Das andere Gesicht - Katty Salié - E-Book
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Das andere Gesicht E-Book

Katty Salié

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Beschreibung

»Wir sind wieder mehr, wir sind jetzt schon zwei«, sagte Torsten Sträter zu Kurt Krömer, als der sich in seiner Sendung zu Depressionen bekannte. Am Tabu der Krankheit wird gekratzt. Und doch trauen sich noch immer viele Menschen nicht, offen darüber zu sprechen.  Katty Salié weiß aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, wenn das Leben plötzlich schwer wird und man nicht mehr funktioniert. Und man sich gleichzeitig dafür schämt, denn schließlich steht man auf der Sonnenseite des Lebens. Doch Erfolg und Prominenz schützen nicht vor Depressionen, betroffen sind auch die, von denen man es vielleicht am wenigsten erwartet. In diesem persönlichen Buch beschreibt Katty Salié ihre Krankheit und spricht mit vielen prominenten Menschen über deren Erfahrungen. So entsteht ein Kompendium von Lebensgeschichten, die durch die Krankheit verbunden sind. Katty Salié im Gespräch mit: - Torsten Sträter - Till Räther - Gesine Schwan - Atze Schröder - Sophie Passmann - Zoë Beck - Ronja von Rönne - Sabine Magnet - Benjamin Maack - Miriam Davoudvandi - Teresa Enke - @depridisco

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Seitenzahl: 386

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Katty Salié

Das andere Gesicht

Depressionen im Rampenlicht

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Katty Salié

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

Vorwort

Meine Depression und ich | Aufmarsch der Dementoren

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Die Depressionen der anderen | Augenöffner

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Der Zug in voller Fahrt/Wir sind mehr

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Hilfe – Was kann ich tun?

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Der Schluss – und ein letztes kleines Interview

Mein Dankeschön

Literatur, Musik, Podcasts, die die Leere füllen

Inhaltsverzeichnis

Für M., den hellsten Stern in meinem Universum

Inhaltsverzeichnis

Hey, hey, hey

Du schreist hurra in mein Gesicht (hey, hey, hey)

Hurra, hurra und dann kommt Licht

In all mein Schwarz, dein grellstes Blinken

Dein Hurra gegen das Versinken

Hey, hey, hey

Bosse, Dein Hurra[1]

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

»Also ich finde die Idee an sich natürlich gut, aber du weißt schon, was das alles nach sich ziehen könnte, oder? Also, dass das dann auf ewig mit dir verbunden ist …?!«, fragt meine Agentin besorgt, und ich nicke und denke: »Ja, weiß ich.« Und es ändert nichts. Denn verbunden wird »DAS« wohl ohnehin auf ewig mit mir sein.

 

»DAS« ist das Thema Depression. Als Journalistin habe ich es mehrfach beackert, als Mensch schon mehrfach durchlitten. Wie oft, weiß ich nicht. Denn es ist nicht so ganz klar, wo eine Depression anfängt und das ganz normale Leben mit dem ganz normalen Seelenstress aufhört. Nicht ohne Grund heißt das Buch von Till Raether, aus dem ich auf den nächsten knapp 350 Seiten – neben anderen – zitieren werde: »Bin ich schon depressiv oder ist das noch das Leben?« Raether, den ich lange als Kolumnist bei der Brigitte und als Romanautor zu schätzen wusste, hatte ich vor dem Mikrofon und der Kamera, als wir uns in einer Folge von aspekte um die Volkskrankheit Depression gekümmert haben. Unterschiedlichen Studien zufolge leiden aktuell circa 5,3 Millionen Bundesbürger*innen zwischen 18 und 79 Jahren an Depressionen. Jeder fünfte Arbeitnehmer in Deutschland hat laut einer repräsentativen Umfrage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe von 2021 schon einmal die Diagnose Depression bekommen. Weitere 19 Prozent glauben, schon einmal im Leben ohne entsprechenden Arztbefund daran erkrankt gewesen zu sein.[2] Depressionen kosten das deutsche Gesundheitssystem im Jahr 8,7 Milliarden Euro, die indirekten Kosten sind wesentlich höher. Die Erkrankung ist einer der häufigsten Gründe für eine Frühverrentung.[3]

 

Weltweit sind es nach Schätzung der WHO an die 300 Millionen Menschen, die erkrankt sind. Und die Dunkelziffer? Die ist vermutlich immens. Immer noch. Unsere aspekte-Sendung aus dem Juli 2021 hatten wir mit dem Untertitel versehen: »Der neue Umgang mit der verschwiegenen Volkskrankheit«. Denn ja, noch immer schweigen viele Betroffene und noch immer liegt ein Stigma auf dieser Krankheit – weil sie die Psyche betrifft, und das finden immer noch viel zu viele unheimlich und unbegreiflich, und setzen das mit »irre«, mit »verrückt«, mit »übersensibel«, mit »mimimi« gleich.

 

»Der neue Umgang« war im Sommer 2021 allerdings auch zu bemerken. Dass manch Erkrankte*r keine Lust mehr hatte, zu schweigen und diese andere Seite vor anderen und vor sich selbst geheim zu halten.

Etliche Prominente gingen an die Öffentlichkeit, immer mehr Leidensgeschichten kamen in Buchform auf den Markt, die Mental Health Community ließ Instagram und die übrige Social-Media-Welt heißlaufen, die traditionellen Medien schlossen sich an und berichteten.

 

Ich fand das großartig, bin von einem Medium und einem Kanal zum nächsten gesurft und habe alles aufgesogen, wie eine Verdurstende in der Wüste.

 

Im Sommer 2021 lag mein Aufenthalt in der Klinik gerade ein Jahr hinter mir. Damals im Sommer 2020, als es mir richtig mies gegangen war, als die depressive Episode ihren Höhepunkt genommen hatte, hatte ich mit letzter Kraft den Blick schweifen lassen und gesucht: Wem geht es noch so? Wer kämpft ebenfalls mit Dementoren (was ich damit meine, wird demnächst erläutert, aber sicher haben Sie schon eine Ahnung …)? Wie genau läuft diese Krankheit bei anderen ab, was tun sie dagegen, wie kommen sie da wieder raus – kommen sie da wieder raus?!?

 

Natürlich gab es einen wohltuenden Austausch in der Klinik. Und doch hat es mich und auch jene, die ich dort traf, verblüfft, fasziniert und auch getröstet, wie viele Menschen, die auf Bühnen und im Scheinwerferlicht stehen, ebenfalls betroffen sind. Jene Menschen also, die vordergründig strahlen, denen man leichtfertig nachsagt, sie hätten doch alles, ihnen scheine ja wohl die Sonne aus dem Allerwertesten, jene, die einen Erfolg nach dem anderen feierten, im Außen. Und nun wurde deutlich: Das taten sie mit und trotz Depression.

 

Auf mich wirkten diese Menschen wie blinkende Leuchttürme in stockdusterer Nacht. Als ich im Schlick steckte. Und weil ich mich mittlerweile mit vielen Betroffenen ausgetauscht habe und der Aha-Effekt à la »Nein, nicht auch die?!!! Nein, SOGAR der??!!« flächendeckend war, will ich das hier schreiben. Ein Buch, das sie versammelt: die Stimmen derer, die an Depressionen litten oder leiden. Stimmen, die ausgerechnet in oder gerade wegen der zwei ersten harten Jahre der Pandemie laut wurden. Die Stimmen von Menschen, die es auch haben: das andere Gesicht. Und die wissen: So ist es eben. Und auch, dass sie krank sind. Nicht im Sinne von »irre«, sondern im Sinne von: erkrankt. Mit der guten Chance auf Genesung. Es kann jeden und jede erwischen und jeder und jede kann lernen, damit zu sein und zu leben und zu gesunden.

Dies ist ein Kaleidoskop von Lebensgeschichten, die alle mit dieser Krankheit verbunden sind – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Es sind Menschen, die mir auf meinem eigenen Weg durch die Krankheit begegnet sind und mich beeindruckt haben. Es gibt noch viele weitere da draußen, doch nicht alle passen in ein Buch, das Betroffene nicht überfordern soll.

 

Als ich vom Treffen mit meiner Agentin nach Hause radele, fühle ich mich bestärkt. Und doch geht mir ein Satz nicht aus dem Kopf. Sie hatte mich noch gefragt, ob meine Tochter eigentlich wisse, dass ich nun ganz ehrlich und offen mit der Krankheit sein wolle. Als ich erkrankte, im Jahr 2020, war meine Tochter zehn Jahre alt. Wir sind damals zu Hause und im engsten Freundeskreis offen mit dem Thema umgegangen, und sind es heute noch. Und doch gerate ich durch diesen Einwurf meiner Agentin ins Schlingern.

 

Zu Hause, beim Mittagessen, fasse ich mir also ein Herz und frage meine Tochter, ob sie es doof fänd’, wenn ich darüber schreiben würde, über »DAS«. Ich benutze sogar die Formulierung »mich outen« und ärgere mich im selben Moment darüber. »Outing« halte ich generell nicht für den besten Begriff, um klarzumachen, dass man nicht nach der Norm lebt, liebt oder eben fühlt. Das hat direkt etwas von »Ich stelle mich ins Aus mit meinem Sein«. Dabei geht es doch um Akzeptanz, um ein Miteinander – egal wie ich bin. Um Diversität – die doch mit Fug und Recht gelebt werden soll. Ich ärgere mich also. Und meine Tochter ärgert sich auch. Wie aus der Pistole geschossen, mit hochgezogener Augenbraue, kommt ein: »Häh, wieso sollte ich das doof finden?« Und weiter: »Das ist doch super, Mama, das kann doch auch für dich ein echter Gewinn sein.« Originalzitat einer mittlerweile 12-Jährigen. Und ich bin stolz wie Bolle auf dieses schlaue Geschöpf. Und gebe ihr recht. Ja, das kann ein Gewinn sein.

 

Im allerbesten Fall auch für Sie, die Sie dieses Buch lesen. Vielleicht, weil Sie schlichtweg Interesse an all diesen facettenreichen Persönlichkeiten haben. Vielleicht, weil Sie selbst feststecken und Ausschau halten nach Leuchttürmen, aber keine Kraft haben, sich ganz allein durch den Schlick zu kämpfen und auf eigene Faust zu suchen. Weil Sie das Licht gebündelt haben wollen. Oder weil Sie jemanden lieben, mit dem Sie großes Mitgefühl haben, dem Sie aber nicht zu helfen wissen. Was Sie schmerzt. Und Sie suchen Trost.

 

Ich hoffe, dass Sie all das auf den nächsten Seiten finden werden, das auch ich gesucht habe und hin und wieder suche. Ich hoffe, es wird Sie unterstützen, wer auch immer Sie sind und wo auch immer Sie stehen. Oder stecken.

Inhaltsverzeichnis

Meine Depression und ich | Aufmarsch der Dementoren

Ich sehne mich nach Noten und den Sätzen von Sonaten

Warum muss bei mir alles in Freejazz ausarten?

Seit ich denken kann, spielt mein Orchester schief

Mein ganzes Leben lang lief eine krumme Symphonie

Bosse, Krumme Symphonie[4]

1

Ich beginne mit dem Schreiben dieses Buches im Dezember 2022.

Zu einer Zeit, in der die Pandemie gerade noch einmal Schwung holt und trotzdem nur noch die wenigsten Menschen Gesichtsmasken tragen oder sich in den eigenen vier Wänden verschanzen. Fast drei Jahre lang hat es uns in Schach gehalten, das Coronavirus, hat uns verängstigt, geschwächt, manche – viele! – getötet. Selbst wenn nun die soundsovielte Variante im Anmarsch sein sollte, die Leute haben die Nase voll – sie können schlicht nicht mehr. Und so gehen sie wieder zu Konzerten, ins Theater, ins Kino und in Restaurants. Wohl auch, weil sie dringend Zerstreuung brauchen, um all die anderen Krisen auszuhalten.

 

Die Klimakrise.

Der Krieg in der Ukraine – mitten in Europa.

Die Energiekrise, die unglücklich mit der Inflation zusammenfällt.

 

Die Krisen aufzuzählen, hat einen Holzhammereffekt. Mit jeder Krise gibt’s einen weiteren Schlag auf den Kopf, sodass man tiefer sinkt in den Boden, in den Treibsand der Ohnmacht, bis sich die Fläche über einem schließt.

 

So geht es nicht nur mir. In den letzten zwei Jahren hat sich die kollektive psychische Gesundheit der Deutschen verschlechtert. Laut Robert-Koch-Institut ist die Zahl der Bürger*innen, die unter depressiven Symptomen leiden, von Pandemiejahr zu Pandemiejahr angestiegen: von 9 Prozent im Sommer 2020 auf bis zu 17 Prozent in 2022. Auch Angstsymptome treten häufiger auf: Während im Zeitraum von März bis September 2021 noch 7 Prozent der Bevölkerung bei repräsentativen Befragungen eine Belastung durch Angst angegeben haben, stieg dieser Anteil im Frühjahr 2022 auf 11 Prozent.[5]

 

Gleichzeitig fehlt es in Deutschland an Therapieangeboten, was zu irre langen Wartezeiten auf die wenigen freien Plätze führt. Besonders desaströs scheint die Lage laut des Deutschen Ethikrates in der Kinder- und Jugendhilfe zu sein – ausgerechnet in dem Bereich also, in dem sich pandemiebedingt die Zahl der Essstörungen, Süchte, Angsterkrankungen und Depressionen enorm erhöht hat.

 

Noch so ein Holzhammerschlag.

 

Aber ich will nicht versinken. Ich will schreiben. Also grabe ich mich wieder aus und schaue mich um.

Ich sitze am Wohnzimmertisch vor dem Laptop, der Hund liegt mir zu Füßen, die Weihnachtssterne baumeln im Fenster, der Ofen bollert. Und ich schreibe ein Buch über Depressionen.

Ich also auch.

Und das fühlt sich …

Hm …

Wie fühlt sich das an? Um das zu formulieren, hänge ich mindestens fünfzig Buchstaben lang in der Luft und starre ins Ofenfeuer. Dann kann ich die Lücke schließen:

 

Richtigbefreiendnötigeigenartigunheimlichanmaßendgefährlich.

 

Ich fasse zusammen: eigentlich gut – und doch wieder nicht.

 

Im Übrigen ist eigentlich ein Wort, das ich eigentlich aus meinem Wortschatz streichen möchte. Ein Wort, das man nicht braucht, wenn man klar ist. Wenn man weiß, wer man ist und was man will, wenn man seine Wahrheit lebt. Eigentlich ist ein Wort, das Unsicherheit markiert. Ein Wort, das relativiert wie ein Aber – und abschwächt, an einem Punkt, an dem Stärke gebraucht wird.

 

Wenn jemand fragt: »Geht es dir gut?« und ich antworte: »Eigentlich schon«, dann meine ich natürlich nicht: »Ja, mir geht es richtig gut.« Ich umschreibe mit dem »eigentlich«, dass es mir nicht durchweg gut geht. Sondern nur so semigut. Dass ich in dieser Frage unentschieden bin. Dass ich ambivalent fühle. Mir geht es gut, und doch gibt es da etwas, das dieses Empfinden trübt.

 

In unserer Gesellschaft, in der alle keine Zeit haben, auch wenn sie sich nach dem Befinden des Gegenübers erkundigen, ist das keine gute Antwort.

In unserer Gesellschaft, in der alle funktionieren, weil sie müssen oder zumindest denken, sie müssten UNBEDINGT funktionieren, in unserer Gesellschaft, in der sich alle vergleichen und sehen: Bei allen anderen läuft es – wenn man Instagram, Facebook, Twitter glauben mag – durchweg rund – in dieser Gesellschaft ist es gefährlich, das Fass der Ambivalenz zu öffnen. Fast schon wie die Büchse der Pandora.

 

Denn: Wenn ich mit meinem »Eigentlich geht es mir gut« um die Ecke biege, könnte das Gegenüber durchaus erschrecken und denken: »Au weia! Sie hat eigentlich gesagt – nun muss ich nachfragen, mich empathisch zeigen und noch mehr Minuten meiner kostbaren Zeit investieren – da wird mir glatt der Coffee to go kalt …«

 

Das Gegenüber könnte sich fürchten, vor thematischen Ungeheuern, die sich anschicken, ins Gespräch zu poltern: »Eigentlich geht es mir gut. Und trotzdem fühle ich mich hin und wieder beschissen. Und schäme mich dafür, denn ich will nicht als Mimose gelten, nicht als leistungsunfähig oder unsozial. Zumal ich weiß, anderen geht es wesentlich schlechter, es gibt Krieg und Hungersnöte auf der Welt, und ich heule hier rum, dabei habe ich gar keinen echten Grund und deshalb fühle ich mich schuldig, schuldig im Sinne der Anklage, eine selbstbezogene privilegierte Mimose zu sein. Deshalb: doch, eigentlich geht es mir gut … Also echt … Also super! Also ganz, ganz toll!!«

Breites falsches Grinsen, das Wasser in den Augen schnell weggeblinzelt.

 

Und das Gegenüber könnte dann dastehen, mit dem kalten Kaffee in der Hand und Ratlosigkeit im Blick. Und beim nächsten Mal einen Bogen um mich machen.

 

Ambivalenz ist anstrengend.

 

Das spüre ich auch jetzt, wo ich in den Startlöchern stehe, dieses Buch hier zu schreiben. Einerseits und andererseits.

 

Einerseits: möchte ich das gern machen. Weil es mich interessiert als Journalistin. Weil ich Themen gerne ordentlich durcharbeite. Weil ich meine Themen gern ordentlich durcharbeite. Weil es mir hilft als Mensch. Und anderen vielleicht auch. Das ist gut.

 

Andererseits: zucke ich zurück. Abgesehen von der Scham, die ich immer noch empfinde, wenn ich über die Krankheit spreche, über MEINE Krankheit, abgesehen von den generellen Versagensängsten, die immer mal wieder an der Tür meines Oberstübchens dauerklingeln und Sachen grölen wie: »Kannst du überhaupt schreiben? Kannst du überhaupt irgendetwas??«, weiß ich, dass es schon viele getan haben: über Depressionen sprechen, über Depressionen schreiben – von einigen will ich schließlich erzählen. Es gibt bereits großartige, emotionale und auch wissenschaftlich akribisch fundierte Bücher. Ich finde sie toll, ich finde sie hilfreich, ich gehe in die Knie vor all dem Fachwissen und all dem Mut. Und ich bin mir sicher, dass vielleicht gerade jetzt, wo ich loslege, noch ein paar mehr Menschen Bücher über Depressionen schreiben. Es ist Zeitgeist. Ein unheimlicher, monströser Geist.

 

Da schleicht sich die Frage an: Braucht es dann ausgerechnet dieses, MEIN Buch? Müssen sich womöglich alle, die nach Krömer noch mit dem Thema um die Ecke biegen, von Kritiker*innen den Vorwurf gefallen lassen, Mitläufer*in zu sein? Nur auf den Zug aufspringen zu wollen, um Kasse zu machen? Depressionen: Der letzte Schrei! Und zwar einer, der immer lauter wird. Und jetzt schreie ich mit.

 

Und da passiert es: Während Fragen und Zweifel sich im Oberstübchen breitmachen, kommt von hinten – wie ein kerniger Türsteher – die Bockigkeit angewalzt und kehrt den ganzen Mist entschlossen aus den Hirnwindungen.

 

Nix da! Ich will mich auf eine Seite der Ambivalenz schlagen und entscheide: Es kann gar nicht genug Bücher über Depressionen geben! Eben weil so viele Menschen diesen Gedankenterror kennen und tagtäglich aushalten. Sich klein fühlen. Sich falsch fühlen. Das alles für sich behalten und damit immer schwerer werden. Die sich mit vielen Eigentlichs durchs Leben und durch Gespräche lavieren, nur um nicht ehrlich sagen zu müssen: »Mir geht es heute schlecht – richtig übel sogar, das ist Symptom meiner Krankheit.«

Der Comedian Maxi Gstettenbauer hat im November 2022 ein Buch über seine Depression veröffentlicht.

Vor dem Erscheinen hat ihn der Tagesspiegel gefragt: »Sehen Sie die Gefahr der Vereinnahmung?«, und der Kölner Stadt-Anzeiger fragte nach, ob er wohl nur Aufmerksamkeit wolle. Nein, wolle er nicht – jedenfalls nicht für sich, gerne aber für die Tatsache, dass die Krankheit immer noch nicht ernst genommen werde. Was sich in der Kritik widerspiegele. Dem Tagesspiegel erwiderte Gstettenbauer ganz konkret:

Ich habe nach wie vor das Gefühl, dass die Krankheit mich instrumentalisiert. Und will etwas dazu beitragen, dass Menschen sich nicht für ihre Depression verurteilen. Nicht denken, dass sie was falsch machen. Eines der stärksten Symptome ist das Gefühl von Isolation. Das Nicht-darüber-Sprechen trägt dazu bei.[6]

Die Krankheit instrumentalisiert ihn – nicht umgekehrt. I feel him. Und verdammt noch mal: Es IST zum Schreien! Und ich WILL aufspringen auf diesen Zug! Weil ich überzeugt bin, dass er in die richtige Richtung fährt – hin zu mehr Transparenz, zu mehr Toleranz und Empathie – hin zu mehr Menschlichkeit.

2

»Uns wird der Arsch noch platzen, wegen all der Depressionen, die immer noch für eine von Aliens eingeschleppte Krankheit gehalten werden, die angeblich nichts damit zu tun hat, was wir sonst so machen …«[7]

 

Das waren die Worte von Schauspielerin Nora Tschirner im März 2019, im Interview-Podcast von Matze Hielscher »Hotel Matze«, die noch lange in meinen Ohren klingeln sollten. Ich habe den Podcast damals im Zug gehört, auf der Fahrt von einem Job zum nächsten. Vielleicht auch zwischen Job und Zuhause. Womöglich auch zwischen Job und todkrankem Vater. Ich weiß es nicht mehr genau. In jedem Fall aber zwischen zwei Orten. Und so habe ich mich damals oft gefühlt, auch ohne Zug zu fahren: Dazwischen. Mit dem einen Fuß im Sonnenschein (oder vielleicht war es auch nur das Scheinwerferlicht), mit dem anderen im Stockdunkeln. In immer extremerem Spagat, sodass es schon langsam in den Muskeln brannte. Nora Tschirner zuzuhören war, wie einen Stoß vor die Brust zu bekommen, das Gleichgewicht zu verlieren und umzufallen. Um dann verwundert zu blinzeln und sich zu fragen: Wie bin ich denn bitte überhaupt in diese unbequeme, wackelige Position geraten?

 

In dem Podcast berichtet Tschirner, dass sie es mittlerweile ziemlich gut raushabe einzuschätzen, wie viel Energie ein Job fresse, und sie sich deshalb nicht so schnell übernähme. Hielscher konstatiert daraufhin, dass das bei ihr doch irgendwie schon immer so gewesen sei – »oder?« Da wird Tschirner sehr deutlich: »Nö, überhaupt nicht – ich hab vor zehn Jahren einen Burn-out gehabt – ich musste das richtig krass lernen …« Sie erzählt, dass sie sich früher oft vergaloppiert habe, weil sie gedacht hätte, sie müsse zuverlässig abliefern – im Job, aber auch im Zusammensein mit anderen. Und dass sie keinerlei Rücksprache mehr mit sich selbst und ihren tatsächlichen Bedürfnissen gehalten habe. Selbstfürsorge sei für sie nicht drin gewesen.

 

Ich hörte das im Zug und sah mich galoppieren – rastlos, getrieben und mit Federpuschel auf dem Kopf. Ein Zirkuspferd, das Show macht. Nicht nur im Job.

3

Den Puschel trage ich schon lange. Zu Hause war ich immer das Strahlemädchen. Und spielte damit keine Sonderrolle. Meine ganze Familie strahlte um die Wette, nur die Rama-Familie wirkte noch fröhlicher. Zumal es uns doch so gut ging und den anderen oft sooo viel schlechter.

 

Meine Mutter liebte Klatsch und Tratsch. Bevorzugt beim Mittagessen erzählte sie, welch schreckliche Vorfälle sich in anderen Familien ereignet hatten. Wer wo von der Leiter gefallen war, wen welche Krankheit ereilt und wer sich von wem getrennt hatte. All die Katastrophengeschichten sickerten über Jahre in meinen Organismus ein, unbemerkt. Zudem stand bei uns ein weiteres Tor zum Übel dieser Welt sperrangelweit offen, denn bei uns lief stets der Fernseher. Hungersnöte, Krieg, Tschernobyl, Aktenzeichen XY und die Horrorfilme meines viel älteren Bruders gab’s frei Haus. Hinzu kamen Dokumentationen der Öffentlich-Rechtlichen, die für Erwachsene gedacht waren, die ich aber mitschaute. Mit sechs oder sieben Jahren etwa eine Doku über einen Tanklasterunfall in Spanien. Über eine Frau, die damals schwerste Verbrennungen erlitt. Sie wurde mehrfach operiert, die Dokumentation zeigte ihre zähe Genesung. Samt des verbrannten Fleischs und sämtlicher OP-Narben. Und ich hatte fortan Angst vor Feuer. Ich hatte auch Angst vor der Nacht. Und vor dem Tod.

Als ich sechs war, starb mein Opa mütterlicherseits. Er war alt und krank gewesen, ich war nicht übermäßig traurig. Wohl aber, als vielleicht ein Jahr später eine Schulfreundin von mir verstarb. »Krebs«, flüsterte man hinter vorgehaltener Hand. Ich hatte ihr noch Briefe ins Krankenhaus geschrieben bzw. gemalt. Zwei Mal schrieb sie zurück. Dann kam keine Post mehr. Sie wurde direkt neben meinem Opa begraben. Zur Beerdigung durfte ich nicht gehen. Das war nichts für Kinder. So die Überzeugung meiner Eltern.

 

Ich besuchte die beiden Toten fortan gern auf einen Plausch an den Grabsteinen. Ich weiß nicht, ob meine Eltern das mitbekamen. Und auch nicht, ob sie mein wachsendes Interesse an der Unberechenbarkeit und Willkürlichkeit des Lebens bemerkten.

 

Seit dem Tod meiner Freundin malte ich am liebsten Engel, die von den Wolken auf mich heruntersahen. Und spielte vornehmlich Krankenhaus mit meinen Puppen. Diverse Barbies hatten schnell keine Haare mehr: Krebs. Später fehlten manchen auch die Beine: Autounfall. Amputation. In meinem Zimmer lag ein Autoatlas. Mir waren die Straßenkarten egal. Hinten im Atlas gab es gelb eingefärbte Seiten, auf denen Erste-Hilfe-Maßnahmen erklärt wurden. Besonders fasziniert war ich von verunfallten Motorradfahrern, denen »gallertartige, graue Masse« am Kopf austrat. »Nicht anfassen!« stand da und: »Auf den Rettungsdienst warten«. Schon als Kind wollte ich mich unbedingt für alle Eventualitäten wappnen. Schon als Kind ahnte ich: Mist, das geht nicht.

 

Ich war immer auf der Hut und hatte immer Angst, dass trotzdem irgendwann alles schieflaufen könnte. Und ich fand das normal. Immer ängstlich zu sein – so war denn wohl mein Gemüt gestrickt. Auch wenn ich es gerne anders gehabt hätte. Weil das nicht ins Rama-Bild passte und meine Eltern mir immer wieder versicherten: »Du musst doch keine Angst haben.«

Und forderten: »Nun stell dich mal nicht so an.«

Und genervt abwinkten: »Nun mach doch kein Theater.«

 

Na gut. Also kein Theater. Dann eben Zirkus. Und ich im Galopp. Mit wippendem Puschel.

 

Als die treibend-fröhliche Musik in der Manege zu leiern anfing – mein Bruder wurde alkoholkrank und meine Eltern wollten das nicht wirklich wahrhaben –, suchte ich mir den ersten Therapeuten, Herrn L. Da war ich Mitte 20. Von ihm bekam ich meine erste Psycho-Diagnose gestellt: eine generalisierte Angststörung, schrieb er mir in die Akte. Zitat: »Irgendetwas muss ich ja schreiben, um abzurechnen.« Ich denke, er sagte das so lapidar, weil er mir nicht noch mehr Angst machen wollte. Und weil man mit mir in den Therapiestündchen problemlos Spaß haben konnte. Wir hatten tolle Gespräche, wir lachten oft. Meine Diagnose habe ich nie ernst genommen. Mir kam es so vor, als habe er das auch nicht. Er half mir in vielerlei Hinsicht, es tat gut zu reden – den Puschel trug ich auch während der gemeinsamen Stunden. Als die Therapie ihren Abschluss fand, fühlte ich mich gestärkt.

 

Ein paar Jahre später starb mein Bruder viel zu früh an Alkohol- und Medikamentensucht. Mein Vater erkrankte an Parkinson, dann an Krebs, dann an Demenz. Ich war und bin zu 100 % Papakind. Und der Puschel saß nur noch suboptimal auf dem Kopf. Hilfe suchte ich mir nicht. Keine Zeit. Ich war ja mitten im Galopp.

 

Und dann wurde mein Nachbarsjunge von einem Laster überfahren. Er war sieben Jahre alt, und als es passierte, war ich dabei. Alle, die ebenfalls eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) erlitten haben (meine Psycho-Diagnose Nummer zwei), überspringen bitte den nächsten Abschnitt. Allen anderen muss ich es erzählen, denn so kam eines zum anderen.

4

An einem sehr schönen, blau behimmelten Frühlingsmorgen im Mai 2018 starb M. Zehn Meter von meiner Haustür entfernt. Meine Tochter war nur Minuten vorher mit dem Tretroller durch unsere Straße zur Schule gefahren. M. war der Nächste, der sich auf den Weg machte. Als der Lastwagen in Schrittgeschwindigkeit rechts abbog und ihn überfuhr, war er sofort tot. Sein Vater, der mit ihm gemeinsam aufgebrochen war, hat den Unfall mit angesehen und nicht verhindern können. Ich hörte seine Schreie und lief zu ihm, mein Mann wenig später hinterher. Wir blieben bei ihm auf dem Bürgersteig sitzen, unweit des Leichnams seines Sohnes, bis Freunde der Familie am Unfallort eintrafen, vielleicht eine halbe Stunde später, und seine Betreuung übernahmen. Derweil hatte ein Hubschrauber über unserer Straße gekreist, hatten Sanitäter das Kind abgedeckt und andere Nachbarn sich um den Lastwagenfahrer gekümmert, waren Notfallseelsorger von Haustür zu Haustür gegangen, hatte die Polizei den Unfallort abgesperrt und die Mutter des Kleinen benachrichtigt.

 

Sämtliche zerrütteten, weinenden Nachbarn, die an diesem Morgen zu Hause und in unmittelbarer Nähe des Unfalls gewesen waren, versammelten sich bei uns im Garten, fassungs- und hilflos. Ich goss ihnen Grappa ein, kochte Kaffee und servierte Kekse. Die Sonne schien noch immer unbeirrbar. Ich bediente die Nachbarsrunde, als hätten wir ein nettes Get-together. Einen Job, den ich am Nachmittag gehabt hätte, sagte ich ab. Auf schräge Art und Weise, wie man mir später beschrieb. Ich sollte das Hörbuch zu einem Buch über Stressbewältigung einlesen – eine Freundin hatte den Text geschrieben. Ich rief im Tonstudio an und erklärte: »Tschuldigung, ich kann heute doch nicht – ich weiß, das ist jetzt doof. Aber mein Nachbarsjunge ist gerade von einem Laster totgefahren worden, und ich muss mich jetzt erst mal darum kümmern.« Am anderen Ende der Leitung wurde gestammelt, der Termin wurde verschoben, und niemand war mir böse …

 

Am Abend schaute ich auf mein Handy, und da war eine Nachricht, die ich bis heute gespeichert habe: eine Freundin, die mich mit all meinen Ängsten gut kennt, schrieb mir, kurz nachdem der WDR den Unfall in meinem Stadtviertel vermeldet hatte: Ich hoffe so sehr, dass es weit, weit von euch entfernt passiert ist. Im Bett liegend, am Abend dieses langen Tages, antwortete ich: Leider nicht. Es war mein Nachbarsjunge von gegenüber. Und ich war dabei.

Während sich mein Mann hin und her wälzte, konnte ich in dieser Nacht gut schlafen. Ich wunderte mich darüber.

 

Der Unfall war an einem Montag geschehen, am Freitag stand ich wieder vor der Kamera. Ich kann mich noch gut an die Reaktion von Kolleg*innen erinnern, als ich in die Redaktion kam. Der Unfall war deutschlandweit in den Schlagzeilen gewesen. Und still wurde ich von meinem Team in die Arme geschlossen, weil die Worte fehlten. Wir sparten sie uns für schöne Moderationen auf, und ich fühlte mich im Scheinwerferlicht sicher.

 

Samstags war die Beerdigung. Niemals werde ich den kleinen Kindersarg vergessen und dieses Gefühl großer Liebe und noch größerer Trauer im Saal und später am Grab. Und auch nicht den Lieblingssong des Kleinen, der die Trauerfeier eröffnete. Ein Rocksong, den wohl niemand zum Auftakt erwartet hatte, einer meiner Alltime-Favourite-Songs – satt, laut und vor Leben strotzend – einer der Songs, der mich bislang immer auf die Tanzfläche gezogen hatte, bei jedem Geburtstag, jedem Partyevent – nun erfüllte er die Trauerhalle, und sein letzter Ton, eine jaulende Gitarre, hing seltsam entrückt über all den weinenden Menschen, bevor die eigentliche Trauerfeier begann und schließlich zu den Klängen von Rolf Zukowskis »Weihnachtsbäckerei« endete. Ein weiteres Lieblingslied des Jungen. Beide Lieder konnte ich jahrelang nicht mehr hören.

5

Und weiter ging’s. Das Leben. Der ADFC wollte eines der weißen Mahnmal-Räder an die Laterne in unserer Straße ketten. Das wollte aber die Familie des Kindes nicht. Auch die Blumen und Kuscheltiere, die sich am Unfallort stapelten, sollten schnellstmöglich weggeräumt werden. Das wünschten sie sich. Wenn M’s Vater später im Sommer den Vorgarten wässerte, sagte ich freundlich »Hallo«, und es wurde freundlich zurückgegrüßt. Mehr Austausch gab es nicht, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Viel später zog die Familie in ein anderes Viertel.

 

Und ich machte weiter wie bisher. Konzentrierte mich auf meine Familie. Ging arbeiten. Ging viel arbeiten. Etwa in München, wo wir eine Sondersendung zum Kulturland Bayern drehten. Unter anderem an der sehr lauten, stark befahrenen Maximilianstraße, nur ein paar Wochen nach dem Unfall. Während ein Lastwagen nach dem anderen vorbeirauschte, sollte ich eine einfache Moderation von vielleicht drei Sätzen in die Kamera sprechen. Und mir rauschte ein Schweißausbruch nach dem anderen über den Rücken. Immer wieder rutschten meine Augen von der Kameralinse hinunter zur Straße und zu den großen Reifen, die da an mir vorbeirollten. Und ich vergaß die Sätze. Passiert mir sonst eher selten. Und das machte mich motzig. »Warum müssen wir die Moderation denn ausgerechnet hier drehen?!!!«, wütete ich in Richtung Redakteurin. Die ein schlagendes Argument hatte: Ich sollte über die Münchner Kammerspiele reden. Und stand passenderweise vor den Münchner Kammerspielen. Mit Herzklopfen bis zum Hals brachte ich das Ding irgendwie in den Kasten. Und war froh, als wir weiterziehen konnten.

 

Fortan klopfte mir das Herz ziemlich oft an Stellen im Körper, an denen ich es bisher nie wahrgenommen hatte, oft in unpassenden Momenten. Und verlässlich immer dann, wenn Lastwagen brummten oder beim Rückwärtsfahren piepten. Das war anstrengend, körperlich wie seelisch. Es ging mir auf die Nerven. Und an die Nerven.

 

»Ein Anschlag ist wie ein Schuss auf ein Fenster: Die Kugel trifft nur eine kleine Stelle, aber die ganze Scheibe hat Risse.« Dieser Satz steht in einem Artikel aus dem Zeit-Magazin vom Dezember 2019.[8] Der Berliner Psychologe Rainer Rothe hat dieses Bild geprägt – ein Therapeut, der den Betroffenen der Anschläge von Berlin und Nizza 2016 zur Seite stand. Rothe erklärt in dem Artikel, dass ein Anschlag immer mehr Opfer habe, als in den Nachrichten verkündet werde. Es kämen immer noch diejenigen dazu, die in zweiter Reihe traumatisiert worden seien. Passant*innen, Ersthelfer*innen, Feuerwehrleute, Sanitäter*innen. Rothe spricht davon, dass ein Trauma jede Zelle verwandle, sich tief einschreibe, er spricht vom sogenannten »Kindling«, von der zunehmenden Sensibilisierung eines Areals im Gehirn, die dazu führt, dass irgendwann auch bei geringen Reizen starke Reaktionen entstehen können. Von »Survivours-Guilt«, den Schuldgefühlen der Überlebenden und davon, dass viele Traumatisierte das Gefühl haben, beweisen zu müssen, dass sie Opfer sind.

 

Leider habe ich den Artikel erst viel später gelesen. Sonst hätte ich einen Zusammenhang herstellen können, hätte »Anschlag« durch »Unfall mit Todesfolge« ersetzen können – denn das ist legitim, wie mir später von Fachleuten erklärt wurde. Der tödliche Unfall auf meiner Straße war ein Anschlag auf mein Vertrauen ins Leben gewesen.

6

Und dann starb mein Vater.

 

Im September 2019 atmete er zum letzten Mal aus. Ich war nicht dabei. Frühmorgens kam der Anruf aus dem Pflegewohnheim, anderthalb Stunden später waren Mann, Kind, Hund und ich auf dem Weg zu ihm. Ich rief in der Redaktion an, denn an dem Tag war Sendung. Der Ort, an dem mein Vater tot in seinem Pflegeheimbett lag, lag ungefähr in der Mitte zwischen meinem Wohn- und meinem Arbeitsort. Ich bot an, später noch mit der Bahn vorbeizukommen und zu moderieren. Dankenswerterweise lehnten Chef und Bester-Kollege-der-Welt ab und absolvierten die Sendung ohne mich. Durcheinander wie ich war, wäre ich wohl wirklich zur Arbeit gefahren. Stattdessen blieb ich den Tag über bei meinem Vater, bis der Bestatter ihn verlud und davonfuhr.

Am übernächsten Tag stand vormittags eine Preisverleihung in Nürnberg an. Freitags war mein Vater gestorben, Samstagsmittag fuhr ich zur Veranstaltung. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, spontan abzusagen. Mann, Kind und Hund luden mich am nächsten Bahnhof ab, ein paar Stunden und eine Oberleitungsstörung später war ich in Bayern. Und fühlte mich schlecht. Trauer – logisch, so fühlt sie sich an. Das wusste ich, praktisch wie theoretisch, denn im Herbst 2018 hatte ich mich zur ehrenamtlichen Trauerbegleiterin ausbilden lassen – um meine Beziehung zum Tod neu zu definieren, mit mehr Sinn aufzuladen. Angemeldet zu dieser Ausbildung hatte ich mich wohlbemerkt einige Monate vor dem tödlichen Unfall in meiner Straße. Nun konnte ich meine Trauer also einordnen, wusste, dass es gut wäre, sich Zeit für sie zu nehmen, glaubte aber gleichzeitig zu wissen, dass ich diese Zeit gerade nicht hatte. Rückblickend weiß ich: Für mich selbst war ich nicht die beste Begleiterin …

 

In Nürnberg stand ich vormittags drauf auf der Bühne, mein schönstes Strahlelächeln im Gesicht, die Trauer hatte ich in der Garderobe gelassen. Ich sollte zum Auftakt einen kleinen Plausch mit dem Oberbürgermeister halten. Ich hatte ihn kurz vorher getroffen, er war freundlich gewesen, hatte aber – Vokabel meines Vaters – leicht »bedröppelt« gewirkt. Wie es sich gehört, hatte ich – floskelfloskel – gefragt, wie es ihm denn so ginge. Und er hatte ohne ein eigentlich geantwortet: »Schlecht«. Denn seine Mutter sei gestern gestorben. Und ich entgegnete: »Na so was, bei mir war es der Vater.« Und dann drückten wir uns kurz, wir beiden Fremde. Hielten uns kurz im Arm, der Oberbürgermeister und ich. Und standen dann als Halbwaisen in unserer jeweiligen Rolle auf der Bühne, very professional.

 

Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp.

 

Nach der Veranstaltung fuhr ich zurück nach Köln. Und moderierte am Abend noch flott die Preisverleihung des Krimifestivals »Crime Cologne«. Auch das lief glatt. Davon abgesehen, dass kein einziges Mikrofon funktionierte und ich sämtliche Ansagen brüllen musste. Ich bekam ein paar Tage später ein herzliches Dankeschön per E-Mail vom Veranstalter. Er schrieb, er wolle sich bei mir »für die Leichtigkeit bedanken«, mit der ich das Ganze durch verschiedene Untiefen gesteuert hätte, und für die »professionelle Bravour, die ihm eine ungewöhnliche Erfahrung« gewesen sei. Ich erwiderte sein Schreiben mit den Worten: »Eigenartig, dass man manchmal leichtfüßig unterwegs ist, obwohl das Herz schwer wiegt. Am letzten Freitag ist mein Vater verstorben. Ich wollte trotzdem gern das Festival eröffnen – und gerade, weil alles nicht ganz glattlief, war auch ich selbst bestens unterhalten und abgelenkt.« Nochmals schrieb er überaus herzlich und erstaunt zurück, bekundete nachträglich sein Beileid. Und dann wurden mir die Füße immer schwerer und ich begann zu stolpern.

7

Zum Jahreswechsel 2019/20 mieteten wir – Mann, Kind, Hund und ich – uns in eine Ferienwohnung an der Ostsee ein. Bis kurz vor Weihnachten hatte ich wie selten zuvor durchgearbeitet. Der Akku war leer, und als uns als Silvester-Amüsement eine fette Party bei Freunden, ein stundenlanger Flug nach »Irgendwowodiesonnescheint« oder Nichtstun in unaufgeregter Umgebung zur Wahl standen, nahmen wir dankbar Letzteres: ein Örtchen in der entspannten Pampa der Flensburger Förde. Verwaiste Strandkörbe an winddurchtosten Promenaden, Backsteinhäuschen mit massig Weihnachtsschmuck in den Butzenfenstern und eine Ferienwohnung mit Blick auf den Wald. Pure Entspannung war das Ziel. Mit dem donnernden Aufmarsch der »Dementoren« rechnete ich in keiner Weise.

 

Für den Silvesterabend hatten wir Sekt und Zutaten für einen roten Heringssalat gekauft, das Sofa zur Lümmelwiese (noch so eine Lieblingsvokabel meines Vaters) ausgeklappt, den Fernseher vors Sofa gerückt und wie in alten Zeiten die Highlights des Fernsehprogramms mit Textmarkern umkreist – »Dinner for one« inklusive. Alle freuten sich auf einen schönen Abend – und ich war freudlos. Ich wollte mich freuen, denn hey: Es war Silvester und die Tröten lagen bereit. Aber da war kein Gefühl, das zum Setting passte. Wir saßen in dieser heimeligen Ferienwohnung – ich, mit meiner gesunden Familie, ich, mit meinem tollen Job, der genug Geld für Weihnachtsgeschenke und diesen einwöchigen Ausflug in die Kasse gespült hatte, ich, der es verdammt gut ging und die sich verdammt schlecht fühlte. Bzw. überhaupt nur noch schlecht fühlen konnte in letzter Zeit. In mir war alles seltsam wattig, Gefühle waren auf ein Minimum heruntergedimmt – der einzige Regler, der auf meinem emotionalen Schaltpult ganz oben stand, war der mit dem Schuldgefühl. Klar, mein Vater war tot, aber das war ja nun schon ein paar Monate her. Der Tod meines Bruders noch viel länger. Und der Kleine von gegenüber war immerhin nicht mein Kleiner gewesen. Meine Kleine tobte durch die Bude, und ich konnte mich nicht darüber freuen.

Ich undankbares Stück.

 

Ich stand still in der Küche und schnibbelte die Zutaten für den Salat. Früher, in meinem ersten Zuhause, hatte das immer mein Vater gemacht. Ich schnibbelte und dachte: Achtung: Erinnerungen! Jetzt werde ich richtig traurig. Aber das wurde ich nicht. Auf die Watte war Verlass. Allerdings steckte sie mir auch in den Ohren, was unangenehm war.

 

Im Hintergrund wurde auf der Lümmelwiese getobt und gejauchzt. Der Fernseher lief bereits, und meine Tochter kündigte an, sie wolle nun bitte gleich »Uno« spielen. Und da regte sich ein weiteres Gefühl neben der Schuld und der Scham: Panik. Was ich maximal albern fand. Und doch: Die Ankündigung, dass ich gleich mitmachen sollte, bei der Party à trois, empfand ich als Bedrohung. Ich suchte einen dezenten Ausweg. Setzte ein Lächeln auf und sagte: »Och, spielt ihr mal ruhig allein – ich mach’ später mit, jetzt gerade rühre ich noch den Salat.« Und meine Tochter nörgelte: »Nee, komm Mama, ist doch egal …« Und auch mein Mann setzte nach: »Ja, lass mal das Zeug stehen – komm einfach rüber …«

 

Hey: Partyspaß! Und in meinem Hals machte sich ein Kloß breit, als hätte ich eine der bunten Tröten verschluckt, die schon auf dem Esstisch bereitlagen. Ehe ich es mich versah, sagte ich unverhältnismäßig scharf: »Ich will jetzt nicht!« Und rührte hektisch im Salat.

 

Da kam die Tochter und legte mir die Hand auf den Arm. Bevor sie auch nur »Pieps« sagen konnte, schüttelte ich sie ab, sagte viel zu barsch »Jetzt lass mal« und rauschte ins Schlafzimmer. Ich knallte die Tür zu, doch der Mann kam hinterher, riss sie wieder auf und sagte: »Sag mal, geht’s noch?«

 

Nein. Augenscheinlich nicht. Schon wieder nicht. Denn diese heftigen Reaktionen auf Nichtigkeiten, die häuften sich in letzter Zeit. Ich fand das doof, hatte mich aber null im Griff. Sowenig Gefühl ich auch über weite Strecken meines Alltags empfand – komplette Nulllinie –, so massiv waren die plötzlichen Ausschläge der Wut auf der Richterskala. Explosionsartig.

 

»Mach die Tür zu, ich gehe nicht ohne Grund in ein anderes Zimmer – macht euren Kram alleine …«, schnauzte ich vom Bett aus. Mann und Kind standen nun beide im Türrahmen, Fragezeichen in den Gesichtern, kamen meinem Wunsch aber nach. »Was hat die Mama?«, hörte ich die Tochter durch die Tür gedämpft fragen. Und der Mann antwortete: »Die Mama hat ein Problem, lass sie mal in Ruhe.«

 

Ich hatte ein Problem – wohl wahr. Eins, das ich nicht greifen, nicht erklären, nicht in Worte fassen konnte. Ich fing an, ein bisschen ins Kissen zu weinen.

 

Als es draußen vor dem Fenster schon dunkel war, klopfte meine Tochter an die Tür. Ich musste eingeschlafen sein. »Mama? Wollen wir ein bisschen Harry Potter lesen?«, fragte sie. Seit einem halben Jahr lasen wir die Zauberer-Geschichten zusammen. »Papa ist mit dem Hund draußen und in zwei Stunden wird ja schon geböllert.« Ich, peinlich berührt, weil ich den Silvesterabend fast verpennt hätte, rief: »Klar, komm rein, machen wir!« Und sie kam, kletterte ins Bett, und wir kuschelten uns unter die Decke für ein paar Seiten Harry. Ich griff zum Buch auf dem Nachttisch: Band III, »Harry Potter und der Gefangene von Askaban«.

 

Und während die Watte in den Ohren raschelte, las ich vor:

»Am Eingang, erhellt von den flackernden Flammen in Lupins Hand, stand eine vermummte Gestalt, die bis zur Decke ragte. Das Gesicht war unter einer Kapuze vollständig verborgen. (…) Dann holte das Kapuzenwesen, was immer es war, lange und tief rasselnd Atem, als ob es versuchte, mehr als nur Luft aus seiner Umgebung zu saugen. Eine bittere Kälte legte sich über sie. Harry spürte seinen Atem in der Brust stocken. Die Kälte drang ihm unter die Haut. Sie drang in seine Brust, ins Innere seines Herzens … Harrys Augäpfel drehten sich nach innen. Er konnte nichts mehr sehen. Die Kälte ertränkte ihn. In seinen Ohren rauschte es, wie von Wasser. Etwas zog ihn in die Tiefe, das Rauschen wurde lauter … und dann, aus weiter Ferne, hörte er Schreie, schreckliche, grauenerfüllte, flehende Schreie – er wollte helfen, wer auch immer es war, er versuchte die Arme zu bewegen, doch er konnte nicht – ein dichter weißer Nebel wirbelte um ihn auf, drang in sein Inneres – …«[9]

Meine Tochter klammerte sich an mich, draußen im Dunkeln rüttelte der Wind an den Bäumen, und ich fühlte mich gesehen – zum ersten Mal seit Wochen. Ich stockte und starrte auf die Zeilen, die ich gerade vorgelesen hatte. Diese Kälte, das Nichts-mehr-sehen-Können, die Tiefe, das Ohrenrauschen, das Gelähmtsein und der Nebel – das kannte ich alles. Genauso hatte ich mich in den letzten Monaten immer wieder gefühlt – und auch gerade erst vorhin wieder. »Ist was?«, fragte meine Tochter, und mir wurde bewusst, dass ich eine überlange Pause eingelegt hatte. Ich las also weiter. Und in der Ecke des Zimmers stand, ganz deutlich, ein Dementor. Die knorrige Hand nach mir ausgestreckt.

 

Später, nachdem ich das Silvesterabend-Programm ohne weitere Ausfälle absolviert hatte (essen, fernsehen, böllern, anstoßen, aufstoßen, ins Bett gehen), googelte ich unter der Bettdecke: »J. K. Rowling und Dementoren«. Und Google erklärte mir, dass die Autorin in der Figur der Dementoren ihre langjährige Krankheit beschrieben und verarbeitet habe: ihre Depression.

 

Den Rest der Ostseeferien verbrachte ich dick eingemummelt in Strandkörben – außen kalt und innen kalt. Ich googelte »Trauer«, »Mentale Erkrankungen« und auch »Burn-out«, weil ich mich an Nora Tschirners Ausführungen erinnerte. Nebenbei ploppten Nachrichten auf, dass ein neuartiges Virus in China für Aufregung sorgte – ich klickte sie weg und recherchierte weiter. Nach außen hatte ich mich wieder »im Griff«, doch in mir schwelte die Erkenntnis: Da ist etwas, das ich nicht unter Kontrolle habe. Wobei und woraus ich mir selbst nicht helfen kann. Dementoren-Alarm. An das andere Wort mit »D« traute ich mich noch nicht ran.

8

»Du hast einfach zu viel gearbeitet, ist doch logisch, dass du jetzt k.o. bist. Und ganz sicher hast du den Tod deines Vaters noch nicht wirklich verwunden …« So lautete im Januar 2020 die Einschätzung etlicher Freund*innen zu meinem desolaten Zustand. Zu viel gearbeitet, zu wenig verarbeitet. Konnte sein. Es war ja ein bekanntes Muster. Nach Schicksalsschlägen stürzen sich viele Menschen in die Arbeit, um nicht fühlen zu müssen. Und weil es so viele machen, fällt es nicht weiter auf. Thema abgehakt. »Wird schon wieder.« Schultertätscheln.

Aber wann denn, bitte?!

 

Mir kam die Idee, einen Fachmann zu fragen. Den einzigen, den ich kannte und von dem ich ad hoc die Nummer hatte: Dr. Bert te Wildt, seines Zeichens Psychiater, Fachmann zum Thema Internetsucht, über die er gerade erst als Studiogast in aspekte gesprochen hatte. Ich hatte ihn Jahre zuvor im Dunstkreis meines Cousins kennengelernt. Dann hatte er mir unverhofft in der Sendung gegenübergesessen und mir später erzählt, dass er nun die Leitung einer neuen psychosomatischen Klinik am Ammersee übernehmen würde. Eine Klinik, in der unter anderem auch Burn-out behandelt würde. Wir hatten Nummern getauscht. Seine kramte ich nun raus und rief ihn an. Klopfenden Herzens. Ich war mir nicht sicher, ob dieser Anruf hier überhaupt Sinn hatte. Er hob ab, ich floskelte höflich vor mich hin, dann ging’s ans Eingemachte, und ich kam ins Erzählen.

 

Sagte ihm, dass ich mich irgendwie neben der Spur fühlte. Berichtete ihm von all der Arbeit und all dem Tod. Und musste plötzlich heulen. Ich schreibe »heulen«, obwohl ich mittlerweile nur noch »weinen« sage. Der Begriff »Heulen« nimmt Kummer nicht ernst genug. Und inkludiert Scham. Mir war es damals wirklich sehr peinlich, zu weinen. Te Wildt hörte lange still zu und sagte dann – mit Verweis auf die Unmöglichkeit einer Ferndiagnose –, dass ich mich durchaus so anhören würde wie viele seiner Klinikpatient*innen: ausgebrannt, erschöpft und ja, mindestens depressiv verstimmt. Ob ich denn in Therapie sei, fragte er, und ich verneinte. Er empfahl mir, vor Ort jemanden zu suchen, der mich diagnostizieren konnte. Und stellte mir einen stationären Platz in der Klinik in Aussicht, falls ich tiefer schürfen wollen würde. Da die Klinik gerade erst eröffnet hatte, war das sozusagen perfektes Timing, denn bislang hatten sich kaum Patient*innen angemeldet – und die Klinik war und ist sogar für Kassenpatient*innen, wie ich es bin, nutzbar.

 

Ich wurde bei der Therapeutin einer Freundin in einem »Notfalltermin« vorstellig, einen regelmäßigen Termin konnte mir Frau L. aufgrund fehlender Kapazitäten nicht anbieten, aber auch sie erlebte mich derart derangiert, dass sie mir einen Platz auf der Warteliste zuwies und sich für einen stationären Aufenthalt in einer Klinik aussprach. Ebenso wie meine Hausärztin verbuchte sie eine Diagnose in meiner Krankenakte nach Vorgaben des ICD-10. ICD ist das englische Akronym für »Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme«, ein von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenes Verzeichnis für anerkannte Krankheiten, das weltweit Verwendung findet. In Deutschland sind Kassenärzt*innen gesetzlich dazu verpflichtet, ihre Diagnosen nach ICD-10 (mittlerweile – Stand 2022 – ICD-11) zu verschlüsseln. Mir schrieb die Therapeutin eine F43 und F32.1. in die Akte. Hiermit entschlüsselt: eine posttraumatische Belastungsstörung und eine mittelgradige depressive Episode.

 

Ich rief also wieder bei Bert te Wildt an und bekam kurze Zeit später die Zusage: Ich könnte direkt Ende Januar an den Ammersee kommen. Ich winkte ab. Es war schließlich eine Sendung zu produzieren, die Berlinale stand an, da konnte ich ja nicht einfach fehlen – und als ginge es um einen Urlaub, den ich buchen wollte, fragte ich, wie es denn in den Osterferien aussähe. Am anderen Ende der Leitung war es kurz still, dann erinnerte mich te Wildt daran, dass es mir ja JETZT schlecht gehe. Doch ich sagte, genau JETZT könne ich mir unmöglich frei nehmen – da müsste ich dann eben noch ein bisschen durchhalten. Wir einigten uns auf eine stationäre Aufnahme Ende März 2020, und der Arzt und Psychotherapeut ließ den Satz nachhallen: »Manchmal hilft ja auch der Ausblick auf Hilfe …«

 

Ich meldete bei meinem Arbeitgeber an, dass ich nach den ohnehin zwei freien Osterwochen zwei weitere Wochen fehlen würde. Als Grund bemühte ich die PTBS, die ich dringend bearbeiten müsse. Ich stieß auf viel Verständnis und war erleichtert. Das Wort mit »D« sprach ich nicht aus. Zeugin bei einem Unfall mit Todesfolge zu sein, das war etwas, in das sich jeder einfühlen konnte, etwas, das in seiner Monstrosität für jeden nachvollziehbar war. Die »D« wiederum war noch nicht mal für mich, die sie angeblich hatte, nachvollziehbar. Und irgendwie dachte ich auch: Da stelle ich mich nun aber ganz schön an. Und forderte von mir selbst: Nun mach mal nicht so ein Theater …

 

Ich verkniff mir also das andere Gesicht. Und zeigte das, was jeder von mir kannte (sehr enge Freund*innen ausgenommen).

Sich zu verstecken, funktioniert gerade im Februar in meiner Wahlheimat Köln bestens. Maske auf, im wahrsten Sinne des Wortes. So zog ich von einer Karnevalssause zur nächsten – und später mit dunklem Gefühl zurück nach Hause und ins Bett. Noch so viel Konfetti konnte die Welt nicht bunt färben.