Das andere Kind in der Schule - Gee Vero - E-Book

Das andere Kind in der Schule E-Book

Gee Vero

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Beschreibung

Gee Vero zeigt in diesem authentischen Mutmach-Buch, wie eine erfolgreiche Beschulung autistischer Kinder gelingen kann. Sie berichtet von ihrer eigenen Schulzeit als Asperger-Autistin sowie auch aus dem Schulalltag ihres Sohnes, der mit seinem frühkindlichen Autismus eine Schule für geistige Entwicklung besucht. Die Andersartigkeit autistischer Kinder in sozialer Interaktion und Kommunikation wird erklärt, Strategien zur Bewältigung des Schulalltages mit autistischen Kindern werden erläutert und realisierbare Wege zur inklusiven Schule aufgezeigt. Die Autorin stellt zahlreiche Checklisten und Anregungen zur Verfügung und erklärt sich, ihren Autismus und den Autismus ihres Sohnes mit großer Offenheit. Das Buch hilft sowohl Lehrkräften als auch all jenen, die autistischen Kindern im Kontext Schule begegnen, sich besser in das "andere Kind" in der Klasse hineinzuversetzen.

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Die Autorin

Gee Vero, geboren am 28.07.1971 in Grimma, studierte nach dem Abitur Anglistik in Leipzig und hat mehrere Jahre in London gelebt. Sie ist freischaffende Künstlerin und seit 2013 auch als Autorin und Referentin tätig. Sie betreibt u. a. das Kunstprojekt »The Art of Inclusion«. Die Diagnose Asperger-Autismus erhielt sie im Jahr 2009. Bei ihrem Sohn Elijah wurde im Alter von 3 Jahren frühkindlicher Autismus diagnostiziert. Gee Vero lebt mit ihrem Mann und den drei Kindern in der Nähe von Leipzig.

Gee Vero

Das andere Kind in der Schule

Autismus im Klassenzimmer

Verlag W. Kohlhammer

 

 

gewidmet

meiner Mutter Veronika Helmholz 1943–2019

die von 1961 bis 2001 mit Leib und Seele Lehrerin war und nie etwas anderes sein wollte

und die mir vor 40 Jahren meine erste Schreibmaschine geschenkt hat

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

 

 

1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034701-4

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-034702-1

epub:    ISBN 978-3-17-034703-8

mobi:    ISBN 978-3-17-034704-5

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Geleitwort

 

 

 

Als ich 2011 zum ersten Mal einen Vortrag von Gee Vero zu ihrer »anderen Wahrnehmung« hörte, war ich beeindruckt von Art und Intensität des Beitrages.

Seitdem habe ich Frau Vero in vielen Veranstaltungen und Weiterbildungen zum Thema Autismus erleben dürfen.

Nach einem der ersten gemeinsam organisierten Vorträge kam eine Mutter auf mich zu und sagte, sie hätte heute dank Frau Vero endlich ihre Tochter »verstanden«. Ich denke, ein größeres Kompliment kann man einer Referentin kaum machen. Von ähnlichen Momenten der Erkenntnis berichteten mir später viele Lehrerinnen und Lehrern der unterschiedlichsten Schularten.

Als Gee Vero mir erzählte, dass sie ein Buch für Pädagogen zum Thema Autismus und Schule schreiben wolle, war ich daher sofort begeistert.

Das vorliegende Buch ist etwas Besonderes, weil es aus mehreren Blickwinkeln heraus entstanden ist und unmittelbar auf direkter eigener Erfahrung fußt.

Besonders ist es zum einen, weil es aus der Perspektive von Gee Vero als einer Frau mit Asperger-Syndrom, geschrieben ist, die eigene Erfahrungen im Alltag und in ihrer Schullaufbahn gemacht hat. Zum anderen ist es von Gee Vero als Mutter eines Sohnes mit frühkindlichem Autismus verfasst. Dieser doppelte Zugang wird zudem noch bereichert durch die intensive Beschäftigung Gee Veros mit dem Thema Autismus, ihre Referententätigkeit und ihre vielen fachlichen Kontakte.

Im deutschsprachigen Raum scheint mir diese Annäherung an das Thema Autismus und Schule einzigartig.

Gee Vero stellt in diesem Ratgeber Erklärungen, eigene Beispiele, Tipps und Strategien für Pädagogen plastisch und mehrdimensional dar. Am wichtigsten scheint mir dabei das Verständnis für die »andere Wahrnehmung« und die daraus resultierende Haltung gegenüber Schülerinnen und Schülern im Autismus-Spektrum zu sein. Daraus ergeben sich die vielfältigen in diesem Ratgeber aufgezeigten Methoden und Handlungsanleitungen auf den verschiedenen Ebenen der Schulstruktur (fast) von selbst.

Möge dieses Buch möglichst vielen Lehrerinnen und Lehrern in die Hände fallen, die Schülerinnen und Schüler im Autismus-Spektrum unterrichten oder in ihre Klasse aufnehmen werden!

oder:

Ich wünsche Ihnen allen, die Schüler und Schülerinnen im Autismus-Spektrum unterrichten oder in eine Klasse aufnehmen werden, ein konstruktives Arbeiten mit diesem Buch.

Dr. phil. Philipp Knorr

Autismuszentrum Oberlausitz

Referent Autismus im Verband Sonderpädagogik (vds)-Landesverband Sachsen e. V.

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Geleitwort

Vorwort(e)

Anmerkungen zur Sprache im Buch

1 Was ist eigentlich Autismus?

2 Die Diagnose

3 Die Wahrnehmung

4 Die Sinneswahrnehmungen

5 Die Reizverarbeitung

6 Das Verhalten

7 Die Amygdala

8 Die soziale Interaktion

9 Autistische Besonderheiten

10 Meine wichtigsten Kompensationsstrategien

11 Die Kommunikation

12 Wenn der neue Schüler anders ist…

13 Die Eltern des Schülers

14 Der Nachteilsausgleich

15 Der Schulbegleiter

16 Andere Hilfsmittel

17 Die Kollegen

18 Die Mitschüler

19 Die Eltern der Mitschüler

20 Die Schule

21 Die Klasse

22 Der Unterricht

23 Die Pausen

24 Das Schulessen

25 Rückzugsorte

26 Schulfeste, Schulausflüge und Klassenfahrten

27 Auf die Schnelle: (m)ein ABC der Strategien und Hilfsmittel

28 Autismus im Lehrerzimmer

29 Zu guter Letzt – Entspannungsübungen und Strategien für Ihren Schulalltag

Schlusswort(e)

Vorwort(e)

 

 

 

Lieber Leser,

die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach schrieb einmal, dass nicht was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, unser Schicksal ausmacht. Jeder von uns hat nämlich seine eigene Wahrnehmung. Autismus ist eine Wahrnehmung, die sich enorm von den Wahrnehmungen der Mehrheit der Menschen unterscheidet. Das macht die Beschulung autistischer Kinder ganz und gar nicht einfach. Da sie sehr individuell beschult werden müssen, um lernen zu können, werden alle Beteiligten vor große Herausforderungen gestellt. Unter den momentanen Bedingungen haben es Schulen und Lehrkräfte extrem schwer, dem Anspruch der schulischen und besonders der unterrichtlichen Inklusion auch nur annähernd gerecht zu werden. Es muss sich noch viel verändern, ehe wir das Ziel »Eine Schule für alle« erreichen können.

Bitte sehen Sie mir nach, dass ich beim Schreiben dieses Buches nicht-autistische Schüler nicht in ihrer Vielfalt, sondern eher als eine homogene Gruppe wahrgenommen habe. Da der Fokus dieses Buches auf dem anderen, dem autistischen Schüler liegt, bin ich ganz bewusst nicht auf die individuellen Probleme und Schwierigkeiten eingegangen, die bei nicht-autistischen Kindern bei der Bewältigung des Schulalltags auftreten können. Genau wie jeder autistische Mensch, so ist natürlich auch jeder nicht-autistische Mensch ein einzigartiges Individuum mit ganz eigenen Stärken und auch Schwächen. Da aber wirklich alles, was Sie im Kontext Schule für einen autistischen Schüler anders gestalten und verändern, auch all Ihren nicht-autistischen Schülern zu Gute kommt, ist dieses Buch auch für sie geschrieben. Vielleicht sind gerade autistische Schüler eine Art Katalysator, die den Mechanismus Schule ungewollt so beeinflussen, dass wir begreifen, dass neue, andere Wege gesucht, gefunden und gegangen werden müssen. Wenn das Lernen eines Kindes ein anderes ist, muss es das Lehren auch sein.

Das System Schule muss sich dringend verändern, weil wir uns Inklusion als Ziel gesetzt haben. Dazu benötigen wir eine Schule, die jeden Schüler als Individuum wahrnimmt. Sie muss jeden Schüler so beschulen, dass er lernen kann, und zwar auf seine Art und in seinem Tempo. Wir brauchen eine Schule, die ohne Wenn und Aber Kompetenz annimmt. Eine Schule, die die Potentiale und Stärken ihrer Schüler sieht und fördert und dabei auch jedem bei seinen Defiziten mit Hilfsmitteln und Strategien unterstützend zur Seite steht. Eine Schule, die den Schüler nicht mit anderen, sondern nur mit sich selbst vergleicht. Denn nur so kann jeder echte Erfolgserlebnisse haben und das Lernen jedem Schüler Spaß machen. Inklusion in der Schule ist machbar, auch mit Kindern wie meinem Sohn, dessen frühkindlicher Autismus seine Mitmenschen jeden Tag enorm fordert. Es braucht einen gewaltigen gemeinsamen Einsatz, um eine Schule für alle zu erschaffen. Gemeinsam müssen wir die Veränderung sein, die es braucht, um diese inklusive Schule wahr werden zu lassen. Eine Schule, die sich für autistische Schüler wirklich öffnet, wird nicht nur eine gute Schule für alle sein, sondern die beste Vorbereitung auf ein gutes Mitmenschsein bieten! Jede Schule stellt in meinen Augen eine Mikrogesellschaft dar.

Ich sehe autistische Menschen als eine echte Chance, um unsere Gesellschaft zu verändern, andere Wege gehen und über diese wieder zu einer Menschlichkeit gelangen zu können, die wir verloren zu haben scheinen. Es ist deshalb unerlässlich, dass Autismus nicht mehr als eine Störung oder gar Krankheit gesehen wird. Autistische Menschen sollten als die notwendige Bereicherung für die Gesellschaft gesehen und wahrgenommen werden, die sie sind. Dies zu sehen und zu schätzen vermögen aber nur Menschen, die mit ihrem Selbst in Einklang sind und sich selbst so annehmen können wie sie sind.

Ich finde einfach keine Erklärung dafür, warum es den meisten Menschen so schwerfällt, autistische Menschen in ihrem anderen Sein zu akzeptieren. Bei Körperbehinderungen werden dahingehend große Fortschritte gemacht. Da ist man bereit zur Inklusion und ständig um Barrierefreiheit bemüht. Autistische Menschen werden dabei größtenteils einfach vergessen. Warum? Warum klappt es mit der Bereitstellung einer Rampe, einem Gebärdendolmetscher und Braille schon so viel besser, aber nicht mit Stimming, einem Hilfsmittel autistischer Menschen zur Reizregulierung? Zu einem Rollstuhlfahrer sagt niemand, dass er das Laufen doch nur üben müsse. Das kann doch nicht so schwer sein. Einem Blinden wirft keiner vor, dass er sich nur nicht genug anstrengt, um zu sehen. Und auch einem Gehörlosen wird nicht unterstellt, er wolle nur nicht richtig hinhören. Autistische Menschen erleben genau das immer wieder in ihrem Alltag. Warum gibt es weiterhin Therapien, die autistischen Menschen nicht guttun und die oftmals auch gar keinen Sinn machen? Der Fokus muss in erster Linie darauf liegen, dem autistischen Menschen zu helfen, nicht darauf, dass es der Umgebung besser geht.

Drei Dinge liegen mir deshalb so sehr am Herzen, dass ich sie schon im Vorwort nicht unerwähnt lassen möchte:

1.  Autistisches Verhalten ist richtiges Verhalten auf eine andere Wahrnehmung.

2.  Stimming ist mein Rollstuhl, mein Hörgerät, mein Blindenführhund – bitte nehmen Sie es mir und anderen Autisten nicht einfach weg.

3.  Wenn Sie an den Punkt kommen, wo ein Verstehen Ihrerseits nicht mehr möglich ist, glauben Sie mir und anderen Autisten von genau diesem Punkt an, dass es sich für uns mit unserem Autismus so anfühlt, wie wir es zu erklären versuchen.

Ich bitte Sie, nehmen Sie autistische Menschen so an, wie sie sind und helfen Sie ihnen dabei, ein möglichst selbstbestimmtes, würdevolles und vor allem ein glückliches Leben zu führen.

Gee Vero

im April 2019

Anmerkungen zur Sprache im Buch

 

 

 

Sie haben vielleicht schon beim Vorwort, wo ich Sie ganz einfach mit »Liebe Leser« adressiere, gemerkt, dass ich in meinem Buch keine geschlechtsneutrale Sprache anwende.

Mir fällt es nicht nur sehr schwer, Sprache zu entschlüsseln und zu verstehen, sondern ich habe auch große Schwierigkeiten damit, mich in verbaler Sprache so auszudrücken, dass mein Gegenüber mich verstehen kann. Bei einem Buch muss ich besonders aufpassen, dass ich meinen Leser gut erreiche, denn anders als im persönlichen Gespräch fehlen hier Mimik und Gestik und auch die Intonation, die enorm wichtig beim Sprachverständnis sind.

Für mich als autistischen Menschen mit Problemen beim Sprachverständnis stellen Sternchen, Unter- oder Schrägstriche und auch die Und-Version zusätzliche Barrieren dar. Mir erschweren solche Eingriffe in die Sprache das Verständnis und den Gebrauch verbaler Sprache wirklich erheblich. Hier stoßen wir vielleicht an eine der Grenzen der Inklusion. Was für den einen ein Hilfsmittel und deshalb wichtig ist, kann für einen anderen eine Barriere sein. Sowohl bei der Einfachen als auch bei der Leichten Sprache, bei der die Priorität auf Lesbarkeit und Verständlichkeit liegt, muss auf jede Form von Komplexität verzichtet werden.

Aus diesen Gründen bitte ich all diejenigen von Ihnen um Verständnis, für die geschlechtsneutrale Sprache ganz wichtig ist. Meiner Meinung nach führt »Gendern« in der Sprache allein nicht zu einer auch von mir gewünschten Gleichstellung von Frauen und Männern im Alltag und der Gesellschaft. Es geht doch vielmehr darum, diese Akzeptanz zu leben und nicht nur so zu schreiben und zu sprechen. Ich kann Ihnen versichern, dass ich in der Begegnung mit einem Menschen immer zuerst und hauptsächlich das Selbst meines Gegenübers wahrnehme. Ich sehe kein Geschlecht, auch kein Alter oder die Hautfarbe, sondern ich sehe den Menschen und bin neugierig auf ihn.

1          Was ist eigentlich Autismus?

 

 

 

Ich möchte von Anfang an ehrlich mit Ihnen sein. Ich weiß nichts über Autismus. Ich habe absolut keine Ahnung, was Autismus wirklich ist. Den einen Autismus gibt es nämlich gar nicht, vielmehr gibt es ca. 69 Millionen Autismen auf der Welt. Ich bin aber der Experte für meinen Autismus und ich weiß eine ganze Menge über den frühkindlichen Autismus meines Sohnes Elijah.

Ganz kurz gesagt, für mich ist (mein) Autismus

1.  (m)eine andere Wahrnehmung,

2.  (m)ein extremes Mensch-Sein,

3.  (m)ein Selbst ohne Ich-Maske,

4.  nur an meinem Verhalten erkennbar,

5.  (m)eine andere Art zu sein,

6.  (m)ein Potential.

Meiner Meinung nach ist (mein) Autismus

1.  nicht falsch,

2.  keine Krankheit,

3.  keine Störung,

4.  kein Spektrum für sich.

Autismus ist zutiefst menschlich. Ich denke deshalb, dass Autismus in jedem von uns steckt. Autismus führt oft zu einer anderen Art der sozialen Interaktion und Kommunikation, die von der Umgebung als interessant oder herausfordernd bis hin zu sozial inakzeptabel wahrgenommen wird. Dieses andere Verhalten ist aber nicht der Autismus, sondern eine Reaktion auf diesen. Wir reagieren alle immer nur auf unsere Wahrnehmung und jeder von uns hat seine eigene Wahrnehmung. Aufgrund dieses individuellen Erlebens ein- und derselben Welt sind wir alle anders. Das haben wir gemeinsam. Wenn wir alle anders sind, dann ist Anderssein die Norm. Autismus ist somit keinesfalls eine Störung, sondern eine höchst interessante, und ja, oft auch sehr herausfordernde Variante der Norm. Wichtig ist, dass Sie über ein Autismus-Grundwissen verfügen, um Ihren autistischen Schüler verstehen, annehmen und letztlich beschulen zu können. Darum soll es im ersten Teil meines Buches gehen. Ich möchte Ihnen in den folgenden Kapiteln anhand der neuronalen Abläufe im Gehirn aufzeigen, warum autistisches Verhalten, egal wie es Ihnen erscheinen mag, richtiges Verhalten auf eine extrem andere Wahrnehmung ist. Um Autismus zu verstehen, müssen wir einen Blick ins Gehirn werfen, denn Wahrnehmung entsteht genau dort. Es gibt viele Autismus-Experten, die viel mehr über die neurologischen Vorgänge in autistischen Gehirnen wissen als ich und die diese dazu noch ausgezeichnet erklären können. Dennoch wird keiner von ihnen je wissen, wie es für mich ist autistisch zu sein. Wir müssten unsere Gehirne mit einer Art neuronalem Kabel verbinden können. Vielleicht würde dies den gewünschten Aha-Effekt erzielen. Erst dann wüssten Sie, wie es sich für mich anfühlt, Gee Vero zu sein. Ich kann nur immer wieder den Versuch unternehmen zu erklären, wie es für mich ist, mit meinem Autismus zu leben. Mir scheint, dass sich die Wahrnehmungen und folglich das Verhalten nicht-autistischer Menschen sehr ähnlich sind, sodass es möglich ist, dass sie von sich selbst auf andere schließen können. Das gibt nicht-autistischen Menschen eine enorme Sicherheit in der sozialen Interaktion, die autistischen Menschen einfach fehlt. Bei Autismus gilt vor allem eines: »Kennen Sie einen Autisten, dann kennen Sie nur den einen Autisten.« (Dr. Stephen Mark Shore). Die Frage »Was ist Autismus?« ist also aus diesen Gründen so nicht zu beantworten.

Die meisten Probleme autistischer Menschen im Umgang mit anderen Menschen entstehen aufgrund ihrer anderen Wahrnehmung, sowohl des eigenen Selbst als auch der Umgebung. Das daraus folgende andere Verhalten wird von der Gesellschaft als unerwartet, sozial inadäquat und inakzeptabel empfunden. Hinzu kommen Reizüberflutungen und eine ganz andere Art der Kommunikation. Unzureichendes Verständnis und fehlende Akzeptanz machen eine positive Begegnung dann fast unmöglich. Ich persönlich finde den Begriff »Autismus-Spektrum-Störung« nicht wirklich hilfreich, sondern eher ausgrenzend. Trotz aller Unterschiede müssen wir uns unserer Gemeinsamkeiten bewusst sein und Brücken bauen anstatt Gräben unüberwindbar zu machen. Es gibt nämlich nur ein Spektrum. Das ist das Spektrum Mensch, auf dem wir uns alle befinden, und das in seiner Vielfalt unendlich scheint. Jedes der Kinder, die täglich vor Ihnen sitzen, ist einzigartig. Ein autistisches Kind zeigt dies nur deutlicher, unter anderem weil sein Gehirn nicht gut einschätzen kann, was im nächsten Moment passieren wird. Zu viele Reize werden bewusst wahrgenommen. Viele Strategien, besonders in der sozialen Interaktion und in der Kommunikation, fehlen.

Das autistische Kind in Ihrer Klasse ist wirklich anders, aber eben nicht falsch oder weniger normal. Ich war dieses andere Kind in meiner Klasse. Ich hatte aber den enormen Vorteil, dass ich mit der gleichen Gruppe Kinder von Kindergarten bis zur 10. Klasse zusammen war. Diese Gruppe war mein Anker und mit dem Halt, den sie mir gab, konnte auch ich gedeihen. Besonders die sehr strengen Regeln und Rituale der Schule in der DDR, auf deren Einhaltung sehr geachtet wurde, kamen mir dabei entgegen. Sie vermittelten gerade genug Sicherheit, um im Schulalltag Stand zu halten. Nach Abschluss der 10. Klasse ging ich mit einer kleineren Gruppe Mitschüler zum Abitur. In diesen zwei Oberstufenjahren kam es zu großen Veränderungen im Land und in der Schule. Ich machte ein sehr gutes Abitur, aber fiel dann erst einmal durchs Raster, denn ich hatte nun keine Gruppe mehr. Da ich meine Diagnose sehr spät, im Alter von 37 Jahren, bekommen würde, lagen noch einige Jahre der Verzweiflung, des Irrens und der Suche vor mir. Die heutigen Hilfsmittel, wie Nachteilsausgleich, Schul- und Studienbegleitung, gab es damals noch gar nicht. Dennoch haben sehr viele meiner Lehrer instinktiv gut und richtig gehandelt. Dies zeigt, dass Sie kein Autismus-Experte sein müssen, um auch für das »andere« Kind in Ihrer Klasse ein guter Lehrer zu sein. Ich versichere Ihnen, so lange Sie bereit sind, sich der Herausforderung des Lehrer- und Mitmensch-Seins für autistische Schüler zu stellen, werden Sie Ihre Sache sehr gut machen. Helen Keller, eine taubblinde amerikanische Schriftstellerin, hat einmal gesagt: »Das Leben ist entweder ein Abenteuer oder gar nichts.« Einen autistischen Schüler zu haben, wird definitiv ein Abenteuer werden. Aber Sie sind ja nicht Lehrer geworden, um gar nichts zu erleben, oder?

2          Die Diagnose

 

 

 

Die Grundprobleme bei Autismus sind immer gleich, aber dennoch gibt es verschiedene Autismus-Diagnosen. Eine richtige Diagnose ist wichtig, damit autistische Menschen in ihrem Anderssein verstanden und akzeptiert werden und sie die Hilfen bekommen, die sie benötigen. Eine falsche Diagnose kann sowohl für den Menschen selbst als auch für seine Umgebung und letztendlich für die Autismus-Aufklärungsbewegung verheerend sein. In Deutschland gibt es nur wenige Diagnostik-Experten, sodass einige Autismus-Diagnosen durchaus berechtigte Zweifel hervorrufen können. Es gibt auch immer mehr Erwachsene, die sich im Internet selbst diagnostizieren und sich dann als Autisten bezeichnen.

Asperger-Syndrom

Das Asperger-Syndrom wird noch immer als milde Form des Autismus bezeichnet, obwohl es dies ganz und gar nicht ist. Vielleicht hängt das auch mit der zunehmenden Selbstdiagnostik vieler nicht-autistischer Menschen zusammen. Vor allem aber entsteht der Eindruck von einer leichten Form von Autismus deshalb, weil viele Asperger-Autisten ihren Autismus mild oder leicht aussehen lassen können. Das kostet viel Energie und Kraft, aber braucht vor allem viele gut funktionierende Kompensationsstrategien. Es ist ein Versuch der Anpassung an die Gesellschaft, der auch mir oftmals sehr gut gelingt. Ein großes Problem dabei ist, dass dann nur meine Potentiale gesehen oder vermutet werden, aber nicht die aufgrund meines Autismus dennoch ausreichend vorhandenen Grundproblematiken. Viele autistische Menschen werden nicht ernst genommen und hören ständig Sätze wie »Gestern ging es doch auch.« und »Das ist doch keine Hürde.« Das ging auch mir so. Hilfsangebote bleiben oft aus und die Lebens- und auch die Schulsituationen verschlimmern sich. Mein Anderssein aufgrund meines Autismus zeigt sich hauptsächlich in der sozialen Interaktion und in der Kommunikation. Bei mir war, wie beim Asperger-Syndrom als typisch wahrgenommen, von Anfang an Sprache vorhanden, aber dies bedeutet nicht unbedingt, dass mein Sprachverständnis genauso gut entwickelt ist. Sie bemerken es vielleicht nicht sofort, weil ich gute Kompensationsstrategien entwickeln konnte, die ein Auffallen verhindern und mir so eine Zeit lang Teilhabe erlauben.

Frühkindlicher Autismus

Bei Menschen mit frühkindlichem Autismus, wie meinem Sohn, wird fast immer angenommen, sie seien geistig behindert. Es wird nur das Äußere beurteilt, weil es gesehen und erlebt werden kann. Viele frühkindliche Autisten sind nonverbal, können aber durchaus auf andere Art (Sprachcomputer, Bildkarten, Zeigen) effektiv kommunizieren und zudem ein gutes Sprachverständnis entwickeln. Da sie gesprochene Sprache nicht als Werkzeug in der Kommunikation nutzen können und Schwierigkeiten haben, das was sie denken und im Inneren empfinden nach außen zu transportieren, schaffen sie es nicht ausreichend oder manchmal auch gar nicht ihre Potentiale zu zeigen. Das führt immer noch dazu, dass oftmals leider nur die Defizite wahrgenommen werden. Dies ist traurig, denn auch aus diesem Grund ziehen sich viele autistische Menschen oft noch mehr zurück. Stellen Sie sich vor, Sie hätten keine Möglichkeit mehr Ihren Mitmenschen Ihre Gedanken, Ihr Wissen, Ihre Bedürfnisse und Ihre Gefühle adäquat zu kommunizieren. Sie würden die Regeln Ihrer Umgebung nicht verstehen und wären ständig einer Reizüberflutung ausgesetzt. Sie wären sich Ihrer Selbst immer zu sehr bewusst. Sie wüssten nicht, was als Nächstes kommt und fast alles erscheint Ihnen neu und macht Ihnen Angst. Ihre Umgebung sähe Sie als geistig behindert und würde Sie auch so behandeln. Sie könnten nichts dagegen tun. Wie würde es Ihnen damit gehen? Was würden Sie machen? Bitte schließen Sie nie von dem, was Sie bei einem Menschen sehen und erleben auf sein Innerstes. Nehmen Sie Kompetenz an und akzeptieren Sie die andere Art des Seins jedes Menschen.

Hochfunktionaler Autismus

Bei hochfunktionalem Autismus besteht Unsicherheit darin, ob er eine Form des Asperger-Syndroms ist oder ob er eventuell separat davon zu sehen ist. Im Erwachsenenalter ist eine Unterscheidung nur schwer festzustellen. Ein Merkmal für hochfunktionalen Autismus ist die deutlich verzögerte Sprachentwicklung, die beim Asperger-Syndrom, abgesehen vom sozialen Aspekt der Sprachanwendung, normal verläuft.

Atypischer Autismus

Beim atypischen Autismus zeigt ein Kind erst nach dem dritten Lebensjahr Verhalten, das eine Reaktion auf den Autismus ist. Außerdem sind nicht alle Merkmale von Autismus vorhanden. Die vorhandenen Merkmale können von leicht bis extrem ausgeprägt sein.

Zusatzdiagnosen

Bei Autismus können unter anderem zusätzlich Tourette-Syndrom, Fragiles X-Syndrom, Epilepsie, ADHS und ADS auftreten. Auch Zwangs- und Angststörungen und Dyspraxie, Legasthenie, Dyslexie und Lernbehinderungen sind möglich. Häufig gibt es unter autistischen Menschen auch ein erheblich anderes Schlafverhalten und es kann zu Depressionen kommen. Auffälligkeiten bei der Sensorischen Integration sind aufgrund der anderen Reizverarbeitung auch keine Seltenheit.

PS: Autismus ist keine Krankheit, aber Autisten können auch krank werden…Schnupfen, Husten, Heiserkeit kennen sie genauso wie Übelkeit, Knochenbrüche und alle anderen Gebrechen und Beschwerden.

3          Die Wahrnehmung

 

 

 

Wahrnehmung ist der Vorgang, bei dem in unseren Gehirnen durch das Aufnehmen, Filtern und Verarbeiten äußerer und innerer Reize eine Art Modell der Welt entsteht. Jeder von uns hat seine eigene Wahrnehmung von sich selbst, von Anderen und von seiner Umgebung. Ich denke, es muss uns wieder bewusster werden, dass Wahrnehmung immer subjektiv ist. Weil sich unsere Wahrnehmung immer von der Wahrnehmung Anderer unterscheidet, macht sie uns zu Individuen. Meine Wahrnehmung ist die einzige Realität, die ich kenne und auf die ich letztendlich mit Verhalten reagieren kann. Meine, von der Gesellschaft als autistisch bezeichnete, Wahrnehmung ist extrem anders. Sie ist spezifisch für mich so wie Ihre Wahrnehmung spezifisch für Sie ist.

Schauen Sie sich die Menschen an, mit denen Sie leben und arbeiten. Sie können die unterschiedlichen Wahrnehmungen nämlich sehen oder riechen: Kleidung, Frisur, Schmuck, Parfüm, Partner usw. Kein Mensch (nicht einmal eineiige Zwillinge) sieht so aus wie der Andere. Und auch bei Zwillingen hat jeder seine eigene Wahrnehmung. Selbst wenn es uns schwerfällt, ein Ei vom Anderen zu unterscheiden, so stimmt das Sprichwort doch. Es ist wirklich so, dass kein Ei dem anderen gleicht. Wir können auf dieser Welt vieles miteinander teilen, nur eben unsere Wahrnehmung nicht. Keiner von uns kann einem Anderen die eigene Wahrnehmung verbal ausreichend erklären. Niemand kann wissen, wie die Wahrnehmung eines anderen Menschen ist, wie es sich wirklich anfühlt, dieser Mensch zu sein und als dieser Mensch die Umwelt und andere Menschen zu erleben. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Sie werden nie wissen können, wie es für einen anderen Menschen ist, die Farbe Rot zu sehen, oder wie es sich für ihn anfühlt, in eine Zitrone zu beißen. Ganz egal wie viel Sie jemals über das Gehirn wissen werden, die Erlebnisperspektive eines anderen Menschen wird Ihnen immer verschlossen bleiben. Sie können vermuten oder versuchen zu erahnen, aber wirklich kennen werden Sie am Ende immer nur Ihre eigene Wahrnehmung. Natürlich müssen wir weiterhin so ausführlich wie möglich miteinander darüber reden, wie es für jeden von uns ist, er oder sie zu sein. Zum einen damit wir uns als Individuen kennenlernen und respektieren können und zum anderen damit wir als Gruppe erfolgreich sein können. Sei es als Paar, Familie, Freunde, Schulklasse, Kollegium, Sportgruppe oder Gesellschaft.

Das Modell der Welt im Kopf eines autistischen Menschen ist ein völlig anderes als das in den Köpfen nicht-autistischer Menschen. Beobachtet man das Verhalten der Menschen, dann fällt auf, dass sich nicht-autistische Menschen dahingehend sehr ähnlich zu sein scheinen. Da wir immer nur auf unsere Wahrnehmung reagieren können, liegt nahe anzunehmen, dass sich deren Wahrnehmungen auch ähnlich sind. Das nicht-autistische Modell der Welt hat sich anscheinend bewährt, denn man ist damit in eine Art Serienproduktion gegangen. Das autistische Modell dagegen ist fast immer ein Einzelstück oder zumindest eine streng limitierte Auflage. Man kann das Gehirn als einen Modellbauer bezeichnen, denn es erstellt außer dem Modell der Welt ebenfalls ein Modell des eigenen Geistes (eigene Wünsche, Gedanken und Gefühle) und ein Modell des Geistes Anderer (Vermutungen über die mentalistischen Zustände anderer Menschen). All diese Modelle stehen im ständigen Austausch miteinander und ermöglichen im Bestfall ein sehr erfolgreiches Dasein als Individuum in einer Gemeinschaft. Da all diese Modelle bei Autismus anders aussehen bzw. der Austausch zwischen ihnen weniger gut funktioniert, erscheint Ihnen ein Autist eventuell wie von einem anderen Planeten. Viele Asperger-Autisten schaffen es trotz alledem, eine Zeit lang so zu wirken, wie die Umgebung es erwartet. Als ich ein Schulkind war, war die Zeitspanne, in der ich es schaffte »normal« zu wirken, wesentlich kürzer als heute. An manchen Tagen waren es nur Minuten, weshalb meine Schulzeit für mich wie eine Art Spießrutenlauf war. Es verwundert mich immer wieder, dass ich trotz all des Stresses, dem ich schon allein bei dem Gedanken an die Schule ausgesetzt war, doch sehr viel aufnehmen und lernen konnte. Mein allergrößtes Problem während meiner Schulzeit war meine Selbstwahrnehmung.

Die Selbstwahrnehmung

Bei Selbstwahrnehmung geht es, wie der Name schon sagt, um die Wahrnehmung des eigenen Selbst. Mit genau diesem Selbst (autos) fängt für jeden von uns alles an. Da die Selbstwahrnehmung bei Autismus eine entscheidende Rolle spielt, möchte ich ausführlich auf dieses Thema eingehen. Wahrscheinlich beginnt die Entwicklung des Selbst schon vor der Geburt. Aber dennoch nimmt sich ein Baby bei der Geburt noch nicht sofort als eigenständiges Wesen wahr. Es hat also noch keine Selbstwahrnehmung. Haben Sie schon einmal einen Wellensittich beobachtet, der sich über sein eigenes Spiegelbild freut? Er glaubt, einen Spielkameraden zu haben. Für ihn bedeutet der Spiegel nur eine Erweiterung seiner Umgebung. Er ist sich seiner selbst nicht bewusst. Die Entwicklung des menschlichen Selbst ist eine sehr rasante. Schon kurz nach der Geburt wird ein differenzierteres Selbst wahrgenommen, womit der erste Schritt zu einer Unterscheidung zwischen Selbst und Anderen erfolgreich getan ist. Ab dem zweiten Lebensmonat nehmen Babys ihr Spiegelbild als für sich einzigartig wahr. Sie merken, dass die von ihnen im Spiegel gesehenen Bewegungen mit den von ihnen gefühlten inneren Zuständen übereinstimmen. Das Spiegelbild ist jetzt unheimlich interessant und wird von nun an zum Ort der Begegnung mit dem eigenen Selbst. Der Moment, in dem sich das Baby im Spiegel erkennt, wird als Geburt des Ich bezeichnet. Im Alter von ca. sechs bis 18 Monaten weiß das Kind, dass es sich selbst im Spiegel sieht. Es kann sich also identifizieren. Spätestens im Alter von 24 Monaten bestehen Kleinkinder den Spiegeltest, bei dem eine Haftnotiz auf dem Haar angebracht wird, welche das Kind sofort abmacht, wenn es in den Spiegel schaut.

Mein Sohn Elijah (15 Jahre) tut dies bis heute nicht. Manchmal schaut er sich ganz lange und interessiert, mit einem breiten Lächeln, im Spiegel an, aber es ist von außen nicht zu erkennen, ob er sich selbst oder doch nur einen »Freund« anlächelt. Aber er macht Fortschritte. Er dreht sich seit einiger Zeit zu mir um, wenn er mich im Spiegel hinter sich stehen sieht. Er kann Spiegel nun als Rückspiegel nutzen, nämlich, um uns mit dem Rücken zu uns stehend beobachten zu können. So kann er die Andere-Wahrnehmung und damit verbunden seine Selbstwahrnehmung niedrig halten, aber dennoch am Geschehen teilnehmen. Er scheint sein Spiegelbild mittlerweile als einzigartig für sich zu erkennen und keinesfalls mehr nur als eine Erweiterung seiner Umgebung zu sehen. Autismus bedeutet immer eine Entwicklung nach vorn, aber mit einer anderen Geschwindigkeit als Sie es kennen und erwarten. Die Schritte sind oftmals so klein, dass die Umgebung sie gar nicht wahrnimmt und deshalb Stillstand oder gar Rückschritt registriert. Elijah hat jedenfalls ungeheuer viel Spaß mit Spiegeln, selbst wenn er den Spiegeltest (noch) nicht besteht. Auch ich habe es erst im späten Kindesalter geschafft, mich eindeutig im Spiegel zu identifizieren. Ich kann mein Spiegelbild jedoch nur eine bestimmte Zeit lang ertragen. Ich zeige deshalb bis heute eine Vermeidungshaltung, die ähnlich wie die eines Vampirs gegenüber dem Tageslicht ist. Unerwartetes Spiegeln, egal ob in Spiegeln, Scheiben oder blankgeputzten Oberflächen, löst immer wieder großen Stress aus. Im Gegensatz zu meiner Schulzeit kann ich dies nun adäquat verbalisieren. Ich kann heute sagen, dass ich ein Zimmer wegen des Spiegelns meiner Person in Glasschränken nicht betreten kann. Ich kann endlich auch erklären, warum das so ist. Als Kind war dies unmöglich. Ich wurde dann von meiner Umgebung gnadenlos nach meinem Verhalten beurteilt. Es konnte ja niemand wissen, welche Gefahr Spiegel und spiegelnde Oberflächen für mich darstellen.

Die Entwicklung des Selbst scheint bei vielen autistischen Menschen im Laufe des zweiten Lebensjahres einen anderen Weg zu nehmen als das bei nicht-autistischen Menschen der Fall ist. Viele Eltern bemerken in diesem Zeitraum erstmals Verhaltensauffälligkeiten ihrer später als autistisch diagnostizierten Kinder. Zu diesen Auffälligkeiten gehören der fehlende Blickkontakt und das Fehlen der Zeigegestik. Außerdem interagieren die meisten autistischen Kinder im Kontakt mit anderen Menschen ganz anders, es fehlt unter anderem die geteilte Aufmerksamkeit. Unerklärlich ist mir, dass solche Abweichungen in der Entwicklung eines Kindes nicht jedem Kinderarzt sofort auffallen, zumal ganz viele Mütter bei den U-Untersuchungen spezifisch darauf hinweisen. Blickkontakt, Zeigegestik und geteilte Aufmerksamkeit sind wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung eines Meta-Selbst und auch für die Fähigkeit zur Theory of Mind. Diese werde ich in diesem Kapitel noch näher erklären. Einfach gesagt ist Theory of Mind eine Art Sicherheitsnetz, dass Ihnen nicht bewusst ist, aber ohne welches Sie sich auf keinen Fall in die Begegnung mit anderen Menschen begeben würden. Diese Fähigkeit fehlt mir, meinem Sohn und den meisten Autisten. Schon allein das erschwert uns die soziale Interaktion und Kommunikation ungemein. Anstatt von den Kinderärzten ernst genommen zu werden, werden besorgte Eltern weiterhin mit Worten wie »Das gibt sich noch.«, »Er ist eben langsamer.« oder »Sie wächst da raus.« beruhigt. Anstatt einer frühen Diagnostik und Intervention werden die Familien allein gelassen. Dabei ist die frühe Intervention ein so wichtiger Schritt, wenn es darum geht, autistischen Menschen effektiv zu helfen. Das heißt, ihnen und ihren Familien Hilfsangebote zu machen, bevor sich viele Verhaltensmuster so verfestigen, dass sie, wenn überhaupt, nur mühsam wieder rückgängig gemacht werden können. Dennoch ist auch bei später Diagnostik noch ganz viel möglich, da unser Gehirn ein Leben lang lernen kann. Elijah ist jedenfalls noch nicht aus dem Autismus rausgewachsen, stattdessen haben wir durch diesen uns aufgezwungenen Irrweg zur richtigen Diagnose viel an wertvoller Zeit verloren. Die Eltern Ihres autistischen Schülers hatten eventuell schon viele Hürden zu überwinden und es hat sie viel Kraft und Energie gekostet, ihr Kind so weit zu bringen, dass es bei Ihnen in der Klasse sitzen kann. Viele Eltern haben zudem einen Alltag, der sie immer wieder ganz schnell an ihre Grenzen bringt. Dann können kleine Dinge schon mal größer erscheinen als sie es in Wirklichkeit sind. So ist das mit der Wahrnehmung.

Aber lassen Sie mich wieder zur Entwicklung des Selbst zurückkommen. Im Alter von ca. drei Jahren können die meisten Kinder sich nun über den Spiegel hinaus auch dann auf Fotos wiedererkennen, wenn sie auf diesen Bildern jünger sind. Das Selbst hat jetzt eine zeitliche Dimension bekommen. Ich kann mich bis zum Alter von ca. sieben Jahren sehr gut auf Fotos wiedererkennen. Schaue ich mir jedoch spätere Bilder von mir an, dann fällt es mir schwer, mich auf diesen zu erkennen und mich mit der eigenen Person zu identifizieren. Es fühlt sich eher so an, als würde ich eine sehr vertraute Person betrachten. Elijah liebt Fotos, besonders solche, die ihn zeigen. Er hat in der Schule viele Fotos von sich selbst, seiner Familie und seinem Zuhause, die er oftmals als Anker nutzt. Wir wissen jedoch nicht sicher, ob er sich auf diesen Bildern erkennt. Es gibt Tage, da posiert er für Fotos und dann gibt es wieder Momente, wo allein schon der Anblick einer Kamera seine Selbstwahrnehmung so hochfährt, dass er sofort in enormen Stress gerät und die Gefahr eines Meltdowns (eine Art Kernschmelze) oder Shutdowns (ein komplettes Abschalten des Systems) besteht.

Nicht-autistische Kinder haben mit vier oder fünf Jahren ein Meta-Selbst entwickelt, das heißt, sie wissen: ich bin ich und du bist du. Sie schaffen es nun, sich selbst aus der Dritten-Person-Perspektive wahrzunehmen. Sie haben also eine ganz gute Idee davon, dass Andere sie sehen können. Das Selbst hat nun neben der Eigenwahrnehmung (Ich) eine Andere-Wahrnehmung (Du). Außerdem besitzt ein Kind jetzt eine Fremdwahrnehmung. Das bedeutet, es hat nicht nur ein Bewusstsein dafür, dass das Du das Ich sieht, sondern auch wie das Du das Ich sieht. Diese Fähigkeit ist für das Leben in einer Gemeinschaft absolut notwendig. Erst diese Fremdwahrnehmung ermöglicht es Ihnen, in sozialen Situationen adäquat zu reagieren, also den Erwartungen der Anderen zu entsprechen. Mit ihrer Hilfe können Sie in Sekundenschnelle die Konsequenzen Ihres Verhaltens abschätzen und es entsprechend anpassen. Nicht-autistische Menschen entwickeln im Laufe der Jahre ein sicheres Ich, welches schützend vor dem Selbst steht. Dieses Ich, an dem sie sich orientieren, ist jedoch immer nur ein Versprechen, eine Art Idealvorstellung von dem, was und wie sie sein wollen.

Auch Sie haben schon Situationen erlebt, in denen Sie eigentlich ganz anders agieren oder reagieren wollten, es aber nicht getan haben. Das sind die Momente, in denen Sie Ihr Ich deutlich spüren können. Dieses Ich steht mit Hilfe der Andere-Wahrnehmung und der Fremdwahrnehmung im ständigen Austausch mit der Umgebung und zieht genau dann die Notbremse, wenn Sie Gefahr laufen sich zu blamieren, ausfällig zu werden oder gar jemandem ins Schienbein zu treten. Es ist Ihr Ich, mit dessen Hilfe Sie es gerade noch bis nach Hause schaffen, wo sich Ihr Partner dann anhören muss, was Ihrem Selbst passiert ist. Oder vielleicht reagieren Sie sich in solchen Fällen mit Hausarbeit ab? Sie stimmen mir doch bestimmt zu, wenn ich behaupte, dass Sie zu Hause längst nicht so geduldig, höflich, sprich sozial adäquat, reagieren, wie in der Schule oder mit Ihnen weniger vertrauten Menschen. Menschen, die uns nahestehen, gehen immer das größte Risiko ein, unsere dunkle Seite kennenzulernen. Wir sind uns dessen nicht bewusst, aber eine ehrliche Vertrautheit führt immer dazu, dass wir uns einander nähern und letztendlich auch dem Selbst des Anderen begegnen können. Aus diesem Grund sind es oft die Menschen, die wir lieben, die uns am meisten berühren, und manchmal auch weh tun, können. In bekannter Umgebung sind wir alle eben mehr wir selbst. Es ist wichtig, dass es Orte und Zeiten gibt, an und zu denen wir keine Masken tragen müssen.

Autistische Menschen dagegen sind immer ihr Selbst. Mir fehlt ein schützendes Ich vor meinem Selbst, welches über die Konsequenzen meines Verhaltens im sozialen Miteinander Bescheid weiß und entsprechend reagieren kann. Das heißt, es gibt kein Meta-Selbst. Das Ich, der Schauspieler, die Maske, die alle Menschen zumindest zeitweise tragen müssen, fehlt mir komplett. Aber ich habe mir über die Jahre hinweg eine Art Patchwork-Ich gebastelt, das es mir ermöglicht, eine Zeit lang relativ sicher mit Menschen zusammen zu sein. Ich sehe mich als eine Art Schauspieler, der das Drehbuch nicht kennt, aber dennoch versucht, auf der Bühne des Lebens sein Bestes zu geben.

In meiner Schulzeit hatte ich nur sehr fragile Maskenstücke, die mir immer wieder zerbrachen und mich deshalb fast zum Aufgeben gezwungen haben. Der Begriff Autismus ist sehr gut gewählt. Autos, das Selbst, welches ohne Maskierung, ohne Schutz auf maskierte Andere trifft. Manche Menschen tragen sogar mehrere Masken auf einmal und erwarten dies von jedem, dem sie begegnen. Dass diese Begegnungen nicht gutgehen können, ist uns wohl allen klar. So wie ein Ich nur einem Ich begegnen kann, so kann ein Selbst immer nur einem anderen Selbst begegnen. Ein Ich-Mensch fühlt sich in der Begegnung mit einem Selbst, einem Autisten wie mir, fast immer sofort unwohl oder gar angegriffen. Diese Begegnung zwingt nicht-autistische Menschen nämlich unweigerlich dazu, sich selbst zu begegnen und sich so kennen und akzeptieren zu lernen, wie sie nun einmal sind. Bei ganz vielen Menschen ist das Ich so stark geworden, dass sie ihr Selbst vergessen oder sogar ganz aufgegeben haben. Wer das Gefühl hat, keine Maske zu tragen, bei dem sitzt sie richtig fest.

Einige von ihnen machen sich mittlerweile wieder auf die Suche nach dem eigenen Selbst. Selbstfindungsseminare, wo für viel Geld übers Wochenende Kraft zur Selbstliebe getankt werden kann, haben großen Zulauf. Es gibt Menschen, die springen aus Flugzeugen oder laufen Hausmauern herunter, um endlich wieder zu sich selbst zu finden. Jeder von uns befindet sich auf der Suche nach dem Selbst, aber keiner ist so nah dran wie ein Autist. Bei der Andere-Wahrnehmung ist es genau umgekehrt.

Die Andere-Wahrnehmung

Im Gegensatz zu meinem Sohn hatte ich das große Glück Andere-Wahrnehmung schon recht früh gut und lange aushalten zu können. Ich konnte die Menschen neben mir nicht nur wahrnehmen, sondern ich konnte diese Wahrnehmung von Anfang an ziemlich gut regulieren. Das ist sehr wichtig und etwas, das Elijah (noch) nicht so gut kann. Andere-Wahrnehmung löst immer Selbstwahrnehmung aus und wenn man es nicht schafft, die Andere-Wahrnehmung zu regulieren, dann wird aus der Selbstwahrnehmung schnell Selbstkonfrontation. Stellen Sie sich vor, Sie müssten nackt auf einer Bühne vor Hunderten von Menschen einen Vortrag zu einem Thema halten, von dem Sie absolut nichts verstehen. Wie geht es Ihnen bei diesem Gedanken? Wenn Sie schon einmal in einer Situation waren, in der Sie sich nur eines gewünscht haben, nämlich im Boden zu versinken, dann haben Sie eine Idee davon, was ich mit einer erhöhten Selbstwahrnehmung meine. Multiplizieren Sie das Gefühl, das Sie Sich-Schämen nennen mit 1000 und Sie wissen vielleicht annähernd, was Selbstkonfrontation für mich oder Elijah bedeutet. Es ist einer der schlimmsten Zustände, den ich kenne. Ich kann der Selbstkonfrontation nur entkommen, in dem ich einen guten Abstand zu meinem Selbst halte oder diesen schnell wiederherstelle. Ich muss mein Selbst also in eine Balance bringen. Dieses Verhalten wird von nicht-autistischen Menschen immer noch als autoaggressives Verhalten bezeichnet. Das ist es aber ganz und gar nicht, denn es ist nicht gegen das Selbst oder den Körper gerichtet, sondern dient dazu, dass es dem Selbst wieder gutgehen kann. Ein großer Teil meines Autismus entsteht immer erst in der Begegnung mit anderen Menschen. Das ist für mich das größte Problem und ein Grund zu Traurigkeit, denn ich möchte Teil der Gruppe sein. Genau wie Sie sehne ich mich nach Begegnungen und Interaktionen mit anderen Menschen. Damit dies gelingt, ist Fremdwahrnehmung notwendig.

Die Fremdwahrnehmung

Fremdwahrnehmung bedeutet, dass einem Menschen bewusst ist, dass andere Menschen ihn sehen, wie sie ihn sehen und welche Konsequenzen sein Verhalten für ihn selbst haben könnte. Nicht-autistische Menschen können in der Regel davon ausgehen, dass die Wahrnehmung der meisten ihrer Mitmenschen der eigenen sehr ähnlich ist. Genau aus diesem Grund ahnen Sie, wie ein Mensch reagieren wird, noch bevor er tatsächlich in die Zitrone beißt. Sie können sich gut vorstellen, wie es sich für einen anderen Menschen anfühlt, wenn er lacht oder weint. Außerdem können Sie Vermutungen darüber anstellen, warum er das gerade tut. Die Fähigkeit, sich in sein Gegenüber hineinversetzen zu können, ist eine Grundvoraussetzung, um in einer Gesellschaft erfolgreich leben zu können. Sie bildet meiner Meinung nach die Basis jeder Gemeinschaft ( Kap. 8). Eine hochentwickelte Form der Fremdwahrnehmung wird Theory of Mind genannt.

Theory of Mind

Für mich ist die schon erwähnte Theory of Mind (ToM), nämlich eine Idee vom Modell des Geistes Anderer zu haben, ein Wunderwerkzeug. ToM zu haben heißt, zu wissen, dass andere Menschen mentalistische Zustände, wie Gefühle, Wünsche, Ideen, Erwartungen, Absichten und Ansichten, haben und sich diese auch vorstellen zu können, sowohl in der eigenen Person als auch im Gegenüber. Wenn Sie ToM besitzen, können Sie sich in den Anderen hineinversetzen und Vermutungen darüber anstellen, wie es für diesen Menschen ist, wenn er Dinge sieht, schmeckt, fühlt, hört, sagt oder tut, indem Sie es mit Ihrem eigenen Empfinden und Verhalten in ähnlichen Situationen vergleichen. Da Ihnen aber das wirkliche Empfinden, also die Wahrnehmung, Ihres Gegenübers verborgen bleibt, ist es das Verhalten, welches Sie hauptsächlich als Vergleichsgegenstand heranziehen müssen. Genau deshalb gibt es so viele Probleme in der Begegnung von nicht-autistischen und autistischen Menschen! Es wird nur das Verhalten gesehen. Als ich als Schulkind nicht in das Klassenzimmer mit den Schränken mit Spiegeltüren gegangen bin, wurde mir Bockigkeit und Sturheit unterstellt, weil einzig mein Verhalten, nicht jedoch meine Wahrnehmung des Raumes, gesehen und verglichen wurden. Ich konnte mich nicht erklären, wurde bestraft und musste am Ende doch in diesen Raum hinein. Meine schon erhöhte Selbstwahrnehmung wurde fast sofort zur Selbstkonfrontation und ich kratzte mir das Gesicht auf, um wieder den notwendigen Abstand zu meinem Selbst herzustellen. Dieser Versuch, mich wieder zu regulieren, wurde erneut missverstanden und hatte weitere negative Konsequenzen für mich, die ich nicht verstand. Meine Schulzeit war ein einziger Strudel, der mich immer wieder mitriss und auf den Grund dieses tiefen, dunklen Sees zurückzog, von dem ich gerade mühsam aufgetaucht war. Ich hatte wirklich immer das Gefühl zu ertrinken, sobald ich mit Menschen konfrontiert wurde. Ich musste also sehr gut schwimmen lernen, das heißt Strategien finden, um unter anderem mit Spiegeln klar zu kommen.

Theory of Mind ist immer nur eine Annahme, eine Vermutung. Sie können nämlich immer nur von sich selbst wissen, was Sie wann, wie und warum denken, fühlen und tun und wie es Ihnen dabei geht. In der Begegnung von autistischen und nicht-autistischen Menschen zeigt sich, dass die Fähigkeit zur Theory of Mind und deren Anwendung in der sozialen Interaktion zu großen Problemen führen kann, die nicht-autistische Menschen oftmals ratlos und kopfschüttelnd zurücklassen. Autistische Menschen reagieren anders als das Gegenüber es aufgrund seiner ToM Fähigkeit erwartet und deshalb kommt es sehr schnell zu großen Schwierigkeiten in der Interaktion. Man kann sagen ToM funktioniert im Umgang mit autistischen Menschen nicht gut bis überhaupt nicht. Abstellen können nicht-autistische Menschen ihre ToM-Fähigkeit aber auch nicht. Dennoch müssen sie sich im Umgang mit autistischen Menschen bewusst werden, dass ihre Erwartungshaltung, die sie aufgrund von gemachten Erfahrungen und Erinnerungen haben, hier nicht befriedigt werden wird. Ich habe meine fehlende Fähigkeit zur Theory of Mind zu kompensieren gelernt, in dem ich weiterhin mein Sensing anwende.

Sensing

Autistische Menschen haben auch eine Art Wunderwerkzeug, nämlich das Sensing. Aber nicht nur ein autistischer Mensch, sondern jeder von uns besitzt Sensing, denn es ist eine allen Menschen angeborene Fähigkeit. Sensing ist eine Art des Spürens, also des Erfühlens der inneren Zustände eines anderen Menschen. Bei nicht-autistischen Menschen beginnt diese Fähigkeit im Laufe ihrer Kindheit mehr und mehr zu verkümmern. Vielleicht, weil sich bei den meisten Menschen verbale Sprache entwickelt und vorrangig zur Kommunikation genutzt wird. Irgendwann wird das Sensing durch die Anwendung von Sprache, Fremdwahrnehmung und dem kognitiven Hineinversetzen in andere Menschen gänzlich ersetzt. Uns allen bleibt diese Fähigkeit zwar ein Leben lang erhalten, aber nicht-autistische Menschen nutzen sie fast nicht mehr oder nur unbewusst.

Für autistische Menschen dagegen ist Sensing besonders wichtig. So haben sie eine Chance, andere Menschen zu erfühlen und auf diese Weise etwas über deren Befindlichkeiten zu erfahren. Besonders für nicht-sprechende autistische Menschen wie meinen Sohn bietet das Sensing eine Möglichkeit der Kommunikation mit anderen Menschen. Sie ist leider oft einseitig, da sich nicht-autistische Menschen sowohl ihres eigenen Sensings als auch des Sensings autistischer Menschen nicht bewusst sind. Vielen Autisten ist es auf diese Weise zwar möglich, ihr Gegenüber über dessen innere Gefühlszustände zu ergründen und zu verstehen. Sie reagieren dann auf ihre Art auf das, was sie spüren, aber der so Angesprochene kann seinerseits nicht adäquat auf den autistischen Menschen und seine Kommunikation reagieren. Oft kommt es allein deshalb schon zu Missverständnissen in der Beziehung. Nicht-autistische Menschen bemerken oftmals nicht einmal, dass sie sich gerade in einer Kommunikation befinden und was sie in diesem Moment von sich preisgeben. Für mich ist diese Art der Kommunikation, die Wahrnehmung des Anderen zu übernehmen, dennoch eine hilfreiche Kompensationsstrategie, um mich in neuen Situationen zurechtzufinden und mich dann trotz allem sozial adäquat verhalten zu können.

Aber Sensing zu haben, bedeutet ebenfalls, dass ich nicht nur die positiven und beruhigenden Gefühle in anderen Menschen wahrnehmen kann, sondern auch deren andere emotionale Zustände. Da hilft es nicht, wenn ein Mensch nach außen freundlich zu wirken versucht oder gar lächelt, denn ich spüre, wie es ihm innen drin geht. Wenn er innerlich brodelt, dann erlebe ich das mit und kann nur darauf reagieren. Nicht-autistische Menschen senden zwar weiterhin Emotionen und Gefühle aus, aber sie selbst empfangen solche Signale nicht mehr so gut über ihre Wahrnehmung. Sie sehen das Lächeln der Ich-Maske ihres Gegenübers und interpretieren, dass es diesem deshalb gutgeht. Aber dass sich seine wahren Gefühle eventuell nicht mit dem Ausdruck der Ich-Maske decken, bleibt ihnen verborgen. Das wird nicht-autistischen Menschen leider förmlich antrainiert. Haben Sie sich schon einmal bedankt und gelächelt, obwohl Ihnen ein Geschenk nicht gefallen, Ihnen das Essen nicht geschmeckt hat oder die Party für Ihr Empfinden doch zu laut gewesen ist? Dieses Verhalten haben Sie im Laufe Ihrer Kindheit erlernt und wenden es nun fast ständig und meist unterbewusst an. Es gibt Ihnen ein Gefühl der Sicherheit, aber letztendlich tut es Ihnen und auch Ihrem Gegenüber nicht gut. Manchmal allerdings werden Sie daran erinnert, dass Sie über Sensing verfügen und Sie spüren genau, dass es Ihrem Gesprächspartner trotz seines Lächelns nicht gutgeht. Bei Menschen, die Ihnen emotional nahestehen, können auch Sie sehr schnell und leicht hinter die Maske schauen. Autistische Menschen entwickeln keine oder sehr wenig Fremdwahrnehmung und kompensieren dies zum Teil mit Sensing. Nicht-sprechende Autisten versuchen meist, Sensing zu ihrer bevorzugten Art der Kommunikation zu machen, was aber nur dann gelingt, wenn das Gegenüber in der Lage ist Sensing zu erkennen und zu nutzen.

Elijah und ich brauchen eigentlich keine verbale Sprache, da das Sensing zwischen uns wunderbar funktioniert. Ich erspüre viel von dem, was er braucht, wie es ihm geht und was ihm eventuell helfen könnte. Elijah merkt auch als Erster, wenn es mir nicht gut geht und reagiert dann entsprechend darauf. Viele nicht-autistische Mütter bekommen, besonders wenn ihre Kinder noch klein sind und sie mit ihnen noch nicht verlässlich über Sprache kommunizieren können, wieder einen Zugang zu ihrem Sensing. Sie spüren, ob es ihrem Kind gut geht oder nicht. Genauso wie das Kind spürt, ob die Mutter aufgeregt oder ruhig ist. Beobachten Sie doch einmal Mütter und ihre Kinder auf einem Spielplatz. Fällt ein Kind hin, dann schaut es zuerst zur Mutter. Von deren Reaktion hängt ab, wie das Kind reagieren wird. Von einer nervösen, aufgeregten Mutter lässt sich kein Kind beruhigen. Stillen klappt oft nicht, weil die frischgebackene Mama sich einfach zu viele Sorgen macht und dies überträgt sich auf das Baby. Zwillinge verfügen ein Leben lang über exzellentes Sensing. Manchmal spüren Menschen sogar, dass ihnen etwas Entscheidendes im Leben fehlt und stellen dann fest, dass sie adoptiert sind und tatsächlich einen Zwilling haben.

Sensing ist eine tief in uns verwurzelte Fähigkeit, die vor langer Zeit mit dafür verantwortlich war, dass wir überleben konnten, weil wir Gefahren sozusagen schon gewittert haben, ehe sie überhaupt da waren. Für mich bedeutet ein Leben mit meinem Autismus immer am Rande des Abgrundes zustehen, also ständig von Gefahr umgeben zu sein. Es ist sehr schwer, mich in neuen Situationen zurechtzufinden, da mein System immer sofort Alarm schlagen will. Noch schwerer wird es, wenn ich dann bei meinem Gegenüber eine innere Aufgeregtheit oder Gereiztheit spüre, obwohl ich in ein lächelndes Gesicht schaue. Das verwirrt mich auch heute noch sehr. In meiner Schulzeit führte das oftmals dazu, dass Situationen eskalierten, obwohl der Lehrer nach außen sehr wohl ruhig blieb. Aber dieses Außen beruhigte mich nicht, denn es stand im krassen Gegensatz zu seinen inneren Befindlichkeiten. Diese kann ich viel besser wahrnehmen und deuten, besonders, wenn es sich um negative Gefühlszustände handelt. Versuchen Sie deshalb in Situationen, in denen der autistische Schüler in Stress gerät, bitte unbedingt auch innerlich ruhig zu bleiben. Dies verlangt eine Menge von Ihnen ab, aber Sie können das üben. Falls es Ihnen nicht gelingt, innerlich ruhig zu bleiben, dann gehen Sie aus der Situation raus, denn Sie sind jetzt keine Hilfe mehr, sondern selbst zu einem Stressor geworden. Nun hilft nur noch Abstand. Lassen Sie sich auswechseln und schöpfen Sie auf der Ersatzbank neue Kräfte. Falls Sie die Situation nicht verlassen können, dann seien Sie dem Schüler und sich selbst gegenüber offen und ehrlich und sagen Sie, wie es Ihnen wirklich geht und warum. Dies kann nämlich eine Art paradoxe Intervention sein, die den Kreislauf zu unterbrechen und so zu einer Entspannung der Situation führen kann. Ich erlebe dies immer wieder nicht nur mit meinem Sohn, sondern auch bei mir selbst.

Da uns die Fremdwahrnehmung fehlt, braucht es immer wieder die Hilfe und Unterstützung unseres Gegenübers, um wirklich zu verstehen, wie unser Verhalten auf den Anderen wirkt. Ich kann über Sensing zwar wahrnehmen, wie es Ihnen wirklich geht, aber ich schaffe es oft nicht, dies mit meinem Verhalten in Verbindung zu bringen und als Ursache Ihres Gefühlszustandes zu verstehen. Mit einem inneren Zustand der Ruhe und Gelassenheit können Sie einem autistischen Menschen vor allem in Krisensituation wirklich effektiv helfen. Menschen, bei denen sich das Selbst und das Ich in einer Balance befinden, nenne ich Brückenmenschen, da sie für mich in der Begegnung keine Gefahr, sondern eine Beruhigung darstellen. Werden Sie ein solcher Brückenmensch. Dies wird nicht nur bei Ihrem autistischen Schüler Wunder wirken, sondern auch bei Ihnen selbst.

Die soziale Wahrnehmung

Nun noch ein paar Worte zur sozialen Wahrnehmung. Das ist das Erleben, Filtern, Interpretieren und Verarbeiten von sozialen Informationen. Die soziale Wahrnehmung wird erheblich von den Menschen beeinflusst, die uns umgeben. Auch hier läuft bei autistischen Menschen vieles anders ab. Da ist einerseits die unterschiedliche oder fehlende Andere-Wahrnehmung, die, wenn vorhanden, sehr oft nur schwer zu ertragen ist bzw. ganz schnell Selbst-Konfrontation auslöst. Außerdem trägt die Filterschwäche des autistischen Gehirns dazu bei, dass Reizen eine andere Bedeutung beigemessen wird als ihnen eigentlich zusteht. Andererseits bekommen autistische Menschen über ihr Sensing sehr viel und vor allem ehrliche Informationen mitgeteilt, die oft im Widerspruch zu dem stehen, was ihnen ihr Gegenüber nach außen offenbart. All das ist hinderlich bei dem Prozess, sich selbst und andere Menschen zu verstehen. Ohne ausreichende soziale Wahrnehmung ist ein Mensch weder in der Lage die Gruppe noch sich selbst als Mitglied der Gruppe wahrzunehmen bzw. seinen Platz in der Gruppe zu verstehen. Auf Deutsch gesagt, ist man als Autist vor allem dann ganz schnell raus, wenn die Umgebung kein Verständnis von Autismus hat und nicht zur Akzeptanz des Andersseins autistischer Menschen bereit ist.

Tipps für den Umgang mit autistischen Wahrnehmungen

1.  Bleiben Sie äußerlich und innerlich ruhig, denn so kommunizieren Sie Ruhe und Ausgeglichenheit auf eine Art und Weise, die der autistische Schüler verstehen kann. So geben Sie ihm Sicherheit und helfen ihm am besten.

2.  Seien Sie ehrlich gegenüber sich selbst und anderen Menschen.

3.  Nehmen Sie autistisches Verhalten nicht persönlich! Es hat wirklich nichts mit Ihnen zu tun.

4.  Benutzen Sie ein persönliches Mantra oder meinen Favoriten: das bekannteste buddhistische Mantra Om man ni pad me hum.

5.  Machen Sie sich immer wieder bewusst, dass dieser Schüler eine ganz andere Wahrnehmung der Situation hat und dass sein Verhalten eine Reaktion auf eben diese Wahrnehmung ist.

6.  Wenden Sie Atmungs- und Entspannungsübungen an.

7.  Nehmen Sie als Soforthilfemaßnahme einen Stift quer in den Mund und schauen Sie nach oben. Ihr Gehirn meint nun, dass Sie lächeln und schüttet nach ca. 60 Sekunden Glückshormone aus. Sieht komisch aus, aber funktioniert!

8.  Fahren Sie die Andere-Wahrnehmung des Schülers herunter, indem Sie sich räumlich so weit entfernen, wie es geht oder sich hinsetzen, denn dann sind Sie weniger da.

9.  Wenn gar nichts mehr geht, dann gehen Sie aus der Situation raus. Allerdings muss sichergestellt sein, dass der Schüler allein gelassen werden kann, also in einer für ihn sicheren Umgebung ist.

4          Die Sinneswahrnehmungen

 

 

 

Unsere Sinneswahrnehmungen ermöglichen es uns, unsere Außenwelt zu erleben. Die fünf Sinne, die jeder Mensch besitzt, sind Sehen (visuell), Hören (auditiv), Riechen (olfaktorisch), Schmecken (gustatorisch) und Fühlen (taktil). Um unser unmittelbares Umfeld gut wahrnehmen zu können und uns den Sinn dessen zu erschließen, was von außen auf uns einströmt, braucht es das Einbeziehen all unserer Sinne. Das Gehirn holt sich also immer Informationen von allen zur Verfügung stehenden Sinnesorganen. Dieses Zusammenspiel der Sinnesorgane nennt man sensorische Integration. So drehen wir zum Beispiel den Kopf in die Richtung einer Schallquelle, verfolgen mit den Augen die Bewegung eines Balles und verlassen uns nicht nur beim Schreiben auf die Hand-Augen-Koordination. Die Mehrzahl autistischer Menschen weist erhebliche Besonderheiten bei den Sinneswahrnehmungen auf. Die sensorische Integration scheint auf unterschiedliche Weise beeinträchtigt zu sein. Da oft nicht alle notwendigen Informationen zur Verfügung stehen, entsteht im autistischen Gehirn auch aus diesem Grund ein ganz anderes Abbild der Welt. Weil wir alle immer nur auf dieses Abbild reagieren können, kommt es unweigerlich zu einem anderen Verhalten. Dieses Verhalten wird von der Umgebung aber nur dann als autistisch wahrgenommen, wenn die Autismus-Diagnose bekannt ist. Wenn nicht, kommt es fast sofort zu Missverständnissen und autistischen Menschen wird dann schnell sehr viel Negatives unterstellt.

Lassen Sie mich Ihnen deshalb mehr über die Besonderheiten der verschiedenen Sinneswahrnehmungen autistischer Menschen erzählen. Ich berichte hierbei aus meiner Schulzeit und auch aus der meines Sohnes. Zusätzlich versuche ich Sie darauf aufmerksam zu machen, was eventuell bei Ihrem autistischen Schüler der Fall sein könnte. Die Betonung liegt auf eventuell und könnte, denn es kann wirklich auch ganz anders sein. Am Ende gibt es noch einige Vorschläge von mir, wie Sie die jeweilige Sinneswahrnehmung Ihres autistischen Schülers herunterfahren und so vielleicht eine Reizüberflutung verhindern können. Diese helfen nicht nur mir bis heute in meinem Alltag, sondern sie ermöglichen auch Elijah immer mehr Teilhabe. Autismus verlangt sehr viel Entschlossenheit und eine große Portion Mut zum Risiko. Ohne Ausprobieren und der Bereitschaft immer wieder neu zu beginnen, wird sich kein Erfolg einstellen.

Die visuelle Wahrnehmung – das Sehen

Ich sehe was, was du nicht siehst? Als visuelle Wahrnehmung bezeichnet man das Erkennen, Aufnehmen und Weiterverarbeiten von visuellen Reizen und deren Interpretation. Die Informationen gelangen über unsere Augen in unser Gehirn, werden dort nach wichtig und unwichtig sortiert und mit bereits gemachten Erfahrungen und Erinnerungen abgeglichen. Das heißt, wir sehen alle das Gleiche. Das Bild, das aufgrund der Interpretation der vom Auge aufgenommenen Reize im Gehirn entsteht, kann jedoch für jeden von uns sehr unterschiedlich sein. Während bei den meisten Menschen viele visuell aufgenommenen Reize durch eine Art Filter (Thalamus) sofort aussortiert werden und deshalb gar nicht erst ins Bewusstsein dringen, nehmen autistische Menschen über diesen Sinn sehr viel mehr bewusst wahr. Es wird viel weniger weggefiltert. Ganz im Gegenteil, fast alles wird als wichtig bewertet. Normalerweise sehen Menschen genau das scharf und deutlich, was in jeder Situation wichtig für sie ist. Sie werden sozusagen auf die entscheidenden Dinge aufmerksam gemacht, während Unwichtiges im Hintergrund verschwimmt. Bei autistischen Menschen verschwimmt nichts, da alles als wichtig bewertet wird und deshalb steht auch alles im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das gesamte Bild ist gestochen scharf. Es braucht effektive Kompensationsstrategien, damit es nicht ständig zu einer Reizüberflutung kommt. Als Kind besaß ich davon weitaus weniger als heute.

Durch meine andere visuelle Wahrnehmung entstanden während meiner Schulzeit sowohl für mich als auch für meine Lehrer und Mitschüler jede Menge Probleme. Angefangen mit meiner Unfähigkeit, Gesichter in einem anderen sozialen Kontext oder in einer neuen Umgebung wiederzuerkennen, bis hin zu großen Problemen beim Imitieren von vorgeführten Übungen im Sportunterricht gab es täglich viele Missverständnisse und Stresssituationen, die hätten vermieden werden können. Ich war visuell enorm schnell ablenkbar und auch überfordert. Dennoch nutzte ich im Unterricht hauptsächlich mein Sehen, um mir ein Bild von dem zu machen, was gerade ablief. Alle anderen Sinne schaltete ich einfach ab. Über Lippenlesen konnte ich aufnehmen, was der Lehrer sagte, ohne alle anderen auditiven Reize auch noch verarbeiten zu müssen. Ich konnte mir sehr viel durch Stimming helfen, welches dazu dient, mein gesamtes System zu beruhigen. Mir half es, wenn ich einen Sitzplatz ganz vorn in Nähe des Lehrertischs hatte, da ich dann die gesamte Klasse mit all ihren visuellen Reizen hinter mir lassen konnte. Je weiter weg von den Fenstern, desto besser. Die ersten Schulstunden im Herbst oder Winter, wenn es draußen noch dunkel war, oder die grellen Sonnentage, an denen die Vorhänge zugezogen wurden, waren eine Wohltat, da dadurch weniger visuelle Reize auf mich einwirkten. Manchmal durften wir bei schriftlichen Arbeiten ein Buch wie eine Art Trennwand zwischen uns aufstellen, um gegenseitiges Abschreiben zu verhindern. Auch das habe ich geliebt, weil ich in dieser kleinen »Kabine« visuell eingeschränkt war. Plötzlich war die Welt auch für mich überschaubar.

Als ich einmal einen Fernsehbericht über eine Sprachschule sah, in der jeder Schüler eine Trennwand nach vorn, nach links und nach rechts hatte und über Kopfhörer den Lehrer hörte, da war ich sofort begeistert. Mich überforderten regelmäßig auch die Tafelbilder meiner Lehrer. Schon allein, dass jeder meiner Lehrer eine andere Handschrift hatte, war eine solche Herausforderung, dass ich oftmals den Inhalt nicht mehr aufnehmen konnte. Dann schrieb der eine in Schreibschrift, der andere nicht, der nächste hielt es mal so und mal so. Ich liebte die Lehrer, die Folien am Polylux verwendeten. Je strukturierter die Folie und je deutlicher die Handschrift, desto besser für mich. Mir selbst fiel und fällt Schreibschrift sehr schwer, da ich einzelne Buchstaben in Schreibschrift nicht mehr unterscheiden kann. Auch heute noch verwechsele ich ständig Buchstaben und Zahlen, wie zum Beispiel b und d, p und q, u und n oder 6 und 9 oder 89 und 98. Diese sehen sich sehr ähnlich und fühlen sich für mich gleich an. Ich habe mich in der Schule oft gewundert, warum gerade diesen »Spiegelbildbuchstaben und -zahlen« nicht mehr Beachtung geschenkt wurde. Erst seit einigen Jahren ist mir klar, dass es sich hierbei nur um eine weitere Wahrnehmungsbesonderheit meinerseits handelt.

Da ich Worte in ihrer Gesamtheit fühle und nicht als Ansammlung einzelner Buchstaben erfassen und zu einem Wort zusammenziehen muss, hatte ich mit dem Lesen lernen überhaupt keine Probleme. Lesen fiel und fällt mir leicht. Für mich ist jedes Wort eine Art Bild, das ich mir merke und dann in seiner Gesamtheit wiedererkenne. Die einzelnen Buchstaben nehme ich beim Lesen nicht wahr. Dafür fiel und fällt mir das Schreiben umso schwerer. Ich bevorzugte es, sehr früh in Druckschrift und Großbuchstaben zu schreiben, da ich erkannte, dass sich das Problem mit den »Spiegelbildbuchstaben« dann lösen lässt. B und D anstatt b und d, P und Q anstatt p und q. Leider musste ich bis Klasse 12 in Schreibschrift schreiben, was dazu führte, dass es immer einen gewissen Standart-Stresslevel gab. In der Mathematik fehlte mir bis zum Schluss eine Lösung, um die einzelnen Zahlen wirklich unterscheiden zu können. Ich weiß zum Beispiel nicht sofort, was eine 23 und was eine 32 ist, wenn ich die Zahlen nur sehe. Ich kann sie aber auch nicht richtig aufschreiben, wenn ich sie nur höre. Beide Zahlen fühlen sich für mich gleich an. Wenn Sie einen Stuhl sehen, der auf seinen vier Beinen steht, dann wissen Sie, dass das ein Stuhl ist. Wenn Sie diesen Stuhl nun auf dem Boden liegend sehen, dann erkennen Sie diesen als denselben Stuhl. Es ist ja auch immer noch ein Stuhl. So geht es mir mit der 23 und der 32 und sehr vielen anderen Zahlen und auch mit den »Spiegelbildbuchstaben«. Ich schaffe es deshalb auch nicht, Zahlenfolgen korrekt abzuschreiben. Die Zahlen sehen anders aus, aber sie fühlen sich gleich an. Woher soll ich wissen, welche Zahl es ist?