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Eigentlich sind Jan und Sandra auf der Sonnenseite des Lebens angekommen: Nachdem ihre Liebe durch die Geburt einer süßen und gesunden Tochter gekrönt wurde und Jan ein erfolgreicher und anerkannter Chirurg geworden ist, der sich auf seine Habilitation freut, geht Sandras sehnlichster Wunsch nach einer eigenen Gärtnerei in Erfüllung. Sie beziehen das perfekte Haus, haben keine materiellen Sorgen, finden treue Freunde und könnten ihr Glück genießen – wenn nicht das Schicksal immer wieder unbarmherzig zuschlagen würde. Familiäre Zerwürfnisse, Sorgen um ihre Tochter Jasmin, kriminelle Gewalt, Krankheit und sogar Tod lassen Jan und Sandra fast verzweifeln und immer wieder stellen sie sich die Frage: „Warum nur?“
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Thurner Brigitte
Warum nur...
Es war der 27. Oktober. Sandra und Jan Thurner waren auf dem Weg zur Klinik. Die Geburt ihres ersten Kindes stand bevor. Jan war schon nervös, denn die Wehen kamen alle zwei Minuten und sie saßen noch im Auto.
„Wenn das so weitergeht, kommt unser Kind auf der Straße zur Welt“, schimpfte er lautstark vor sich hin. Sandra antwortete nicht, denn sie war mit Schnaufen beschäftigt.
„Wir hätten früher fahren sollen, aber du musstest ja unbedingt noch ein Bad nehmen“, rügte er seine Frau.
„Lass mich in Frieden und fahr zu“, erwiderte Sandra und verschnaufte die nächste Wehe. „Jan, schnell, ich glaube unser Baby hat keine Lust mehr zu warten!“ Sie stieß einen tiefen Seufzer aus.
„Bitte Schatz, halte durch, wir haben es gleich geschafft“, flehte Jan und raste vor den Eingang der Notaufnahme. Er nahm den Gang raus, sprang aus dem Wagen und eilte in die Klinik. „Schnell, unser Baby kommt“, schrie er der erstbesten Schwester zu. Er schnappte sich einen Rollstuhl und lief zu Sandra zurück. Er half ihr aus dem Auto und forderte sie auf, Platz zu nehmen. Eine weitere Wehe hinderte sie daran und sie wartete, bis diese vorbei war.
„Jetzt aber schnell“, schrie sie ihrem Mann zu, der sie im Laufschritt in die Notaufnahme schob. Auf dem Weg zum Kreißsaal platzte die Fruchtblase und Jan geriet in Panik. Eine erfahrene Hebamme nahm sich der beiden an und versuchte, das Ehepaar zu beruhigen.
Fünfundvierzig Minuten später hielt Jan seine kleine Jasmin im Arm und weinte vor Glück und Freude. Es war alles gutgegangen, Mutter und Tochter waren wohlauf und gesund.
„Da hat es jemand aber eilig gehabt“, meinte die Ärztin, nachdem sie Sandra versorgt hatte.
„Ja, sie wollte uns halt endlich sehen und nicht nur hören“, erwiderte der frischgebackene Vater. Da seine Frau völlig am Ende war, wartete Jan, bis sie auf Station gebracht wurden, und verabschiedete sich von seinen beiden Mädels.
„Ich komme gleich morgen früh wieder“, sagte er und küsste Sandra und Jasmin.
„Ruf mich an, bevor du kommst. Dann sage ich dir, was du mitbringen kannst“, bat sie ihren Mann, ehe er das Zimmer verließ. Jan ging zu seinem Auto, setzte sich hinein und ließ seinen Tränen freien Lauf. Er war so unsagbar stolz und glücklich, dass er es nicht mit Worten sagen konnte. Das Erste, was er zuhause machte, war, seinen Eltern und Schwiegereltern mitzuteilen, dass sie Oma und Opa geworden waren. Seine Mutter fragte, wie groß und schwer die Kleine war und wie sie heißen würde. Er berichtete, dass Jasmin, 3670 Gramm wog und 52 cm groß sei. Sie gratuliertem ihm und versprachen, die beiden in den nächsten Tagen zu besuchen.
Jan konnte es nicht fassen: Er war jetzt Papa und bald würde seine Tochter nachhause kommen. Er ging nach oben und öffnete die Tür zum Kinderzimmer. Es war schon alles hergerichtet, nur der Name über dem Kinderbettchen fehlte. Er holte Farbe und Pinsel und schrieb fein säuberlich „Jasmin“ an die Wand. „Jetzt ist es perfekt“, sagte er laut und setzte sich in den Schaukelstuhl, den Sandra zum Stillen haben wollte. Nach ein paar Minuten erhob er sich und schlich leise zum Schlafzimmer. Dort zog er sich aus, ging ins Bad und legte sich anschließend erschöpft in das große, leere Bett. Nur zu gerne hätte er seiner Frau eine gute Nacht gewünscht, aber er unterließ es, da sie jetzt ihren Schlaf brauchte.
Am nächsten Morgen machte er sich fertig, trank eine Tasse Kaffee und rief seine Frau an. „Na, mein Schatz, wie geht es euch?“, erkundigte er sich.
„Jetzt, wo ich deine Stimme höre, sehr gut“, antwortete Sandra.
„Was soll ich denn mitbringen?“, fragte er und wartete. Sie teilte ihm mit, was sie brauchte, und verabschiedete sich. Jan suchte alles zusammen, packte es in eine Tasche und marschierte zur Tür hinaus. Auf dem Weg zur Klinik hielt er bei einem Blumenladen und kaufte einen riesigen Strauß roter Rosen. Dann fuhr er zum Juwelier und suchte für seine Frau einen schicken Ring und für Jasmin eine goldene Kette mit ihrem Namen aus. Zufrieden eilte er zum Auto zurück und fuhr zur Klinik. Bepackt mit Tasche und Blumenstrauß marschierte er zum Zimmer seiner Frau. Jan klopfte, trat ein und lächelte, als er seine beiden Mädels sah. Er gab seiner Frau einen Kuss und reichte ihr die Blumen. „Die sind für dich mein Schatz“, sagte er. Strahlend trat er an das Kinderbettchen, streichelte seiner Tochter über die Nase und meinte: „Wie geht es denn meinem Liebling heute?“
„Du kannst sie rausnehmen, sie wird in deinen Armen nicht aufwachen“, sagte Sandra leise. Jan griff hinein, nahm vorsichtig das kleine Bündel und legte es an sein Herz.
„Papa hat eine Überraschung für dich“, flüsterte er und griff in seine Hosentasche. „Schatz, kannst du die Schachtel mal aufmachen?“ Sandra sah ihn entgeistert an, öffnete und lächelte, als sie den Inhalt sah.
„Das legen wir ihr aber erst zuhause an, nicht dass etwas passiert“, meinte sie.
„Für dich Liebling habe ich ebenfalls etwas, greif mal in meine Jackentasche und nimm es heraus!“ Sandra fand eine kleine Schachtel, öffnete sie und rief begeistert aus: „Du bist verrückt! Das hätte nicht sein müssen, du bekommst von mir ja auch nichts.“
„Das stimmt nicht ganz, ich habe eine Tochter bekommen, das ist mehr wert als alles“, erwiderte er überglücklich.
Die Zeit verging wie im Flug. Sandra und Jasmin waren jetzt schon fast zwei Wochen zuhause und der Alltag hatte die kleine Familie eingeholt. Wenn Jan am Morgen das Haus verließ, freute er sich schon auf den Feierabend. Er vergötterte die Kleine und kümmerte sich rührend um sie. Jedes Mal, wenn Sandra ihren Jan mit Jasmin beobachtete, füllte sich ihr Herz mit Wärme. Sie hätte keinen besseren Mann finden können.
Ein Jahr, nachdem Jasmin zur Welt gekommen war, verstarben Jans Eltern bei einem Autounfall. Er trauerte und weinte, aber seine Kleine half ihm, in dieser schweren Zeit nicht aufzugeben. Jan machte seinen Doktor und fing in einer Klinik als Chirurg an.
Als Jasmin in die Schule gekommen war, eröffnete Sandra einen eigenen kleinen Blumenladen. Jasmin war talentiert und eiferte schon jetzt ihrem Vater nach. Wenn sie gefragt wurde, was sie später einmal werden möchte, sagte sie immer: „Ärztin, wie mein Papa.“
So vergingen die Jahre, Jasmin wuchs geliebt und behütet auf, war der Sonnenschein von Mama und Papa. Wie in jeder Familie gab es auch bei Sandra, Jan und Jasmin manchmal Tiefpunkte. So zum Beispiel, als Jasmin mit vierzehn Jahren meinte, sie könne schon alles alleine entscheiden. Als sie bei einer Freundin schlief, da sie eine Fete besuchen wollten, gab es klare Regeln: kein Alkohol, kein Nikotin und keine Drogen. Sie versprachen artig zu sein und freuten sich schon auf den Abend. Jasmin hatte sich extra für diese Party neu eingekleidet und präsentierte ihr cooles Outfit. Lisa, ihre Freundin, beneidete sie heimlich darum, gab es aber nicht zu. Ihre Eltern waren nicht besonders wohlhabend und sie musste nach der Schule Zeitungen austragen, um ihr Taschengeld aufzubessern. Manchmal störte es sie, aber sie biss die Zähne zusammen, denn ihr Vater sagte immer: „Von nichts, kommt nichts!“ So lernte Lisa schon von klein auf, dass man für sein Geld arbeiten muss. Ein Umstand, den Jasmin nicht kannte. Wenn sie etwas wollte, ging sie zu Papa und bekam es. Ob das förderlich war, zweifelte Lisa oft an, denn sie schätzte die Sachen, die sie sich selbst erarbeitet hatte, mehr als Jasmin ihr Zeug. Lisas Vater fuhr die beiden zur Party und ermahnte seine Tochter zur Vernunft. Jasmin fand das ziemlich uncool.
„Denkt dran, ich hole euch pünktlich um 22 Uhr hier wieder ab“, sagte er und wünschte den beiden einen schönen Abend. „Mann, dein Vater behandelt uns wie kleine Kinder, das nervt“, meinte Jasmin und eilte zur Party. Sie ließ Lisa alleine draußen stehen und redete den ganzen Abend kein Wort mit ihr. Lisa gewann den Eindruck, dass ihre Freundin sie nur als Mittel zum Zweck mitgenommen hatte. Gegen 21:45 Uhr ging Lisa auf Jasmin zu und sagte: „Wir müssen dann los, Papa wird gleich hier sein.“ Jasmin sah sie an und lachte.
„Sag mal, spinnst du, ich gehe nirgendwo hin, ich bleibe bei meiner Truppe, wenn du unbedingt heim willst, dann verpiss dich einfach, du Weichei!“
„Jasmin, bitte, es war so ausgemacht“, bat die Freundin, aber es war umsonst, Jasmin war schon wieder auf die Tanzfläche verschwunden. Lisa hatte genug, sie holte ihre Jacke, zahlte das Getränk und eilte hinaus. Ein paar Minuten später kam ihr Vater um die Ecke.
„Lisa, wo ist Jasmin?“, fragte er. Sie erklärte ihrem Vater, was los war, und setzte sich ins Auto, während er das Gebäude betrat. Er wollte Jasmin da herausholen, denn schließlich war er für ihre Sicherheit verantwortlich. Die Jugendlichen sahen ihn wie einen Außerirdischen an, als er nach Jasmin fragte. Niemand gab ihm eine Antwort, plötzlich wollte keiner das Mädchen kennen. Lisas Vater rannte wutentbrannt nach draußen und holte sein Handy.
„Papa, wo ist denn Jasmin und wen rufst du denn jetzt an?“ „Ich werde Jasmins Eltern anrufen, das geht so nicht“, brauste er wütend auf. Lisa konnte hören, wie ihr Vater in das Telefon schimpfte und stinksauer auflegte.
„Was ist jetzt, was haben sie gesagt?“, fragte Lisa. Er teilte ihr mit, dass Jasmins Eltern gleichkämen und sie auf sie warten sollten. Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, erklärte er, dass er für ihre Freundin die Aufsichtspflicht habe und dass das kein lustiges Spiel sei. Lisa erzählte ihm, wie sich ihre Freundin verhalten hatte und dass sie nie wieder mit ihr irgendwohin gehen würde.
„Sie hat sich beschwert, dass ihr uns wie Kleinkinder behandelt und sie das komplett Scheiße findet.“ Das war zu hart für ihren Papa, er nahm im Wagen Platz und wartete, bis Jasmins Eltern eintrafen. Nach einer gefühlten Ewigkeit fuhr das Auto vor. Aufgebracht rannte Jasmins Vater auf Lisa zu und fing an zu brüllen.
„Was bildest du dir denn ein, du kannst doch deine Freundin nicht im Stich lassen!“
„Moment mal“, mischte sich jetzt Lisas Vater ein, „Jasmin ist diejenige, die sich nicht an die Abmachung halten wollte. Meine Tochter sagte ihr, es wäre Zeit zu gehen, und deine Tochter wollte einfach nicht“, erklärte er.
„Was? Jetzt verstehe ich gar nichts mehr“, warf Jasmins Mutter ein.
„Wo ist sie denn jetzt?“, fragte sie. „Na drinnen, sie forderte, dass ich abhaue, weil ich peinlich sei“, meinte Lisa weinend. Entsetzt schlug Jasmins Mutter die Hände vors Gesicht.
„Das glaube ich nicht, was hat sie denn da geritten?“, fragte sie. Da sie sah, wie Lisa unter dieser Situation litt, nahm sie das Mädchen in den Arm und meinte: „Du hast alles richtig gemacht, es ist nicht peinlich, auf die Eltern zu hören und Versprechen einzuhalten.“
„Sei unbesorgt, wir werden uns die Dame jetzt zur Brust nehmen, und sie wird sich bei dir entschuldigen, das verspreche ich dir.“ Jasmins Vater eilte zur Party und wollte seine Tochter holen, aber in dem Getümmel konnte er sie nicht finden. Er war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, als sich ein fremdes Mädchen einmischte: „Alter, was willst du eigentlich hier, muss das sein, dass du meine Party schmeißt?“
„Jetzt hör mir mal gut zu, mein Fräulein, ich möchte jetzt auf der Stelle wissen, wo sich Jasmin befindet, ansonsten sehe ich mich gezwungen, jeden einzelnen Raum zu durchsuchen.“ Das reichte, um sie einzuschüchtern: „Sie ist oben.“
„Wo? Oben? Was macht sie da?“
„Sie knutscht mit Pete herum“, antwortete das Mädchen mit Blick auf den Boden.
„Sie macht was?“, schrie er wie von Sinnen.
„Na hör mal, sie ist schon sechzehn, was glaubst du denn?“, fragte sie.
Jasmins Vater erklärte ihr, dass Jasmin erst vierzehn war und er sie jetzt auf der Stelle sehen wollte. Das Mädchen lief nach oben, wurde aber von Jasmins Vater überholt. Ungehalten riss er die Türe auf, die ihm gezeigt wurde und sackte innerlich zusammen. Seine heißgeliebte Tochter lag mit einem Jungen nackt und in eindeutiger Position im Bett. Auf dem Beistelltisch lagen ein Joint und eine leere Wodkaflasche.
„Jasmin, was fällt dir ein, zieh dich sofort an und bewege deinen Hintern ins Auto“, brüllte er so laut, dass man es unten trotz der Musik hören konnte.
„Hey Papa, chill mal, ich bin kein Baby mehr.“ Jasmin lachte, stand auf, zog sich an und meinte: „Du bist so ein widerlicher Spießer, das zahle ich dir heim.“ Trotzig eilte sie die Treppe hinunter und hörte, wie ihr Vater den Jungen rund machte.
„Das gibt eine Anzeige, Freundchen, darauf kannst du dich verlassen.“ Dann eilte er seiner Tochter hinterher. Jasmins Mutter, Lisa und ihr Vater standen vor den Autos und staunten, als sie lachend zur Tür herauskam. Sie stürzte auf Lisa zu und wollte ihr ins Gesicht schlagen, aber Lisas Vater hielt ihre Hand fest. „Sag mal, spinnst du? Warum schlägst du jetzt auf Lisa ein? Sie hat im Gegensatz zu dir nichts falsch gemacht“, brüllte er sie an.
„Du blöde Schlampe, wegen dir ist mein Vater stinksauer auf mich. Hättest du nicht einfach deine Klappe halten können?“, warf sie ihrer Freundin vor. Zu weiteren Beschimpfungen kam sie nicht mehr, denn ihr Vater ging dazwischen. „Steig ein, die Party ist vorbei“, zischte er und schlug die Autotür hinter ihr zu.
„Lisa, es tut mir leid, dass du wegen Jasmin in Schwierigkeiten geraten bist. Danke, dass ihr uns angerufen habt.“ Dann stiegen sie ins Auto und fuhren mit quietschenden Reifen davon. „Komm Lisa, lass uns nachhause fahren“, meinte ihr Vater. „Jetzt möchte sie bestimmt nichts mehr mit mir zu tun haben“, schluchzte das Mädchen. Aber ihr Vater beruhigte sie und sagte ihr, wie erwachsen sie gehandelt habe und dass er mächtig stolz auf sie sei. Bei Jasmin verlief es etwas anders. Ihr Vater tobte, war außer sich und erteilte ihr für die nächsten vier Wochen Hausarrest. Sie wollte protestieren, kam aber nicht zu Wort und wurde auf ihr Zimmer geschickt.
„Ich möchte heute nichts mehr von dir hören, wir reden morgen darüber. Geh mir jetzt aus den Augen.“ Jasmin marschierte motzend auf ihr Zimmer, während ihre Eltern ratlos und schockiert zurückblieben.
„Was haben wir falsch gemacht?“, sagte Jan zu seiner Frau. „Wir haben ihr einfach zu viel erlaubt“, erwiderte sie. Sie starrten aneinander vorbei, sprachen nichts mehr und gingen wenig später enttäuscht zu Bett. Sandra graute es schon vor dem Morgen, aber sie sagte kein Wort und grübelte sich in den Schlaf. Jan konnte es nicht fassen, seine Prinzessin, nie hätte er so etwas von ihr erwartet. Die beiden saßen beim Frühstück und warteten auf Jasmin. Da sie kurz vor Mittag immer noch nicht erschienen war, ging Jan hoch und weckte sie.
„Steh auf, Fräulein, wir haben mit dir zu sprechen.“
„Nun lass mich doch in Frieden, ich kann diese Heile-Familie- Scheiße nicht mehr hören“, antwortete sie und drehte sich erneut um. Jan riss die Decke runter und schrie sie zum ersten Mal lautstark an. „Du stehst jetzt sofort auf, sonst wirst du mich kennenlernen. Mir reicht es jetzt! Hast du mich verstanden?“ Jasmin, die ihren Vater nie zuvor so erlebt hatte, setzte sich auf und sah ihn ungläubig an. „Schon okay, ich komme gleich“, meinte sie und bat ihn, aus dem Zimmer zu gehen. Er ging langsam die Treppe hinunter, es tat ihm leid, seine Tochter so grob behandelt zu haben, aber dieses Gespräch war einfach überfällig. Er setzte sich zu Sandra, goss sich Kaffee ein und schaute seine Frau fragend an. Nach einiger Zeit bequemte sich endlich Jasmin zu ihnen.
„Was hast du dir denn dabei gedacht? Du hast unser Vertrauen missbraucht und deine Freundin zutiefst verletzt“, warf er ihr vor. Sie sah die beiden an, überlegte und meinte dann: „Ich verstehe nicht, wieso ihr euch so aufführt. Schließlich ist dank Papa ja nichts passiert.“
„Findest du das in Ordnung?“, fragte Sandra.
„Mama, wir haben was getrunken und dann hat Pete mit mir einen Joint geraucht. Dieser Stoff hat mich um den Verstand gebracht und so ist eins zum anderen gekommen.“
„Jasmin, du bist erst vierzehn und keine sechzehn! Warum machst du dich zwei Jahre älter?“
„Weil es geil ist und ich auch endlich mal Spaß haben wollte“, entgegnete sie trocken.
„Das schlägt dem Fass den Boden aus“, schrie Jan laut, „unsere Tochter findet es geil, mit vierzehn zu rauchen, Alkohol zu trinken und mit einem x-beliebigen Typen im Bett zu landen. Was haben wir falsch gemacht, dass du uns so in den Rücken fällst?“, fragte er entsetzt.
„Ja genau, das ist die Lösung! Ihr habt mir alles erlaubt, ich habe immer bekommen, was ich wollte, und musste nichts dafür machen. Lisa muss Zeitungen austragen, damit sie mehr Taschengeld hat, warum habt ihr mir nicht mal so eine Aufgabe gegeben?“
„Du willst arbeiten? Das kannst du haben! Ab sofort bekommst du nur die Hälfte an Taschengeld und reicht dir das nicht, werde ich dir eine Arbeit suchen“, beschloss ihr Vater.
„Was, soll ich etwa Hunde ausführen oder den Putzlappen schwingen?“
„Ja, das wäre ein Versuch“, erwiderte Jan.
Jasmin lachte, denn sie war der Meinung, dass ihr Vater nur Spaß machte, aber das war nicht der Fall.
„Mama, sag doch etwas“, flehte sie ihre Mutter an, aber Sandra schwieg.
„Nein, Jasmin, Papa hat Recht. Was du dir gestern erlaubt hast, ging zu weit. Du hast dich in Gefahr gebracht und deine Freundin und uns enttäuscht.“ Jasmin konnte nicht glauben, dass ihre Eltern so einen Aufstand machten, und verschränkte die Arme trotzig vor der Brust.
„Die Strafe von Papa ist für dein Verhalten zu milde, daher werde ich etwas nachlegen“, meinte die Mutter. „Du hast ab sofort vier Wochen Hausarrest, bekommst dein Handy nur für die Schule, wirst dich bei Lisa und ihren Eltern entschuldigen und außerdem werde ich den jungen Mann von gestern anzeigen.“
Jan sah seine Frau an, lächelte und war froh, dass sie das genau so sah wie er. Jasmin musste ihr Handy abgeben und durfte wieder auf ihr Zimmer.
„Jetzt hasst sie uns“, meinte Jan und zwinkerte seiner Frau zu.
„Das macht nichts, soll sie schmollen, jetzt kann sie über den Mist nachdenken, den sie angerichtet hat.“ Jan machte sich auf den Weg, um den Namen des Jungen zu erfahren, was gar nicht schwer war und erstattete dann Anzeige bei der Polizei. Zu seinem Erstaunen war dieser Bengel kein unbeschriebenes Blatt und hatte schon einiges verbockt. Auf dem Heimweg schaute er bei Lisa und ihren Eltern vorbei, entschuldigte sich für Jasmins Verhalten und versprach, demnächst mit ihr persönlich zu kommen.
„Ist das nicht zu hart?“, fragte Lisa, die plötzlich Mitleid mit ihrer Freundin hatte. „Nein, Lisa, sie ist zu weit gegangen und muss lernen, mit den Konsequenzen zu leben“, antwortete Jan. Zu seinem Glück fand die Familie es gut, dass er seiner Tochter ordentlich die Leviten gelesen hatte. Beruhigt verabschiedete er sich und bedankte sich für das Verständnis.
In den nächsten Tagen herrschte Eiszeit in der kleinen Familie. Morgens, wenn Jasmin zur Schule aufbrach, bekam sie ihr Handy, das sie nach dem Unterricht wieder abgeben musste. Eines Tages, Sandra war im Geschäft, da betrat ein Mann mittleren Alters den Blumenladen.
„Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“, erkundigte sich Sandra höflich. „Haben Sie meinen Sohn angezeigt?“, zischte er scharf.
„Wer sind Sie denn überhaupt und von welchem Sohn sprechen Sie bitte?“, erwiderte Sandra.
„Sagt Ihnen der Name Pete etwas?“
Sie überlegte nur kurz: „Der junge Mann, der meiner Tochter Rauschgift gegeben hat, der sie verführen wollte?“
„Na, das wird ja immer besser“, schrie er und kam ihr verdächtig nahe.
„Bleiben Sie stehen, sonst rufe ich die Polizei“, entgegnete Sandra und wich zurück. Der Mann packte sie am Arm, doch sie konnte noch den Alarmknopf drücken, ehe er auf sie einschlug. Bevor sie das Bewusstsein verlor, hörte sie nur, dass er ihr drohte: „Sollten Sie die Anzeige nicht zurücknehmen, wird es Ihnen leidtun.“ Dann schlug er ein weiteres Mal zu und bei Sandra gingen die Lichter aus.
Die gerufene Streife fand sie wenig später verletzt auf dem Boden liegend. Sie alarmierte den Notarzt und versuchte, erste Details zu erfahren. Da Sandra eine Gehirnerschütterung und eine Platzwunde am Kopf erlitten hatte, verlegten sie die Befragung auf einen späteren Zeitpunkt. Nachdem der Krankenwagen mit der Patientin weggefahren war, informierte ein Polizist den Ehemann. Jan stürzte sofort zu seinem Wagen und eilte zu Sandras Laden. An Ort und Stelle wurde er aufgeklärt und gebeten abzuschließen. Danach fuhr er gleich zur Klinik. Er fragte an der Rezeption nach seiner Frau und war froh, als er erfuhr, dass es ihr den Umständen entsprechend gut ginge. Leise klopfte er an der Zimmertür und trat ein. Seine Frau lag kreidebleich im Bett. „Schatz, was ist denn nur geschehen und wie geht es dir?“, fragte er besorgt.
„Mein Schädel brummt und die Wunde am Kinn schmerzt, ansonsten ist alles gut“, berichtete sie.
„Wer war das denn und warum?“, wollte er wissen und wartete gespannt auf Sandras Antwort. Sie erzählte ihm, dass Petes Vater das getan hatte und dass er ihr gedroht hatte.
„Die Polizei kommt bald, dann erzählst du ihnen alles, an das du dich erinnern kannst!“ Er nahm sie liebevoll in den Arm und tröstete sie, so gut es ging.
„Jan, was ist mit Jasmin?“
Er sah sie an und meinte: „Die ist in der Schule. Wieso fragst du?“ Sandra erzählte ihm von der Drohung und machte sich große Sorgen. Plötzlich wurde er still, dachte nach und sagte schließlich: „Ich warte jetzt, bis die Polizei hier war, und fahre dann zur Schule.“ Damit schien seine Frau fürs Erste beruhigt. Es klopfte an der Tür und die Beamten traten ein.
„Der Arzt hat uns gesagt, dass sie vernehmungsfähig sind und da wir einige Fragen haben, würden wir das jetzt gerne klären.“ Sie stellten ihre Fragen und Sandra berichtete von der Drohung.
„Ich würde sagen, Sie erholen sich jetzt erst einmal und wir kümmern uns um den Vorfall“, sagte einer der Beamten und verabschiedete sich. Jan erhob sich ebenfalls: „Ich fahre zur Schule, hole Jasmin ab und komme dann mit ihr hierher. Du versuchst in der Zwischenzeit etwas zu schlafen.“ Sandra nickte und machte die Augen zu, sie war mitgenommen und brauchte unbedingt Ruhe.
Jan stellte sich auf den Schulparkplatz und wartete auf seine Tochter. Da ertönte der Gong, aufmerksam beobachtete er die Schüler, die das Gebäude verließen. Von Jasmin war nichts zu sehen. Er erkannte Lisa und eilte auf sie zu: „Hast du Jasmin gesehen?“
„Nein, sie war heute nicht im Unterricht“, antwortete sie. „Was? Sie war nicht in der Schule?“ Lisa erzählte ihm, dass sie sich für diesen Tag entschuldigt hätte.
„Das darf jetzt nicht wahr sein“, rief er verzweifelt aus. Ohne ein weiteres Wort drehte er um und eilte zum Auto. Wo sollte er suchen? War sie etwa bei diesem Jungen? Ein großes „Warum“ tanzte in seinem Kopf herum. Jan versuchte, sich an die Adresse zu erinnern, brachte sie aber nicht mehr zusammen. Seiner Frau durfte er kein Wort darüber erzählen, sie musste sich schonen. Er fuhr nachhause und durchsuchte Jasmins Zimmer nach einem Hinweis. Er fühlte sich schäbig dabei, denn so etwas hatte er bisher nie getan. Dann sah er ihr Tagebuch. Verzweifelt schlug er den letzten Eintrag auf, sie schrieb über Pete und einen Treffpunkt an einer alten Fischerhütte. Verwirrt blätterte er weiter, bis er einen Hinweis fand, wo diese Hütte sei. „Warte mein Fräulein, wehe, wenn du dort bist“, sagte er laut und legte das Buch zurück. Aufgebracht machte er sich auf den Weg.
Nach fünfundvierzig Minuten hatte er sein Ziel erreicht. Er stellte den Motor ab und schlich zur Hütte. Er vergewisserte sich, dass ihn niemand sah und kroch auf allen Vieren unter ein offenstehendes Fenster. Erst war es leise, doch dann war ein Stöhnen zu hören. Jan wollte sich nicht ausmalen, was da drinnen vor sich ging, aber schließlich erhob er sich und spähte vorsichtig hinein. Er sah seine Tochter und das Blut gefror ihm in den Adern. Sie lag auf einer alten Couch, in dem abgebundenen Arm steckte eine Spritze. Jan hätte am liebsten geschrien, ließ es aber bleiben. Geduckt entfernte er sich ein Stück und wählte den Notruf. Dann kroch er wieder zurück. Außer Jasmin konnte er niemanden sehen und daher beschloss er, hinein zu gehen. Er kniete sich vor sie und versuchte mit ihr zu sprechen, aber seine Tochter war wie weggetreten. Tränen rannen ihm über die Wangen. Würde er seine geliebte Prinzessin verlieren? Er traute sich nicht etwas anzufassen und setzte sich neben sie. Bis der Notarzt eintraf, schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Er stand auf und lief den Helfern entgegen. „In ihrem Arm steckt eine Nadel. Wird sie sterben?“, rief er verzweifelt. Der Sanitäter nahm ihn zur Seite und meinte: „Jetzt beruhigen Sie sich erst mal, wir sehen uns das Mädchen an, dann komme ich zu Ihnen.“ Die Helfer betraten die Hütte und Jan blieb zurück. Er wollte nicht im Weg stehen, da der Raum nicht groß war. Dann ging alles ganz schnell. Einer holte die Trage und der andere legte einen Zugang. Bis er verstand, was da ablief, lag Jasmin schon im Wagen.
„Wir bringen Ihre Tochter in die Klinik. Wenn Sie es schaffen, können Sie uns nachfahren“, erklärte er Jan. Er eilte zu seinem Wagen, startete den Motor und heftete sich an die Fersen des Krankenwagens. Wieder schwebte das Wort „Warum“ in seinem Kopf.
Die Fahrt dauerte nicht lange, Jan sprang aus dem Fahrzeug und begleitete die Sanitäter hinein. Er wich keinen Zentimeter von der Trage, auf der seine Tochter lag.
„Bitte helfen Sie ihr“, flehte er die Ärztin an, die zu Jasmin trat. Sie stellte ihm einige Fragen, gab Anweisungen und bat den aufgebrachten Vater, nebenan zu warten. Eine halbe Stunde später kam sie wieder heraus und forderte ihn auf, mitzukommen. Sie erklärte ihm, dass Jasmin Glück gehabt habe und sie bisher offenbar keine Drogen genommen habe. Mit einer Therapie wäre das Problem wieder zu beheben. Den Umgang mit ihrem Freund dagegen sollte er besser verhindern.
„Wie lange muss sie denn hierbleiben?“, fragte Jan.
„Das kommt drauf an, wie schnell ihre Tochter auf die Medikation anspricht“, erklärte sie. „Auf jeden Fall würde ich Ihnen empfehlen, mit Ihrer Tochter über diese Therapie zu sprechen“, meinte die Ärztin.
„Ich bin Ihnen so dankbar, Sie können sich gar nicht vorstellen, was für ein Stein mir eben vom Herzen gerutscht ist“, erwiderte Jan und verabschiedete sich.
Er wartete auf die Schwester, die Jasmin auf ein Zimmer brachte, damit er sie besuchen konnte. Er überlegte, wie er das seiner Frau beibringen sollte, war aber im Moment nicht im Stande, einen klaren Gedanken zu fassen, da er nur an seine Tochter dachte.
Eine Schwester kam auf ihn zu: „Wenn Sie möchten, können Sie uns jetzt mit auf die Station begleiten!“ Er schaute auf Jasmin und ging mit den beiden zum Aufzug. Er half der Schwester, das Bett in den Lift zu schieben und streichelte ihr über die Wange.
„Kann man feststellen, was ihr gespritzt wurde?“, erkundigte sich Jan besorgt.
„Das müssen Sie mit der Ärztin besprechen, davon habe ich leider keine Ahnung“, antwortete die Krankenschwester und lächelte ihn an. „Jetzt braucht Ihre Tochter erst einmal Ruhe, geben Sie ihr Zeit, das wird schon wieder.“
Jan küsste Jasmin auf die Stirn und gab der Stationsschwester Bescheid, dass er zu seiner Frau ginge. Sandra hatte die Augen geöffnet und lächelte ihm entgegen, als er das Zimmer betrat. „Hey, mein Schatz, du siehst schon um einiges besser aus, wie fühlst du dich?“, fragte er sie.
„Es geht mir schon wieder gut“, meinte sie.
„Wo ist denn Jasmin, hast du sie nicht mitgebracht?“
„Nein, wir wollten dich schonen, denn wir möchten dich bald nach- hause holen“, flunkerte er schweren Herzens. Sandra merkte zum Glück nichts und sprach über das Geschehene mit ihm.
„Haben sie den Drecksack schon erwischt?“
„Ich weiß es nicht, mir hat bisher keiner was gesagt“, antwortete er.
Dann klopfte es und die Tür öffnete sich. Es war die Ärztin. Sie erkundigte sich nach dem Zustand der Patientin und meinte: „Wenn nichts mehr dazwischenkommt, können Sie morgen die Klinik wieder verlassen, aber denken Sie daran, Sie brauchen noch Ruhe und müssen sich ein paar Tage schonen.“ „Das ist ja wunderbar“, sagte Jan lächelnd und umarmte seine Frau. „Ich werde mir Urlaub nehmen, um bei dir zu sein.“
Die Ärztin fragte, ob er kurz Zeit habe, mit ihr hinauszugehen.
„Wieso? Darf ich da etwa etwas nicht hören?“, erkundigte sich Sandra besorgt.
„Nein, ich brauche nur eine Unterschrift von Ihrem Mann, ich bringe ihn gleich wieder zu Ihnen.“
Die beiden verließen das Zimmer und die Ärztin befragte ihn zu Jasmin.
„Sie wird keinen Schaden davontragen, zum Glück wurde der Täter gestört, als er ihr die Nadel setzen wollte. So kam nicht viel von diesem Zeug in ihren Körper“, erklärte sie.
„Wie geht es jetzt weiter?“, erkundigte sich Jan. „Warum war sie bewusstlos, da stimmt doch was nicht“, erwiderte er besorgt.
„Hat ihre Tochter Angst vor Spritzen?“
„Ja, schon als kleines Kind fürchtete sie sich davor“, antwortete er.
„Das erklärt die Ohnmacht, so schützte sie sich und ihren Körper vor der Nadel“, berichtete sie dem verängstigten Vater. „Wichtig ist jetzt, dass ihre Tochter in ihr gewohntes Umfeld zurückfindet und nicht alleine gelassen wird.“
„Wann darf sie nachhause?“
„Heute ist Dienstag, ich würde sie gerne bis Freitag hierbehalten, um sie zu beobachten.“
„Okay, dann habe ich nur ein Problem. Wie soll ich das alles meiner Frau erklären, ohne sie aufzuregen?“, fragte er stirnrunzelnd.
„Besitzt Ihre Frau Eltern oder Geschwister, bei denen sie sich etwas ausruhen könnte?“, erkundigte die Ärztin sich.
„Ja, ihre Eltern leben an der Ostsee. Das wäre ideal“, antwortete er.
„Dann bringen Sie Ihre Frau dorthin. Es würde ihr sicher guttun, Abstand zu bekommen“, riet sie Jan. „Sprechen Sie mit ihr darüber. Und da ihre Tochter zur Schule muss, wäre für beide gesorgt.“
„Ja, das könnte klappen. Sandra hätte Erholung und ich könnte mich um unsere Tochter kümmern“, gab er ihr Recht. Mit diesem Plan eilte er ein wenig erleichtert zu seiner Frau: „Da bin ich wieder“, sagte er und nahm neben ihr Platz.
„Was hältst du davon, für ein paar Tage zu deinen Eltern zu fahren?“, fragte er sie. Sandra sah ihn an und verstand nicht, worauf er hinauswollte. „Warum?“
Schon wieder dieses Wort, dachte er sich. „Na, bei deinen Eltern könntest du wieder zur Ruhe kommen und sie würden sich bestimmt auch freuen“, meinte er. Es wurde still, sie überlegte und rang mit sich. Nach ein paar Minuten erwiderte sie: „Ich denke du hast Recht, aber was wird aus dir und Jasmin?“ „Schatz, unsere Tochter muss zur Schule und vielleicht bringt uns das wieder etwas näher zusammen“, entgegnete er.
„Obwohl es mir schwerfällt, denke ich, dass du Recht hast.“ „Kannst du mit Tanja sprechen, ob sie mich im Laden vertreten könnte?“
„Klar, mache ich, ich fahre jetzt eh nachhause um zu duschen. Dann kann ich gleich mit ihr reden“, entgegnete er. Er küsste seine Frau und verließ das Zimmer.
Auf dem Weg zum Auto rief er seine Schwiegermutter an und berichtete ihr, was vorgefallen war. „Nun meine Frage, könnte ich Sandra für ein oder zwei Wochen zu euch bringen? Sie braucht Ruhe und Abstand. Ihr könntet mit ihr spazieren gehen und die frische Luft wäre optimal“, erklärte er.
„Aber klar, das ist wirklich eine gute Idee. Bring sie her! Wir passen auf sie auf und du kümmerst dich um Jasmin“, erwiderte sie.
„Ich danke dir für dein Verständnis, bis bald!“ Dann legte er auf und fuhr zum Blumenladen seiner Frau.
„Hallo Tanja! Danke, dass du den Laden schmeißt“, sagte er. „Wie geht es Sandra?“, fragte die Mitarbeiterin besorgt.
„Alles gut! Sie hat eine Platzwunde und eine Gehirnerschütterung, aber ansonsten ist alles wieder in Ordnung. Aber ich hätte eine Bitte an dich: Könntest du Sandra für ein bis zwei Wochen vertreten? Ich würde sie gerne zu ihren Eltern bringen, damit sie Abstand gewinnt und sich erholen kann?“, fragte er. „Klar, kein Thema, wenn ich irgend etwas brauche, kann ich dich ja anrufen, oder?“
„Auf jeden Fall. Ich bleibe mit Jasmin zuhause, da sie ja zur Schule muss“, antwortete Jan.
Er drehte sich um, grinste und meinte: „Du hast was gut bei uns, bis dann.“
Zufrieden setzte er sich ins Auto und fuhr nachhause. Kaum war er mit Duschen fertig, klingelte es an der Tür. Jan band sich ein Handtuch um und öffnete. Zwei Polizeibeamte wollten mit ihm sprechen. Er bat sie herein.
„Wie geht es Frau und Tochter?“, erkundigte sich der Beamte. „Danke, soweit ganz gut“, antwortete Jan. „Haben Sie die beiden erwischt?“
„Nun, wie soll ich das sagen? Wir haben sie auf der Flucht erwischt, aber diese wahnsinnige Verfolgungsjagd endete leider tödlich“, berichtete der Beamte.
Jan schluckte, setzte sich und fragte: „Wie ist das passiert?“ „Der Vater raste wie ein Irrer mit überhöhter Geschwindigkeit davon, kam von der Straße ab, prallte gegen einen Baum und überschlug sich mehrmals. Bis die Streifenwagen das Auto erreichten, stand das Fahrzeug mit den beiden bereits in Flammen. Jede Hilfe kam zu spät, wir konnten nichts mehr für die beiden tun“, sagte er sichtlich betroffen.
„Oh Gott, dieser Wahnsinn hätte beinahe den Tod von vier Menschen gefordert“, meinte er traurig. Damit war der Fall für die Beamten erledigt und sie verabschiedeten sich von Jan. Er machte sich einen Kaffee und saß wie vor den Kopf gestoßen am Tisch. Dieses eine Wort kroch durch sein Gehirn und war versucht, sich einzubrennen. Jan beschloss, diese tragische Neuigkeit für sich zu behalten, aß eine Kleinigkeit und machte sich auf den Weg zur Klinik, in der er als Chirurg tätig war.
Er führte ein Gespräch mit seinem Stellvertreter, gab der Leitung Bescheid und fuhr zu Sandra und Jasmin. Zuerst besuchte er seine Tochter, die schlief, und so informierte er sich bei der Stationsschwester über ihren Zustand. Es gab nichts Neues. Sie riet ihm abzuwarten und versprach, sich sofort zu melden, wenn sich etwas ändern sollte. Er bat sie daran zu denken, dass seine Frau nichts davon erfahren dürfe, und verabschiedete sich.
Sandra saß im Bett und trank eine Tasse Tee, als er das Zimmer betrat.
„Na, mein Schatz, schmeckt es?“
„Na ja, zuhause ist es besser, aber man kann es aushalten“, antwortete sie.
„Ich habe gute Nachrichten für dich. Deine Eltern freuen sich schon auf deinen Besuch und Tanja übernimmt den Laden, bis du wieder einsatzbereit bist“, sagte er. „Ich packe heute deine Sachen, dann können wir morgen gleich weiterfahren“, meinte er lächelnd.
„Und was ist mit Jasmin?“, fragte sie.
„Mach dir keine Sorgen, ich habe alles geregelt. Jetzt müssen wir erst deine Gesundheit wiederherstellen, dann schaffen wir den Rest gemeinsam.“ Er war froh, dass Sandra nicht mehr nachfragte, und schrieb auf, was er ihr mitbringen sollte. Er war über zwei Stunden bei seiner Frau geblieben und verabschiedete sich erleichtert. Jan fuhr aber nicht gleich nachhause, sondern ging zu seiner Tochter. Sie lag mit offenen Augen im Bett, und drehte den Kopf zur Seite, als er eintrat.
„Na, mein Kleines, wie fühlst du dich?“
„Danke, geht so“, antwortete sie kurz. „Wo ist Mama, warum besucht sie mich nicht?“
„Jasmin, ich muss mit dir sprechen. Wenn es dir zu viel wird, dann sag mir bitte Bescheid! Mama wurde überfallen, man hat sie niedergeschlagen, und nun liegt sie selbst im Krankenhaus.“
„Was? Wieso sagt mir denn niemand etwas davon?“, schrie sie ihren Vater an. Er versuchte, sie zu beruhigen, hatte aber keine Chance. Er läutete nach der Schwester. Jan erklärte kurz, was vorgefallen war, und Jasmin bekam ein Beruhigungsmittel verabreicht.
„Warum haben Sie ihr davon erzählt?“, schimpfte sie.
„Was hätte ich denn tun sollen? Ich kann sie doch nicht anlügen“, wehrte sich Jan.
Er eilte mit ihr aus dem Zimmer und bat darum, dass seine Tochter auf gar keinen Fall erfahren dürfe, dass ihre Mutter ebenfalls hier liege.
„Ich hole meine Frau morgen früh ab und bringe sie zu ihren Eltern. Danach kümmere ich mich um Jasmin“, sagte er. „Bitte helfen Sie mir, diese eine Nacht brauche ich Ihre Verschwiegenheit“, flehte er sie an.
„Ich werde sehen, was ich machen kann“, antwortete sie und eilte davon.
Jan setzte sich auf einen Stuhl und legte das Gesicht in die Hände. Er war völlig mit den Nerven am Ende. Wie lange er so da saß, konnte er nicht genau sage. Die Ärztin, die eben zu Jasmin wollte, sah ihn und nahm neben ihm Platz.
„Die Schwester war gerade bei mir und hat es mir erzählt“, meinte sie und sah ihn fragend an. „Ich hätte da einen Vorschlag, wenn heute kein Notfall hereinkommt, verlege ich Jasmin über Nacht in den Überwachungsraum“, sagte sie.
„Das würden Sie machen? Ich komme selbstverständlich dafür auf, das ist gar keine Frage.“ Er erklärte ihr seinen Plan und bedankte sich bei ihr.
„Gut, dann veranlasse ich jetzt die Verlegung, bevor uns einer auf die Schliche kommt“, meinte sie und erhob sich. Kurz darauf wurde seine schlafende Tochter aus dem Zimmer geschoben. Erleichtert atmete er auf und verließ die Klinik.
Zuhause packte Jan die Sachen für seine Frau. Um auf andere Gedanken zu kommen, verabredete er sich mit seinem Kumpel auf einen Drink. Sie unterhielten sich über alles Mögliche. In dem Moment, als sein Freund nach Sandra fragte, kippte die Laune und Jan zahlte. Sein Kumpel sah ihm nach und schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er falsch gemacht hatte, und bestellte sich ein weiteres Getränk. Jan fuhr heim, duschte und ging zu Bett. Er wollte mit niemanden über seine Probleme sprechen, zumindest nicht, solange Sandra hier war. Ab morgen würde er das Problem mit Jasmin angehen. Mit diesen Gedanken schlief er ein.
Der Wecker riss ihn aus dem Schlaf. Jan stand auf, ging ins Bad, zog sich an und machte sich eine Tasse Kaffee. Dann nahm er die Tasche und begab sich auf den Weg zur Klinik. Seine Frau erwartete ihn schon, sie saß auf dem Bett und lächelte. „Hast du alles dabei?“, fragte sie.
„Ich hoffe schon, und selbst wenn ich etwas vergessen habe, kann es dir deine Mutter besorgen“, meinte er. Er half ihr beim Anziehen, nahm ihre Sachen und war auf dem Weg zum Schwesternzimmer, als ihnen die Ärztin entgegenkam.
„Guten Morgen, wie ich sehe, sind Sie auf dem Heimweg“, sagte sie lächelnd.
„Nicht ganz, ich besuche meine Eltern, bis etwas Gras über die Sache gewachsen ist“, meinte sie.
„Ich wünsche Ihnen gute Besserung, schonen Sie sich und vergessen Sie nicht, Sie brauchen noch Ruhe.“ Die beiden verabschiedeten sich und gingen zum Auto. Er öffnete seiner Frau die Tür, ließ sie einsteigen, verstaute die Sachen und setzte sich hinters Steuer. Während der Fahrt schrieb Sandra auf, was Tanja bestellen musste und worauf sie achten sollte. Jan war froh, das Grundstück seiner Schwiegereltern zu sehen, und atmete tief durch.
Nach der überschwänglichen Begrüßung brachte er Sandras Gepäck in das Haus, trank eine Tasse Kaffee und trat wieder den Heimweg an.
„Bitte ruf an, sobald du zuhause bist“, bat Sandra ihren Mann. „Mach ich, Liebes. Jetzt erhol dich gut und genieße die Zeit mit deinen Eltern.“
Auf der Heimfahrt überlegte er, ob Sandra ihm das je verzeihen würde. Noch nie hatte er seine Frau belogen. Jan schüttelte den Kopf und versuchte, an etwas anderes zu denken, aber es gelang nicht. Der Stress setzte ihm zu, er war nervös und fahrig. Dieses „Warum“ hing über seinem Kopf wie ein Damoklesschwert. Er verließ die Autobahn, um eine Pause zu machen. Jan trank einen Kaffee, kaufte sich ein Brötchen und einen Energy Drink. Etwas gestärkt fuhr er weiter, drehte das Radio an und lauschte der beruhigenden Musik.
An der Klinik angekommen, parkte er sein Auto und eilte zu Jasmin. Sie lag in ihrem Bett und schaute zum Fenster hinaus. „Hey, Kleines, wie fühlst du dich heute?“
„Warum hast du zugelassen, dass sie mich ruhigstellen?“, fragte sie ihn.
„Jasmin, ich muss dir einiges erklären, es ist nicht so, wie du meinst“, sagte er.
„Dann erkläre es mir, lass mich nicht wie die größte Vollidiotin dastehen“, erwiderte sie patzig. Jan räusperte sich und zog einen Stuhl neben ihr Bett. Er versuchte ihre Hand zu halten, aber sie entriss sie ihm.
„Jasmin, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll“, flüsterte er leise. „Es ist so viel geschehen, dass ich keinen Anfang finde“, meinte er und sah sie ratlos an.
„Dann fang einfach mit der Wahrheit an, der Rest geht von alleine“, zischte sie ihm wütend entgegen.
Jan fuhr sich nervös mit den Fingern durch die Haare, wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich aufrecht hin. „Also gut, alles hat mit diesem Pete angefangen. Du hast mich und Mama belogen und hintergangen. Wir haben dir vertraut und du hast uns enttäuscht, du hast unser Vertrauen missbraucht und uns damit sehr wehgetan.“
„Ach so, jetzt bin ich wohl an allem schuld, oder wie?“
„Jasmin, bitte lass mich ausreden“, forderte er seine Tochter auf. „Mama und ich haben dir niemals Vorschriften gemacht, da wir dir blind vertraut haben. Wenn wir gewusst hätten, dass du uns so mies hintergehst, hätten wir uns anders verhalten. Du hast uns belogen, deine Freundin verletzt und dich in größte Gefahr gebracht!“
Jasmin beobachtete ihren Vater und senkte den Blick: „Das wollte ich alles nicht, es tut mir leid.“
„Ist das alles, was dir dazu einfällt?“, fragte Jan. „Du hättest sterben können, wenn ich diesen Mistkerl nicht gestört hätte! Du hast gegen sämtliche Regeln verstoßen, hast dich zwei Jahre älter gemacht, um mit diesem Drogenabhängigen im Bett zu landen. Was, wenn er dich vergewaltigt hätte? Und das Schlimmste ist, dass Mama deinetwegen zusammengeschlagen worden ist“, warf er ihr ihr lautstark an den Kopf. Erst als er Jasmins Gesicht sah, wurde ihm bewusst, dass er zu weit gegangen war.
„Das ist alles nicht wahr, es war alles seine Idee“, entgegnete Jasmin mit tränenerstickter Stimme. „Wo ist Mama? Wie geht es ihr? Ich möchte sofort zu ihr.“
„Das geht nicht. Ich habe sie zu Oma und Opa gefahren, damit sie sich erholen kann“, erwiderte er.
„Papa, wie soll das jetzt weitergehen?“, fragte sie Jan.
„Du machst eine Therapie, um wieder gesund zu werden, alles andere schaffen wir dann gemeinsam.“ Es wurde still, jeder suchte nach passenden Worten, aber keiner fand die richtigen. Jasmin hob ihr Kinn, sah ihrem Vater in die Augen und fragte: „Wo ist Pete? Ich möchte ihm sagen, dass er schrecklichen Mist mit mir gebaut hat.“
Jan wurde kreidebleich, begann zu schwitzen an und überlegte, wie er alles seiner Tochter erklären sollte.
„Mama hatte ihn wegen Verführung Minderjähriger und den Drogen angezeigt, daraufhin ist sein Vater in Mamas Laden gestürmt, hat sie zusammengeschlagen und ihr gedroht, dass etwas Schreckliches passieren würde, wenn sie die Anzeige nicht zurücknähme. Um dich zu schützen, wollte ich dich von der Schule abholen und habe dann erfahren, dass du nicht im Unterricht warst.“
„Und wie hast du mich dann gefunden?“
„Ich habe gegen meinen Willen dein Zimmer nach einem Hinweis durchsucht und den Eintrag in deinem Tagebuch gefunden. Ich war krank vor Sorge. Ich wusste nicht, wie es dir geht und ob du überhaupt aufzufinden bist. Warum, Jasmin? Was haben wir nur falsch gemacht?“ Erneut trat Stille ein, Jan hatte die Sache mit Pete nicht erzählt, aber er wusste, dass er es hinter sich bringen musste. Seiner Prinzessin kullerten dicke Tränen über die Wangen, sie tat ihm leid.
„Es gibt da etwas, das ich dir bisher verschwiegen habe“, begann er zögernd.
Jasmin sah ihn fragend an: „Ist etwas mit Mama?“
„Nein, keine Angst, ihr geht es gut. Es hat mit diesem Kerl zu tun. Er und sein Vater waren beide schon mehrmals mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Sie waren aus verschiedenen Gründen vorbestraft. Als die Polizei sie aufsuchen wollte, lieferten sie sich eine wilde Verfolgungsjagd, die mit einem schweren Unfall endete.“
„Was ist mit Pete?“, fragte Jasmin aufgeregt.
„Beide, Vater und Sohn, haben es nicht überlebt. Sie verstarben an der Unfallstelle“, erklärte er leise.
„Daran bin ich schuld, nur meinetwegen waren sie auf der Flucht“, schluchzte Jasmin.
Jan nahm sie fest in seine Arme und versuchte sie zu trösten. „Jasmin, daran bist nicht du schuld. Petes Vater hat die Kontrolle über das Fahrzeug verloren und nicht du.“
„Ja, aber wenn ich nicht so dumm gewesen wäre, hätte Pete keinen Ärger bekommen“, erwiderte sie.
„Dann hätte ein anderes Mädchen ihr Leben verloren, verstehe das doch, dass er ein Junkie war. Und sein Vater war auch nicht besser. Anstatt seinem Jungen den richtigen Weg zu zeigen, hat er ihn mitgenommen, wenn er krumme Sachen gedreht hat. Das ist genau das, wovor wir dich beschützen wollten!“
„Ich wollte nur so cool sein wie die anderen. Sie haben mich ständig ausgelacht, weil ich so brav war“, meinte Jasmin weinend. „Wenn ich gewusst hätte, wie sich die Sache entwickelt, hätte ich mich an unsere Abmachung gehalten!“
„Daran hättest du mal früher denken sollen, jetzt ist es zu spät.“
„Könnt ihr mir das verzeihen, werdet ihr mir jemals wieder vertrauen?“
„Das, mein Schatz, braucht seine Zeit. So etwas geht nicht von heute auf morgen“, erwiderte Jan. Er hielt sie im Arm und fragte sich: Warum? Wird er diese fünf Buchstaben je verstehen können, oder würden sie ihn ein Leben lang begleiten?
Nach einer Weile hatte sich Jasmin beruhigt und atmete gleichmäßig. Jan ließ sie vorsichtig auf ihr Bett gleiten. Warum? Warum musste all das geschehen? War es eine Prüfung? Jan wusste es nicht, er war sich aber sicher, dass sie diese Hürde miteinander meistern würden. Da Jasmin tief und fest schlief, schlich er sich aus dem Zimmer, gab der Krankenschwester Bescheid und fuhr nach Hause.
Erschöpft setzte er sich auf die Couch und schaltete den Fernseher an. Da ihn nichts interessierte, entschied er sich für sein Bett. Kaum hatte er sich hingelegt und die Augen geschlossen, tanzte das verflixte Wort in seinem Kopf herum. Er versuchte alles Mögliche, um einzuschlafen. Er zählte Schäfchen, dachte an lustige Ereignisse, sagte das Alphabet im Stillen auf, aber es half nichts. Das Wort verfolgte ihn.
Am nächsten Morgen wurde er von seinem Handy geweckt. Verschlafen meldete er sich.
„Hallo, mein Schatz, schläfst du noch?“, fragte seine Frau. Er sah auf den Wecker und meinte: „Ich muss erst in fünf Minuten aufstehen.“
Sie erzählte ihm, wie gut die Luft ihr tat und dass sie sich schon besser fühlte.
„Das freut mich, genauso soll es sein“, meinte er.
Sie redeten nicht mehr lange, da Jan sich um Jasmin kümmern musste. Bevor Sandra auf die Idee kam, mit ihrer Tochter zu sprechen zu wollen, wimmelte er sie ab.
Er stand auf, huschte unter die Dusche und frühstückte. Nachdem er aufgeräumt hatte, zog er sich an und fuhr zur Arbeit. Er wollte nach dem Rechten sehen und nahm sich vor, nicht lange zu bleiben. Er hatte gerade bei seinem Stellvertreter vorbeigeschaut, als ihn ein Notruf erreichte. Jan überlegte nicht, sondern handelte. Blitzschnell zog er sich um und stand zehn Minuten später im Operationssaal.
„Zum Glück warst du hier“, meinte sein Stellvertreter nach der OP zu Jan. Er hatte auf die Schnelle einem Patienten das Leben gerettet. Sie zogen sich um, tranken einen Kaffee in der Cafeteria und verabschiedeten sich.
Jan fuhr zum Blumenladen seiner Frau und holte einen bunten Strauß für Jasmin. Er sprach mit Tanja, erzählte ihr die Neuigkeiten und machte sich wieder auf den Weg. Als er am Klinikparkplatz hielt, blieb er noch eine Weile sitzen und dachte über sein Leben nach. Jan war heute etwas melancholisch und suchte nach dem Sinn seines Lebens. Dieser wurde ihm bewusst, als er die Tür zum Zimmer seiner Tochter öffnete.
„Na, meine Kleine, wie geht es dir heute?“, fragte er strahlend. „Ich habe dir Blumen mitgebracht, möchtest du sie sehen?“
„Wow, danke, Papa!“, freute sich Jasmin und nahm den Strauß entgegen. „Wir müssen sie sofort in eine Vase stellen“, sagte sie und läutete nach der Schwester. Die Tür ging auf und eine junge Lernschwester kam herein.
„Wie kann ich dir denn helfen?“, fragte sie Jasmin.
„Ich bräuchte bitte eine Vase für meine Blumen“, entgegnete sie und lächelte.
„Ich bringe gleich eine“, war die Antwort.
Dann erzählte Jan seiner Tochter von der Notoperation und sah das Funkeln in ihren Augen. Er fühlte sich als etwas Besonderes, wenn Jasmin ihm so gespannt zuhörte.
„Bei mir war auch einiges los! Die Ärztin war hier und hat mit mir über eine Therapie gesprochen. Sie meinte, ich sollte mir die Sache durch den Kopf gehen lassen und mit dir darüber sprechen.“
„Und hast du es dir überlegt?“
„Ja, ich werde es machen. Ich möchte ja schließlich Ärztin werden und kann mir keine negativen Eintragungen leisten“, kicherte sie und umarmte ihren Vater. Zufrieden nickte er ihr zu und küsste sie auf die Stirn. Nach fast zwei Stunden verabschiedete sich Jan von seiner Tochter. Er wollte ein paar Worte mit der Ärztin sprechen, ehe er nachhause fuhr. Sie erklärte ihm, wie und was er machen sollte, gab ihm eine Telefonnummer und sagte ihm, dass er seine Tochter in zwei Tagen mitnehmen dürfte. Jan war heilfroh über diese Neuigkeit und trat gutgelaunt den Heimweg an.
Gleich nach seinem Eintreffen rief er die Nummer an, die er von der Ärztin bekommen hatte, und bekam für den kommenden Tag einen Termin. Um abzuschalten machte er sich einen Kaffee, nahm sein Handy und rief Sandra an. Er erzählte ihr von der Notoperation, richtete ihr herzliche Grüße von Tanja aus und legte schnell auf, um das Gespräch nicht auf Jasmin kommen zu lassen.
Am folgenden Tag fuhr er zur Beratungsstelle, klärte dort alles ab und versprach, bei dem ersten Treffen mit Jasmin dabei zu sein. Dann war es so weit: Er holte seine Tochter aus der Klinik und fuhr mit ihr direkt zur Therapie. Ab dann lief alles wie am Schnürchen. Jasmin gab sich Mühe, befolgte die Anweisungen und machte große Fortschritte.
Ein halbes Jahr später war alles wieder in Ordnung. Sandra und Jasmin hatten sich komplett von dem Vorfall erholt und alles ging zuhause im gewohnten Schritt weiter.
Jan wurde zum Chefarzt der Chirurgie befördert, Sandra hegte und pflegte ihre Pflanzen und Jasmin wurde Klassenbeste. Sie waren zufrieden und glücklich.
Eines Tages bekam Sandra einen Anruf von der Inhaberin einer großen Gärtnerei. Sie bot Sandra an, das Unternehmen zu übernehmen. Da sie dies aber nicht alleine entscheiden wollte, verschaffte sie sich einen Aufschub. Sie wartete, bis ihr Mann nachhause kam, kümmerte sich um das Essen, räumte anschließend die Küche auf und ging dann mit zwei Gläsern Wein ins Wohnzimmer.
„Nanu, habe ich etwa was vergessen? Gibt es einen Grund zum Feiern?“, fragte Jan nervös.
„Nein, alles gut, aber ich muss mit dir sprechen und wollte das mit einem guten Tropfen erleichtern“, erwiderte sie fröhlich. Sandra nahm neben Jan Platz und erzählte von dem Angebot. Jan hörte sich alles an, trank einen Schluck und überlegte: „Liebling, das musst du selbst entscheiden. Ich möchte nicht, dass es dir zu viel wird“, meinte er nachdenklich.
Sandra holte einen Block und schrieb alle Vor- und Nachteile auf. Eine Weile starrten beide auf das Blatt Papier, ehe Jan zu sprechen begann: „Ich würde sagen, wir sehen uns das Gebäude erst einmal an, machen uns ein Bild und entscheiden dann.“ „Das hört sich perfekt an“, erwiderte Sandra und küsste ihren Mann. Jasmin, die in diesem Moment das Wohnzimmer betrat, fragte: „Darf ich an eurem Plan teilhaben, oder geht mich das nichts an?“
Sandra erklärte ihrer Tochter, über was sie gesprochen hatten und erkundigte sich nach ihrer Meinung. „Ich denke, Papa möchte sich das vorher genau anschauen“, meinte sie und sah ihren Vater an.
„Das ist meine Tochter, sie kennt mich und weiß, wie ich mit solchen Sachen umgehe“, antwortete er.
„Darf ich mit, wenn ihr dorthin fahrt?“
„Aber klar, die Entscheidung treffen wir Drei zusammen“, erwiderte Sandra. Sie erhob sich, nahm das Telefon und vereinbarte einen Termin zur Besichtigung. „Am Freitag gegen 17 Uhr können wir uns alles anschauen“, teilte sie fröhlich mit. „Gut, dann lasst uns abwarten, und Tee trinken“, sagte Jasmin kichernd.
Am nächsten Tag, es war ein Mittwoch, erzählte Sandra ihrer Mitarbeiterin von ihrem Vorhaben.
„Das freut mich für dich, aber was machst du dann mit deinem Laden hier?“, fragte sie.
„Na, ich denke, den behalte ich und du führst ihn mit mir“, erwiderte Sandra lächelnd.
„Ist das dein Ernst, würdest du mir das wirklich zutrauen?“ „Wenn nicht dir, wem dann“, antwortete sie.
Je näher der Termin rückte, umso nervöser wurde Sandra. Sie hatte schon einige Ideen im Kopf und freute sich auf Freitag. Die Finanzierung war das geringste Problem. Gegen 20 Uhr am Donnerstag rief Jan aus der Klinik an und erklärte, dass es später werden würde, da ein Patient ihm Sorgen mache.
„Okay, dann gehe ich mit Jasmin zum Pizzaessen, das habe ich schon lange nicht mehr mit ihr gemacht“, entgegnete sie. Sie verabschiedeten sich und legten auf.
Bis Sandra nachhause kam, hatte Jasmin ihre Aufgaben erledigt und saß vor dem Computer. Sandra klopfte an ihre Tür und begrüßte sie herzlich. „Wie sieht es aus? Wollen wir Pizza essen?“, fragte sie ihre Tochter.
„Wann, jetzt?“
„Ja, Papa kommt erst später und da dachte ich mir, wir könnten das einfach mal wieder machen“, entgegnete sie.
„Mama, das ist das Beste, was ich heute zu hören bekomme“, lachte Jasmin und stand auf. „Ich gehe mich nur umziehen, dann können wir los.“
Während sich die Tochter umzog, sprang Sandra unter die Dusche. Gegen 19 Uhr stiegen sie kichernd ins Auto. Die beiden genossen den Abend zu zweit, es war schon zu lange her, dass sie alleine unterwegs waren. Sie hatten sich eine Menge zu erzählen, lachten und hielten sich die Bäuche. Dem ein oder anderen Gast waren sie zu laut, aber das störte die beiden nicht im Geringsten.
Kurz nach 23 Uhr traten sie den Heimweg an. Vor dem Betreten der Wohnung umarmte Jasmin ihre Mutter und meinte: „Ich danke dir für diesen schönen Abend, das müssen wir bald wiederholen.“ Sandra erwiderte die Umarmung und küsste ihre Tochter auf die Stirn. Sie sperrten die Tür auf und eilten gleich nach oben. Da Jan nicht zuhause war, nahm sich Sandra etwas zu lesen und legte sich damit ins Bett. Die Müdigkeit holte sie ein, und das Buch landete auf ihrem Brustkorb. Jan lächelte, als er seine Frau sah. Er nahm vorsichtig das Buch, legte es auf ihr Nachtkästchen und ging leise ins Bad. Behutsam kroch er unter seine Decke, um Sandra nicht aufzuwecken, aber sie öffnete die Augen und kuschelte sich an ihn heran. Sie wollte mit ihm reden, aber er war so müde, dass sie die Unterhaltung auf den nächsten Tag verschoben.
Am Morgen stand Sandra schon früh in der Küche und deckte den Tisch. Beim Frühstück berichtete Jasmin ihrem Vater, wie lustig es beim Essen gewesen war und er berichtete über seinen Patienten, der ihn so lange in der Klinik festgehalten hatte. Ein Blick auf die Uhr machte ihnen klar, dass sie sich verplaudert hatten.
„Papa kannst du mich mit zur Schule nehmen? Den Bus erwische ich jetzt nämlich nicht mehr“, bat ihn seine Tochter.
„Klar, für dich mache ich alles“, witzelte er und stand auf. Sie zogen sich an, Jasmin schnappte sich die Schultasche und Jan seine Aktentasche. Sandra bekam von beiden einen Kuss und weg waren sie.
Lächelnd deckte sie den Tisch ab, schüttelte die Betten auf und verließ ebenfalls die Wohnung. Sie fuhr zum Bäcker, holte frische Butterbrezel und Kaffee für sich und Tanja und eilte dann zu ihrem Laden. Ihre Mitarbeiterin war schon da und sah sie mit großen Augen an.
„Was machst du denn hier? Ich dachte, du hast heute den Termin bei der Gärtnerei“, sagte Tanja.
„Ach, du Scheibenkleister, das habe ich ja total vergessen“, antwortete Sandra. „Ich habe uns frischen Kaffee mitgebracht“, rief sie und eilte hinaus. Tanja sah sie mit ihrem Handy in der Hand und lächelte. Sandra telefonierte kurz mit ihrem Mann und kam dann wieder in den Laden. „So, das wäre geklärt“, meinte sie und holte sich einen Becher.
Jan dagegen hatte es schwerer. Kurz nachdem er sein Büro betreten hatte, erfuhr er, dass der Patient in der Nacht verstorben war. Jan nahm Platz, legte das Gesicht in die Hände und sah das vermaledeite Wort vor seinem inneren Auge: Warum? Er drückte auf die Gegensprechanlage und forderte seine Sekretärin auf, sie solle ihm sofort den Bericht der Nachtschwester herbeiholen. Da sein Ton scharf und unmissverständlich war, entgegnete sie nichts darauf.
Einige Minuten später überreichte sie ihrem Chef den Bericht und verließ sein Büro. Jan studierte die Akte, schüttelte immer wieder den Kopf und legte sie resigniert zur Seite. Es war Zeit für die Visite. Er stand auf, zog seinen weißen Arztkittel an und begab sich zum Schwesternzimmer. Von dort begannen sie der Reihe nach mit den Patienten.
Gegen 15 Uhr verließ er die Klinik und machte sich auf den Heimweg. Jan hasste solche Tage, an denen ihm gezeigt wurde, dass er nicht der liebe Gott war.
Sandra war nicht zuhause, also eilte er nach oben, sprang unter die Dusche und zog sich etwas offiziell Wirkendes an. Er saß in der Küche, als seine Frau endlich kam.
„Wo bleibst du denn so lange?“, fragte er.
„Sorry, aber ich hatte eine Kundin, die sich nicht entscheiden konnte“, entgegnete sie. Sandra kannte ihren Mann, deshalb sagte sie nicht mehr dazu. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, bevor er abschalten konnte. Sie ging nach oben, zog sich um und setzte sich dann mit ihren Unterlagen zu Jan in die Küche. Gemeinsam überflogen sie alles, um sicher zu gehen, dass sie nichts vergessen hatten. In dem Moment, in dem Sandra die Papiere in einen Ordner steckte, kam Jasmin zur Tür herein. Sie begrüßte ihre Eltern mit einem Lächeln und teilte ihnen die Neuigkeiten der Schule mit. Kurz vor 17 Uhr brachen sie auf.
Jan hatte einen Tisch beim Italiener reserviert. Sie nahmen Platz, gaben die Bestellung auf und unterhielten sich angeregt über den Tag. Sandra merkte, dass ihr Mann wieder lockerer wurde und freute sich über sein Interesse.
Nach dem Essen verließen sie das Restaurant und fuhren zum Treffpunkt. Sandra war so aufgeregt, dass sie zu zittern begann. Sie hatte schon immer davon geträumt, eine eigene Gärtnerei zu besitzen.
Dann war es so weit, Jan blieb vor dem Gebäude stehen und schaltete den Motor aus.
„Wow, das ist ja riesig“, sagte Jasmin und pfiff durch die Zähne.
„Na, wenn es drinnen so aussieht wie von außen, wäre es ein Traum“, meinte Jan und stieg aus. Sandra saß wie versteinert im Auto und war nicht in der Lage, ein einziges Wort zu sagen. „Was ist, möchtest du sitzen bleiben?“, fragte er seine Frau lachend.
Sandra öffnete die Autotür, stieg zögernd aus und war wie verzaubert. „Wenn das klappen würde, wäre das der absolute Volltreffer“, flüsterte sie kaum hörbar. Ein Motorengeräusch holte sie in die Realität zurück. Jan trat neben seine Frau und musterte das Fahrzeug. Eine ältere Dame stieg aus, marschierte schnurstracks auf Sandra zu und stellte sich vor. „Wollen wir mit der Begehung anfangen?“, fragte sie die Drei. Da Sandra keinen Ton herausbrachte, antwortete Jan für sie: „Sehr gerne, wir folgen Ihnen.“ Zuerst begutachteten sie das Gewächshaus. Es war riesengroß und gut erhalten. Es gab außerdem zwei kleinere Gewächshäuser, einen geräumigen Laden, ein großes Lager und ein schickes Häuschen.
„Gehört das alles zusammen?“, fragte Jan interessiert.
„Ja, ich gebe es nur komplett her, ich möchte nämlich nicht, dass es auseinandergerissen wird“, antwortete die Dame.
Nachdem sie die Geschäftsgebäude angesehen hatten, wurden sie in das Haus geführt. Im Inneren war es kühl und dunkel, die Möbel waren abgedeckt und die Rollos heruntergelassen.
„Einen Moment bitte, ich werde Licht machen“, sagte die Eigentümerin und öffnete die Rollos. Erst jetzt war zu erkennen, wie schön es hier war.
„Man kann es als Wochenendhaus oder als Wohnhaus nutzen“, meinte sie.
„Wohnt hier niemand?“, fragte Jan.
„Nein, seit mein Mann vor zwei Jahren verstorben ist, wohne ich in der Stadt, es wurde mir zu viel.“ Sie erzählte, dass die Arbeiter gekündigt hatten und sie es alleine nicht mehr halten konnte. So ließ sie alles räumen und leer stehen.
„Dies war der Ort, an dem mein Mann sehr gehangen hatte. Ich werde bald achtzig Jahre alt und kann die schweren Arbeiten nicht mehr erledigen, darum habe ich mich zum Verkauf entschieden“, erklärte sie.