3,99 €
Simone und ihre Tochter Tamara führen ein harmonisches Leben miteinander. Dass es ab und zu finanziell ein wenig eng ist, stört die beiden nicht, sondern läßt sie vielmehr das, was sie haben, nämlich ein schönes Zuhause, nette Freunde und ab und zu mal eine kleine Reise, umso stärker würdigen. Alles könnte perfekt sein, wenn Tamara nicht über eine Gabe verfügen würde, die das Zusammenleben von Mutter und Tochter auf eine harte Probe stellt …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2022
Wesen der schwarzen Magie
Von Brigitte Thurner
Die kleine Tamara kam zum Leid ihrer Mama Simone als Schreikind zur Welt.
Der leibliche Vater hatte sich bereits vor der Geburt aus dem Staub gemacht und alles der werdenden Mutter überlassen.
Obwohl es eine schwierige Aufgabe war, meisterte die junge Mutter ihr Schicksal und schaffte es, ein fast normales Leben mit ihrer Tochter zu führen.
Weil die Kleine aber leider sehr viel schrie, war Simone gezwungen, drei Mal die Wohnung zu wechseln, weil die anderen Mieter kein Verständnis für die Nöte der Kleinen hatten. Diese ständigen Umzüge waren alles andere als leicht, doch Simone gab nicht auf. Der letzte Wohnungswechsel war in die Nähe der Großmutter von Tamara. Das Verhältnis von Simone und ihrer Mutter war durch ihren Ex belastet gewesen und der Kontakt unterbrochen worden. Zum Glück sprachen sich die beiden, Mutter und Tochter, aus und begruben das Kriegsbeil. Als Simones Mutter verstarb, vermachte sie ihrer Tochter das Haus mit der Auflage, dass sie nie mehr wieder zu ihrem Ex zurückgehen dürfte.
Simone verbrachte die meiste Zeit mit ihrem Kind auf dem Spielplatz, suchte Kontakt zu anderen Müttern und lernte so ihre Freundin Franziska kennen.
Auch sie war ein alleinerziehend und kannte die Probleme. Franziska hatte einen Sohn, der mit nur einem Arm geboren wurde. Die beiden Mütter trafen sich fast täglich und unternahmen mit ihren Kindern viel an der frischen Luft.
Mit der Zeit fühlten sich die beiden Kinder fast wie Geschwister und waren unzertrennlich. Auch Simone und Franziska hielten fest zusammen und unterstützten sich gegenseitig.
So verging die Zeit und der erste Kindergartentag stand an. Während Tamara einen Platz im regulären Kindergarten bekam, sollte der kleine Benjamin eine heilpädagogische Einrichtung besuchen. Doch Franziska sah das überhaupt nicht ein und es begann einen Hürdenlauf durch die Ämter.
Aber nach vielen Anläufen, einer Menge Schreibkram und beharrlichem Argumentieren, schaffte sie es, ihren Sohn in der gleichen Einrichtung wie Tamara unterzubringen. Das war ein Glück für die beiden, denn so konnten sie zusammen -bleiben.
Mit der Zeit fanden sie unterschiedliche Freunde und Benjamin wurde immer öfter zu Kinderpartys eingeladen, während Tamara gemieden wurde. Sie saß meist alleine in einer Ecke und führte Selbstgespräche.
Eines Tages beobachtete eine Erzieherin, wie das Mädchen mit sich selbst sprach, als würde ihr jemand gegenübersitzen.
„Tamara, mit wem sprichst du denn da?“
„Mit meiner Freundin, warum?“
„Nur so, ich wollte dich nicht stören!“
Diese Entdeckung besprach sie mit der Leiterin des Kindergartens.
„Mit dem Kind stimmt etwas nicht!“, sagte die Erzieherin und bat die Mutter um ein Gespräch.
Sie erklärte ihr, dass das kein normales Verhalten sei und das Kind unbedingt von einem Facharzt untersucht werden sollte.
„Wollen Sie mir damit sagen, dass mein Kind nicht normal ist?“
„Nein, das möchte und werde ich nicht, aber sie sollten das nicht auf sich beruhen lassen!“
Simone war stinksauer und rief sofort nach dem Gespräch ihre Freundin an.
„Stell dir das mal vor, sie unterstellt mir, dass Tamara nicht ganz dicht ist“, polterte sie ins Telefon.
„Jetzt warte doch erst einmal ab, was der Arzt dazu sagt“, meinte Franziska.
„Ach, bist du auch auf ihrer Seite?“
„Du verstehst mich total falsch. Klar mache ich mir auch Sorgen, aber deswegen darfst du dich nicht so verrückt machen“, meinte sie besorgt.
Simone hatte ein Einsehen und ließ in den folgenden Wochen zahlreiche Untersuchungen an ihrer Tochter vornehmen, doch niemand konnte etwas Auffälliges feststellen.
Glücklich teile sie die Ergebnisse der Erzieherin mit und bat sie, Tamara so zu nehmen, wie sie war – ein fantasievolles kleines Mädchen eben.
Einige Tage später erwischte sie Tamara, wie sie in ihrem Kinderzimmer eine Unterhaltung mit der Luft führte.
„Tamara, bitte setz dich mal zu mir. Ich muss mit dir reden“, forderte sie ihre Tochter auf.
„Was ist denn, Mama? War Isabell zu laut?“
„Wie, wer ist Isabell?“
„Na, die da, kannst du sie nicht sehen?“
„Oh, mein Gott! Schatz, da ist niemand“, flüsterte Simone unter Tränen.
„Mama, warum weinst du denn jetzt?“
„Na, weil ich mir große Sorgen um dich mache!“
„Das brauchst du nicht, mir geht es gut, ich habe nur Spaß gemacht“, meinte die Kleine und fiel Simone um den Hals.
Von diesem Tag an unterhielt sich Tamara nur noch mit ihrer imaginären Freundin, wenn sie alleine war. So verging die Zeit und keiner sprach mehr davon.
Drei Jahre später kam das Mädchen in die Schule. Von Anfang an war sie wie ausgewechselt. Sie fand eine Freundin, hatte Spaß am Unterricht und ging gerne zur Schule. Simone war so dankbar, dass sie eine große Geburtstagsfeier für Tamara steigen ließ. Neben Benjamin waren noch sechs andere Kinder eingeladen. Sie machten verschiedene Spiele, zogen Lose, aßen Kuchen, Pommes und all das, was Kinder eben gerne mochten. Tamara war so glücklich, wie schon lange nicht mehr.
Am Abend, als sie von ihrer Mama zu Bett gebracht wurde, meinte sie: „Danke für den schönen Tag. Den werde ich niemals vergessen!“
„Das war mein Plan, genauso!“
Sie gaben sich einen Gute-Nacht-Kuss, und Simone verließ das Zimmer. Sie musste die Wohnung aufräumen, denn so viele Kinder hinterlassen schon mal ein Chaos.
Dass ihre Tochter nicht schlief, ahnte sie nicht, denn die Kleine war sehr vorsichtig geworden.
Ein paar Tage später, die beiden saßen im Wohnzimmer und Tamara sah ihrer Mutter zu, wie diese einige Kleidungsstücke nähte, zuckte die Kleine plötzlich zusammen und stieß einen Schrei aus.
„Tamara, Schatz, was hast du denn?“, fragte Simone erschrocken.
Das Kind ging nicht auf die Frage ein, denn ein Mann saß direkt neben ihr und starrte sie an.
„Mama, der soll weggehen, er macht mir Angst“, schrie Tamara hysterisch.
„Aber da ist doch niemand!“, entgegnete Simone ängstlich.
Sie beobachtete ihre Tochter verstohlen und bekam Angst. Sie nahm sich vor, gleich Morgen beim Arzt anzurufen. Um auf andere Gedanken zu kommen, beendete sie die Arbeit und schlug Tamara einen Spaziergang vor. Die Kleine war sofort einverstanden und so zogen sie los.
Obwohl das Wetter nicht besonders schön war, tummelten sich viele Menschen im Park. Tamara störte es genauso wenig wie ihre Mutter. Hauptsache, sie waren zusammen.
Am nächsten Morgen brachte Simone ihre Tochter zur Schule und ging zur Arbeit. In ihrer Pause rief sie beim Arzt an und besorgte sich einen Termin.
Zwei Tage später war es dann so weit. Sie betrat mit Tamara die Praxis und setzte sich ins Wartezimmer. Simone fiel auf, dass Tamara nervös war.
„Was ist denn heute los mit dir?“
„Warum? Es ist alles in Ordnung!“, erwiderte die Tochter.
Sie fühlte sich unwohl und wäre am liebsten davongelaufen. Warum konnte sie manchmal Menschen sehen, die ihre Mutter nicht sah?
Dann wurden sie aufgerufen und in ein Sprechzimmer begleitet. Kurz darauf erschien der Arzt. Er schüttelte den beiden die Hand und nahm Platz.
„So, dann erzählen Sie mir mal, warum Sie heute bei mir sind!“
Simone schilderte ihm ihre Beobachtungen und wartete ab.
Der Arzt machte ein paar Untersuchungen bei Tamara und setzte sich wieder. Sekundenlang starrte er Mutter und Tochter an und meinte dann: „Also, ich kann beim besten Willen nichts feststellen. Ich denke, Ihre Tochter hat einfach eine blühende Fantasie oder buhlt um Aufmerksamkeit!“
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Dass alles in Ordnung ist“, entgegnete der Arzt.
„Soll ich diese Gespräche etwa einfach ignorieren?“
„Nun, wir haben ja beim letzten Mal schon den Kopf untersucht und nichts gefunden. Ich würde Ihnen raten, die Sache nicht so eng zu sehen und eine Weile abzuwarten! Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie beobachten Tamara drei Monate und führen eine Art Tagebuch. Mit diesen Notizen sehen wir uns dann wieder!“
„Ja, das hört sich gut an. Ich werde jede noch so kleine Veränderung aufschreiben und vielleicht bringt uns das weiter“, erwiderte Simone.
Sie erhoben sich, bevor sie jedoch den Raum verließen, sah der Arzt die Kleine an und sagte sanft: „Tamara, du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du reden möchtest!“
Er hielt ihr seine Visitenkarte entgegen und verabschiedete sich von Mutter und Tochter. Da Tamara keinen Ton von sich gab und ziemlich in sich gekehrt war, schlug Simone einen Zwischenstopp beim Eismann vor.
„Hallo, hast du gehört, was ich gesagt habe“, hakte Simone nach.
„Ja, habe ich, können wir gerne machen.“
Freude sieht anders aus, dachte sich Simone und ging neben ihrer Tochter her. Das Eiscafé war gleich um die Ecke und so waren sie nur fünf Minuten dorthin unterwegs. Sie traten ein, suchten sich einen Platz und setzten sich. Kurz darauf erschien der freundliche Ober und brachte die Karte.
„Ich bin sofort wieder bei Ihnen und nehme Ihre Bestellung auf!“
Tamara konnte sich nicht zwischen Kiwi- und Bananeneis entscheiden und nahm beides. Simone dagegen hatte nur Lust auf einen Eiskaffee. Nachdem der Ober ihre Wünsche notiert hatte, lehnte sich Simone zurück und genoss die warmen Sonnenstrahlen, die ihr ins Gesicht schienen. „Sag mal, wie wäre es, wenn wir beide mal ein paar Tage verreisen würden?“
„Au ja, wo soll es denn hingehen?“
„Ich dachte an die Berge. Wir könnten wandern, einen Bauernhof besuchen oder reiten!“
„Oh Mami, das wäre wirklich wunderbar, aber wer soll das bezahlen? Wir haben doch kein Geld!“
„Das, mein Schatz, lass meine Sorge sein. Ich werde das schon regeln.“
„Wann fahren wir?“
„Wenn du möchtest, gleich nächste Woche, wenn die Ferien beginnen.“
So fröhlich hatte sie ihre Tochter schon ewig nicht mehr gesehen, Simone wusste, dass diese Auszeit beiden guttun würde und war zufrieden.
Die kommende Woche verging wie im Flug. Sie kauften zusammen ein, putzten die Wohnung und packten ihre Koffer. Am Freitag war es dann so weit. Simone holte Tamara von der Schule ab und fuhr mit ihr in die Berge. Sie hatte eine schöne Pension gefunden, die sie sich leisten konnten, und freute sich riesig.
„Na, bist schon aufgeregt?“
„Ja, ich kann es kaum erwarten. Das ist das erste Mal, dass wir Urlaub machen“, meinte Tamara lächelnd.
Bisher scheiterte es immer am Geld, aber Simone hatte, wann immer es ging, etwas zur Seite gelegt, um sich und ihrer Tochter irgendwann einen Urlaub finanzieren zu können. Und nun war es so weit, auch wenn es nur für eine Woche war, aber das hatten sie sich einfach verdient.
Nachdem sie sich zweimal verfahren hatten, waren sie endlich am Ziel. Tamara stieg aus, rümpfte die Nase und meinte: „Puh, hier stinkt es aber ganz schön!“
„Tja, mein Schatz, das nennt man Landluft“, kicherte Simone und öffnete den Kofferraum.
Sie nahmen ihre Taschen und schlugen den Weg zum Eingang ein.
„Hallo, Sie müssen Simone mit Ihrer Tochter Tamara sein“, rief ihnen eine Frau mittleren Alters entgegen.
„Genauso ist es“, gab Simone zurück.
Sie schüttelten sich die Hände und gingen hinein.
Nachdem das Schriftliche erledigt war, zeigte ihnen die Frau ihr Zimmer und ließ sie alleine.
„Wenn es nicht so stinken würde, wäre es bezaubernd“, flüsterte Tamara und hielt sich die Nase zu.
„Mach dir keine Sorgen, morgen riechst du das schon gar nicht mehr“, kicherte Simone und fing an, auszupacken.
Als alles verstaut war, schlüpfte sie in bequemere Sachen und sagte: „Jetzt brauche ich erst einmal eine Tasse Kaffee und etwas Ruhe, lass uns hinuntergehen!“
Tamara folgte ihrer Mutter und bestaunte dabei die Einrichtung. An den Wänden hingen viele Fotos von berühmten Leuten, die hier schon abgestiegen waren.
Zum Glück waren die Türen beschriftet und somit fanden sie schnell den Speiseraum.
„Na, noch eine kleine Stärkung, bevor ihr die Gegend untersucht?“
„Ja, so könnte man das auch nennen“, erwiderte Simone freundlich.
„Was darf ich euch denn bringen?“
„Ich hätte sehr gerne einen Kaffee und meine Tochter ein Glas Cola.“
„Kommt sofort!“, versprach Marion und eilte davon.
Frisch gestärkt verließen sie die Pension und verschafften sich einen kurzen Überblick.
„Es ist schön hier, so leise“, meinte Tamara.
Simone nickte nur mit dem Kopf und genoss die Stille. Gegen achtzehn Uhr kehrten sie zurück und wurden von einem verführerischen Duft empfangen.
„Hm, das riecht nach Schnitzel und Pommes“, schmunzelte Tamara, die jetzt erst bemerkte, dass sie fast noch nichts gegessen hatte.
„Na dann los, hauen wir uns den Bauch voll“, lachte Simone und schob ihre Tochter zur Tür hinein. Marion steuerte auf die beiden zu und brachte sie zu einem freien Tisch. Außer ihnen saßen noch fünf andere Gäste im Speisesaal. „Was darf ich euch denn zu trinken bringen?“
„Ich nehme zur Feier des Tages ein Glas Wein“, sagte Simone und sah ihre Tochter fragend an.
„Ich denke, ich nehme eine Cola!“
Die Wirtin nickte freundlich und entfernte sich. „Wie sieht es jetzt aus, essen wir ein Schnitzel?“
„Ja, das hat es schon ewig nicht mehr gegeben“, erwiderte Tamara strahlend.
Nachdem Marion die Getränke gebracht hatte, bestellte Simone zweimal Schnitzel mit Pommes und Salat. Sie freute sich, dass es ihrer Tochter hier gefiel, und vergaß die Probleme, die sie zuhause hatten. Nach dem Essen drehten sie noch eine Runde im Hof und begaben sich müde auf ihr Zimmer. Um etwas sparsamer zu sein, hatte Simone ein Doppelbettzimmer für sich und die zehnjährige Tochter gebucht.
„Wäre dir ein eigenes Zimmer lieber gewesen?“, fragte sie Tamara vorsichtig.
„Nein, warum? Solange du nicht deine Füße zu mir streckst, ist alles in Ordnung“, witzelte Tamara.
Sie lagen schon eine Weile im Bett, als Simone meinte: „So müsste es immer sein!“
Tamara antwortete nicht, denn sie schlief schon. Die frische Luft und das gute Essen hatten sie müde gemacht. Simone gab ihr einen Kuss auf die Stirn und drehte sich um. Kurz darauf war auch sie eingeschlafen.
Die Woche verging wie im Flug und die beiden versprachen, so bald wie möglich wiederzukommen. Marion bedankte sich und umarmte die beiden. „Ich verlasse mich auf euer Versprechen!“
Sie winkte ihnen hinterher und machte sich wieder an die Arbeit, schließlich hatte sie noch andere Gäste.
Ab diesem Zeitpunkt fuhr Simone mit ihrer Tochter so oft es die finanzielle Lage zuließ zu Marion und ihrer Pension.
Vier Jahre später hieß es wieder einmal Abschied zu nehmen. Simone und Tamara waren schon Stammgäste bei Marion und wären am liebsten noch länger geblieben. Schweren Herzens stiegen sie in das Auto und fuhren los.
Zuhause angekommen half Tamara ihrer Mutter beim Auspacken und ging dann auf ihr Zimmer. Sie wollte gleich ihre Freundin anrufen, um ihr mitzuteilen, dass sie wieder hier war.
„Hallo Anni, ich bin wieder im Lande, hast du Lust zu mir zu kommen?“
„Würde ich gerne, aber ich habe Hausarrest!“
„Was, wieso denn, was hast du angestellt?“
„Du weißt doch, dass Kili eine Party geschmissen hat, leider war ich nicht pünktlich zuhause!“
„Das heißt?“
„Ich bin erst um halb zwölf nachhause gekommen, und das haben meine Eltern nicht lustig gefunden“, erklärte Anni.
„Das kann ich verstehen, was hat dich denn geritten, so einen Quatsch zu machen?“
„Na ja, da war Sebi, du kennst ihn doch. Wir haben getanzt und er hat mich gefragt, ob ich mit ihm gehen will“, erzählte sie.
„Hast du, bist du etwa verknallt?“
„Ja, bis über beide Ohren!“
„Mensch, Anni, der Typ ist drei Jahre älter als du, der hat mit Sicherheit etwas anderes im Kopf als du“, meckerte Tamara.
„Oh Mann, du hörst dich schon wie meine Mutter an“, entgegnete Anni sauer.
„Sei mir nicht böse, aber der hat es faustdick hinter den Ohren. Weißt du noch, wie er mit Mia zusammen war?“
„Kommst du jetzt wieder mit diesen alten Kamellen?“
„Ich möchte nur, dass er dich nicht genauso ausnutzt“, erklärte Tamara.
„Ich muss jetzt aufhören, meine Mutter hat nach mir gerufen“, meinte Anni und legte ohne ein weiteres Wort auf.
Tamara blieb ein paar Minuten sitzen, erhob sich dann und ging zu ihrer Mutter.
„Na, schon fertig mit deinem Reisebericht?“
„Ja leider, Anni hat Hausarrest, sie hat Mist gebaut.“
„Möchtest du darüber reden?“
„Sie war zu Kilis Party eingeladen und ist erst gegen halb zwölf zuhause angekommen“, meinte Tamara und schüttelte den Kopf.
„Findest du das richtig?“, fragte Simone.
„Nein, überhaupt nicht, es geschieht ihr ganz recht, dass sie jetzt zuhause bleiben muss, aber das Schlimmste an der ganzen Sache ist, dass sie sich mit Sebi eingelassen hat“, zischte Tamara.
„Wie meinst du das?“
„Na, er war der Freund von Mia, du weißt schon, das Mädchen, das Schlaftabletten genommen hatte!“
„Ach, du lieber Gott. Hast du mit Anni darüber gesprochen?“
„Ich habe es versucht, aber diese dumme Kuh wollte mir nicht zuhören.“
Simone merkte, dass die Sache ihrer Tochter nahe ging, und nahm sie in den Arm.
„Du kannst nicht jeden beschützen, jeder Mensch muss seine eigenen Fehler machen!“
„Soll ich etwa zusehen, wie sie sich zugrunde richten lässt?“
„So habe ich das nicht gemeint, aber sie wird nicht auf dich hören.“
„Nein, denn diese dumme Ziege hat sich in ihn verknallt und glaubt, dass er der Richtige ist“, schrie sie laut und wütend.
Tamara drehte sich um, sah aus dem Fenster und meinte: „Ich geh zu Bett und lese noch ein wenig, um auf andere Gedanken zu kommen!“
„Ist gut, Schatz, wir sehen uns dann morgen.“
Während Simone im Wohnzimmer saß, lag Tamara auf ihrem Bett und starrte zum Fenster hinaus. Sie überlegte, wie sie ihre Freundin von diesem fiesen und hinterhältigen Typen wegbringen konnte. „Stell ihm eine Falle!“, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihr. Tamara fuhr herum, sah aber nichts und setzte sich auf. „Wer bist du?“, flüsterte sie kaum hörbar.
„Ich bin Annis Vater!“
„Was? Das kann nicht sein, ihr Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen“, stotterte Tamara.
„Ich weiß, aber ich bin es trotzdem!“
„Heißt das, ich spreche mit einem Geist?“
„So könnte man es auch nennen“, antwortete er leise.
„Das reicht, verschwinde, sonst hole ich meine Mutter“, kreischte sie.
„Können dich andere auch sehen?“
„Nein, du bist die einzige, wieso auch immer“, meinte er.
Es wurde still. Tamara versuchte, das eben Geschehene zu verstehen, schaffte es aber nicht. Sie wollte ihm noch eine Frage stellen, aber er war fort. Jetzt war sie erst recht durcheinander. Wie, um alles in der Welt, konnte das sein?
Schritte näherten sich. „Schatz, bist du noch wach?“
Tamara stellte sich schlafend und war froh, als ihre Mutter wieder aus dem Zimmer ging. Das würde ihr ohnehin niemand glauben!
Simone ging ins Bad, zog ihr Nachthemd an und holte wie jeden Abend das Notizbuch aus ihrem Nachtkästchen.
Nun waren schon fast vier Wochen vergangen und Tamara hatte kein einziges Mal laut mit einem Unsichtbaren gesprochen. Vielleicht war diese Phase ja vorbei?
Sie legte das Büchlein wieder in die Schublade, löschte das Licht und schlief ein. Am nächsten Morgen, es war Sonntag, strömte frischer Kaffeeduft durch die Wohnung. Simone stand lächelnd auf und eilte in die Küche. „Hey, das ist aber lieb von dir“, meinte sie zu Tamara, die mit dem Frühstück wartete.
„Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag, Mama“, flüsterte Tamara und gab ihrer Mutter einen Kuss.
„Ach, du lieber Gott, das habe ich ja total vergessen“, entgegnete Simone.
„Mama, wie kann man denn seinen eigenen Geburtstag vergessen?“
„Ach, wenn man älter wird, ist das nicht mehr so wichtig“, kicherte Simone.
Plötzlich ging die Tür auf und Franziska kam singend mit einer Torte herein. Sie, ihr Sohn Benjamin und Tamara sangen aus voller Brust ‚Happy Birthday‘, während Simone mit Tränen in den Augen am Tisch saß.
„Ihr seid ja verrückt, ich danke euch!“
Franziska umarmte ihre Freundin und wünschte ihr alles Gute. Danach gratulierte ihr Benjamin und überreichte ein Geschenk.
„Ist das für mich?“
„Klar, was denkst du denn, für den Weihnachtsmann?“
Tamara gab ihrer Mutter ein Messer und wartete, bis diese die Torte anschnitt. „Jetzt pack schon aus, ich verteile in der Zwischenzeit den Kuchen“, forderte Tamara ihre Mutter auf.
Simone löste ganz vorsichtig die Schleife, entfernte das Klebeband und stieß einen Schrei aus.
„Ihr seid ja wohl bekloppt, wie könnt ihr mir so ein teures Geschenk machen?“
„Das hat schon seinen Sinn, damit wirst du dich nicht mehr verfahren und direkt am Ziel ankommen“, meinte Franziska und lachte lauthals.
„Woher weißt du das?“
„Na, Tamara hat es mir verraten. Sie hat mir erzählt, dass sie schon befürchtet hat, dass ihr nie an eurem Ziel ankommen würdet.“
„Du kleines, hinterhältiges Biest“, sagte sie zu Tamara und bedankte sich mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
„Genug gequatscht, lasst uns jetzt endlich essen, bevor die Torte sich auflöst“, mischte sich Benjamin grinsend ein.
„Hast ja recht, du Vielfraß“, scherzte Simone und legte ihr neues Navi zur Seite. Sie ließen sich den Kuchen schmecken, unterhielten sich angeregt und verabschiedeten sich am frühen Abend.
„Es war wirklich schön, vielen Dank für das tolle und vor allem nützliche Geschenk“, meinte Simone, während sie ihre Freundin in den Arm nahm.
Nachdem die Gäste fort waren, räumte Tamara die Küche auf und machte es sich mit Mama vor dem Fernseher bequem.
Gegen einundzwanzig Uhr ging Tamara zu Bett, da sie am nächsten Tag eine Klassenarbeit schreiben musste.
Simone blieb noch auf, sie sah sich den Film zu Ende an, bevor auch sie zu Bett ging. Mit den Gedanken jedoch war sie bei ihrer Tochter. Wie schnell doch die Zeit vergangen war. Eben war sie noch ein Baby und jetzt war sie schon fast vierzehn Jahre. Am Filmende schaltete sie den Fernseher aus und ging nach oben, nachdem sie im Bad gewesen war, nahm sie wie jeden Abend ihr Notizbüchlein, notierte den Eintrag und löschte müde das Licht.
Am nächsten Morgen hatte der Alltag die beiden wieder fest im Griff. Tamara marschierte zur Schule und Simone fuhr zur Arbeit.
In der Schule angekommen, kam Anni mit total verweinten Augen auf Tamara zu. „Sag mal, wie siehst du denn aus?“, erkundigte sich Tamara.
„Mir geht es echt schlecht, ich muss mich dauernd übergeben und kann kaum mehr schlafen“, erklärte Anni unter Tränen.
„Warst du schon beim Arzt?“
„Spinnst du, was soll ich denn meinen Eltern sagen?“
„Was weiß ich? Vielleicht die Wahrheit!“
„Hey, du bist so eine blöde Kuh geworden, ich rede gar nicht mehr mit dir“, schimpfte Anni und lief davon.
„Anni, jetzt warte doch mal, so war das nicht gemeint“, rief Tamara, aber ihre Freundin blieb nicht stehen.
Der Schulgong erinnerte Tamara daran, dass es Zeit war, sich in die Klasse zu begeben. Sie setzte sich an ihren Platz, packte die Sachen auf den Tisch und wartete darauf, dass der Lehrer die Aufgaben verteilte.
„Tamara, weißt du zufällig, wo Anni ist?“
„Nein, keine Ahnung, vielleicht hat sie verschlafen!“
„Das kann nicht sein, ich habe sie vorher auf dem Flur gesehen“, meinte ein Mitschüler grinsend.
„Na gut, dann muss sie eben nachschreiben“, erwiderte der Lehrer und begann den Unterricht.
Obwohl Tamara in Gedanken bei ihrer Freundin war, konzentrierte sie sich auf die Arbeit und blendete alles andere aus.
Nach der Schule holte sie ihr Handy aus der Jacke und versuchte Anni zu erreichen, aber es meldete sich nur die Mailbox.
„Bitte ruf mich an, wenn du deine Nachrichten abgehört hast“, sprach sie und legte auf.
Im Bus sah Tamara immer wieder auf ihr Telefon, doch es kam keine Antwort.
Kaum zuhause angekommen, versuchte sie sich abzulenken und kochte eine Kleinigkeit für sich und Simone. Tamara deckte den Tisch und beschloss, ihrer Mutter von dem Zwischenfall zu erzählen. Sie hatten fast keine Geheimnisse voreinander. Und darauf legte sie großen Wert.
Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich die Haustüre. „Mama, na endlich!“
„Was ist denn geschehen, wieso bist du denn so aufgeregt?“
„Ich muss dringend mit dir reden, aber vorher essen wir“, schlug Tamara vor.
Simone war etwas verwirrt, setzte sich zu Tisch und bedankte sich bei ihrer Tochter für das gelungene Abendessen.
Nachdem sie zusammen die Küche aufgeräumt hatten, nahmen sie im Wohnzimmer Platz.
„Nun erzähl mir schon endlich, was dich so bewegt“, meinte Simone.
„Ich glaube, Anni ist schwanger!“, platzte es aus Tamara heraus.
„Sie ist was?“
„Na, ich bin mir nicht sicher, aber sie hat Probleme.“
„Wie kommst du denn auf so was?“
„Sie kam heute Morgen mit total verweinten Augen auf mich zu und meinte, ihr ginge es gar nicht gut.“
„Aber deshalb muss sie doch nicht gleich schwanger sein!“
„Ich habe sie gefragt, ob sie schon beim Arzt war und daraufhin ist sie regelrecht ausgeflippt.“
Simone schwieg einige Sekunden und meinte dann: „Was hat sie denn gesagt?“
„Dass ich eine dumme Kuh bin, dass sie mir nie wieder etwas erzählen würde und was sie ihren Eltern sagen sollte“, erklärte Tamara.
„Was hast du geantwortet?“
„Ich schlug ihr vor, die Wahrheit zu sagen, dann ist sie davongerannt!“
„Mama, ich versuche schon den ganzen Tag, sie anzurufen, aber es meldet sich immer nur die Mailbox, ich mache mir Sorgen um sie!“
„Hat sie denn einen Freund?“
„Ja, und was für einen! Sebi, dieses Schwein“, zischte Tamara und schüttelte den Kopf. „Schuld ist ihre Mutter! Wenn sie sich mehr Zeit für Anni genommen hätte, wäre sie nicht an diesen Kerl geraten“, schluchzte Tamara.
„Aber Schatz, was soll denn das heißen?“
„Na, seit sie diesen Typen geheiratet hat, war ihr alles andere wichtiger als ihre eigene Tochter“, erklärte Tamara.
„Bitte urteile nicht über Menschen, die du kaum kennst. Das steht uns nicht zu.“
„Jetzt warte mal ab, vielleicht kommt Anni morgen zur Schule und hat alles wieder im Griff“, flüsterte Simone und nahm Tamara in den Arm.
„Ich hoffe es, sie ist immerhin meine beste Freundin“, erwiderte Tamara.
Die beiden blieben noch eine Zeit lang sitzen und redeten miteinander. Simone schaffte es, ihre Tochter ein wenig zu beruhigen, bevor sie zu Bett gingen.
Am nächsten Morgen schnappte sich Tamara sofort ihr Handy und wählte Annis Nummer.
Nichts, wieder nur die Mailbox. „Bitte, Anni, geh ran, ich mach mir Sorgen“, rief sie und legte auf.
„Guten Morgen, mein Schatz, hast du etwas schlafen können?“
„Nicht wirklich, zum Glück schreiben wir heute keinen Test“, entgegnete Tamara und setzte sich an den Tisch. „Anni geht noch immer nicht ans Handy“, erzählte sie bedrückt.
Simone tat es im Herzen weh, ihre Tochter so leiden zu sehen, aber sie konnte nichts machen. Bevor sie etwas sagen konnte, läutete ihr Telefon.
„Hallo, mit wem spreche ich?“
„Bitte entschuldigen Sie die frühe Störung, hier ist Karin, die Mama von Anni.“
„Ah ja, was kann ich für Sie tun?“, fragte Simone höflich.
„Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass meine Tochter einen Unfall hatte“, teilte sie Simone mit tränenerstickter Stimme mit.
„Um Gottes willen, sie ist doch nicht etwa ...“?
„Nein, es geht ihr den Umständen entsprechend, sie liegt im Krankenhaus und stammelt immer wieder den Namen Ihrer Tochter“, erklärte Karin.
„Ich wollte sie fragen, ob Tamara Anni nicht besuchen könnte?“
„Das macht sie bestimmt, ich werde es ihr ausrichten. Bitte bestellen Sie liebe Grüße und gute Besserung“, erwiderte Simone und legte auf.
„Mama, was ist passiert? Nun sag doch was“, flehte Tamara.
„Anni hatte einen Unfall und fragt ständig nach dir“, entgegnete Simone leise.
„Darf ich gleich nach der Schule zu ihr?“
„Ja natürlich, aber versprich mir vorsichtig zu sein. Und wenn du was weißt, ruf mich bitte an“, erwiderte Simone.
Tamara konnte sich in der Schule absolut nicht konzentrieren, immer wieder sah sie auf die Uhr.
Dann ertönte endlich der Gong, sie sprang auf, packte in Windeseile ihre Sachen zusammen und stürmte aus dem Klassenzimmer.
Zum Glück erreichte sie den Bus und war zwanzig Minuten später am Krankenhaus.
An der Rezeption fragte sie nach der Zimmernummer ihrer Freundin und eilte los.
Mit wild pochendem Herzen klopfte sie leise an die Tür.
Da keine Antwort zu hören war, öffnete sie vorsichtig und betrat den Raum. Die Vorhänge waren zugezogen, nur das Piepsen eines Gerätes war zu hören.
Tamara bewegte sich wie in Zeitlupe an ein Bett und hoffte, ihre Freundin darin zu finden.
„Anni, was ist denn geschehen?“, flüsterte sie unter Tränen.
„Sie kann dich nicht hören, wir haben ihr ein Schlafmittel gegeben“, sagte plötzlich eine freundliche Stimme hinter ihr.
Erschrocken wirbelte Tamara herum und sah in das Gesicht einer Ärztin.
„Komm mit raus, ich erkläre es dir!“
Tamara folgte der Frau und wartete ungeduldig auf das, was gleich folgen sollte.
„Anni ist von einem Wagen angefahren worden, nachdem sie über die Straße gelaufen war.