten erklärt bzw. reduziert und die Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben ausgebaut werden.
In der von Philosophen wie Descartes und Kant geprägten abendländischen Kultur wurden unter dem mit einem IQ-Test messbaren Intelligenzbegriff vorwiegend kognitive Fertigkeiten verstanden, die sich auf mathematische, logische und verbale Fähigkeiten beziehen. Dem werden „seelische“, emotionale Prozesse gegenübergestellt, die auf affektivem Erleben und zwischenmeschlichen Beziehungen basieren. In den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde zunehmend von Vordenkern wie z. B. Damasio („Descartes’ Irrtum“) die Bedeutung emotionaler Kompetenzen für Entscheidungsfindung und Lebensgestaltung herausgearbeitet, was zu einer Erweiterung des sich auf rein akademische Kompetenzen beziehenden Intelligenzbegriffs führte (Damasio, 2012): Eigene Gefühle wahrnehmen, erkennen und bewusst beeinflussen, Empathie- und Beziehungsfähigkeit, Selbstregulation etc.. „Emotion“ und „Kognition“ sind kategoriale Begriffe, die eine Vielzahl unterschiedlicher Kompetenzen zusammenfassen. Die Zuordnung der einzelnen Fähigkeiten zu Kognition bzw. Emotion sind somit Konstrukte; das menschliche Gehirn selbst ordnet seine unterschiedlichen Funktionen nicht dem einen oder anderen Bereich zu!
Abbildung 2: Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell wird um die emotionale Entwicklungsperspektive erweitert.
Auf den Punkt gebracht:
Bei einer intellektuellen Beeinträchtigung ist auch die emotionale Entwicklung verzögert oder unvollständig.Kognitive und emotionale Funktionen sind in teils unterschiedlichen Hirnregionen lokalisiert.Der emotionale Entwicklungsstand kann sich vom kognitiven Referenzalter unterscheiden.Emotionale Kompetenzen entwickeln sich im Laufe des Heranwachsens. Neugeborene sind bereits emotional kompetente Wesen, die verschiedene einfache Emotionen zeigen, wahrnehmen und darauf reagieren können (Bowlby, 1969; Piaget, 1954; Stern, Vorspohl & Krege, 2010). Im Verlauf des ersten Lebensjahres wird die emotionale Reaktion des Kindes durch das Verhalten des Interaktionspartners zunehmend modulierbar (Bertin & Striano, 2006; Stern et al., 2010; Winberg, 2005). Im zweiten Lebensjahr ruft das Erleben „geteilter Aufmerksamkeit“ mit einer vertrauten Bezugsperson beim Kind Freude hervor (Kasari, Sigman, Mundy & Yirmiya, 1990; Trevarthen, 1980). Allmählich werden die emotionalen Antworten und Regulationsmöglichkeiten komplexer, z. B. ist das heranwachsende Kind ab etwa dem dritten Lebensjahr in der Lage, emotionale Zustände anderer durch herausforderndes oder angepasstes Verhalten zu beeinflussen (Jackson & Tisak, 2001). Vorschulkinder können zunehmend die Ursachen und Konsequenzen von Emotionen verstehen und ihre affektiven Zustände selbst regulieren (Rieffe, Terwogt & Cowan, 2005). Im Schulalter zeigen sich dann weitere Fortschritte im Einfühlungsvermögen und zunehmend pro-soziale Verhaltensweisen (Rieffe et al., 2005). Diese altersangemessenen Veränderungen des emotionalen Systems sind die Basis für ein Selbstkonzept und die Ausbildung einer Persönlichkeitsstruktur (Došen, 1997).
Wir betrachten das „Konzept der emotionalen Entwicklung“ im Sinne des oben aufgezeigten Entwicklungsansatzes, d. h. die Aneignung emotionaler Kompetenzen entsprechend dem regulären Reifungsprozess von Kindern dient als Modell. Daher beinhaltet das „Konzept der emotionalen Entwicklung“ überwiegend emotionale, aber auch soziale, sensomotorische und kognitive Funktionen, die entwicklungspsychologisch relevant sind (vgl. Abbildung 3; Došen, 2005a; Greenspan, 1985; Sappok, Schade, Kaiser, Došen & Diefenbacher, 2012; Sroufe, 2009). Diese verschiedenen Bestandteile interagieren und stimulieren sich gegenseitig und führen so zu einer weiteren Reifung und Anpassung des Heranwachsenden an die Umgebung (Izard et al., 2006; Mayer, Roberts & Barsade, 2008). Diese Fähigkeit zur Anpassung an die Anforderungen des Alltags, also das adaptive Verhalten, ist entscheidend, um die eigenen Potenziale produktiv zu nutzen und ausleben zu können und ein erfülltes Leben zu führen. Der herkömmliche Intelligenzbegriff, der sich auf logische, mathematische und verbale Fähigkeiten, also rein akademische Kompetenzen bezieht, wird erweitert um emotionale Kompetenzen wie „Gefühle wahrnehmen, erkennen und bewusst beeinflussen“, „die eigenen Affekte regulieren können“ oder „Mentalisierungsfähigkeiten“.
Abbildung 3: Konzeptualisierung der emotionalen Entwicklung
Auf den Punkt gebracht:
Die reguläre Entwicklung emotionaler Kompetenz bei heranwachsenden Kindern dient als Modell für den „emotionalen Entwicklungsansatz“.Der emotionale Entwicklungsansatz schließt entwicklungsrelevante kognitive, sensomotorische und soziale Aspekte mit ein.Es gibt bisher nur wenige Untersuchungen darüber, wie sich die „sozialen Netzwerke“ im Gehirn entwickeln. Derzeit geht man davon aus, dass es sich um ein Zusammenspiel aus automatisiert ablaufenden, genetisch determinierten Hirnreifungsprozessen einerseits und umweltbedingten Anpassungsprozessen andererseits handelt (Johnson et al., 2005; Johnson, 2011). Phylogenetisch alte Hirnbereiche und -netzwerke (vgl. 1.5, die untere limbische Ebene) entwickeln sich teilweise aufgrund einer angeborenen Veranlagung, d. h. die Variablen des „sozialen Gehirns“ werden bereits in einem sehr frühen Stadium angelegt (Happé & Frith, 2014). andererseits können diese automatisierten Prozesse durch äußere Einflussfaktoren wie z. B. Lernerfahrungen, Stress, Deprivation oder Misshandlung in der frühen Kindheit beeinflusst werden (Hanson, Chung, Avants, Shirtcliff, Gee, Davidson et al., 2010; Karmiloff-Smith, 2010; McCrory & Viding, 2010). Durch Beschneidung („pruning“) bzw. Aussprossen („sprouting“) von synaptischen Verbindungen zwischen Nervenzellen können bestehende neuronale Netzwerke spezifiziert bzw. verstärkt werden (Workman, Charvet, Clancy, Darlington & Finlay, 2013).
Die Entwicklung emotionaler Kompetenzen ist eng verwoben mit kognitiven Reifungsprozessen (Damasio, 2012; Martínez-Castilla, Burt, Borgatti & Gagliardi, 2015). Objektpermanenz, also das innere, repräsentationale Modell der äußeren Umgebung, ist beispielsweise eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung eines sicheren Bindungsstils (Piaget, 1954). Von Sensibilität und Einfühlungsvermögen geprägte Interaktionsprozesse, in denen Bezugspersonen die inneren emotionalen Zustände ihrem sicher gebundenen Gegenüber spiegeln, fördern die emotionale Entwicklung weiter (Ainsworth, Bell & Stayton, 1974; Bowlby, 1969; Choi-Kain & Gunderson, 2008; Kernberg, 2012). Schlussendlich kann auch der situative Kontext emotionale Reaktivität bzw. den emotionalen Regulationsmechanismus beeinflussen (Aldao & Nolen-Hoeksema, 2012; Wieser & Brosch, 2012).
Störungen der Hirnentwicklung z. B. im Rahmen eines genetischen Syndroms oder anders verursachte Hirnverletzungen können die Entwicklung des emotionalen Gehirns beeinträchtigen (Kok, Post, Tucha, de Bont, Kamps & Kingma, 2014). Beispielsweise scheint Autismus als tief greifende Entwicklungsstörung bei Personen mit kognitiver Beeinträchtigung gerade auch die emotionalen Anteile zu beeinträchtigen (Sappok, Budczies, Bölte, Dziobek, Došen & Diefenbacher., 2013). Während in dieser Population erwachsener Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung diejenigen ohne Autismus ein emotionales Referenzalter von 4 bis 7 Jahren erreichten, lag bei Menschen mit zusätzlicher Autismusspektrumstörung eine emotionale Entwicklungsstufe entsprechend einem Referenzalter von 1,5 bis 3 Jahren vor. Diese niedrigere emotionale Entwicklungsstufe war unabhängig vom Schweregrad der intellektuellen Entwicklungsstörung, wie eine multivariate Regressionsanalyse bzw. die nach dem Schweregrad der intellektuellen Entwicklungsstörung geordnete Auswertung zeigte (Sappok et al., 2013). Nicht nur Autismusspektrumstörungen, auch andere zerebrale Schädigungen wie z. B. eine Meningoenzephalitis (Sappok et al., 2012) oder genetische Syndrome wie z. B. ein Down-Syndrom (Cicchetti & Ganiban, 1990; Kasari & Sigman, 1996) können die emotionale Entwicklung verzögern oder unvollständig ablaufen lassen (Kok et al., 2014). Darüber hinaus können auch Umweltfaktoren die Hirnentwicklung und damit verbunden auch die emotionale Entwicklung beeinträchtigen, beispielsweise Traumatisierung (Hanson et al., 2010; McCrory & Viding, 2010; Vela, 2014), unzureichende emotionale Förderung in institutionalisierten Einrichtungen (Nelson, Bloom, Cameron, Amaral, Dahl & Pine, 2002), ein problematisches Entwicklungsmilieu (Hughes, Power, O’Connor & Orlet Fisher, 2015) bzw. Krisen, akute Krankheit oder dauerhafter Stress. Unterschiedliche Ursachen können somit zu kurz- oder langfristigen emotionalen Entwicklungsverzögerungen bzw. -rückschritten („Regression“) führen.
Auf den Punkt gebracht:
Gesellschaftliche Veränderungen im Blick auf Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung sind nötig, um den Begriff des „Erwachsenseins mit kindlichen Bedürfnissen“ anzunehmen.Dies bedeutet, Respekt, Selbstbestimmung, individuelle Autonomie und Freiheit als Leitbilder anzuerkennen und förder- und erziehungszentriertes Denken in der Begleitung erwachsener Menschen zu hinterfragen.Neuroanatomisch sind die Funktionen des „emotionalen Gehirns“ im sogenannten limbischen System lokalisiert, welches umfassend z. B. im Buch „Wie das Gehirn die Seele macht“ von Gerhard Roth und Nicole Strüber beschrieben wird (Roth & Strüber, 2018). Abbildung 4 stellt die Funktionen der verschiedenen Ebenen und deren Entstehung grafisch dar.
Abbildung 4: Die Neuroanatomie des emotionalen Gehirns: Funktionen der verschiedenen Ebenen des limbischen Systems (Pfeile links) und Entstehungszeit (rechts). Beachte: Die Funktionen der unteren und mittleren limbischen Ebene laufen unbewusst ab.
Die untere limbische Ebene besteht aus dem Zwischenhirn (Hypothalamus, vegetative Hirnstammzentren, periventrikuläres Höhlengrau) und der zentralen Amygdala. Diese Strukturen entwickeln sich überwiegend schon vor der Geburt. Hier werden vegetative und basale Überlebensfunktionen wie Essen, Sexualtrieb und Fluchtreaktionen gesteuert. Auch das Stressregulationssystem und autonome Körperfunktionen wie Schwitzen oder die Herzfrequenz sind hier lokalisiert. Die in diesem Teil des limbischen Systems lokalisierten Prozesse laufen überwiegend unbewusst ab und sind genetisch bzw. epigenetisch determiniert. Basale Hirnfunktionen der Neugeborenenphase werden in diesen Hirnstukturen reguliert. Die hier beschriebenen Funktionen des emotionalen Gehirns sind nur minimal durch Erziehung oder Lebensereignisse beeinflussbar.
In der sogenannten mittleren limbischen Ebene (mesolimbisches System) werden Emotionen im Rahmen frühkindlicher Bindungserfahrungen konditioniert, d. h. der Heranwachsende lernt im interaktiven Kontakt mit den nächsten Bezugspersonen eigene, aber auch fremde Gefühle wahrzunehmen, zu differenzieren und zu verstehen (Kernberg, 2012). Basale emotionale Funktionen wie Angst, Trauer, Ekel, Freude und Wut werden hier determiniert. Dieser Teil des limbischen Systems besteht überwiegend aus subkortikalen Hirnregionen wie der basolateralen Amygdala, dem ventralen Tegmentum und dem Nucleus accumbens bzw. ventralen Striatum. Diese Hirnstrukturen bilden sich pränatal bzw. während der ersten Lebensmonate und -jahre heraus. Hier sind die Regelkreise für die nonverbale Kommunikation lokalisiert, d. h. emotional-kommunikative Signale werden erkannt und verarbeitet. Darüber hinaus gehört das innere Belohnungssystem (endogene Opioide; Dopamin) als Basis für die Verhaltensmotivation dazu. Diese Hirnfunktionen laufen überwiegend unbewusst ab. Die Meilensteine der emotionalen Entwicklung, die beim Säugling bzw. Kleinkind zu beobachten sind, werden insbesondere in diesen Hirnregionen reguliert.
Die obere limbische Ebene ist im assoziativen Neokortex lokalisiert, und zwar v. a. im orbitofrontalen, ventromedial präfrontalen, anterior zingulären und insulären Kortex. Hier findet die bewusste Gefühlswahrnehmung und soziale Motivation statt. Fähigkeiten wie Impulskontrolle, Belohnungsaufschub, Frustrationstoleranz, Empathie und Abwägen der Konsequenzen des eigenen Handelns werden in diesem Bereich gesteuert. Dadurch können Risiken realistisch eingeschätzt und das Handeln bewusst gesteuert werden. Auch moralisches Denken ist hier verankert. Diese beschriebenen Kompetenzen bilden sich im Kontakt mit dem weiteren sozialen Umfeld aus, also Freunden, Schulkameraden, weiteren Familienangehörigen etc. Umgebungsfaktoren und die sensorische Wahrnehmung der Umgebung beeinflussen die emotionale Reaktivität und die zur Verfügung stehenden Emotionsregulationsstrategien (Aldao und Nolen-Hoeksema, 2012). Die verschiedenen vegetativen, sensorischen, motorischen und kognitiven Funktionen haben im Zusammenspiel mit Umgebungsfaktoren einen Einfluss auf die Entwicklung des sogenannten emotionalen Gehirns und damit auf instinktive Überlebensreaktionen und Temperament, die Emotionsregulation und -steuerung sowie die soziale Angepasstheit einer Person. Das obere limbische System bildet sich in der späteren Kindheit und der Adoleszenz heraus.
Zusammenfassend bilden verschiedene Hirnstrukturen und deren Verknüpfungen die architektonischen Bestandteile des sogenannten „emotionalen Gehirns“. Dies bildet die neuroanatomische Grundlage für beobachtbare soziale und emotionale Fähigkeiten, die biologisch eng mit kognitiven Kompetenzen verknüpft sind (Damasio, 2012; Pessoa, 2014; vgl. Abbildung 5). Der Stand der emotionalen Entwicklung ist abhängig von diversen inneren und äußeren Aspekten wie z. B. genetischen Faktoren, erworbenen Hirnschädigungen, aber auch Lern- und sozialen Interaktionsprozessen, kognitiven, sensorischen und motorischen Fähigkeiten sowie Umwelt- und psychischen Belastungsfaktoren. Wenn auch verzögert und möglicherweise unvollständig, so durchlaufen Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung grundsätzlich die gleichen Entwicklungsstadien wie Menschen ohne Behinderungen (Cicchetti & Ganiban, 1990; Greenspan, 1997; Hodapp & Zigler, 1995; Martínez-Castilla et al., 2015; Webster, 1963).
Abbildung 5: Zusammenhang von neuroanatomischer Entwicklung des Gehirns, den damit verbundenen neuropsychologischen Regelkreisen und der Mentalisierungsfähigkeit (vgl. dazu auch Abbildung 9).
Die dargestellten neuroanatomischen Kenntnisse zur Hirnentwicklung setzen wissenschaftliche Methoden wie z. B. funktionelle Bildgebung voraus, die erst seit den letzten Jahrzehnten verfügbar sind. Die ersten entwicklungspsychologischen Untersuchungen und Erkenntnisse waren daher zunächst verhaltensbasiert durchgeführt worden (Nelson et al., 2002). Im folgenden Abschnitt werden die von bekannten Entwicklungstheoretikern beschriebenen Aspekte der kindlichen Entwicklung zusammengefasst.
Auf den Punkt gebracht:
Das emotionale Gehirn entwickelt sich vorgeburtlich und in den ersten Lebensjahren nach der Geburt.Störungen der Hirnentwicklung z. B. infolge eines genetischen Defekts oder einer Hirnverletzung können auch die Ausreifung des emotionalen Gehirns beeinträchtigen.Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung durchlaufen die gleichen Entwicklungsphasen wie Menschen ohne Behinderung, allerdings läuft die Entwicklung verzögert oder unvollständig ab.Freud (1990) beschreibt das Phasenmodell der psychosexuellen Entwicklung vom 1. bis zum 12. Lebensjahr:
1. Lebensjahr: orale Phase2. Lebensjahr: narzisstische Phase2. bis 3. Lebensjahr: anale Phase3. bis 5. Lebensjahr: phallische Phase6. bis 7. Lebensjahr: Latenzphase 7. bis 12. Lebensjahr: genitale Phase.Erikson (1959) zeigt in seinem „epigenetischen Diagramm“ ein Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung in Anlehnung an das Phasenmodell von Freud auf:
Säuglingsalter: orale Phase/UrvertrauenKleinkindalter: Autonomiebis 5. Lebensjahr: Spielen/InitiativeSchulalter: WerksinnAdoleszenz: Identität.Das Entwicklungsmodell von Margaret Mahler (Mahler, Pine & Bergman, 1975) benennt wichtige Meilensteine der sozialen Interaktionsfähigkeit:
1. Monat: autistische Phase2. bis 6. Monat: symbiotische Phase6. bis 36. Monat: Separation-Individuation, emotionale Objektkonstanz.In seinem 1969 erschienenen Werk leitet Bowlby (1969) aus einer Analyse der Mutter-Kind-Beziehung die Bindungstheorie ab:
0.–3. Monat: Homöostase3.–6. Monat: soziale Interaktion6.–15. Monat: Bindung15.–35. Monat: Lösung.Piaget (1954) beschreibt wesentliche kognitive Entwicklungsstufen:
0 bis 2 Jahre: sensomotorische Phasebis 11 Jahre: konkrete Operationen ab 11 Jahren: formale Operationen.Stern (Stern et al., 2010) hat auf Grundlage intensiver Säuglingsbeobachtung ein Schichtenmodell zur „progressiven Entwicklung von Selbstempfindungen, sozio-affektiven Fähigkeiten und Formen des Zusammenseins mit anderen“ entwickelt:
bereits vor der Geburt angelegt: auftauchendes Selbst & Kernselbstab 9 Monaten: intersubjektives Selbstab 18 Monaten: verbales Selbstab 3 Jahren: narratives Selbst.Aufbauend auf diesem überwiegend theoriegeleiteten oder auf Einzelfallbeobachtungen beruhenden, historischen Fundament werden im folgenden Abschnitt verschiedene durch empirische Daten unterstützte Entwicklungsaufgaben näher beschrieben.
Auf den Punkt gebracht:
Emotionale Funktionen werden im „emotionalen Gehirn“ verarbeitet, das in verschiedenen Teilen des limbischen Systems lokalisiert ist.Die verschiedenen Ebenen des limbischen Systems entwickeln sich im Laufe des Heranwachsens, d. h. teilweise schon vorgeburtlich (untere Ebene) bis zur Adoleszenz (obere limbische Ebene).Das emotionale Gehirn funktioniert zu einem großen Teil unbewusst.von Thomas Bergmann
Der Mensch ist bestrebt, angenehme Gefühlszustände herbeizuführen oder zu steigern sowie unangenehme Empfindungen zu beseitigen oder zu vermeiden. Ziel und Entwicklungsaufgabe ist dabei, das Ausmaß der Erregung in einem individuell als angenehm empfundenen Bereich halten zu können. Diese Prozesse werden als Affektregulation bezeichnet, wobei es sich um verschiedene Strategien handelt, emotionale Zustände zu modellieren. Diese Fähigkeit zur Selbstregulation basiert auf der Erfahrung der Regulation durch einen anderen. Affekt wird hier als Oberbegriff verwendet, der die „Großwetterlage“ der Gefühle erfasst. In diesem interaktiven Prozess zwischen „guten“ und „schlechten“ Affekten zu unterscheiden, muss kritisch gesehen werden, da die positive Wirkung aller regulationsbedürftigen Emotionen nicht genügend gewürdigt wird (Cole, Martin & Dennis, 2004). Erwachsene Menschen, die entsprechend ihrem emotionalen Entwicklungsstand ihre Affekte nicht allein regulieren können, zeigen z. T. massiv herausfordernde Verhaltensweisen oder ausgeprägtes Rückzugsverhalten. Um die Betroffenen in solchen Krisen feinfühlig begleiten und unterstützen zu können, sollten Bezugspersonen und Behandler deren emotionale Grundbedürfnisse und die damit zur Verfügung stehenden Verhaltensmöglichkeiten kennen.
Die primären Emotionen des Säuglings sind eher unverbundene Reaktionen auf Reize und dynamische Verhaltensautomatismen (Fonagy & Target, 2002) bzw. unkategorisierte, eher mit einer Spannungsqualität assoziierte Vitalitätsaffekte