4,49 €
Heike wird von ihrer großen Liebe bitter enttäuscht. Um ihr Leben neu zu überdenken, steigt sie gedemütigt in ein Flugzeug, das in Kanada landet. Ein folgenschwerer Unfall überschattet ihr bisheriges Dasein und zwingt Heike in die Knie. Kann sie jemals wieder glücklich werden?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2022
Geh nicht ohne mich
von Brigitte Thurner
Heike Thon stand mit beiden Beinen fest im Leben. Nach ihrem Studium war sie in eine angesehene Anwaltskanzlei eingetreten und hatte sich mit Fleiß und Hartnäckigkeit ihre heutige Stellung erarbeitet. Ihr Partner Justin Gerber war Pilot bei einer kleineren Fluggesellschaft und genoss jede ihm sich bietende Sekunde mit seiner Liebsten. Die beiden kannten sich schon eine Ewigkeit und waren seit sieben Jahren ein Paar. Von Hochzeit war bislang noch nie die Rede gewesen, sie hatten nicht die Neigung, die Dinge zu überstürzen. Wenn Justin nicht im Flugzeug saß, unternahmen die beiden alles Mögliche. Ihre Hobbys Radfahren, Klettern und Tauchenkosteten sie in vollen Zügen aus. Im Winter waren Skifahren und Snowboarden angesagt.Beide bewegten sich gerne und liebten dieNatur.
Heute aber stand Heike an einem Abgrund und wusste nicht mehr weiter. Die letzten Jahre zogen wie ein Film vor ihrem inneren Auge vorbei und versetzten sie in die Vergangenheit.
Schon im Kindergarten hatte sie für den gleichaltrigen Justin geschwärmt. Sie besuchten zwar verschiedene Gruppen, trafen sich aber täglich zum Spielen im Garten. Seit dieser Zeit waren sie unzertrennlich.
Sie besuchten die gleiche Schule, hatten dieselben Interessen und verbrachten jede freie Minute miteinander. Heike fürchtete sich jedes Jahr aufs Neue vor den Ferien, dann fuhr Justin mit seinen Eltern fort und sie musste zuhause bleiben. Ihre Familie hatte nicht das Geld, Urlaubsreisen zu unternehmen, da ihr Vater die Mutter nach der Geburt ihres kleinen Bruders für eine andere Frau sitzengelassen hatte. Heike schämte sich dafür sehr und erzählte, dass er im Ausland verunglückt war,wenn sie nach ihm gefragt wurde.
Betti, ihre Mutter, nahm jede Arbeit an, die ihr angeboten wurde, damit sie den beiden Kindern ein halbwegs normales Leben bieten konnte. So verbrachten sie die Ferien meist am See oder unternahmen Tagesausflüge, die nicht zu teuer für die kleine Familie waren.
Trotz der schwierigen Kindheit gelang Heike ein sehr gutes Abitur und sie absolvierte erfolgreich das Jurastudium. Ihr kleiner Bruder machte eine Schreinerlehre und legte nach einigen Jahren sogar die Meisterprüfung ab. Die beiden unterstützten ihre Mutter, wo es nur ging. Und Justin war immer an Heikes Seite.
Nach Bettis Tod bezogen die beiden ihre erste gemeinsame Wohnung und führten ihr eigenes Leben. Wenn Justin unterwegs war, nutzte Heike die Zeit, arbeitete länger und intensiver als ihre Kollegen und die Früchte ihrer Arbeit schlugen sich schon bald auf ihrem Konto nieder. Sie war sparsam und überlegte gründlich, bevor sie sich etwas gönnte.
Ein Jahr, nachdem sie zusammengezogen waren, bemerkte sie eine Veränderung an ihrem Freund. Erblieb immer wieder länger weg, traf sich angeblich mit Kollegen von der Airline und erfand haarsträubende Ausreden, wenn sie ihn begleiten wollte. Und schon bald bewahrheiteten sich ihre Befürchtungen. Sie ertappte ihn zufällig mit einer anderen Frau. Sofort kamen die Erinnerungen an ihren Vater zurück und sie verwies Justin der Wohnung.
Aber Justin belagerte Heike und schaffte es, sie umzustimmen. Er versprach ihr hoch und heilig, ihr fortan immer treu zu sein. Aber sein Versprechen hielt genau zwei Jahre vor. Während eines Discobesuchs, den sie mit ein paar Freunden unternahmen, flirtete er so heiß mit einer Blondine, dass Heike vor Wut kochte. Sie ließ sich vor ihren Kumpels nichts anmerken und schob Kopfschmerzen vor. Da Justin nicht mitgehen wollte, fuhr sie alleine nach Hause. Dort angekommen, warf sie sich aufs Bett und weinte bitterlich. Was sollte sie jetzt nur machen? In dieser Nacht packte sie ihren Koffer und verschwand für ein paar Tage aus der Stadt.
Justin erwachte am nächsten Morgen neben der Blondine und verfluchte sich dafür. Eilig sprang er in seine Klamotten und trat denHeimweg an. Er war absolut schockiert, als er die Wohnung leer vorfand. Auf dem Tisch lag ein Zettel: „Du brauchst nicht nach mir zu suchen, ich verreise für ein paar Tage, um über uns in Ruhe nachdenken zu können!“
Schwer atmend ließ Justin sich auf einen Stuhl fallen. Er hätte sich am liebsten für seine Dummheit geohrfeigt. Doch das würde an der Situation nichts mehr ändern.
Die kommenden Tage hoffte er stets, Heike anzutreffen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, doch dieser Wunsch erfüllte sich nicht. Er versuchte unzählige Male, sie anzurufen, aber es meldete sich nur die Mailbox.
„Heike, bitte komm zurück! Ich verspreche dir, nie wieder fremdzugehen“, flehte er ins Telefon. Nach fünf Tagen gab er auf und unterließ die Anrufe. Er war sich sicher, dass er seine große Liebe für immer verlorenhatte.
Eine Woche später brannte Licht, als er von der Arbeit nachhause kam.
„Heike, bin ich froh, dich wiederzusehen“, flüsterte er mit Tränen in den Augen. „Bitte, verzeih mir! Ich werde dich nie wieder enttäuschen.“
Justin versuchte Heike zu umarmen, aber sie wandte sich von ihm ab.
„Lass mich in Ruhe! Du versprichst mir jedes Mal treu zu sein, um mich dann erneut zu hintergehen“, antwortete sie mit grimmiger Miene.
An diesem Abend führten sie ein langes und emotionsgeladenes Gespräch, das damit endete, dass Heike im Wohnzimmer und Justin im Schlafzimmer schlief.
In den kommenden Wochen gab Justin sein Bestes. Er kampünktlich nachhause, überschüttete Heike mit Blumen und Pralinen und blieb abends zuhause. Heike aber dachte nicht daran, nachzugeben. Sie ließ ihn zappeln und wünschte ihm die gleichen Qualen, diesie erlebt hatte.
Ein halbes Jahr später war der Streit vergessen und sie genossen wieder ihre Liebe. Aber die Angst vor dem nächsten Seitensprung hatte Heike immer im Hinterkopf.
Die Jahre vergingen, aus Justin war ein echter Vorzeigepartner geworden und schließlich hielt er um Heikes Hand an. Heikeliebte ihn so sehr und hatte Vertrauen gefasst, so dass sie seinen Antrag glücklich annahm. Sie planten eine große Verlobungsfeier mit ihren Freunden und konnten es kaum erwarten.
Endlich war es soweit! Der große Tag war gekommen. Es gab ein üppiges Büffet, eine Band spielte leise Musik, während die Gäste aßen. Plötzlich ertönte ein Tusch, Justin stand auf, kniete sich vor seine Heike hin und steckte ihr unter Trommelwirbel den Verlobungsring an: „Ich liebe dich! Möchtest du meine Frau werden?“
„Ja, ja, ich will“, antwortete Heike mit tränenerstickter Stimme.
Die Band spielte ihr Lieblingslied und nach und nach betraten immer mehr Paare die Tanzfläche. Zoe, Heikes beste Freundin, gratulierte mit einer herzlichen Umarmung und wünschte den beiden alles Gute.
Die Party war in vollem Gange. Die Gäste unterhielten sich prächtig und hatten Spaß. Kurz vor Mitternacht war Heike müde und es zog sie nachhause. Sie suchte nach Justin, konnte ihn aber nirgendwo finden. Heike dachte sich nichts dabei und trug schon mal die Geschenke zum Auto. In dem Moment, als sie den Kofferraum öffnete, hörte sie ein verdächtiges Stöhnen aus dem Garten. Zitternd und schweißgebadet folgte sie dem Geräusch. Was sie dann zu sehen bekam, ließ sie erstarren: Ihr Verlobter und ihre beste Freundin in eindeutiger Situation auf dem Bootssteg.
Heike blieb wie angewurzelt stehen und brachte keinen Ton über die Lippen. Wütend und zutiefst verletzt nahm sie all ihren Mut zusammen und ging langsam auf die beiden zu, ohne bemerkt zu werden. Heike zog den Verlobungsring vom Finger und warf ihn Justin an den Kopf: „Hier hast du deinen dämlichen Ring zurück. Du kannst ihn ja deiner neuen Freundin anstecken.“
Erschrocken richtete sich Justin auf, richtete seine Hose und stammelte entsetzt: „Das ist nicht so, wie es aussieht! Zoe hat die Situation für sich ausgenutzt und mich verführt“, stotterte er.
Heike trat auf ihn zu, kniff die Augen zusammen und erwiderte: „Ah, ich verstehe! Sie hat dich gegen deinen Willen benutzt“, zischte sie ihren Ex-Verlobten an. „Und du bist die längste Zeit meine Freundin gewesen. Ich lege keinen Wert auf so ein verlogenes Pack.“
Heike wandte sich zum Gehen, blieb aber noch einmal stehen und sagte hocherhobenen Hauptes:„Ich gebe dir zwei Tage Zeit, um deine Sachen zu packen, und jetzt gib mir die Schlüssel!“
Mit diesen Worten verließ sie gekränkt den Ort des Geschehens.
Heike stieg in den Wagen und fuhr wie eine Verrückte davon.
„Mist! So eine verdammte Scheiße! Und das alles nur, weil du deine Finger nicht bei dir lassen konntest“, fuhr er Heikes Freundin an.
„Was? Ich glaube, du tickst nicht mehr richtig. Soll das etwa heißen, dass nur ich scharf auf einen Quickie war?“, konterte sie und gab ihm eine Ohrfeige.
Beleidigt packte Justin seine Sachen und rannte davon. Da er nicht wusste, wie er nachhause kommen sollte, bat er einen Kumpel, ihn mitzunehmen.
„Klar! Warum nicht? Aber wo ist dennHeike? Hat sie dich vergessen?“
„Ja, nein, wir haben uns gestritten und dann ist sie einfach weggefahren“, erklärte Justin sauer.
„Na, ihr fangt ja schonfrüh mit dem Streiten an“, meinte der Kumpel lächelnd.
Als er spürte, dass Justin nicht darüber reden wollte, beließ er es dabei.
Auf der Fahrt nach Hause sprachen sie kein Wort. Erst als der Wagen hielt, bedankte sich Justin und sprang hinaus. Er schlenderte schlecht gelaunt zur Wohnung und klingelte. Wie erwartet öffnete Heike nicht. Er versuchte es mit Klopfen, aber da war nichts zu machen. Kurz entschlossen setzte er sich vor die Wohnungstür und wartete. Nun saßen beide vor einem Scherbenhaufen und überlegten, wie es weitergehen sollte.
Am nächsten Morgen waren Heikes Augen rot und geschwollen. Sie hatte die ganze Nacht geweint. Justin lag zusammengekauert vor der Türe und schlief. Ein Geräusch ließ ihn aufschrecken. Ein Nachbar kam die Treppe herunter und blieb fragend vor ihm stehen.
„Oh, hallo! Hast du dich ausgesperrt?“, fragte er Justin.
„Sieht so aus! Und jetzt lass mich in Frieden“, polterte er los.
Der Nachbar schüttelte den Kopf und ging seines Weges. Justin erhob sich, streckte seine Knochen und läutete erneut.
„Heike, bitte mach doch auf. Ich weiß, dass du drin bist“, rief er durch die Tür.
„Verschwinde! Ich will dich nicht mehr sehen, du Betrüger“, schrie sie zurück.
„Wo soll ich denn hin? Ich wohne schließlich hier!“
„Das ist mir egal! Frag doch deine Freundin. Ihr habt euch gestern ja auch ziemlich gut verstanden!“
„Heike, ich weiß, dass ich Mist gebaut habe, aber ich trage nicht alleine die Schuld dafür. Dazu gehören immer zwei“, versuchte er sich herauszureden.
„Du bist so ein erbärmliches Schwein! Du poppst meine beste Freundin und dann bist du zu feige, dazu zu stehen! Scher dich zum Teufel, mit uns ist es aus“, zischte sie wütend.
„Dann lass mich doch wenigstens ein paar Klamotten holen. Ich kann so nicht zur Arbeit gehen“, flehte er sie an. Es dauerte einen Augenblick, dann öffnete sich die Tür und seine Sachen flogen ihm im hohen Bogen entgegen. Beschämt kramte Justin alles zusammen und verließ geknickt das Haus. Er stand wie ein Obdachloser auf der Straße und überlegte fieberhaft, an wen er sich jetzt wenden sollte. Er fasste an seine Gesäßtasche, vergewisserte sich, dass er wenigstens sein Portemonnaie hatte und schlug den Weg in Richtung Hotel ein. Für ein paar Tage würde er sich dort einmieten, danach würde ihm schon eine andere Lösung einfallen.
Heike stand oben am Fenster und sah ihm weinend nach. Niemals hätte sie sich das Ende ihrer Beziehung so vorgestellt. Wie in Trance griff sie zum Telefon, rief in der Kanzlei an und nahm sich für die nächsten Tage Urlaub. Als Grund hierfür nannte sie private Probleme. Ihre Kollegin bot sich an, vorbeizukommen, doch Heike wollte niemanden sehen. In dieser Nacht wälzte sie sich von der einen auf die andere Seite und fasste einen Entschluss.
Am nächsten Morgen stand sie früh auf, packte ein paar Sachen in ihren Koffer, schnappte sich den Rucksack mit dem Nötigsten und fuhr mit einem Taxi zum Flughafen. Suchend las sie die Angebote und entschiedsich spontan, nach Kanada zu fliegen. Heike hatte Glück, denn die nächste Maschine ging schon in zwei Stunden. Entschlossen buchte sie den Flug und checkte ein. Um alles Weitere würde sie sich kümmern, wenn sie am Ziel war.
Ehe sie sich versah, saß sie im Flugzeug und entfloh der Realität. Heike konnte keinen klaren Gedanken fassen und beschloss daher, die Augen zu schließen und ein wenig zu schlafen. Sie erwachte erst wieder, als der Kapitän sich bei den Fluggästen bedankte und Applaus dafür erntete.
Sie verließ den Flughafen und schaute sich um. Von einer Kollegin wusste sie, dass es ganz in der Nähe ein kleines Dorf namens Savant Lake gab, wo man abseits vom großen Touristentrubel ausspannen konnte. Sie ging in ein Geschäft und fragte, wer sie dort hinbringen könnte. Heike hatte Glück, denn ein Fischer hörte ihre Frage und bot sich an, sie mitzunehmen.
Auf der langen Fahrt unterhielten sich die beiden nur wenig. Heike wollte nichts über ihre Situation preisgeben und beschränkte sich auf Fragen über das Dorf.
„Wissen Sie zufällig, ob man dort eine kleine Hütte mieten kann?“
„Das kann ich Ihnen leider nicht beantworten, ich selbst fahre nur zum Angeln und brauche keine Unterkunft, aber fragen Sie doch vor Ort. Da werden Sie mehr erfahren.“
Dann wurde es wieder still im Auto.Der Mann drehte das Radio lauter und pfiff die Lieder mit. Nach einer gefühlten Ewigkeit meinte er: „So, Lady, wir sind gleich am Ziel.“
Er hielt an der Seite, hob die Tasche aus dem Wagen und zeigte, wohin sie gehen musste. Heike bedankte sich und reichte ihm einen Geldscheinentgegen.
„Das ist nicht nötig, aber trotzdem danke.“
Er fuhr weiter und Heike trug ihre Tasche und den Rucksack zu einer beleuchteten Hütte. Zögernd klopfte sie an und wartete auf eine Antwort. Ein großer, bärtiger Mann öffnete und musterte sie mit einem kritischen Gesichtsausdruck.
„Was wollen Sie hier?“, fragte er barsch.
„Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich hätte gerne eine Hütte gemietet. Können Sie mir irgendwie weiterhelfen?“, erklärte Heike freundlich.
„Das macht mein Weib, warten Sie hier“, brummte er und ließ sie vor der Tür stehen.
Wenige Minuten später kam eine kleine, rundliche Frau heraus und reichte ihr die Hand: „Ich bin Rose, wie kann Ihnen helfen?“
Heike trug ihr Anliegen erneut vor und hoffte insgeheim auf eine positive Antwort.
„Hier habe ich leider nichts mehr, aber im Camp Mitgard am Sturgeon Lake hätte ich noch etwas frei“, teilte sie mit.
„Schön, das nehme ich, aber wie komme ich dorthin?“
„Wenn Sie nichts gegen einen muffigen Fahrer haben, bringt Siemein Mann“, antwortete Rose. „Kein Problem, wann können wir los?“
Die Frau gab ihr ein Zeichen, lief in die Wohnung zurück und sprach laut mit ihrem Mann. Kurz darauf erschien sie wieder und meinte: „Er kommt gleich. Haben Sie Lebensmittel und etwas zu trinken dabei?“
„Nein, ich habe gar nichts, kann man hier irgendwoeinkaufen?“
„Na, heute nicht mehr, aber wenn Sie möchten, lasse ich Ihnen morgen eine Grundausstattung bringen, für heute gebe ich Ihnen von uns etwas mit, wenn Sie einverstanden sind?“
„Danke, das istwirklich sehr nett von Ihnen“, entgegnete Heike.
Nachdem die freundliche Frau ein paar Sachen für Heike zusammengestellt hatte, drückte sie sie ihrem Mann in die Hand und meinte: „Gib sie unserer neuen Kundin und sei nicht so brummig. Sie hat dir nichts getan!“ Mit dem Paket unterm Arm schob sie ihn zur Tür hinaus und winkte ihnen hinterher.
Die Fahrt war alles andere als unterhaltsam. Egal, was Heike sagte, sie bekam keine Antwort. Nach ein paar fehlgeschlagenen Versuchen gab sie endgültig auf und sah zum Fenster hinaus. Nach einer knappen dreiviertel Stunde waren sie am Ziel. Zwischen den hohen Bäumen erschien eine Lichtung mit kleinen Holzhütten. Der Fahrer hielt vor einer der Hütten, stellte den Motor ab und öffnete die Autotür: „Wir sind da! Sie können jetzt aussteigen“, brummte er.
Heike folgte seiner Aufforderung und war gespannt, welche ihre Hütte war. Er setzte sich langsam in Bewegung und blieb vor dem vorletzten Häuschen stehen.
„Das ist Ihre Hütte! Schließen Sie Fenster und Tür gut ab, hier gibt es viele wilde Tiere. Und lassenSie bloß keine Lebensmittel offen herumliegen!“
Mit diesen Worten überreichte er Heike das Paket und marschierte zum Auto zurück. Da stand sie nun, allein und verlassen. Ohne Ahnung, aber voller Angst.
Eilig betrat sie ihr neues Domizil, verriegelte die Tür hinter sich und leuchtete mit der Taschenlampe, die ihr die Frau mitgegeben hatte, die Hütte aus. Die Einrichtung war spärlich und alt, aber Heike brauchte keinen Luxus, um zur Ruhe zu kommen. Sie wollte nur ihre Gedanken sortieren und überlegen, wie es weitergehen sollte. Sie steckte sich ein paar Kekse in den Mund und kroch unter die muffige Decke auf der Pritsche. Das Erste, was sie morgen gleich ändern würde, war das Bett. Sie konnte auf vieles verzichten, aber nicht auf einen ordentlichen, halbwegs bequemen Schlafplatz. Angewidert zog sie die raue Decke bis zum Kinn herauf und hoffte, wenigstens ein paar Stunden schlafen zu können.
Mitten in der Nacht hörte sie Wolfsgeheul. Heike zitterte am ganzen Körper und versteckte sich unter der Decke. Nachdem es wieder still war, leuchtete sie Tür und Fenster an, um sich zu vergewissern, dass alles abgeschlossen sei. An Schlaf war leider nicht mehr zu denken. Bei jedem noch so kleinen Geräusch schreckte sie hoch. Heike hatte Angst und weinte leise, um ja kein Aufsehen zu erregen. Müde, hungrig und halb erfroren hörte sie Stimmen. Schnell stand sie auf, eilte zum Fenster und lugte vorsichtig hinaus. Zwei bärtige Männer unterhielten sich lautstark und deuteten immer wieder auf ihre Hütte. Da sie nichts verstehen konnte, schlüpfte sie in ihre Jacke und trat vor die Türe. Erst jetzt erkannte sie einen der beiden. Es war der Mann der Vermieterin.
„Auch schon wach?“, fragte er unhöflich und grimmig.
„Sorry, aber ich habe nicht schlafen können, kommen Sie etwa meinetwegen?“
„Sehe ich so aus?“, knurrte er.
Heike wollte eben wieder in ihre Hütte, drehte sich aber noch einmal um und fragte: „Wie komme ich denn auf dem schnellsten Wege in Ihr Dorf?“
Die beiden Männer sahen sich an und fingen gleichzeitig zu lachen an.
„Ich würde sagen, mit einem Wagen“, witzelte der eine.
„Selten so gelacht! Sehen Sie hier irgendwo ein Auto?“, keifte Heike.
„Nichts für ungut, Ma’am! Wenn Sie möchten, kann ich Sie gerne mitnehmen“, meinte der Fremde.
„Da ich keine andere Wahl habe, nehme ich Ihr Angebot dankend an“, entgegnete Heike bissig.
Sie eilte in ihre Hütte zurück, schnappte sich den Rucksack und verschloss ihre Bleibe.
„Ich wäre dann soweit“, meinte sie zum Fahrer undwartete.
„Wie kommen Sie zurück?“, fragte derMann.
„Das weiß ich noch nicht, aber darüber mache ich mir Gedanken, wenn es an der Zeit ist“, entgegnete Heike nun freundlicher.
Kurz darauf saßen die beiden im Wagen. Der Mann erzählte munter und fragte alles Mögliche. Heike antwortete nur knapp, denn sie wollte nicht mehr verraten als nötig.
Beim Dorf angekommen, stiefelte sie geradewegs zu ihrer Vermieterin.
„Guten Morgen! Sie hätte ich heute nicht erwartet“, meinte diese. „Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ „Ich bräuchte dringend anderes Bettzeug. Haben Sie so etwas?“, erkundigte sich Heike.
Die Frau lächelte sie an und meinte: „Das habe ich mir fast gedacht. Die Hütte war schon lange nicht mehr bewohnt und deshalb wurde nichts mehr darin erneuert. Folgen Sie mir“, forderte sie Heike auf und ging voraus.
Durch eine schwere Tür kamen sie in ein Lager. Es war vollgestopft mit allem, was man sich nur vorstellen konnte. Die Frau entfernte sich von Heike und kramte in einer Ecke herum.
„Sie haben Glück, das ist die letzte neue Garnitur“, japste sie und trug Kissen und Decke nach vorne.
„Jetzt fehlt nur noch frische Bettwäsche, aber die kann ich Ihnen auch geben“, erklärte sie lächelnd. „Sie sind meine Rettung“, gab Heike dankbarzurück.
„Brauchen Sie sonst noch irgendwas?“
„Hm, darf ich mich mal umsehen? Vielleicht finde ich ja etwas“, antwortete Heike und drückte sich durch die Reihen.
Nachdem sie einiges zusammengetragen hatten, begaben sich die beiden wieder nach vorne.
„Jetzt bräuchte ich nur noch einen fahrbaren Untersatz“, sagte Heike und zog dieAugenbrauen hoch.
„Das ist gar kein Problem! Können Siemit einem Quad umgehen?“
„Das habe ich zwar bisher nicht versucht, aber ich bin lernfähig“, entgegnete Heike ehrlich.
„Ich zeige es Ihnen. Das können selbst wir Frauen fahren“, erklärte sie lachend.
„Ihr Wort in Gottes Ohr“, meinte Heike nachdenklich.
Sie ließ sich alles genau erklären und wagte eine kurze Probefahrt. Bevor Heike vom Fleck kam, würgte sie das Gefährt erst zweimal ab, dann ging aber die Post ab. Das Fahren bereitete ihr riesigen Spaß. Am liebsten wäre sie gar nicht mehr abgestiegen.
„Na also, das klappt ja super“, meinte die Vermieterin und klatschte in die Hände.
Zusammen schnürten sie den Einkauf fest und verstauten die restlichen Sachen in Heikes Rucksack. Die beiden plauderten noch ein wenig, ehe sich Heike auf den Weg machte.
Sie genoss die Fahrt, blieb ein paar Mal stehen und schaute sich die Umgebung an, bevor sie weiterfuhr. Die hohen Bäume, der See und die reine Natur berührten ihre verletzte Seele und ließen sie neuen Mut fassen. An ihrer Hütte angelangt, brachte sie ihren Einkauf hinein und erforschte dieRückseite ihrer Bleibe.
Heike suchte ein stilles Örtchen, das sie hier sogar fand. Vorsichtig öffnete sie das kleine Häuschen und wich erschrocken zurück. Fast wäre sie in das Spinnennetz gerannt, das sich über die Tür spannte. Widerwillig nahm sie einen Zweig und entfernte es mit Gänsehaut auf dem Rücken. Es war ein primitives, zugiges Plumpsklo, das sie so nur aus alten Filmen kannte. Nicht einmal Toilettenpapier gab es hier. Zum Glück hatte sie sich Papiertaschentücher gekauft, die sie bis zum nächsten Einkauf zweckentfremden würde.
In den kommenden Tagen marschierte Heike, so oft es das Wetter erlaubte, durch die Wildnis. Eines Morgens, sie war wieder mal unterwegs, hörte sie hinter sich das Geräusch von brechenden Zweigen. Heike verfiel in eine Art Schockstarre. Sie wollte schreien, doch es kam kein Laut aus ihrer Kehle. Selbst eine Bewegung war unmöglich. Siestand wie angewurzelt, da hörte sie, dass sich die Geräusche entfernten. So schnell sie ihre Füßetrugen, rannte sie zur Hütte zurück, stürmte hinein, verriegelte die Tür und ließ sich schnaufend auf das Bett fallen. Vor wem oder was sie davongelaufen war, konnte sie nicht sagen, denn gesehen hatte sie nichts.
In dieser Nacht schlief Heike schlecht. Immer wieder erschien Justin und wollte ihr seine Hand reichen. Er forderte sie auf, doch nicht alles wegzuschmeißen. Aber sie schüttelte nur den Kopf. „Es ist vorbei“, schrie sie so laut, dass sie davon erwachte. Ihre Haut fühlte sich nass und kalt an. Heike stand auf, spähte zum Fenster hinaus und meinte, einen Schatten gesehen zu haben. Vor Angst zitternd kroch sie leise in ihr Bett zurück und zog sich die Decke über den Kopf. Im nächsten Augenblick jaulte ein Wolf. Er musste nah an ihrer Hütte gestanden haben, denn sie hörte sogar das Grummeln, das demJaulen folgte.
„Lass mich in Frieden, ich habe dir nichts getan“, schrie sie aufgebracht.
Aber damit hatte sie nur alles schlimmer gemacht, denn jetzt versuchte etwas, zur Tür hereinzukommen. Scharren und Kratzen hallte durch denRaum.
Heike versteckte sich unter Todesangst und traute sich nicht mal mehr, Luft zu holen. Eine gefühlte Ewigkeit später ließ das Geräusch nach und der ungebetene Gast entfernte sich. Heike blieb vorsichtshalber sitzen, um auf Nummer sicher zu gehen.
Angestrengt lauschte sie, aber da nichts mehr zu hören war, krabbelte sie aus dem Bett. Langsam näherte sie sich in geduckter Position dem Fenster und schaute hinaus. Es war absolut nichts zu sehen, weder ein Tier oder ein Schatten. Sie tastete sich vor zum Tisch und stieß prompt mit dem kleinen Zeh an das Stuhlbein. Fluchend sprang Heike auf einem Bein herum und biss sich in die Faust, um nicht laut aufzuschreien.
„Wo ist denn jetzt diese blöde Taschenlampe?“, zischte sie vor sich hin. Endlich fand sie diese und schaltete sie ein. Das Einzige, das sie nun hörte, war ihr Magen, der sie daran erinnerte, dass sie länger nichts gegessen hatte. Sie suchte im Schrank herum und fand die Packung Kekse, die sie im Dorf eingekauft hatte. Sie biss gerade in einen zweiten Kekes, als sie ein leises Knurrenhörte.
Augenblicklich rannte sie zum Bett, spranghinein
und zog sich die Decke über den Kopf. In dieser Nacht verließ sie ihr Bett nicht mehr.
Es war schon hell, als Heike erwachte. Sie dehnte sich ausgiebig und richtete sich auf. Gähnend überlegte sie, ob sie sich erneut im Bett vergraben sollte, entschied sich jedoch, aufzustehen. Müde schleppte sie sich ans Fenster und wagte einen Blick nach draußen.
„Jetzt erst mal einen Kaffee“, dachte sie sich und feuerte den Ofen an. Zum Glück war sie früher oft mit ihrem Vater beim Angeln gewesen und kannte sich daher mit Feuer aus. Bis das Wasser heiß war, putzte sie sich die Zähne, frisierte ihr langes Haar und zog sich an. Anschließend brühte sie Kaffee auf, nahm eine ScheibeBrot und ein Stück Wurst und marschierte nachdraußen. Sie setzte sich auf eine alte Holzbank undgenoss den herrlichen, kühlen Morgen.
Für heute hatte sie sich vorgenommen, die Hütte aufzuräumen und gründlich zu putzen. Sie war sich zwar nicht sicher, wie lange sie hierbleiben würde, aber etwas gemütlicher machen wollte sie sich ihr neues Domizil auf jeden Fall. Als sie mit der Arbeit fertig war, setzte sie sich mit einer Tasse Tee vor das Haus und dachte an Justin, den sie über ihre Kanadareise fast vergessen hatte. Aber nun kamen die Erinnerungen an das, was er ihr angetan hatte, zurück. Dicke Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie hatte ihn sogeliebt, wollte mit ihm alt werden. Aber er war derart triebhaft, dass er alles aufs Spiel gesetzt hatte. Warum musste er sie ständig betrügen? Und warum auch noch mit ihrer besten Freundin?
Diese Frage stürzte Heike in ein tiefes Loch. Es gab keinen Lichtblick, alles versank unter einer schweren, schwarzen Wolke. Wie lange sie so dagesessen hatte, konnte sie nicht sagen, aber es wurde schon düster und Heike fing an zu frieren. In ihrem Kopf herrschte das reinste Chaos. Wie sollte es jetzt weitergehen? Wie würde sie das alles überstehen?
Steif vom Sitzen erhob sie sich, streckte die müden Knochen aus und war im Begriff, ihre frisch geputzte Hütte aufzusuchen, als sie plötzlich Stimmen vernahm. Fünf Männer und zwei Frauen näherten sich. Heike beschloss, das Geschehen vom Fenster aus zu beobachten, und huschte eilig in ihre Hütte. Dort suchte sie sich einen Platz zum Hinausspähen. Sie sah, dass die Leute sich auf die Hütten verteilten, sich zum Abschied freundlich zuwinkten und verschwanden. Ein Licht nach dem anderen erhellte die Holzbuden. Heike war gespannt, wie lange sie bleiben würden.
Nun war es aber an der Zeit, etwas zu essen. Heike öffnete eine Dose, feuerte den Ofen an und suchte einen passenden Topf. Der Inhalt der Dose roch zwar nicht besonders einladend, aber Heike war nicht wählerisch. Mit einer Tasse Kaffee und der heißen Suppe nahm sie am Tisch Platz und begann zu essen. Wieder schweiften ihre Gedanken ab. Sie sah sich mit Justin in einem noblen Restaurant. Bei Champagner und Kerzenlicht gestanden sie sich gegenseitig ihre Gefühle.
„Was für ein Schwachsinn! Von wegen, ich liebe dich! Lügen, nichts weiter. Und du blöde Kuh musstest ja darauf hereinfallen“, sagte sie laut zu sich selbst.
Nach ein paar Löffeln hatte sie keinen Hunger mehr und schob den Teller zur Seite. Sie wollte gerade aufstehen, da fiel ihr die Warnung des Vermieters ein. Sie stand auf, zog sich eine Jacke an, schnappte sich die Taschenlampe und den Topf. Sie würde die Reste ins Plumpsklo schütten, bevor ein Bär sich zum Abendessen einladen konnte.
Zuerst streckte sie ihre Nase zur Tür hinaus, um zu prüfen, ob dieLuft rein war. Nichts war zu hören oder zu sehen, also huschte sie schnell um die Hütte herum. Beherzt goss sie den Inhalt des Topfes ins Klo und eilte zurück. Kurz vor der Hütte, hörte sie ein Knacken hinter sich. Heike wurde von Panik erfasst und lief so schnell sie ihre Füße trugen. Mit einem Satz sprang sie hinein, schlug die Tür zu und schob den Riegel vor. Unfähig, sich zu bewegen, ließ sie sich zu Boden sinken und legte den Kopf in die Hände. Sie war mit den Nerven total am Ende und verstand nicht, wieso es das Leben so mies mit ihr meinte. Auf einmal vernahm sie Schritte und Stimmen. Jemand klopfte an ihre Tür und wartete.„Entweder es ist niemand hier oder er schläft schon“, hörte sie einen Mann sagen.
„Schade, versuchen wir es eben morgen erneut“, gab eine Frauzurück.
Die Fremden entfernten sich von Heikes Hütte. Stille trat ein und sie ließ ihren Tränen wieder freien Lauf.
Wie jede Nacht weinte sich Heike in den Schlaf, obwohl sie nicht wusste, warum sie ihm überhaupt nachheulte. Schließlich war er fremdgegangen und nicht sie. Wenn jemand Schuld an diesem Dilemma hatte, dann er.
Am nächsten Morgen beschloss Heike, in die größere Ortschaft zum Telefonieren zu fahren. Sie rief in der Kanzlei an und teilte der Sekretärin mit, dass sie bis auf Weiteres nicht zurückkäme.
„Du bist gut, was soll ich denn dem Chef sagen?“, meinte diese aufgebracht.
„Das ist mir egal! Ich muss mein Leben erst wieder unter Kontrolle bringen, denn so wäre ich ihm ohnehin keine Hilfe“, entgegnete Heike und legte auf.
Auf dem Weg zu ihrem Quad sah Heike ein Café und kehrte ein. Bei der netten Bedienung bestellte sie sich einen ortsüblichen Kaffee und suchte sich einen Fensterplatz. Die Landschaft, die sich hier bot, war ein Traum, aber Heike hatte im Augenblick keine Augen für die Schönheiten der Natur. In ihrem Kopf gab es nur einen Gedanken: Er hat mich verraten und gedemütigt!
Weit weg vom Hier und Jetzt bekam sie gar nicht mit, dass die Bedienung neben ihr stand und abkassieren wollte. Um auf sich aufmerksam zu machen, räusperte sie sich und lächelte Heike freundlich an.
„Oh,Entschuldigung, ich war ganz in Gedanken“, meinte Heike verlegen und zückte ihr Portemonnaie.
„Gibt es Ärger an der Homefront?“, fragte die Bedienung, während sie das Wechselgeld auf den Tisch legte.
Anstatt einer Antwort bekam sie feuchte und traurige Augen zu sehen.
„Das wird schon wieder. Nimm dir ein paar Tage Zeit und gehe in dich. Glaube mir, ich weiß, wovon ich rede“, sagte sie und verließ den Tisch ohne ein weiteres Wort.
Kaum war die Tasse leer, stand Heike auf und lief fluchtartig aus dem Laden.
„Mach es gut, Mädchen“, rief ihr die ältere Frau nach, aber sie drehte sich nicht einmal mehr um. Verheult stieg sie auf das Quad und fuhr davon. Sie war schon fast aus dem Dorfheraus, da sah sie einen Spirituosenladen. Heike hielt an, stieg ab und ging zielstrebig hinein. Entschlossen kaufte sie sich zwei Flaschen Whiskey. Nachdem sie diese in ihrem Rucksack verstaut hatte, ließ sie den Motor aufbrummen und brauste davon. Da sie nur langsam fuhr, entdeckte sie einen Platz, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Heike hielt an, zog den Schlüssel ab und stieg ein paar Meter einen kleinen Hang hinauf. Die Aussicht war überwältigend. Heike legte den Rucksack neben sich ins Gras, holte eine Flasche hervor, schraubte sie auf, hob sie empor und rief: „Das ist für dich, du Dreckschwein. Ich wünsche dir noch ein geiles Leben! Prost!“
Dann setzte sie die Flasche an ihre Lippen und ließ die Flüssigkeit ihre Kehle hinunterlaufen. Vor lauter Wut und Zorn bemerkte Heike nicht, dass sie schon die Hälfte der Flasche geleert hatte. Erst als sie zu singen und zu kichern begann, wurde ihr bewusst, dass sie betrunken war. Sie schaute auf den restlichen Inhalt, schüttelte den Kopf und sagte laut: „Jetzt ist es auch schon egal. Ich gehe hier erst weg, wenn die Flasche leer ist.“
Eine halbe Stunde später war Heike so volltrunken, dass sie nichts mehr mitbekam. Sie stand auf und torkelte vorwärts, dabei stolperte sie über eine Baumwurzel und fiel kopfüber auf die Nase. Das fand sie so witzig, dass sie sich vor Lachen auf der Erde kugelte. Den Abhang registrierte sie nicht. Sie bemerkte die Gefahr erst, als sie keinen Boden mehr unter den Füßen hatte. Schreiend klammerte sich Heike an Grasbüscheln fest, doch sie rutschte immer weiter ab. Bevor sie das Bewusstsein verlor, hörte sie eine Stimme sagen: „Lass ja nicht los, so muss es nicht enden!“ Dann sah sie einen Wolf und spürte stechende Schmerzen in den Händen.
Das Nächste, an das sie sich erinnerte, war, dass sie in ihrem Bett erwachte und an beiden Armen einen Verband trug.
„Was zur Hölle soll das?“, schrie sie so laut sie konnte. Die Tür von ihrer Hütte flog auf und die Vermieterin trat ein.
„Beruhige dich, Kindchen, es ist alles halb so schlimm“, meinte sie fürsorglich.
„Was ist denn geschehen, wieso liege ich im Bett? Und wie bin ich überhaupt hierhergekommen?“
Die Frau sah sie an und meinte: „Weißt du denn gar nichts mehr? Ein Fischer hat dich blutend und sturzbetrunken gefunden!“
Heike sah sie ungläubig an und schüttelte den Kopf: „Das kann gar nicht sein!“
„Oh doch! Sei froh, sonst wärst du heute vielleicht nicht mehr am Leben. Da draußen gibt es viele wilde Tiere!“, sagte die Frau mit besorgtem Gesicht.
Das war zu hart. Heike schloss die Augen und versuchte, sich an die Details zu erinnern. Die Vermieterin fütterte sie mit heißer Suppe, spülte das Geschirr ab und bat sie, die Türe zu verschließen, sobald sie draußen war.
„Ich heiße übrigens Amanda. Ich komme morgen wieder und sehe nach dir“, versprach sie und ließ sie alleine.
Nachdem die Frau fortgegangen war, stand Heike auf, verriegelte die Tür und setzte sich ans Fenster. Während siehinausschaute, bemerkte sie einen Schatten. Wie auf Knopfdruck fielen ihr die Worte wieder ein, die die Stimme ihr zugerufen hatte. Wer war das? Wer hatte da zu ihr gesprochen? In Gedanken streifte sie über den Verband und überlegte. Zu gerne hätte sie ihn entfernt, um nachzusehen, was sich darunter verbarg, doch sie würde es ja morgen sehen. Müde schleppte siesich zu ihrem Bett und legte sich hinein. Bevor sie die Augen schloss, hörte sie einen Wolf heulen. Dann schlief sie ein.
In dieser Nacht träumte sie um sichschlagend vom Wolf und Justin. Immer wieder streckte sie die Hand nach ihnen aus, konnte aber keinen von beiden erreichen. Dann war sie plötzlich wieder da, die Stimme, die sie bei ihrem Absturz gehört hatte. Schweißgebadet schreckte sie hoch, sah sich um und glaubte geträumt zu haben, denn der Raum war leer. Leise nahm sie die Taschenlampe und stieg aus ihrem Bett. Sie suchte alles ab, doch es war nichts im Lichtkegel der Taschenlampe zu sehen. Mutig trat Heike ans Fenster und spähte hinaus. Der Nebel, der schwer in der Luft hing, erschwerte ihr dieSicht.
Es war kalt in der Hütte, so entschloss sie sich, den Ofen anzufeuern. Nach wenigen Handgriffen knisterte es und sie sah dem Feuer zu, wie es sich um die Holzscheite legte. Obwohl ihre Hände schmerzten, schaffte sie es sogar, Kaffee zu kochen. Heike saß da und schlürfte aus ihrem Becher. Da klopfte es an der Tür.
„Bist du schon wach, Kindchen?“, ertönte Amandas freundliche Stimme.
Heike erhob sich, entriegelte die Türe und ließ sie eintreten.
„Guten Morgen, wie geht es dir denn heute?“, erkundigte sie sich.
„Soweit ganz gut, nur die Hände tun weh“, erwiderte Heike und verzog das Gesicht.
Amanda streichelte ihr über den Rücken und meinte: „Trink deinen Kaffee, dann sehen wir uns die Verletzung an.“
Während Heike den Kaffee genoss, erzählte ihr Amanda einige Geschichten. Die meisten handelten von Wölfen, Bären und Fischern.
„Haben Sie denn gar keine Angst vor diesen Tieren?“, fragte Heike ihre neue Bekannte.
„Nein, warum sollte ich? Ich akzeptiere sie und sie mich. Wenn man diese Tiere in Frieden lässt, kann man mit ihnen leben. Sie sind nicht so blutrünstig, wie sie immer dargestellt werden“, meinte diese überzeugt.
Dieser Satz entlockte Heike ein Lächeln.
„Ich habe eine Stimme gehört, als das passierte“, erzählte sieleise.
Amanda sah sie an, legte den Kopf schief und überlegte. Dann machte sie sich an Heikes Händen zu schaffen. Vorsichtig entfernte die sie die Verbände und sah sich die Verletzungen an. Auf den Handrücken konnte man deutlich tiefe Kratzspuren
erkennen. Erschrocken schrie Heike auf und begann zu weinen.
„Was ist denn das, war das etwa ein Tier?“
„Sieht ganz so aus! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, das Tier hat dich an den Händen nach oben gezogen“, sagte Amanda nachdenklich zu Heike. Dann bekreuzigte sie sich, stand auf und kramte verschiedene Kräuter aus ihrer Tasche.
„Ich werde jetzt eine Paste herstellen, mit der wir deine Verletzung einreiben. Dann wird es bald verheilen“, meinte sie und fing mit der Zubereitung an.
Heike saß kreidebleich auf dem Stuhl und war meilenweit mit den Gedanken entfernt. Sie versuchte krampfhaft, sich zu erinnern, doch es wollte ihr nicht gelingen.
In den nächsten Tagen rieb Amanda immer wieder die Hände mit der übelriechenden Paste ein. Nach vier Wochen waren die Wunden verheilt, nur die Narben blieben zurück. Heike hatte sich schon ganz gut eingelebt in ihrer Hütte, aber ihr fiel auf, dass die Menschen, denen sie begegnete, sie stets mit eigenartigen Blicken musterten. Es fühlte sich an, als ob sie sich vor ihr fürchteten.
Und immer öfter bemerkte Heike einen Wolf. Er beobachtete sie, hielt aber stets sicheren Abstand. Egal, wann sie sich in der Umgebung herumtrieb, das Tier war immer in ihrer Nähe. Mit der Zeit gewöhnte sich Heike an seinen Anblick und lächelte, wenn sie ihn sah.
Eines Abends beschloss Heike, ein Lagerfeuer anzuzünden. Nachdenklich starrte sie in die Flammen. Ihre Gedanken flogen zu Justin. Was würde er jetzt in diesem Augenblick machen? War er allein oder hatte er sich anderweitig getröstet? Ein leiser Seufzer entwich ihren Lippen. Wie konnte sie sich nur so in ihm täuschen? Er hatte ihr Treue geschworen und versprochen, nie wieder fremdzugehen. Blind vor Liebe hatte sie ihm immer aufs Neue verziehen, das Gute in ihm gesehen und was war das Ergebnis? Demütigung und blankes Entsetzen.
Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie die beiden, wie sie sich vergnügten. Sie sah Justin mitheruntergelassener Hose, während Zoe, dieses Miststück, unter ihm lag. Angewidert schüttelte Heike den Kopf, als könnte sie diese Erinnerung damit loswerden. Wiederkamen ihr die Tränen. Zusammengekauert und schluchzend saß sie vor dem Feuer. Sie fühlte sich einsam und zutiefst verletzt. Nie mehr würde sie einen Menschen lieben und ihm vertrauen, denn sie wollte solch eine Enttäuschung kein weiteres Mal mehr erleben.
„Warum hat mich dieser Fischer gerettet? Hätte er mich doch sterben lassen“, sagte sie laut. In dem Augenblick, als sie diesen Satz ausgesprochen hatte, erklang aus der Ferne eine Stimme: „Dann hätte ich dich nicht kennengelernt.“
Erschrocken sprang Heike auf, drehte sich um die eigene Achse, aber es war niemand zu sehen.
„Was, zur Hölle, war das? Verliere ich den Verstand?“
Jetzt war es ihr hier draußen zu gruselig. Heike löschte das Feuer und eilte in die Hütte. Schnell verriegelte sie die Tür und kroch ins Bett. Angespannt lauschte sie, aber es war kein einziges Geräusch zu hören. Im Geiste ging Heike die Situation von ebennoch einmal durch. Was war das mit der Stimme? Woher kam sie? Und vor allem wem gehörte sie? Wenn sich jemand mit ihr einen Scherz erlaubte, sollte eram besten jetzt schon anfangen zu laufen, denn dazu würde er nicht mehr kommen, wenn sie ihn in die Finger bekäme. Da sie keine Antworten auf ihre Fragen fand, drehte sie sich auf die Seite.
Heike fiel in einen quälenden Schlaf. Sie hörte ständig diese Stimme, aber sie kam nicht dahinter, wer es sein könnte. Gerädert erwachte sie am nächsten Morgen. Es war schon hell und draußen schien einiges los zu sein. Schnell sprang sie auf und schaute zum Fenster hinaus. Die Fischer standen beieinander und unterhielten sich lautstark.
Heike zog sich eilig an und trat zu ihnen vor die Hütte: „Guten Morgen, ist etwas geschehen?“, erkundigte sie sich. Die Männer sahen sie an, schüttelten den Kopf und drehten ihr den Rücken zu.
„Hallo? Wenn eine höfliche Frage gestellt wird, erwartet man zumindest eine Antwort!“
Da keiner der Männer etwas entgegnete, stapfte sie zurück in die Hütte und knallte die Tür lautstark zu. „So ein blödes Pack“, schimpfte sie laut vor sich hin und feuerte nebenbei den Ofen an. Immer wieder ertappte sie sich, dass sie zum Fenster hinaussah. Leider war kein Wort von dem zu verstehen, was draußen gesprochen wurde. Verärgert brühte sich Heike Kaffee auf und setzte sich mit dem Rücken zum Fenster. Innerlich kochte sie vor Wut, denn soetwas konnte sie überhaupt nicht ausstehen. Also wagte Heike einen neuen Anlauf. Sie verließ ihre Hütte und stellte fest, dass kein Mensch mehr hier war. Da sah sie die Frau eines Fischers.
„Entschuldigen Sie bitte, könnten Sie mir vielleicht sagen, was hier los ist?“, fragte Heike.
„Das weiß ich auch nicht so genau. Mein Mann sprach von einem Wolf, der sich hier herumtreiben soll“, entgegnete sie.
„Ist das ungewöhnlich?“, fragteHeike.
„Na ja, dass es Wölfe in dieser Gegend gibt, eigentlich nicht, aber normalerweise kommen sie nicht ins Dorf“, meinte sie schulterzuckend.
„Und was wird jetzt unternommen?“
„Die Männerstellen Wachen auf. So wie ich es verstanden habe, wollen sie das Tier erlegen. Aber was haben Sie denn mit ihrenHänden gemacht?“, fragte die Frau.
„Das, eh, das war ein Unfall“, erwiderte Heike und zog die Ärmel über die Narben.
„War das ein Tier?“
„Nein, wie kommen Sie denn auf so etwas?“
„Ich habe da so ein Gerücht gehört“, gestand die Frau und sah Heike skeptisch an.
„War nett mit Ihnen zu plaudern, aber jetzt muss ich wieder hinein. Ich habe mein Essen auf dem Ofen stehen“, flunkerte Heike, die weiteren Fragen ausweichen wollte. Sie zwinkerte der Frau zu und drehte sich um. Eilig lief sie in die Hütte und schloss ab.
„Das hat mir gerade noch gefehlt! Jetzt tratschen sie schon über mich, ich hasse es“, meinte sie laut zu sich selbst.
Um sich abzulenken, verschaffte sie sich einen Überblick, was an Lebensmitteln vorhanden war, und nahm Zettel und Stift zur Hand. Darauf notierte sie, was sie beim nächsten Einkauf besorgen musste. Dann öffnete sie eine Konserve, schnitt eine Scheibe Brot vom Laib und setzte sich an den Tisch. Es schmeckte grauenhaft, aber etwas anderes hatte sie nicht mehr.
Es dämmerte und der Nebel kroch über die Hütten. Heikeverzichtete heute auf einen Spaziergang. Sie nahm die alte Zeitschrift, die im Regal lag und blätterte gelangweilt darin herum. Bei einem Bericht über das Fischen blieb sie hängen. Im Nu wurde sie in ihre Kindheit zurückversetzt. Sie erinnerte sich daran, wie siemit ihrem Vater zum Angeln gefahren war, und musste lächeln. Wie oft hatte sie ihn bis zur Weißglut geärgert? Immer, wenn er die Angel auswerfen wollte, hatte sie rasch den Wurm vom Haken genommen. Er schimpfte dann mit ihr und fing von vorne an. Erst als sie selbst eine Angel in die Hand bekam, verstand sie, worum es hier ging. Strahlend übergab sie ihren Fang an die Mutter, die die Fische ausnahm und in der Pfanne briet. Sie hatte eine herrliche Kindheit. Ihr Vater hatte ihr einiges zum Überleben in der Wildnis beigebracht. Heike beschloss, sich eine Angel zu kaufen und wie früher Fisch zu essen. Mit diesem Vorhaben legte sie sich ins Bett und lauschte dem Feuer im Ofen.
Am nächsten Morgen standsie zeitig auf, verzichtete auf das Frühstück, zog sich warm an und stieg auf ihr Quad. Da es neblig war, fuhr sie langsamer als sonst. Sie wollte schließlich nicht im Graben landen.
Im Dorf angekommen, schnappte sie sich ihren Rucksack und marschierte auf den Laden zu. Ein Mann und eine Frau kamen ihr entgegen. Heike grüßte freundlich, aber die beiden schauten zu Boden und stiefelten grußlos an ihr vorbei. Sie betrat den Laden, wünschte Amanda, die hinter der Theke stand, einen wunderschönen Morgen und widmete sich ihrer Einkaufsliste. Als siealles beisammen hatte, erkundigte sie sich nach einer Angel samt Zubehör. Amanda gab ihr, was sie brauchte, und war ansonsten ziemlich still.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Heike.
„Na ja, es ist so, die Menschen haben Angst vor dir“, erwiderte Amanda.
„Was, warum? Ich habe ihnen nichts getan!“, entgegnete Heike beleidigt.
„Sie glauben, dass du daran schuld bist, dass sich ein Wolf im Dorf herumtreibt“, gestand die Vermieterin.
„Das verstehe ich nicht, aber jetzt begreife ich, warum keiner mehr mit mir redet“, sagte Heike. „Weißt du denn überhaupt, was los ist?“
„Nein, woher denn? Die Menschen meiden mich! Sie gehen auf die andere Seite, wenn ich mich ihnen nähere, und wenn ich sie anspreche, bekomme ich keine Antwort.“
„Sie sind der Meinung, dass du einen Pakt mit dem Wolf hast!“
Das war eine schwere Anschuldigung. Heike setzte sich auf einen Karton und fing zu weinen an. Das alles zerrte an ihren Nerven.
„Es tut mir leid, aber ich denke, es wäre besser, wenn du die nächste Zeit nicht hierher kommst“, flüsterte Amanda und streichelte Heike über den Rücken.
„Soweit kommts noch! Es kann mir niemand verbieten zum Einkaufen zu fahren. Ich werde für mich für dieseIdioten nicht einsperren“, sagte sieentschlossen.
„Darum geht es doch gar nicht, aber wenn keiner mehr in meinen Laden geht, muss ich zu machen, verstehst du das?“
„Ach so, und wie stellst du dir das vor?“, fragte Heike zischend.
„Ichkomme einmal pro Woche zu dir und bringe dirdie Sachen, die du brauchst“, meinte Amanda leise. „Meinetwegen, ich tue das für dich, nicht aber für die anderen Bekloppten“, erwiderte Heike und stand auf. „Ich werde schon herausfinden, was das alles zu bedeuten hat!“
Sie packte ihre Sachen und verließ den Laden.
Auf dem Heimweg hätte sie am liebsten alles kurz und klein geschlagen. Sie hatte so eine riesige Wut im Bauch, dass sie nicht mal weinen konnte.
Am Abend saß sie vor dem Lagerfeuer und dachte nach. Wie sollte es weitergehen? Wäre es besser, wieder zurück nachhause zu fahren? Was würde sie dort erwarten? Ihr war klar, dass sie demnächst zurück in ihre Wohnung musste. Aber selbst, wenn sie sich vehement wehrte, tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie nie mehr in ihr altes Leben zurückkehren würde. Heike wartete, bis das Feuer erloschen war, und trottete traurig in die Hütte. Sie fühlte sich einsam und verlassen. Deprimiert kroch sie in ihr Bett und zog sich die Decke über den Kopf.
Am Morgen trank sie Kaffee, suchte nach einer Lösung und kurz darauf schmiedete Heike
einen Plan. Sie nahm sich vor, für den kommenden Tag einen Flug nachhause zu buchen, dort ihr gesamtes Geld und ein paar für sie wichtigeSachen zu packen und wieder in ihre kleine, aber bescheidene Hütte zurückzukehren. Und sie wollte niemandem sagen, wo sie zu finden war. Sie würdeso lange hierbleiben, bis das Rätsel mit dem Wolf gelöst war. Sie wollte und konnte das nicht auf sich sitzenlassen. Dann schnappte sie sich die Angelrute und wanderte zum See. Es dauerte nicht lange, da zappelte der erste Fisch an ihrer Schnur. Zufrieden hakte sie ihn ab und packte zusammen.
Wieder an der Hütte angekommen, nahm sie den Fisch aus und bereitete ihn zum Grillen vor. Sie steckte ihn auf einen Ast, den sie zuvor gesäubert und abgeschält hatte. Damit fertig, entfachte Heike ein Lagerfeuer und setzte sich mit ihrem Abendessen davor. Der Fisch roch so köstlich, dass sie es kaum erwarten konnte, ihn zu verspeisen. Gestärkt säuberte sie alles, vergrub die Reste und blieb eine Weile sitzen.
Je länger sie dort saß und nachdachte, desto wütender wurde sie. Sie holte sich die zweite Flasche Whiskey aus der Hütte.
„Ich trinke auf mein beschissenes Leben, meinen untreuen Ex-Verlobten und das Tier, das mich leider gerettet hat“, rief sie laut aus und nahm einen großen Schluck.
„Hätte ich dich sterben lassen sollen?“, ertönte einedunkle Stimme.
Heike erschrak so, dass sie die Flasche fallen ließ und rückwärts von der Bankstürzte.
„Wer bist du, was willst du von mir?“, rief sie in die Dunkelheit. Voller Angst versuchte sie etwas zu erkennen, konnte aber nichts sehen.
„Zeig dich, du Feigling, und erkläre mir, warum du das getan hast!“
„Noch nicht, du musst dich gedulden! Aber eines Tages wirst du mir dankbar sein, vertraue mir“, erwiderte die Stimme.
„Pah, ich soll dir vertrauen, du hast wohl nicht mehr alle Latten am Zaun“, fauchte sie in die Dunkelheit.
Heike drehte sich um ihre eigene Achse, doch außer dem Knistern des Feuers war nichts mehr zu hören. Sie schnappte sich die Flasche und eilte in die Hütte. Sofort verriegelte sie die Tür und schlich sich geduckt zum Fenster.
Dort hoffte sie etwas ausmachen zu können, doch es bewegte sich kein Blatt.
„Das glaubt mir kein Mensch“, flüsterte sie und kroch zum Bett. Bevor sie den Whiskey wegstellte, nahm sie erneut einen Schluck, verschloss die Flasche und legte sich hin.
In dieser Nacht heulte der Wolf länger als sonst. Heike fiel von einem Alptraum in den anderen und erwachte schweißgebadet. Die Zeiger der Uhr zeigten kurz vor sechs an. Da sie ohnehin nicht mehr schlafen konnte, stand sie auf, feuerte den Ofen an und machte sich Kaffee. Anschließend packte sie ihren Rucksack, verließ die Hütte, schloss ab und fuhr zum Dorf.
Bevor sie den Dorfplatz erreichte, stellte sie den Motor ab und schob das Quad vor den Laden. Zögernd klopfte sie leise an die Tür und hoffte, dass Amanda sie hören würde.
Es dauerte nicht lange, da öffnete eine Frau im Morgenmantel verschlafen die Tür.
„Entschuldige bitte die frühe Störung“, flüsterte Heike. „Wäre es möglich, dass du mich zum Flughafen bringst?“
„Du willst uns verlassen?“, fragte die Frau.
„Ja, das heißt, nein. Ich komme zurück. Ich muss nur ein paar Erledigungen machen und bin in spätestens vier, fünf Tagen wieder hier“, erwiderte Heike.
„Komm rein und warte, bis ich mich angezogen habe“, meinte sie. Heike trat ein und setzte sich. „Wo ist das Quad?“
„Das steht vor der Tür. Ich habe es geschoben, damit mich keiner hört“, antwortete sie.
„Wir werden es in meinen Schuppen bringen, dann merkt es niemand“, beschloss Amanda.
Gesagt,getan. Zusammen ließen sie das Fahrzeug verschwinden und setzten sich anschließend in den Pick-up. Die Vermieterin sprach mit Heike über allerlei Belangloses. Ihr brannten zwar einige Fragen auf der Seele, aber sie verkniff es sich, sie zu stellen.
„Brauchst du das Quad, wenn du wieder hier bist?“, fragte sie Heike.
„Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich es gerne weiterhin benutzen“, antwortete sie.
„Da sehe ich kein Problem, aber wenn du vorhast länger hierzubleiben, musst du dir etwas einfallen lassen, denn im Winter brauche ich es selbst“, meinte Amanda.
„Das ist okay. Ich werde mich darumkümmern“, entgegnete Heike. Dann trat Stille ein. Jede war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Den Rest des Weges schwiegen sie. Am Flughafen wurden sie wieder munterer.
„Hier ist meine Nummer. Bitte halte mich wegen des Wolfsauf dem Laufenden“, bat Heike und überreichte ihr einen Zettel.
„Das mache ich, versprochen“, erwiderte Amanda.
Die beiden verabschiedeten sich voneinander und Heike betrat das Flughafengebäude. Sie hatte Glück und bekam einen Flug, würde allerdings einmal umsteigen müssen. Aber das nahm sie gerne in Kauf, denn sie war froh, dass es überhaupt geklappt hatte. Im Flugzeug suchte sie sich ihren Sitzplatz, setzte ihre Kopfhörer auf und lauschte der Musik. Sie bekam gar nicht mit, dass ein Mann neben ihr Platz nahm. Erst als es Zeit zum Umsteigen war, nahm sie ihn wahr.
„Oh, sorry, ich habe Sie gar nicht bemerkt“,
meinte sie und drückte sich an ihm vorbei. Er zwinkerte ihr nur zu und zog die Beine etwas an. Heike schenkte dem Ganzen keine Beachtung und beeilte sich, aus der Maschine zu kommen. In der Anschlussmaschine setzte sie erneut die Kopfhörer auf und schloss die Augen. Diese öffnete sie erst wieder bei der Landung. Heike verließ den Flughafen, setzte sich in ein Taxi und ließ sich zu ihrer Wohnung fahren.
Sie hatte ein mulmiges Gefühl, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Was würde sie gleich erleben? Würde sie Justin mit einer neuen Flamme erwischen? So leise es ging, sperrte sie auf und trat ein. Im ersten Augenblick war nichts zu hören. Sie atmete auf und freute sich, dass kein Licht brannte. In dem Moment, als sie ins Schlafzimmer wollte, vernahm sie verräterisches Stöhnen. Dieser Mistkerl, schoss es ihr durch den Kopf. Am liebsten wäre sie wieder hinausgerannt, aber sie brauchte ihre Sachen und außerdem bezahlte sie die Hälfte der Miete. Mit einem Ruck riss sie die Türe auf und stürmte hinein: „Du bistso
ein widerliches Schwein, und ich blöde Kuh hätte dich beinahe geheiratet“, schrie sie vollkommen außer sich. Wie eine Irre riss sie die Bettdecke zurück und blieb dann wie versteinert stehen. Was sich ihr bot, übertraf alles. Nicht nur Justin, sondern zwei weitere Personen kamen zum Vorschein. Er teilte sich mit einem anderen Kerl die vollbusige Blondine. „Raus, verschwindet auf der Stelle aus meiner Wohnung“, schrie sie.
„Hey, Chérie, was soll denn dieser Auftritt? Leg dich doch zu uns, hier ist genügend Platz“ meinte der Fremde lächelnd.
„Halt bloß dein Maul, nimm deinen Freund, die kleine Schlampe und verpiss dich“, brüllte sie einem Nervenzusammenbruch nahe.
Justin stand auf, wickelte sich das Laken um die Taille und trat auf sie zu.
„Heike, Mann, bin ich froh, dich zu sehen! Wo warst du denn so lange?“
„Das geht dich einen Dreck an. Geh mir aus den Augen, bevor ich mich vergesse.“ Sie verließ das Zimmer, suchte die wichtigsten Unterlagen zusammen und wartete, bis die drei die Wohnung verlassen hatten. In Windeseile packte sie einen Koffer, stopfte ihre persönlichen Habseligkeiten in den Rucksack, warf denWohnungsschlüssel auf den Tisch und zog die Haustüre hinter sich zu. Um nicht auf der Straße übernachten zu müssen, nahm sie sich ein Zimmer in einem nahegelegenen Hotel.
Gleich am Morgen des nächsten Tages erledigte sie ihre Bankgeschäfte und besorgte sich einige warme Kleidungsstücke. Auch die Kündigung ihrer Stelle in der Kanzlei brachte sie zur Post. Bepackt wie ein Muli ging sie sich zum Hotel zurück und erledigte telefonisch den Rest.
Abends, als sie in dem Hotelbett lag, freute sie sich schon darauf, bald wieder in ihrer Hütte zu sein. Justin war für Heike gestorben. Sie nahm sich vor, nie wieder einen Gedanken an ihn zu verschwenden. Sie frühstückte ordentlich und machte sich auf den Weg zum Flughafen. Unterwegs kaufte sie sich Briefpapier und etwas zu lesen. Nachdem sie eingecheckt hatte, gab sie ihr Gepäck auf und setzte sich in den Warteraum. Sie wusste, wenn sie nun inden
Flieger stieg, würde das ein Abschied für lange Zeit werden. Wer weiß? Eventuell sogar für immer ...
Dann war es soweit, sie sah sich noch einmal um, wischte eine Träne fort und suchte sich ihren Sitzplatz. Dort angekommen hievte sie den Rucksack in das Gepäckfach und setzte sich. Mit einem letzten Blick aus dem Fenster verabschiedete sie sich von ihrem bisherigen Leben und schloss die Augen.
Es war schon spät, als sie nach der Landung den Flughafen in ihrer neuen Heimat verließ. Jetzt gab es das Problem, wie sie zu ihrer Hüttekommen würde.
Wie ein vergessenes Kind stand sie da und flehte stumm um Hilfe.
„Hey, sind Sie nicht die, die in der Fischerhütte wohnt?“, fragte ein älterer Mann.
„Ja, kennen wir uns?“
„Nein, aber Amanda hat mir von Ihnen erzählt“, meinte er freundlich. „Soll ich Sie mitnehmen? Ich muss sowieso in die Richtung“, fragte er freundlich.
„Das wäre wirklich nett von Ihnen. Ich dachte schon, ich müsste zu Fuß zur Hütte laufen“, gab sie lächelnd zu.
Er half ihr mit dem Gepäck und stieg mit Heike in seinenWagen.
Der Mann quasselte wie ein Wasserfall, sie antwortete mit Bedacht auf seine Fragen und wich geschickt aus, wenn es zu persönlich wurde. Erst als Heike den Wolf erwähnte, kippte das Gespräch.
Der Mann verstummte plötzlich, ließ sie vor dem Laden aussteigen, stellte die Koffer ab, nickteihr kurz zu und stieg wieder in sein Fahrzeug. Wie ein begossener Pudel klopfte Heike an AmandasTür.
„Hey, du bist schon wieder zurück“, fragte die Frau überrascht. „Wie bist du denn hierhergekommen?“
„Ein ältere Mann hat mich mitgenommen. Er war so lange gesprächig, bis ich den Wolf erwähnt habe“, erwiderte Heike. „Kannst du mir mal erklären, was das soll“, erkundigte sie sich aufgelöst.
„Na ja, es ist schon komisch. In der Zeit, wo du weg warst, hat man das Tier nicht ein einziges Mal gesehen“, erwiderte Amanda.
„Ja, aber da kann ich doch nichts dafür“, empörte sich Heike. „Aber egal, kann ich mir dein Quad ausleihen, bis meins geliefert wird?“
„Klar, es steht im Schuppen, wo wir es versteckt hatten. Wie lange hast du denn vor, zu bleiben, wenn ich das fragen darf?“, meinte Amanda.
„Warum? Wäre es dir auch lieber, wenn ich abhauen würde“, zischte Heike verärgert.
„Kindchen, du kannst machen, was du willst, aber die Menschen hier werden dichmeiden. Sie haben Angst vor dir!“
„Keine Sorge, ich halte mich fern. Kann ich wenigstens ab und zu hier einkaufen?“
„Jetzt sei nicht beleidigt, vergiss nicht, dass das hier ein Dorf ist. Und die Bewohner sind nun mal sehr abergläubisch!“
Sie bat Heike kurz herein und forderte sie auf, sich zu setzen. Dann verschwand sie im Lager und kam mit einem Karton zurück.
„Ich habe hier etwas für dich. Darüber kannst du mit mir Kontakt aufnehmen, solltest du etwas brauchen“, meinte sie und gab ihr den Kasten.
„Was ist denn das?“, fragte Heike überrascht.
„Das, mein Schatz, ist ein Funkgerät. Ich habe dir alles Wichtige auf einen Zettel geschrieben. Damit wirst du es alleine schaffen, das Gerät in Gang zu setzen!“
Heike nahm den Karton entgegen, lächelte verhalten und bedanktesich.
„Ich verstehe. Dann brauche ich nicht hierherzukommen, wenn etwas fehlt.“
„Wenigstens, bissich die Leute beruhigt haben. Ich brauche den Umsatz, und wenn sie nicht mehr bei mir einkaufen, kann ich den Laden dichtmachen.“
„Schon gut, ich habe es kapiert. Darf ich auch ab und zu mal so durchfunken? Ich meine, wenn ich jemanden zum Quatschen brauche“, fragte Heike traurig.
„Jederzeit! Ich bin für dich da“, erwiderte Amanda und tätschelte ihren Arm.
Heike stand auf, nahm ihre Sachen und ging zur Tür. „Danke für alles, man hört sich.“
Amanda hatte Mitleid mit ihr, aber sie konnte nichts sonst für Heike tun.
Heike schlich in den Schuppen, öffnete das große Tor und schob das Quad ein Stück aus dem Dorf heraus. Weit genug entfernt, ließ sie das Fahrzeug an und fuhr los. Bei der Hütte angekommen, schaffte sie ihren Kram hinein, schloss die Tür, feuerte den Ofen an und brühte sich einen heißen Kaffee auf. Mit der Tasse in der Hand stellte sie sich ans Fenster und sah hinaus. In zwei Hütten brannte Licht, aber zusehen war keine Menschenseele.
Wütend und traurig begann sie ihre Sachen auszupacken. DasFunkgerät würde sie sich morgen vornehmen, für heute hatte sie genug. Müde legte sie sich auf das Bett, sah den tanzenden Flammen im Ofen zu und schlief ein.
Am nächsten Morgen kletterte Heike aus dem Bett und traute ihren Augen nicht. Der Blick aus dem Fenster ließ sie erstarren, denn es hatte in der Nacht zu schneien angefangen. Eilig feuerte sie den Ofen an und musste entsetzt feststellen, dass kaum mehr Holz in derHütte war. Zum Glück hatte sie sich warme Sachen gekauft, die sie jetzt gut gebrauchenkonnte.
Sie zog sich rasch an, brühte heißen Kaffee auf undüberlegte, was sie zuerst erledigen sollte. Entschlossen schlüpfte Heike in den dicken Parka und stapfte hinaus. Sie wusste, dass hinter der Hütte ein Holzstapel war. Beherzt schnappte sie sich einen Armvoll und trug es hinein. Allmählich erwärmte sie sich. Ihr Blick fiel nun auf den Karton. Skeptisch packte sie den Inhalt aus, suchte ein geeignetes Plätzchen und nahmsich den Zettel, den Amanda geschrieben hatte.Angespannt erledigte sie Punkt für Punkt und war zufrieden, als es funktionierte. Um zu prüfen, ob sie alles fehlerfrei gemacht hatte, funkte sie Amanda an.
„Amanda, bitte kommen“, sagte sie und wartete gespannt ab.
„Hier ist Amanda, wie ich höre, hat es geklappt.“
„Ja, stell dir vor, ich habe es geschafft.