Das Auge isst mit - Brigitte Thurner - E-Book
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Das Auge isst mit E-Book

Brigitte Thurner

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Beschreibung

Nach erfolgreich beendetem Examen beschließen Sina und ihre zehn Freunde eine Abschlussreise nach Irland. Ihre Unterkunft für die kommenden Wochen war eine Fischerhütte in Tramore. Doch schon bald entpuppt sich der Urlaub zu einem Horrortrip. Lieb gewonnene Menschen verschwinden spurlos und ekel erregende Funde lassen ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Gelingt es Sina und ihrer Truppe diesem Grauen lebend zu entkommen?

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Das Auge isst mit

Am Ende ihrer Schulzeit und nach bestandenem Examen beschlossen elf Abiturientinnen und Abiturienten eine Abschlussreise nach Irland zu unternehmen. Eines Abends setzten sie sich zusammen, um alles genau zu planen, wie den Tag der Abreise, den Flug und vieles mehr, dass es noch zu bedenken gab. Während sie die Landkarte studierten und verschiedene Orte notierten, wurde gelacht, getrunken und gegessen. Sie nutzten das Internet, um Bilder der Örtlichkeiten anzusehen. Am Anfang hatte fast jeder ein anderes Ziel vor Augen. Aber sie waren sich klar darüber, dass sie sich entscheiden mussten.

Pier hatte eine Idee: „Wie wäre es, wenn wir es ausknobeln?“, fragte er in die Runde. Da alle damit einverstanden waren, schrieb er die Namen der Orte auf, die zur Auswahl standen. Dann holte er Streichhölzer und zerbrach sie in unterschiedlich lange Teile. Jeder nahm sich eines. Das kürzeste Stück gewann und entschied über den Zielort. Der Reihe nach zogen sie und waren gespannt, wem wohl die Ehre gebührte.

Sina war die glückliche Gewinnerin. Sie griff in das Glas, in dem die Zettel mit den Orten lagen, während die anderen einen Trommelwirbel inszenierten. Sie schnappte sich ein Los und holte es heraus. Langsam öffnete sie es und grinste. „Was steht drauf? Jetzt sag schon!“, bettelten die anderen. Doch Sina genoss die Spannung und trank erst einmal einen Schluck. Ihre Freunde wurden ungeduldig und versuchten, ihr das Los zu entreißen. „Schon okay“, meinte sie, „ich verrate es euch gleich“, und lächelte dabei. Sie zählte bis zehn und rief dann aus: „Wir fahren nach Tramore!“ Das kleine Fischerdorf liegt circa 13 Kilometer von Waterford entfernt. Alle waren hellauf begeistert und freuten sich auf den Tag der Abreise.

Damit noch genug Zeit für die Vorbereitungen blieb, wollten sie erst in vier Wochen die Reise antreten. Sina wurde mit der Reservierung der Flüge beauftragt, Shawn erhielt die Aufgabe, sich um die Unterkunft zu kümmern. Peter organisierte einen Shuttlebus zum Flughafen, die Übrigen erledigten den Rest. Zwei Tage vor dem Start trafen sie sich erneut, um alles zu besprechen. Sie überprüften, ob sie nichts vergessen hatten, und waren mit der Ausführung komplett zufrieden.

„Hey, ihr Kröten“, kicherte Timo. „Nur noch zwei Tage, dann sind wir unterwegs“, rief er voller Vorfreude. Sie prosteten sich zu, lachten und feierten diese Erkenntnis. Gegen 23:00 Uhr trennte sich die Gruppe. Sie legten einen Treffpunkt fest und verabschiedeten sich.

Am Abreisetag wartete Sina auf ihre Freunde. Sie war die Erste am Flughafen und machte sich Sorgen, weil niemand erschien. Rasch überprüfte sie die Uhrzeit und musste feststellen, dass sie sich glatt um eine Stunde vertan hatte. Lachend suchte sie sich einen Platz im Bistro und trank einen Cappuccino, um sich die Wartezeit zu verkürzen. Zehn Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt marschierte sie zum Treffpunkt. Schon von weitem winkte ihr Susi zu. „Wow, ich habe schon befürchtet, dass du verschlafen hast“, meinte sie.

„Nein“, antwortete Sina, „aber ich war eine Stunde zu früh hier und bin ins Bistro gegangen.“

In dem Moment, da die Gruppe vollständig war, eilten sie zum Schalter. Jeder gab sein Gepäck auf und begab sich zum Boarding. Erst als sie im Flugzeug saßen, legte sich bei Sina die Nervosität und sie entspannte sich etwas. Shawn erzählte, welche Art von Unterkunft er ergattert hatte, und konnte kaum erwarten, in Waterford zu landen.

Knappe zwei Stunden später verließen sie das Flugzeug und warteten auf ihre Koffer. Gemeinsam suchten sie nach einer Mitfahrgelegenheit, um zu ihrer Fischerhütte zu gelangen. Ein älterer Herr nahm sie auf dem Traktor mit und erzählte ihnen von Irland. Sabrina war begeistert und hörte ihm aufmerksam zu. „Wie lange bleibt ihr hier?“, erkundigte er sich bei der Gruppe. „Acht Wochen“, antwortete Ricardo und lachte.

„Es sei denn, es gefällt uns nicht. Dann hauen wir früher ab“, bestätigte Lucy.

Ronald, so hieß der alte Mann, ließ sie vor ihrer Hütte absteigen und meinte: „Solltet ihr was brauchen, ich wohne am Ende der Straße.“ Dann fuhr er davon.

„Na dann“, jubelte Kai, „lasst uns hineingehen.“ Terry öffnete die Türe, stieß einen spitzen Schrei aus und rannte wieder hinaus. Sie war in ein Spinnennetz geraten.

„Mann, bist du eine Memme“, meinte Pier und wischte es weg. „Komm jetzt! Oder möchtest du das ganze Dorf wissen lassen, dass wir angekommen sind?“, fragte er genervt. „Hey, was ist los mit dir?“, erkundigte sich Shawn bei ihm.

„Alles okay! Ich bin nur müde und mein Magen knurrt“, entgegnete er. Sie stellten das Gepäck auf einen Haufen und sahen sich die Hütte erst einmal genauer an. Sie war ziemlich geräumig. Nachdem sie die Schlafplätze zugeteilt hatten, kümmerten sich die Jungs um die Koffer und die Mädels ums Essen. Mit vollem Bauch und bester Laune gingen sie auf Erkundungstour. Sie waren von der Umgebung fasziniert und freuten sich schon auf den nächsten Tag. Bei einer Tasse Kaffee besprachen sie, wie es weitergehen sollte. Sie benötigten Lebensmittel, Getränke und noch ein paar andere Dinge. „Okay“, sagte Lucy, „erst gehen wir einkaufen und dann an den Strand.“

„Ja, das ist eine Super-Idee“, entgegnete Peter und legte sich auf die Couch. Aber kaum lag er, schon krachte es und das Fußteil verabschiedete sich.

„Jetzt hast du es kaputt gemacht“, kicherte Shawn und bog sich vor Lachen.

„Steh auf“, forderte Timo und sah sich das Desaster an. „Das kann man mit ein paar Nägeln wieder richten“, meinte er. „Geh in Zukunft vorsichtiger mit den alten Möbeln um, sonst werden wir alle auf dem Boden sitzen müssen“, tadelte er seinen Freund. Wie aus heiterem Himmel stellte Timo die Frage, wer sich mit Angeln auskennt.

Kai meinte: „Ich war früher immer mit meinem Dad am See, wieso?“

„Na, dann könnten wir uns eine Angel besorgen und selbst fischen“, erklärte er. „Hey, das ist eine geniale Idee“, sagte Susi. „Ihr fangt Fische und wir bereiten sie zu.“

Gegen 22:00 Uhr fielen alle todmüde in die Betten, der Tag war anstrengend gewesen. Am nächsten Morgen kroch einer nach dem anderen aus den Federn. Beim Frühstück, das karg ausfiel, schrieben sie die Sachen auf, die sie beschaffen mussten. Um schneller fertig zu werden, teilten sie sich auf. Während die eine Gruppe Lebensmittel besorgte, kümmerten sich die anderen um Angeln und Zubehör. Als sie mit dem Einkauf fertig waren, setzten sie sich in ein kleines Café und tranken Kaffee. Dabei versuchten sie, mit den Einheimischen ins Gespräch zu kommen. Aber die Leute schienen misstrauisch und redeten offenbar nicht gern mit Fremden.

Die Bedienung, eine ältere Dame, lächelte und meinte: „Denkt euch nichts, die Menschen hier sind lauter Miesepeter. Die sprechen nur, wenn man ihnen droht“, sagte sie lachend und zwinkerte.

„Schade“, erwiderte Sina. „Wir würden gerne mehr über diesen Ort erfahren. Wir kommen aus Frankfurt und verbringen hier unsere Abschlussfahrt“, erklärte sie.

„Ah, seid ihr die Gruppe, die unten im alten Fischerhaus wohnt?“, fragte die Bedienung.

„Ja, die sind wir“, erwiderte Peter. Er stellte seine Freunde vor und reichte ihr die Hand.

„Na, ich heiße Frieda und lebe schon seit über 40 Jahren hier“, erzählte sie. Sie plauderten eine Weile, aber dann musste Frieda weiterarbeiten. Sie verabschiedete sich von den jungen Leuten und freute sich schon darauf, sie bald wieder zu sehen. Die jungen Leute bezahlten und verließen das Café. Auf dem Heimweg alberten sie herum und zogen Peter auf.

„Du bist ja ein echter Schaumschläger“, meinte Shawn lachend. „Ja, und? Wenn man nicht auf andere zugeht, redet niemand mit uns“, entgegnete er.

„Da hat er völlig Recht“, setzte sich Lucy für ihn ein. „Ich finde, das hat er ziemlich elegant gemacht“, sagte sie.

Kaum hatten sie die Hütte erreicht, fing es an zu regnen. „Mist“, schimpfte Ricardo. „Ausgerechnet jetzt muss es zu pissen anfangen“, moserte er.

„Das ist perfekt“, sagte Pier. „Dann finden wir leichter Würmer zum Angeln. Wer kommt mit mir?“

Kai stand auf und rief: „Ich bin dabei, los geht’s.“ Sie zogen sich ihre Regenjacken an und eilten nach draußen. Die Suche dauerte gar nicht lange und sie kehrten erfolgreich zurück. „Tara“, sagte Kai und zeigte dem Rest der Gruppe die Beute. „Wir haben unsere Arbeit erledigt, wie sieht es bei euch aus?“ „Das Essen ist gleich fertig und die Sachen sind aufgeräumt“, entgegnete Lucy.

„Ok, dann lasst uns futtern und zum Angeln aufbrechen“, meinte Kai. Sie deckten gemeinsam den Tisch, aßen, räumten auf und zogen sich an.

Da Kai der Einzige war, der Ahnung vom Fischen hatte, ließen ihm die anderen den Vortritt. Er bestückte die Angel und warf sie aus. Nach fast einer Stunde Warten hatte er den ersten Biss. Kai war derart in seinem Element, dass er die Zeit völlig vergaß. Genervt beschwerte sich Sina, dass sie fror und keine Lust mehr hatte.

„Kai, jetzt komm schon“, meinte Ricardo. „Wir haben genug Fische.“

„Soll ich echt aufhören?“, fragte er.

„Ja, die Ladys frieren und möchten nach Hause“, antwortete sein Freund. Widerwillig holte er die Angel ein und packte zusammen.

„Das hat man davon, wenn Mädchen mit zum Angeln gehen“, motzte er vor sich hin.

Als sie in der Hütte ankamen, holte er die Fische, nahm sie aus und putzte sie. „So, jetzt können wir sie braten“, lachte er und übergab den Fang an die Köche.

„Garen wir sie in der Pfanne, oder entfachen wir ein Lagerfeuer“, fragte Shawn.

„Ich finde, ein Feuer wäre romantischer“, meinte Sabrina.

„Na, dann lasst uns eins machen“, entgegnete Peter und zog seine Jacke an.

„Wo willst du denn jetzt hin?“, fragte Terry ihren Kumpel.

„Um ein Feuer zu machen, brauchen wir Holz, oder nicht?“

„Ja, schon, aber das musst du nicht alleine suchen“, sagte Timo und holte ebenfalls seine Jacke.

„Pier, könntest du dich um Äste kümmern“, fragte Kai.

„Ja, gerne, wenn du mir sagst welche“, erwiderte er.

„Lange, glatte und vor allem keine gebogenen, wo die Fische aufgespießt werden“, erklärte Kai kopfschüttelnd.

„Ok, wenn es unbedingt sein muss, gehe ich eben mit.“

Er trottete hinter den beiden hinaus. Da es zu nieseln aufgehört hatte, war das Holz in kurzer Zeit beschafft. Nur Pier hatte ein Problem. Er fand keine passenden Äste und war stinksauer. Kai hatte Mitleid und half ihm beim Suchen. Als der erste Ast gefunden war, zeigte er ihn seinem Kumpel und meinte: „Schau, so sollten die Äste aussehen.“

Nach etwa einer Stunde hatten die beiden acht geeignete Äste gefunden und kehrten damit ins Haus zurück. Dort schälten sie die Rinde ab und spitzten sie an einer Seite an. Die Fische waren in der Zwischenzeit gewürzt worden und konnten aufgesteckt werden. Diese Aufgabe übernahm Kai, da er sie mit seinem Vater schon oft erledigt hatte. Das Lagerfeuer hatte die ideale Temperatur und so kamen die Fische übers Feuer. Es roch verführerisch und die Freunde waren begeistert. Sie holten Geschirr und Besteck, trugen alles nach draußen und genossen unter freiem Himmel ihr Abendessen. Immer wieder legten sie Holz nach. Kurz vor Mitternacht fing es erneut zu regnen an und die Gruppe verzog sich in die Hütte. Nachdem sie abgespült hatten, gingen die jungen Leute schlafen.

In den nächsten Tagen besuchten sie den Strand, wanderten auf grünen Hügeln, ließen sich den Wind um die Nase wehen. Sina war vollkommen begeistert von diesem Ort und bedauerte es jetzt schon, bald wieder abreisen zu müssen. Kai, Lucy, Timo und Ricardo ging es ebenso. Die anderen aus der Gruppe waren eher Stadtmenschen. Sie vermissten Luxus wie Fernsehen, Discobesuche und das nächtliche Stadtleben. Ihnen war klar, dass sie nicht bis zum Ende aushalten würden. Nach vier Wochen war es dann auch soweit: Sechs Leute aus der Gruppe traten die Heimreise an. Sie wollten nicht länger hier in diesem langweiligen Kaff bleiben. Sie verabschiedeten sich von den anderen und stiegen in die Maschine. „Macht’s gut und passt auf euch auf“, riefen sie zum Abschied. Dann flogen sie nach Hause. Die fünf Zurückgebliebenen marschierten wieder ins Dorf. Unterwegs sahen sie eine alte Kapelle. Sina war begeistert und eilte darauf zu.

„Hey, warte doch mal“, rief Kai. „Du kannst da nicht so hineinspazieren“, meinte er.

„Warum nicht? Das ist eine Sehenswürdigkeit und die sind zum Anschauen da, oder nicht?“

„Eins zu null für dich“, sagte er und lief ihr hinterher. Zu ihrer Überraschung war die große Tür nicht verschlossen. Sie traten ein, setzten sich in eine Bank und bestaunten die Schönheit dieses Ortes. Die Wandmalereien, die Figuren waren ein Traum. Sie fühlten sich in eine fremde Zeit versetzt, und erlebten alles wie ein Wunder. Nach einer Stunde verließen sie den heiligen Ort und gingen nach Hause.

„Ich werde Frieda über die Geschichte der Kapelle ausquetschen“, sagte Sina entschlossen.

„Ich verstehe dich nicht“, meinte Lucy. „Das ist halt eine alte Kapelle.“

Kai war es, der Sina wieder auf den Boden zurückholte: „Wollt ihr mit uns essen oder weiter diskutieren?“, fragte er grinsend. Die beiden Mädchen sahen sich an, lachten und nahmen Platz. An diesem Abend spielten sie das erste Mal ein Brettspiel zusammen. Die Stimmung war heiter und ausgelassen. „So lustig war es zuletzt in Frankfurt“, sagte Timo und holte sich eine Flasche Bier.

„Wisst ihr, was echt Kacke ist?“, fragte Lucy.

Ricardo zuckte mit den Schultern.

„In vier Wochen ist unser Urlaub zu Ende und der Alltag bestimmt unser weiteres Leben“, philosophierte sie.

„Sag mal, wirst du jetzt sentimental?“, fragte Kai und gab ihr einen Schubs.

„Nein, du Idiot, aber ich würde gerne länger hierbleiben.

Es ist so ein herrlicher Ort, dass ich ihn am liebsten nie wieder verlassen würde“, erklärte sie.

„Dann sind wir schon zu zweit“, klinkte sich Timo ein.

„Ihr spinnt alle beide“, kicherte Ricardo und zeigte ihnen einen Vogel.

Nach Mitternacht gingen sie zu Bett. Sina lag noch lange wach, die Kapelle wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Sie nahm sich vor, gleich morgen Frieda zu besuchen. Die anderen schliefen noch tief und fest, als Sina die Hütte verließ. Sie schlenderte ein wenig am Strand entlang und eilte dann zu Frieda in das Café. Gezielt fragte sie die Serviererin über die Kapelle aus. Frieda erzählte alles, was sie wusste, aber sie hatte noch eine Idee.

„Warum gehen Sie denn nicht zu unserem Pfarrer? Wenn einer alles über ihre Geschichte weiß, dann er“, meinte sie. Sina notierte sich Namen und Anschrift, bedankte sich und verließ das Café. Zielstrebig schlug sie den Weg zum Pfarrer ein. Sein kleines Gotteshaus lag am Ende des Ortes, zwanzig Minuten später hatte sie ihr Ziel erreicht. Sina betrat leise die fast leere Kirche, bekreuzigte sich und setzte sich in die Bank. Nach einer Weile stand sie auf und ging zum Altar. Sie holte ein Geldstück aus ihrer Tasche, warf es in den Münzkasten, nahm ein Teelicht und entzündete es. Sina war schon immer fasziniert von Kirchen, Kapellen und Burgen. Diese Gebäude besaßen ihre eigene Geschichte, die von Menschen nicht verändert werden konnte. Plötzlich hörte sie ein Geräusch hinter sich. Sie drehte sich um und sah einen kleinen, rundlichen Mann in einer Kutte. Sina machte eine Kniebeuge und eilte zu ihm. Leise flüsternd fragte sie: „Sind Sie Pfarrer Tobias?“ Er bejahte.

„Ich hätte da ein paar Fragen. Können wir uns unterhalten?“ Der Pfarrer wies auf eine Bank. „Sollen wir hier reden?“, fragte sie.

„Warum denn nicht? Der Herr hört ohnehin alles, immer und überall“, antwortete er freundlich.

Sina stellte ihre Fragen und er beantwortete sie. Leise unterhielten sie sich über seine Kirche, die Menschen und die Geschichten. Da öffnete sich die Tür und ein Obdachloser betrat die kleine Kapelle. „Hallo Wilhelm“, sagte der Pfarrer. „Geh schon mal ins Haus, ich komme gleich nach.“ Der Mann bedankte sich und verschwand wieder.

„Sehen Sie, Sina, das zum Beispiel ist ein armer Mensch. Er hat niemanden mehr, der sich um ihn kümmern kann. Ich lasse Menschen wie ihn bei mir baden, gebe ihnen zu essen und, wenn nötig, ein warmes Nachtquartier“, erzählte er. „In der heutigen Zeit ist sich jeder selbst der Nächste. Die Menschen haben vergessen zu teilen. Sie sehen nur das eigene Wohlbefinden und ekeln sich vor Mitmenschen wie Wilhelm.“

Sina erzählte ihm von Frankfurt. Dass es in ihrem Heimatort eine Einrichtung für Leute in Not gibt. Wenn sie Hunger und kein Geld haben, geht man zur Suppenküche, denn dort bekommt jeder etwas zu essen und trinken. Im Winter wird für warme Unterkünfte gesorgt.

„Und wie denken Sie darüber“, fragte er sie. „Wären Sie bereit, einem Obdachlosen zu helfen?“

„Ohne mit der Wimper zu zucken“, antwortete Sina.

„Das lobe ich mir“, meinte der Pfarrer. „Aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen, Wilhelm wartet!“ Er stand auf, bekreuzigte sich und verließ die Kirche.

Auf dem Heimweg dachte Sina nach: Es gibt so viele Menschen, die in Not sind. Doch anstatt ihnen zu helfen, machen die meisten einen großen Bogen um sie. Sie nahm sich vor, nicht mehr wegzusehen. Erneut kehrte Sina bei Frieda ein und erkundigte sich, wo in diesem Ort die Obdachlosen lebten. Die Bedienung nannte ihr ein paar Straßen und mahnte sie gleichzeitig zur Vorsicht. „Was haben Sie denn vor?“, erkundigte sie sich.

„Ich werde Suppe kochen und sie an diese Menschen verteilen“, entgegnete Sina lächelnd. Dann verabschiedete sie sich und kehrte nach Hause zurück.

Ihre Freunde saßen gerade beim Frühstück, als sie die Hütte betrat. „Wie seht ihr denn aus“, fragte sie. „Und wo kommst du her, wenn ich fragen darf?“, entgegnete Kai.

„Ich habe erst Frieda und dann den Pfarrer besucht“, antwortete sie lächelnd.

„Warum das denn?“, erkundigte sich Lucy.

„Wie ihr wisst, interessiere ich mich für alte Kirchen, Kapellen und Burgen. Frieda meinte, ich solle den Pfarrer nach der Geschichte dieses Dorfes befragen. Es war aufschlussreich und informativ“, erklärte Sina.

„Du spinnst“, meinte Timo und verdrehte die Augen. „Wir sind hierhergekommen, um Urlaub zu machen! Schon vergessen?“

„Was hat das denn damit zu tun?“, fragte sie genervt.

„Na ja, du jagst alten Geschichten hinterher, Lucy jammert wegen ihrer Fingernägel, Ricardo vermisst seine Spielekonsole, Kai denkt nur ans Angeln und ich langweile mich zu Tode“, erklärte er.

„Ich bitte euch! Wir haben nur drei Wochen, dann ist unsere Zeit hier vorbei“, entgegnete Sina sauer. „Wenn ihr früher nach Hause wollt, packt eure Sachen und fliegt heim. Wer hindert euch daran?“

„Hey, jetzt mal sachte“, mischte sich Kai ein. „Wir werden uns deswegen nicht streiten, oder?“

„Ich werde eh länger bleiben“, sagte Sina.

„Du wirst was? Ja, ihr habt mich schon verstanden“, erwiderte sie. „Ich habe diesen Aufenthalt auf ein Jahr verlängert“, erklärte sie. „Die Miete für diese Hütte übernehmen meine Eltern, sie werden mir Geld schicken und mich auf dem Laufenden halten.“

„Cool“, meinte Kai, „ich bleibe ebenfalls hier.“

„Die beiden kann man nicht alleine lassen. Ich muss auf sie aufpassen“, sagte Timo lächelnd.

„Hm, das heißt, wir fliegen zu zweit zurück?“, meinte Ricardo und sah Lucy an.

„Mir doch egal! Ich bin froh, wenn das hier vorbei ist“, antwortete sie beleidigt.

„Warum bist du denn so sauer?“, fragte Sina.

„Na, weil die ganze Reise ein Schwachsinn war“, entgegnete sie schnippisch.

„Jetzt mal langsam, Lucy“, unterbrach Kai sie. „Was hast du dir denn vorgestellt? Es stand von vorneherein fest, dass wir nicht im Luxushotel absteigen. Wir wollten dem alltäglichen Konsumrausch entfliehen und so leben, wie es unsere Vorfahren taten“, warf er ihr vor.

„Ja und? Deshalb muss ich es ja nicht übertreiben, oder?“ „Weißt du was? Es ist, denke ich, besser, wenn du früher nach Hause fliegst, bevor wir hier im Streit auseinandergehen“, sagte er.

„Du kannst mich mal“, antwortete sie trotzig und ging in ihr Zimmer. „Lass sie, Kai! Es bringt nichts“, lenkte Sina ein.

„Es ist halt nicht jedermanns Sache, so zu leben.“

„Ja, du hast Recht! Erzähle mir von deinem Plan“, sagte er, um sich abzulenken.

„Der Pfarrer hat mich auf die Idee gebracht, für die Obdachlosen zu sorgen. Er selbst lässt diese armen Menschen bei sich baden und essen. So etwas, finde ich, verdient Respekt“, sagte sie überzeugt.

„Hier kann aber keiner von denen wohnen“, entgegnete Timo bestimmt. „Nein, aber zum Beispiel Suppe für sie zu kochen wäre eine Möglichkeit!“ Timo stimmte Sina zu.

„Seid ihr dabei?“

„Auf jeden Fall“, antworteten die beiden.

„Wir könnten es als unser soziales Jahr anmelden“, schlug Kai vor.

„Genau, daran habe ich gar nicht gedacht“, bestätigte Sina begeistert. „Aber darüber zerbrechen wir uns den Kopf, wenn es so weit ist“, erklärte sie und setzte sich auf einen morschen Stuhl.

„Geh mal und schau nach Lucy!“, forderte Kai sie auf.

„Muss das sein? Die beruhigt sich von allein!“

Aber Kai wiederholte seine Bitte und sah Sina mit seinem treuen Dackelblick an.

„Ich geh ja schon, du Nervensäge“, entgegnete sie und marschierte los.

Leise klopfte sie an Lucys Tür und wartete auf eine Antwort, die prompt folgte: „Lass mich in Frieden! Du hast den ganzen Urlaub versaut, mit deinen blöden Obdachlosen. Da gibt es nichts mehr zu reden, verschwinde!“

„Wie kann man nur so egoistisch sein?“, konterte Sina. „Mach endlich die beschissene Tür auf, bitte!“ Sina hörte Schritte, dann wurde der Schlüssel umgedreht und die Tür sprang auf.

„Ich verstehe dich nicht“, meinte sie. „Du hast doch selbst immer gesagt, dass dir diese Menschen leidtun“, sagte Sina. „Ja, da stehe ich auch zu, aber in meinem Urlaub haben die eben keinen Platz“, konterte Lucy.

„Dann lass uns wenigstens die letzten drei Wochen genießen“, bat sie ihre Freundin.

„An mir soll es nicht scheitern“, entgegnete Lucy.

„Na, dann komm mit runter. Wir könnten ein Spiel zusammen machen“, schlug Sina vor. Lucy stand auf, warf ihr Kissen zurück aufs Bett und trottete hinter ihr her nach unten.

„Tara“, sang Sina und präsentierte Lucy. „Wir haben das Kriegsbeil begraben, lasst uns jetzt Spaß haben“, meinte sie lächelnd. Sie spielten Karten, Mensch-ärgere-dich-nicht und knobelten. Kurz vor Mitternacht gingen sie schlafen.

In dieser Nacht schlief Sina verdammt wenig. Irgendetwas beunruhigte sie. Am Morgen stand sie auf und machte Frühstück für alle. Sie radelte extra ins Dorf, um frische Brötchen zu holen. Völlig außer Atem kam sie eine Stunde später wieder bei der Hütte an. Ihre Freunde waren noch nicht aufgestanden. Sina stieß einen lauten Schrei als Weckruf aus und keine fünf Minuten später saßen alle am Tisch. Alle waren zwar müde, doch als sie die frischen Sachen sahen, besserte sich die Laune zusehends.

„Du bist echt verrückt“, meinte Kai und bedankte sich für das gigantische Frühstück. Alle stimmten ihm zu und ließen es sich schmecken. „Leute, es ist so herrlich draußen. Wollen wir nachher zum Strand gehen?“, fragte sie.

„Warum nicht. Wir nehmen den Ball mit und amüsieren uns“, entgegnete Timo.

Die drei Wochen waren im Handumdrehen vorüber. Die Gruppe stand am Flughafen und verabschiedete sich. „Pass auf dich auf“, ermahnte Lucy ihre Freundin, „und meldet euch mal!“ Dann waren die beiden fort und die drei blieben alleine zurück. Auf dem Weg zur Hütte wurde kaum gesprochen. Jeder hing seinen Gedanken nach.

Sina unternahm einen kleinen Spaziergang, während die Jungs in der Sonne lagen. Nach einer Weile marschierte sie zurück und fragte nach, ob sie Hunger hätten. Beide meinten, eine Kleinigkeit würde reichen, und halfen ihr beim Zubereiten. Als sie mit dem Essen fertig waren, räumten sie zusammen auf und setzten sich an das Lagerfeuer, das Kai entfacht hatte. „Wann steigt unser Projekt?“, erkundigte sich Timo. „Wenn wir alles haben, was gebraucht wird“, entgegnete Sina. „Wir gehen morgen einkaufen und legen los“, schlug Kai vor. „Abgemacht“, sagte sie. Sie blieben sitzen, bis das Feuer heruntergebrannt war.

Am nächsten Tag brachen sie früh auf, um ihr Vorhaben umzusetzen. Schwer bepackt kehrten sie drei Stunden später zur Hütte zurück. Sie stellten ihre Einkäufe ab, aßen etwas und überlegten, wie sie die Sache anfangen wollten.

„Ich würde sagen, wir fahren nach Waterford und sehen uns die Obdachlosen dort erst einmal an. Wir sollten versuchen, das Vertrauen dieser Menschen zu gewinnen“, meinte Sina. „Wenn wir das geschafft haben, wird es leichter sein, mit ihnen ins Gespräch zu kommen.“ „Ja, das hört sich vernünftig und plausibel an“, stimmte Kai seiner Freundin zu. „Ok, dann würde ich sagen, wir beginnen morgen unser Projekt“, entschied Sina. Die drei verbrachten die restliche Zeit mit Spielen, Essen, Lesen und Faulenzen.

Am nächsten Tag frühstückten sie zusammen, schafften Ordnung und machten sich auf den Weg nach Waterford. Es dauerte nicht lange, da sahen sie die Obdachlosen. Sina sprach sie an und wurde misstrauisch angeschaut. Erst als sie Pfarrer Tobias erwähnte, verschwand die Abwehr. Die Leute fragten, woher sie ihn kannte und was sie mit ihm zu tun hatte. Sina, Kai und Timo unterhielten sich ausgiebig mit den armen Menschen. Einer von ihnen trauerte um seinen Freund. Er erzählte, dass dieser letzte Woche zu Pfarrer Tobias gegangen und seitdem verschwunden sei. Er beschrieb ihn und bat sie, nach ihm Ausschau zu halten. Gegen 16:00 Uhr verabschiedeten sie sich und versprachen wiederzukommen. Auf dem Heimweg lief ihnen der Pfarrer über den Weg. Sina sprach ihn auf den Vermissten an und wartete gespannt auf die Antwort. Zuerst schien er etwas nervös aber dann erklärte schließlich, dass Matthias, so heiße der Mann, seine Verwandten in einer anderen Stadt besuchen wollte.

„Wieso interessiert euch das denn?“, fragte er. Sina erzählte ihm, dass sie sich um die Obdachlosen kümmern möchten und sich heute mit ihnen unterhalten hätten. Dabei wäre das Gespräch auf diesen Mann gekommen. Auf dem Heimweg ging Sina die Situation mit dem Pfarrer nicht aus dem Kopf. Irgendetwas störte sie an der Sache, aber sie konnte sich nicht erklären, was. Sie wollten zuerst nur Suppe und Brot anbieten, doch Kai meinte: „Wie wäre es mit Kaffee oder Tee? Die Leute würden sich mit Sicherheit über etwas Warmes zu trinken freuen.“ „Ja, da hast du Recht“, stimmte Timo zu. „Gehen wir gleich zum Einkaufen oder habt ihr heute keine Lust mehr?“, fragte Sina. „Von mir aus können wir das gerne jetzt machen“, antwortete Kai. „Wir haben jetzt eh nichts anderes vor.“ „Ok, dann würde ich sagen, packen wir es an“, entgegnete Sina. Sie nahmen ihre Taschen und Geld und marschierten los. Da sie nur wenig brauchten, waren sie schnell fertig. Nur Kai hinkte hinterher, denn er bestand auf seiner Bratwurst. Da ihnen kalt war, legten sie bei Frieda einen Stopp zum Kaffeetrinken ein. Sie erzählten ihr von ihrem Plan und freuten sich über ein Rezept für eine Gemüsesuppe. Anschließend traten sie den Heimweg an. Sie setzten sich in die Küche und schnippelten gemeinsam das Gemüse.

„Wenn wir die Suppe jetzt auf den Ofen stellen, ist sie fertig, bis wir zu Bett gehen“, meinte Sina. „Morgen erwärmen wir sie und füllen sie um. Kaffee und Tee kochen wir frisch“, erklärte sie den Jungs.

„Wisst ihr, was eine große Hilfe für uns wäre?“, fragte Timo. „Wir bräuchten ein Gefährt, das man ziehen kann. Lasst uns doch mal den Schuppen untersuchen, ob da so etwas rumliegt.

---ENDE DER LESEPROBE---