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Während eines Urlaubes mit den Eltern findet Hanna mysteriöse Gegenstände in der Blockhütte in Norwegen, die sie betonen. Darunter befindet sich unter anderem ein altes Tagebuch, dass einem adeligen, Namens Raven gehörte. Da das Mädchen von Natur aus sehr neugierig ist, nimmt sie die Fundsachen heimlich mit nach Hause. Für Hanna gibt es kein Entkommen, sie wird vom ehemaligen Besitzer in seinen Bann gezogen..
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Brigitte Thurner Forever
Hanna Lauber wuchs in einer intakten Familie auf. Ihre Mutter Laura arbeitete von zu Hause aus. Ihr Vater Thomas war Abteilungsleiter in einer Computer-Firma und ihr älterer Bruder Markus Polizist. Sie selbst besuchte die Schule. Sie war ein typisches pubertierendes Monster. Mit ihren fünfzehn Jahren hatte sie nur Unsinn im Kopf.
Wenn sie nicht gerade Hausaufgaben erledigte oder lernte, zog sie mit ihrer Clique durch die Straßen. Zum Leidwesen ihrer Eltern funktionierte das nicht immer perfekt. Da ihr Bruder eine eigene Wohnung hatte, gehörte ihnen zu dritt ein ganzes Haus. Ihr Vater erfüllte ihr jeden Wunsch, was ihre Mutter Laura nicht immer angebracht fand. Sie sagte oft, er verziehe das Kind.
Eines Abends, als sie beim Essen saßen, klingelte das Telefon. Thomas stand auf und nahm den Anruf entgegen. Laura und ihre Tochter nutzten die Gelegenheit, um einen kleinen Streit auszutragen. Ausschlaggebend war, dass Hanna unbedingt alleine mit ihrer Freundin in den Urlaub fahren wollte. Ihre Mutter war nicht damit einverstanden, da Hanna offensichtlich zu jung dafür war.
Hanna sah das anders. Sie schrie: »Ich bin kein kleines Baby mehr!
Du traust mir echt nichts zu.«
Laura versuchte, ihr zu erklären, warum sie dagegen war, doch ihre Tochter hörte ihr nicht zu.
»Dann frage ich eben Papa«, kam es trotzig zurück.
»Wenn du dich das traust, mein Fräulein, dann werde ich Papa mal erzählen, was du bei deiner Freundin so treibst.«
»Ha, was mache ich denn groß? Nur weil ich geraucht habe oder Wodka probiert habe. Na und? Was ist denn schon passiert?« »Jetzt reicht es!«, polterte ihre Mutter.
Doch das interessierte Hanna nicht. Sie sprang auf, gab dem Stuhl einen Tritt und rannte in ihr Zimmer. Sie warf sich aufs Bett und rief ihre Freundin an.
»Hey Carry«, sagte sie. »Was treibst du denn?«
»Hm, nichts, warum?«
»Och, ich hatte eben Streit mit meiner Mutter. Wieder mal wegen des Urlaubs. Sie lässt mich nicht fahren«, beklagte sich Hanna.
»Lass uns doch heimlich abhauen. Wieso fragst du denn immer? Sie wird ihre Meinung nicht ändern«, meinte Carry.
»Das ist doof«, erwiderte Hanna. »Außerdem würde ich meinen Vater verletzen. Er steht immer hinter mir und vertraut mir.«
»Oh Mann, du hast echt Probleme«, schnauzte Carry. »Meinen
Leuten ist es egal, was ich anstelle. Die sind mit sich selbst beschäftigt.« »Nee, lass mal, das ist keine gute Idee«, meinte Hanna.
»Okay, wie du meinst, aber ich haue übermorgen ab. Mit dir oder ohne dich.« Dann legte sie auf.
Hanna lag auf ihrem Bett und schaute aus dem Fenster.
»Warum bin ich denn nicht schon volljährig?«, murmelte sie laut vor sich hin.
Plötzlich klopfte es an ihrer Tür.
»Hanna störe ich?« Es war ihr Vater.
»Warum?«, war die Antwort.
Er trat ein und setzte sich zu ihr.
»Ich würde gerne mit dir reden«, sagte er.
»Ich wüsste nicht, worüber«, brummte sie.
»Ich habe euren Streit vorhin mitbekommen, und so schwer es mir fällt, deine Mutter hat recht. Du bist zu jung für so etwas.« »Und warum dann Carry nicht? Sie ist nicht älter als ich«, protestierte Hanna.
Er nahm ihre Hand, zog sie zu sich und sagte dann: »Es ist zu gefährlich da draußen. Es laufen viele Verrückte herum und wir haben Angst, dass dir etwas zustößt. Verstehst du das denn nicht?« Zum Thema Carry meinte er: »Wenn ihre Familie, nicht so viele Probleme mit sich selbst hätte, bräuchte Carry das nicht. Sie wird ihre Eltern nicht anfragen, weil sie entweder zugekifft oder betrunken sind. Wenn du mich fragst, gehört Carry in eine Pflegefamilie, denn die Umstände, unter denen deine Freundin aufwächst, sind nicht tragbar. Sie hat es schwer, denn sie hat keine Familie, die ihr Halt und Liebe gibt. Nicht so wie du. Du bist bei uns sicher und wirst umsorgt. Du hast, was du
brauchst.«
»Ja, alles, nur kein eigenes Leben«, beschwerte sie sich.
Er strich sich eine Strähne aus der Stirn und stand auf.
»Das ist nicht fair«, sagte er. »Nur, weil wir dich beschützen, machst du es uns so schwer. Wir erledigen doch alles für dich.« Gekränkt und enttäuscht verließ er das Zimmer.
Sie drehte sich um, ließ im Kopf noch mal das ganze Gespräch durchlaufen. Sie war sich sicher, dass sie sich immer auf ihre Eltern verlassen konnte. Sie wusste, dass sie im Unrecht war. Sie stand auf, lief nach unten, gab beiden einen Kuss und entschuldigte sich für ihr Benehmen.
»Entschuldigung, dass ich so reagiert habe«, sagte sie. »Mir ist klar, dass ihr es nicht übel meint, aber für mich ist es nicht immer leicht.«
Sie nahmen sich in den Arm und vergaßen den Streit. Da bald Ferien waren, schmiedeten sie gemeinsam Urlaubspläne. Sie entschieden sich für Norwegen. Da ihr Vater gelegentlich jagte und Hanna gerne dabei war, mieteten sie eine Blockhütte.
Morgen früh würde es losgehen. Das Gepäck verstaute Thomas schon am Abend im Auto. Nur das Handgepäck würde jeder selbst
tragen.
Am nächsten Morgen klopfte ihr Vater an Hannas Tür.
»Hanna aufstehen, wir fahren los!«, rief er.
»Ja, ich komme«, sagte sie.
Schnell stand sie auf, zog sich an, nahm ihr Handy und ihren
Rucksack und drehte sich einmal um. Soweit sie sah, hatte sie alles Nötige eingepackt. Sie schloss die Tür und lief nach unten.
Ihre Eltern waren fertig und warteten nur auf Hanna. Markus, ihr Bruder, würde sich während ihrer Abwesenheit um das Haus kümmern. Er war zuverlässig. Entspannt fing die Reise an. Bis auf den Stau vor der Fähre kamen sie gut durch. Nur viereinhalb Stunden, dann waren sie am Ziel. Mittlerweile freute sich Hanna schon auf diese Ferien.
Sie trugen ihre Sachen in die Blockhütte, verstauten alles und machten es sich bequem. Laura kochte das Essen und Thomas ordnete seine Angelsachen. Hanna stellte fest, dass sie hier kaum Empfang mit dem Handy hatte. Aber was soll es, das war nun mal so. Am Abend saßen sie vor den Kamin und berieten sich, was sie morgen alles unternehmen wollten. Laura würde mit dem Putzen anfangen. Thomas sagte, er werde zum Angeln fahren. Nur Hanna wusste nicht, was sie machen sollte.
»Komm, doch mit mir« schlug ihr Vater vor. »Dann zeige ich dir, wie man fischt. Wenn wir genug fangen, wird deine Mutter was Leckeres kochen.«
»Ja, das hört sich gut an«, meinte Hanna.
»Na, dann werden wir jetzt schlafen. Und bitte denkt daran, keine
Lebensmittel herumliegen zu lassen. Türen und Fenster verschließen.« »Gute Nacht, Hanna«, sagten Laura und Thomas.
»Schlaft gut« erwiderte sie.
Da es ein langer Tag gewesen war, schliefen alle drei schnell ein. Am nächsten Morgen waren Hanna und ihr Vater schon früh auf den
Beinen. Thomas hatte bei der Buchung ein Fischerboot gemietet. Sie bepackten ihr Wasserfahrzeug mit allem, was sie zum Angeln benötigten, und legten vom Steg ab. Nach einer Stunde hielten sie ihr Boot an und Thomas bestückte die zwei Angeln. Eine für sich und eine für Hanna. Er zeigte ihr das Auswerfen und dann warteten sie. Plötzlich schrie
Hanna auf, denn ihre Angel zuckte. Schnell übernahm ihr Vater und zog den ersten Fisch an Bord.
Drei Stunden Angeln waren dann für Hanna genug. Sie schipperten wieder zum Steg und präsentierten ihren Fang.
Während Laura und Thomas die Fische putzten, durchstöberte Hanna das Blockhaus. Dabei stieß sie auf einen abgesperrten Raum.
Weil sie von Natur aus neugierig war, versuchte sie, das Schloss zu knacken. Aber es funktionierte nicht. Okay, dachte sie sich, vielleicht komme ich von draußen in den Raum. Sie lief hinunter und suchte einen Weg, um nach oben zu klettern. Sie hatte Glück, denn genau unter dem Fenster war ein Rankengitter. Sie griff an die Leiste und kletterte nach oben. Mit einem Ruck gegen das Fenster stellte sie fest, dass es verschlossen war.
Mist, dachte sie. Wie komme ich nur da rein? Finde ich im Keller etwas Brauchbares? Sie schlich leise die Treppe hinunter, knipste das Licht an und durchsuchte Schränke und Schubladen.
»Endlich etwas, das ich benutzen kann«, murmelte sie vor sich hin.
Sie hatte einige Schraubenzieher gefunden. Sie schlich wieder nach oben und versuchte ihr Glück. Nach mehreren Versuchen schaffte sie es. Langsam glitt die Türe auf. Das Zimmer war düster und roch modrig. Sie versuchte, das Fenster zu öffnen, da bemerkte sie, dass es zugenagelt war. Wer ist denn so blöd und vernagelt eine Fensteröffnung, fragte sie sich. Okay, dann schalten wir eben das Licht an. Doch es war keine Glühbirne in der Fassung. Wo kriege ich nur eine Birne her?
Sie kehrte nach unten zurück und fragte so beiläufig wie möglich, ob es hier im Haus Glühbirnen gab. Ihr Vater schaute sie an und meinte: »Keine Ahnung. Für was denn?«
»Na, wofür werde ich eine Glühbirne brauchen?«, gab sie schnippisch zurück.
»Moment«, sagte ihre Mutter, »ich glaube, ich habe beim Putzen welche gesehen.«
Sie lief in den Flur und öffnete einen Schrank.
»Ach sieh mal, ich habe mich nicht getäuscht«, meinte sie. »Wie, viele brauchst du denn?«
»Nur eine«, antwortete Hanna.
Ihre Mutter gab ihr eine Frucht und widmete sich wieder dem Kochen. Hanna stapfte zurück nach oben und drehte die Birne in die Fassung. Dann schaltete sie das Licht erneut an.
»Okay klappt doch«, jubelte sie.
Was sie dann zu sehen bekam, ängstigte sie zunächst etwas. Da lagen Knochen! Sie wich erschrocken zurück, doch sie konnte sich nicht bewegen. Alles war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Mist, genau in diesem Moment rief ihre Mutter zum Essen.
»Ja, ich komme sofort!«, antwortete Hanna, schloss leise die Tür und lief nach unten.
Es gab frischen Fisch mit Kartoffeln und Dillsoße. Es schmeckte herrlich.
»Laura, so etwas Feines habe ich schon lange nicht mehr gegessen«, sagte Thomas. »Ein Lob an die Köchin.« Laura war ein bisschen verlegen.
Nach dem köstlichen Essen, erledigten sie miteinander den Abwasch, räumten die Küche auf und spielten eine Runde Rommé. Als es Zeit fürs Bett war, überprüften sie zusammen die Türen und Fenster. Dann begaben sie sich auf ihre Zimmer. Hanna lag wach in ihrem Bett. Wie gern wäre sie in den verschlossenen Raum zurückgekehrt, aber das hätten ihre Eltern gehört, und so verschob sie es auf morgen.
Beim Frühstück stellten sie fest, dass einige Lebensmittel ausgegangen waren.
»Es hilft nichts«, sagte Laura, »wir fahren in die Stadt.« »Kommst du mit?«, fragte Thomas und sah Hanna an.
»Ach, wenn es euch nicht stört, würde ich hierbleiben. Ich lese ein Buch«, flunkerte sie.
Die Eltern sahen sich kurz an, dann meinten beide: »Na, wenn du meinst, bleib gerne hier.«
»Brauchst du etwas?«, erkundigte sich ihre Mutter. »Oh ja, könntet ihr mir bitte Chips mitbringen?« »Klar meine Kleine«, sagte ihr Vater.
»Erledigst du den Abwasch alleine? Dann könnten wir gleich los«, fragte Laura ihre Tochter.
»Ja, ja, stell dir vor, ich bin keine fünf mehr.«
Kurz darauf waren ihre Eltern unterwegs und sie erledigte schnell
die Küchenarbeit. Dann sperrte sie die Haustür ab und begab sich nach oben. Da sie gestern die Tür nicht wieder zugesperrt hatte, drückte sie die Klinke runter. Polternd rannte sie dagegen, denn es war abgeschlossen.
»Das gibts doch nicht!«, schimpfte sie laut vor sich hin.
Zum Glück hatte sie das Werkzeug gestern in ihrem Zimmer versteckt, denn so brauchte sie jetzt nicht in den Keller.
Na dann dasselbe wie gestern. Nur dieses Mal wusste sie, welchen Schraubenzieher sie brauchte.
Die Pforte war auf und sie schlich hinein. Sie stellte einen Hocker davor, damit die Tür nicht zufiel. Das Fenster ließ sich ja leider nicht öffnen, sie würde eben aufpassen, damit sie es hörte, wenn ihre Eltern zurückkämen.
Wo fange ich an, dachte sie. Als sie sich im Kreis drehte, fiel ihr der Schrank als Erstes ins Auge. Sie öffnete ihn langsam, man wusste ja nicht, was herauskam. Es hingen alte Klamotten, darin Mäntel, Jacken und Hemden. Sie gehörten offenbar einem Mann. Mal schauen, was darunter liegt. Schuhe, Socken und ein paar Schachteln.
Sie nahm die Erste heraus. Alte Bilder und Briefe. Diese Schachtel werde ich mitnehmen, dachte sich Hanna. Dann die Zweite, darin waren nur Handschuhe. Eine weitere Schachtel klemmte. Als sie schließlich den Inhalt sah, rief sie laut aus: »Was zur Hölle ist das?«
Es waren Rabenfedern, ein goldener Siegelring und ein schwarzes Amulett darin.
»Das werde ich behalten«, sagte sie zu sich. »So, wo suchen wir jetzt?«, plapperte sie weiter vor sich hin.
Das Nachtkästchen! Ein Tagebuch! Wow, jetzt wird es heiß.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Mist, ein Auto! Schnell brachte sie die gefundenen Sachen in ihr Zimmer, stellte den Stuhl wieder in den Raum und schloss die Tür. Anschließend legte sie sich auf ihr Bett und täuschte vor, zu lesen.
Sie hörte Schritte, es war ihr Vater.
»Hanna! Schläfst du mein Schatz?«
»Nein, ich bin wach, wie du siehst«, antwortete sie.
Er trat ein und legte die Chips neben sie.
»Was liest du denn da?«
Sie hielt ihm ein Buch über Edelsteine entgegen. »Welcher gefällt dir am besten?«, fragte er.
»Hm, ich würde sagen, der blaue Saphir.«
»Ja, das ist ein herrlicher Stein.«
In dem Moment rief ihre Mutter nach Thomas.
»Ich komme mein Schatz.«
Kaum hatte ihr Vater den Raum verlassen, nahm sie das Tagebuch zur Hand. Auf der ersten Seite war ein Rabe abgebildet. Komisch war nur, dass er blaue Augen hatte. Auf der nächsten Seite stand in Großbuchstaben: »ICH BIN VERFLUCHT. BITTE BEFREIE MICH.«
Sie blätterte weiter. Die Seite, die folgte, war anders. Sie beschrieb ein Amulett mit Zeichen und Buchstaben, die sie aber nicht zu entziffern vermochte. Da fiel ihr das Amulett ein, das sie gefunden hatte. Als sie es hervorholte und genau ansah, bemerkte sie jedoch, dass es nicht das aus dem Buch war. Zwar passten die Farbe und die Form, doch es besaß weder Zeichen noch Buchstaben.
Da es ihr gefiel, behielt sie es. Sie steckte es sich in die Hosentasche. Das Tagebuch versteckte sie im Schrank zwischen ihrer Wäsche. Sie wollte nicht, dass ihre Mutter es fand. Kaum hatte sie alles verstaut, rief ihr Vater nach ihr. Sie ging nach unten und setzte sich zu ihren Eltern.
»Wir unternehmen einen Spaziergang, kommst du mit?«
Fast hätte sie Nein geantwortet, doch dann überlegte sie es sich anders und sagte: »Ja klar, frische Luft schadet ja nicht.«
Sie zogen sich an und marschierten los. Es war herrlich hier. Die vielen Seen mit ihrem klaren Wasser, die Berge und die Fjorde. Eine Traumlandschaft.
»Heute Abend werden wir uns ein Lagerfeuer schüren«, sagte ihr Vater. »Wir braten Stockbrot und grillen Würstchen über dem Feuer.
Das wird lustig.« »Oh ja«, sagte Laura.
Sie kletterten einen kleinen Berg hinauf und schauten auf einen See, der wie ein Spiegel aussah. Da bemerkte Hanna einen Schatten.
»Was war das?«, fragte sie ihren Vater, doch da er nichts gesehen hatte, wusste er ihr keine Antwort darauf zu geben.
Als sie wieder zu Hause waren, bereitete Thomas alles für das Lagerfeuer vor. Während er Holz und Sitzgelegenheiten in den Garten schleppte, richtete Laura Brot und Würstchen her. Hanna war für die Stöcke zuständig.
»Seid ihr fertig?«, rief Thomas von draußen.
Laura und Hanna kamen just in dem Moment um die Ecke. Perfektes Timing. Thomas entzündete das Feuerholz und alle drei nahmen Platz am Feuer.
Da es schon dämmerte, kam eine romantische Stimmung auf. Thomas und Laura rückten zusammen. Nur Hanna blieb auf ihrem Platz sitzen. Sie starrte in die Flammen und war in Gedanken versunken. Darum hörte sie nicht, wie ihr Vater sie rief. Er versuchte es noch einmal: »Hanna! Wie wäre es mit einem Würstchen?«
»Wie? Hm, ja, gerne.«
»Sag mal stimmt irgendetwas nicht?«, fragte ihre Mutter.
»Nein, es ist nichts. Ich bin nur müde«, antwortete Hanna.
»Du wirst nicht etwas ausbrüten?«, erkundigte sich Laura.
»Ich sagte ja, es ist nichts«, schnappte sie zurück. »Ich gehe jetzt ins Bett.«
Hanna stand auf und ging.
»Nacht, mein Spatz«, sagte ihr Vater.
Doch das hörte sie schon gar nicht mehr.
Kaum war sie in ihrem Zimmer, holte sie das Tagebuch und legte sich aufs Bett. Sie schlug die nächste Seite auf und sah eine Zeichnung von einem Raben. Sie blätterte bis zum Schluss.
»Was ist denn das für ein doofes Tagebuch«, murmelte sie vor sich hin. Es bestand nur aus Raben.
Sie stand auf, verstaute das Buch unter der Matratze und trat zu ihrem Schrank. Sie griff nach dem Ring, als ihr die Rabenfedern ins Auge fielen. In dem Moment, als sie diese berührte, lief ein bläulicher Schimmer über die Federn.
»Was zur Hölle war das denn?«, fluchte sie vor sich hin.
Sie zog sich aus, ging ins Bad, kehrte zurück und legte das Amulett, das sie in der Hosentasche hatte, unter ihr Kopfkissen.
In dieser Nacht schlief sie wenig. Sie träumte von Raben, dem Tagebuch und sah immer wieder eine Gestalt, die sie beobachtete. Doch deren Gesicht war nicht zu erkennen. Die Gestalt rief ihr immer wieder zu: »Hilf mir befreie mich!«
Im Schlaf fragte Hanna: »Ja aber wie? Sag mir doch wie!«
Dann wachte sie auf und der Traum war verschwunden. Anschließend lag sie im Bett und fand lange keinen Schlaf. Sie holte das Amulett unter dem Kopfkissen hervor und bewegte es in der Hand hin und her. Doch egal, wie sie es drehte, es war nichts darauf zu erkennen. Sie war dabei eingeschlafen, denn am Morgen, als sie wach wurde, hielt sie es noch immer in der Hand. Schritte näherten sich und sie steckte es schnell wieder unter das Kissen. Es klopfte an der Tür.
»Hanna! Wir warten mit dem Frühstück. Kommst du?«
Es war ihre Mutter. Die Schritte entfernten sich und Hanna stand auf. Nach dem Bad zog sie sich an und eilte nach unten.
»Morgen« sagte sie in den Raum.
Ihre Eltern wünschten ihr einen guten Morgen und lächelten sich verliebt an.
»Was ist denn mit euch los?«, fragte Hanna.
Doch die beiden hörten sie gar nicht. Sie klopfte auf den Tisch.
»Hallo, ich bin da!«
Ihr Vater sah sie verwundert an und meinte: »Das wissen wir, mein Schatz.«
»Und warum benehmt ihr euch dann so komisch?«, fragte Hanna.
Ihre Mutter räusperte sich, sah ihren Mann an und sagte dann mit ernster Stimme: »Bitte setz dich, wir müssen mit dir reden. Das, was wir dir zu sagen haben, wird dir nicht gefallen.«
Hannas Laune war gereizt, sie sagte: »Spuckt es schon aus, mich kotzt das Getue an.«
Ihr Vater sah sie an und meinte, sie solle sich etwas mäßigen. Ihm gefiel ihre Ausdrucksweise überhaupt nicht.
»Okay«, meinte Hanna »raus mit der Sprache.«
Wieder ergriff ihr Vater das Wort. »In ein paar Monaten erwarten wir Familienzuwachs. Das heißt, du bekommst eine Schwester oder einen Bruder.«
Als er ihr das sagte, hielt er Lauras Hand. Beide schauten sie jetzt Hanna an.
»Was sagst du dazu?«, fragte er.
»Das ist nicht euer Ernst, oder? Ihr verarscht mich doch?«
Hanna fiel aus allen Wolken. »Was werden denn meine Freunde dazu sagen?«, empörte sie sich.
»Jetzt mach aber mal langsam«, sagte ihr Vater streng. »Was fällt dir denn ein, mein Fräulein?«
»Was fällt euch denn ein?!«, schrie sie. »Seid ihr nicht schon ein bisschen zu alt dafür?«
»Hanna! Jetzt reicht es.«
Ihr Vater stand auf, kam um den Tisch herum und stellte sich vor sie. »Es ist jetzt genug. Du hast nicht das Recht, so mit uns zu reden. Ob
wir ein Kind bekommen oder nicht, lässt du schon uns entscheiden.«
Während ihr Vater stinksauer war, blieb ihre Mutter relativ ruhig.
»Hanna«, sagte sie mit einem lieblichen Unterton. »Was ist dein Problem damit? Schämst du dich deswegen? Oder glaubst du, dass du uns dann nicht mehr so wichtig bist?«
Sie schaute ihre Mutter an und meinte trotzig: »Dann habt ihr gar keine Zeit mehr für mich.«
»Wer sagt denn so etwas?«, fragte ihr Vater.
»Das sage ich, weil es so ist.«
»Hanna! Lass uns darüber sprechen«, versuchte es ihre Mutter.
Doch ihr war nicht nach Reden, sie wollte nur noch weg. Sie lief in ihr Zimmer und knallte hinter sich die Tür zu. Ihre Eltern saßen ratlos in der Küche.
»Ich verstehe sie nicht«, sagte ihr Vater.
Doch Laura bat ihn, etwas Geduld zu haben.
»Sie wird sich an die neue Situation gewöhnen«, meinte sie. »Wenn wir erst wieder zu Hause sind und sie mit ihren Freunden darüber reden kann, wird sie einsehen, dass es gar nicht peinlich ist.« »Hoffentlich hast du recht, Laura«, meinte er.
Hanna war in den nächsten Tagen ein richtiger Kotzbalken. Sie mied jede Unterhaltung mit ihren Eltern. Sie aßen gemeinsam und waren spazieren, aber es wurde nicht über das Baby gesprochen.
Eines Abends sagte ihr Vater: »Zwei Tage, dann fahren wir wieder zurück. Wir werden morgen packen. Hanna, du wirst helfen, da deine
Mutter nicht mehr so schwer heben wird.«
Da schnauzte seine Tochter ihn an: »Das ist ja nicht mein Problem, ich bekomme kein Kind.«
»Hanna, es ist jetzt genug! Was bildest du dir ein? Geh auf dein Zimmer! Sofort.«
Sie drehte sich um und verschwand. Sie warf sich aufs Bett und hasste in diesem Moment ihr Leben.
Am nächsten Tag half sie widerwillig beim Packen. Sie sprach kein
Wort mit ihren Eltern. Als die Arbeit erledigt war, ging sie, während die beiden ein Schläfchen hielten, leise nach oben. Sie war im Begriff, das Tagebuch und den Ring zurück in den geheimen Raum zu bringen. Doch dieser war schon wieder verschlossen.
»Das gibts ja nicht«, sagte sie vor sich hin.
Da sie das Werkzeug schon aufgeräumt hatte, war es nicht möglich, aufzusperren. Dann nehme ich die Sachen eben mit, dachte sie sich.
Den Ring würde sie auf einem Trödelmarkt verkaufen.
Der Tag neigte sich dem Ende und alle begaben sich früher zu
Bett, da sie am Abreisetag vorhatten, früh aufzustehen. Heute waren sie unterwegs in Richtung Heimat. Hanna freute sich, ihre Clique
Wiederzusehen.
Die Fahrt verlief reibungslos und ohne größere Zwischenfälle. Hin und wieder blieben sie stehen, weil es sich leicht staute.
»Eine Stunde« hörte sie ihren Vater sagen, doch sie reagierte nicht darauf. Sie behielt ihre Ohrstöpsel drin und schaute aus dem Fenster. Ihre Eltern unterhielten sich und ihr Vater beobachtete sie über den Rückspiegel.
»Freust du dich auf die Schule, Hanna?«, fragte er.
Doch sie gab keine Antwort. Ihre Mutter streichelte seine Hand und meinte: »Lass sie, irgendwann wird sie schon wieder mit uns reden.«
Knapp eineinhalb Stunden später waren sie zu Hause. Thomas parkte das Auto und fing mit dem Ausräumen an. Hanna nahm ihre Sachen und lief ins Haus. Doch anstatt zu helfen, marschierte sie schnurstracks in ihr Zimmer. Es war ihr egal, wie oft ihr Vater hin und
her lief, um alles ins Haus zu tragen.
Als sie ihr Fenster öffnete, kam ihr Bruder angefahren.
»Na«, sagte sie zu sich selbst, »jetzt hat er ja einen, der ihm hilft.«
Ihr Bruder half, ohne zu fragen, beim Schleppen. Nachdem alles im Haus war, fuhr Thomas das Auto in die Garage. Sie war im Begriff, nach unten zu gehen, um ihren Bruder zu begrüßen, da hörte sie ihn fragen: »Habt ihr es Hanna erzählt?«
»Ja haben wir«, antwortete ihre Mutter.
»Und was hat sie gesagt?«
»Hm, seitdem redet sie nicht mehr mit uns«, sagte ihr Vater. »Was? Warum denn das?«, fragte ihr Bruder.
Ihre Mutter blickte ihn an und meinte, sie schäme sich für sie. Er sah seine Eltern an und erwiderte kurz: »Ich gehe nach oben und rede
mit ihr.«
Er drehte sich um und nahm die Treppe hinauf. Vor Hannas Zimmertür blieb er stehen und klopfte. Doch er bekam keine Antwort. »Hanna! Ich würde gern reinkommen.« »Wozu?«, keifte sie durch die Tür. »Bitte lass uns reden.«
»Keine Lust!«, kam es zurück.
Weil er aber nicht vorhatte, mit der Tür zu sprechen, öffnete er diese und trat ein.
»Sorry, dass ich so reinplatze«, sagte er, »aber, ich habe mit dir zu reden.«
Sie lag mit dem Rücken zu ihm auf ihrem Bett.
»Könntest du dich bitte zu mir drehen?«, fragte Markus.
Unter Protest tat sie ihm den Gefallen und drehte sich um.
»Was hast du denn dagegen, dass wir einen Bruder oder eine Schwester bekommen?«
»Hallo? Wir sind schon groß, du könntest selber Papa sein, und da erwarten die ein Kind! Was glaubst du denn, wie mich die anderen deswegen auslachen werden?«, fragte sie giftig.
»Wer wird dich denn auslachen? Es ist nicht dein Kind. Hast du
Angst, dass du nicht mehr im Mittelpunkt stehen könntest?«, fragte er scharf.
»Du spinnst«, knallte sie ihm an den Kopf. »Du verstehst das genauso wenig wie die zwei! In zwei Wochen werde ich sechzehn und du bist schon einundzwanzig.«
»Na und was hat das denn damit zu tun?«, fragte er. »Sie sind nicht zu alt für ein weiteres Baby. Du müsstest froh sein, solche Eltern zu haben. Sieh mal, du bist in der Schule und in deiner Freizeit, hängst du mit der Clique ab. Ich bin selten hier. Und wenn das Baby da ist, sind Mama und Papa nicht alleine. Dann haben sie eine Aufgabe. Sie werden wieder gebraucht und kommen sich nicht alt und nutzlos vor.
Ich für meinen Teil bewundere ihren Mut. Sie könnten schon bald um die ganze Erde reisen, aber sie entscheiden sich für ein Kind. Sie fangen wieder von vorne an. Ich beneide die beiden.«
Hanna lag da und hörte ihrem Bruder zu. Wie er die Sache erklärte, hatte sie es noch gar nicht bedacht. Sie sah ihren großen Bruder an und meinte dann: »Du hast recht, so habe ich es noch gar nicht gesehen.«
Sie nahm ihn in die Arme und sagte: »Ich hab dich lieb, großer.
Bruder.«
»Na siehst du«, meinte er, »ich wusste doch, dass mein Küken vernünftig sein wird. Lass uns nach unten gehen.«
Er nahm ihre Hand, zog sie vom Bett und zusammen schlenderten sie zu ihren Eltern. Etwas beschämt trat sie auf die beiden zu und entschuldigte sich für ihr Benehmen.
»Entschuldigung, bitte verzeiht mir.«
Thomas und Laura waren sichtlich erleichtert und nahmen sie in den Arm. Hanna schaute ihre Mutter an und fragte:
»Wann kommt denn das Baby?«
»Wenn alles klappt, in vier Monaten.«
»Ich helfe dir, das Kinderzimmer einzurichten!«, sagte Hanna.
»Ach Schatz, wirst du beim Einkaufen helfen?«
»Oh ja, das würde ich gerne«, meinte sie mit einem Lächeln im Gesicht.
Nun, da alles geklärt war, holten sie Pizza und aßen gemütlich zusammen. Thomas lächelte Laura an und sagte: »Unsere Kinder sind die Besten!«
Nachdem sie fertig gegessen hatten, verabschiedete sich Markus und fuhr nach Hause. Hanna und ihre Eltern räumten auf und begaben sich zu Bett.
Da sie noch zwei Tage schulfrei hatte, blieb Hanna am nächsten
Morgen länger im Bett. Erst gegen Mittag raffte sie sich auf. Thomas war zur Arbeit gefahren und Laura sortierte die Schmutzwäsche. Hanna saß in der Küche und bereitete sich Cornflakes zu. Mit der Schüssel in der Hand schlenderte sie zu ihrer Mutter.
»Oh, guten Morgen, mein Schatz schon ausgeschlafen?«
Hanna zog eine Grimasse und meinte, es wäre ja nicht mal Mittag.
Ihre Mutter lachte, während sie die Waschmaschine einschaltete.
»Was hast du heute vor?«, fragte sie.
Hanna zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht.«
Ihre Mutter lächelte und sagte: »Ich werde heute in die Stadt fahren, um Möbel für das Kinderzimmer auszusuchen. Kommst du mit?«
»Na klar, ich passe auf, dass du das Richtige kaufst.«
»Na dann, wenn du fertig bist, fahren wir los.«
Kurze Zeit später saßen sie im Auto. Sie überlegten, was sie alles brauchten und wo sie anfangen sollten. Sie parkten im Parkhaus und besuchten das Baby-Geschäft. Als Erstes, suchten sie ein Bettchen, eine Wickelkommode, eine Wickelauflage, Bettwäsche, eine Decke, Kissen und einen Windeleimer aus. Dann kam die Wäsche. Sie kauften Strampler, Bodys, Hemdchen, Mützchen, Jäckchen, Mullwindeln und alles Weitere ein.
Im Drogeriemarkt kauften sie Bademittel, Babyöl, Bürste und
Kamm, Nagelschere, Fläschchen, Schnuller und Windeln. Da sie alle Hände voll hatten, entschieden sie, dass es fürs Erste reichen sollte.
Die Möbel ließen sie liefern, alles andere packten sie ins Auto.
»So, mein Schatz«, sagte Laura, »jetzt haben wir uns eine Erfrischung verdient.«
Sie besuchten das Café an der Ecke. Nachdem sie bestellt hatten, fragte Hanna, ob sie schon Namen ausgesucht hätten. Laura, schaute sie an und sagte: »Wir dachten, wenn es ein Mädchen wird, suchst du den Namen aus, und bei einem Jungen wäre Markus dran.«
»Das ist großzügig von euch und bedeutet mir viel.«
Am späten Nachmittag waren sie wieder zu Hause. Thomas kam gegen 18 Uhr von der Arbeit. Das Essen war fertig und der Tisch gedeckt.
»Hallo meine zwei«, sagte er und gab ihnen einen Kuss. »Was habt ihr denn heute so getrieben?«
Hanna erzählte, dass sie Babysachen gekauft hatten. Sie zählte alles auf, da sie das meiste ausgesucht hatte. Thomas lächelte und war dankbar, dass sich alles zum Guten gewendet hatte.
»Und die Möbel«, ergänzte sie »kommen bald. Dann werden wir das Zimmer einräumen. Es wird alles vor der Geburt fertig werden.« »Freust du dich schon?«, fragte er.
Hanna nickte und sagte, sie könne es kaum mehr erwarten.
Nach dem Abendessen, räumten sie die Küche auf und ihre Mutter konnte sich etwas ausruhen. Anschließend setzte sich Hanna in ihr Zimmer und suchte im Internet nach Mädchennamen. Die Namen, die ihr gefielen, schrieb sie sich auf. Mit der Entscheidung dauerte es ein wenig. Sie, holte das Amulett unter ihrem Kissen hervor und hielt es in den Händen. Es war offenbar, schon einmal an einer Kette befestigt gewesen, denn es hatte ein Loch. Hanna mochte Silber. Sie suchte in ihrer Schmuckschatulle nach einer langen silbernen Kette. Als sie, eine erworben hatte, hängte sie das Amulett daran und legte es sich um den Hals. Vor dem Spiegel betrachtete sie sich und fand, dass es schick aussah. Da die Kette zum Schlafen zu lang war, nahm sie sie wieder ab und legte sie ins Regal. Dann nahm Hanna ihr Handy zur Hand und sah ihre Nachrichten durch. Nahezu nur Werbung. Fast! Zwei waren von Carry. In der Ersten schrieb sie, dass sie in London sei. Doch die Zweite war komplett anders. Sie schrieb, dass sie nie dort war und dass es ihr miserabel ginge. Sie sei in Berlin gelandet. Sie sei per Anhalter abgehauen, denn der Stress mit ihren Eltern war nicht mehr auszuhalten. Der Typ, der sie mitgenommen hatte, war am Anfang nett, doch dann, wurde er zudringlich und sie flüchtete. Jetzt säße sie, mit irgendwelchen Pennern in der Fußgängerzone und bettelte um etwas Geld, damit sie sich Essen kaufen könnte.
Hanna erschrak, als sie das las. Ihr Vater hatte wieder einmal recht, fiel es ihr ein. Sie schloss die Nachrichten und wählte Carrys Nummer.
Es läutete, doch sie nahm nicht ab. Hanna versuchte es ein paarmal.
Vergebens! Also schrieb sie ihr über WhatsApp.
»Hallo Carry! Wo bist du? Ich sorge mich um dich. Warum gehst du nicht ran? Bitte melde dich! Hanna.«
Sie schaltete ihr Handy auf laut und legte es neben sich ins Bett. Doch sie wartete vergeblich. Carry meldete sich nicht. Am nächsten
Morgen schaute Hanna gleich als Erstes auf ihr Handy. Keine neue Nachricht. Die Angst, Carry könnte etwas zugestoßen sein, wurde größer. Wieder rief sie an, doch sie nahm nicht ab.
»Blöde Kuh«, schimpfte sie laut vor sich hin und warf ihr Handy zur Seite.
Sie stand auf, lief ins Bad und zog sich an. Dann kam ihr eine Idee. Sie lief nach unten und sagte ihrer Mutter, dass sie nur kurz zu Carry flitzen würde. Laura sah sie an und fragte, ob alles in Ordnung sei.
»Ja, alles bestens, ich muss nur schnell mit ihr reden«, antwortete Hanna.
»Na dann«, sagte, ihre Mutter »aber sei zum Mittagessen wieder zu Hause, ja?«
»Okay Mama«, sagte Hanna.
Sie begab sich auf den Weg zu ihrer Freundin. Sie hoffte, dass sie zu Hause war. Hatte Carry das alles nur erfunden, um Aufmerksamkeit zu erregen? Der Vorteil war, dass sie nicht so weit auseinanderwohnten. Eine halbe Stunde später stand sie vor Carrys Wohnhaus. Hanna drückte auf die Klingel und wartete. Da niemand reagierte, klingelte sie erneut. Endlich ertönte der Türöffner. Sie drückte die Türe auf und lief in den zweiten Stock hinauf. Hanna traute ihren Augen nicht. Da stand Carry.
»Ich dachte, du wärst weg?«, sagte Hanna. »Hast du mich etwa belogen?«
Carry, schaute etwas verdutzt und meinte dann: »Jetzt komm erst einmal rein, bevor du die ganze Nachbarschaft aufweckst.«
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Hanna sauer. »Du erzählst mir, dass du in Berlin sitzt, und dann bist du doch zu Hause. Das finde ich echt mies von dir, weißt du das? Ich habe mich um dich gesorgt!«
Carry war das sichtlich unangenehm. Sie hätte nicht im Traum daran gedacht, dass Hanna sie suchen würde. Aus dem Wohnzimmer war eine lallende Stimme zu hören:
»Carry, wer ist denn das?«, fragte die Mutter.
»Es ist nur eine Freundin«, gab sie zurück.
Zu Hanna flüsterte sie: »Komm, lass uns in mein Zimmer verschwinden.«
Als sie in Carrys Reich waren, polterte Hanna los: »Sag mal, spinnst du? Wieso belügst du mich so? Ich hatte deinetwegen Riesenstress mit meinen Eltern. Dann sagst du, du fährst ohne mich, drückst mir die Story mit Berlin aufs Auge und letztendlich, bist du doch daheim.«
Carry zog ein schmollendes Gesicht und starrte ertappt zu Boden. »Ja, du hast ja recht. Du hast ja alles, du bekommst vieles, aber ich habe nichts. Wir fahren nie in den Urlaub, neue Klamotten bekomme ich vom Second-Hand-Shop, geschweige denn Taschengeld.« »Sag mal, hackt es bei dir?«, meinte Hanna sauer. »Das sind alles keine Gründe, seine Freundin zu belügen. Sag mir jetzt auf der Stelle die Wahrheit!«, tobte Hanna.
Carry wurde wütend. »Ja, alles ist falsch, ich bin zu nichts zu gebrauchen. Sag’s mir, das höre ich den ganzen Tag.«
Hanna sah sie fragend an: »Wie, meinst du das nun jetzt? Was habe ich dir denn angetan? Du weißt, ich bin immer für dich da, und wenn du Probleme hast, brauchst du nur mit mir darüber zu reden.
Deswegen lügt man doch nicht.«
Carry schaute ihre Freundin nachdenklich an. »Weißt du was? Wir fangen von vorne an. Ja, ich hatte vor, mit dir abzuhauen, da ich mich allein nicht getraut hätte. Alles andere habe ich erfunden, um dir zu imponieren. Jetzt weiß ich, dass es falsch war. Bitte verzeih mir, Hanna. Ich verspreche dir, so etwas nie wieder zu machen. Okay?«
Hanna erweckte den Anschein, darüber nachzudenken, dabei hatte sie Carry schon längst vergeben. Sie liebte sie wie eine Schwester.
»Okay, aber versprich mir, so etwas nie wieder abzuziehen«, beschwor sie Carry.
Diese gab ihr die Hand darauf und meinte: »Gebongt.«
Hanna sah auf ihre Uhr und sagte: »Mist, es ist schon fast halb zwölf! Mama wartet mit dem Mittagessen zu Hause. Wie schaut es aus, meinst du, du dürftest mit zu mir kommen? Dann erzähle ich dir vom Urlaub.«
»Ich weiß nicht«, druckste Carry verlegen herum. »Ich versuche es mal.«
»Na komm«, meinte Hanna, »wir fragen zusammen.«
Sie nahm ihre Freundin und zog sie hinter sich her. Bevor Carry etwas sagen konnte, öffnete Hanna die Wohnzimmertür. Sie war geschockt, ließ sich aber nichts anmerken.
»Hallo Frau Bera«, so war der Familienname von Carry, »wäre es möglich, dass Ihre Tochter heute bei mir übernachtet? Ich bräuchte sie dringend für die Planung meiner Geburtstagsfeier.«
Carrys Mutter, die alkoholisiert war, sah Hanna wie ein Ufo an. »Mir, doch egal«, entgegnete sie, »aber, bevor ihr verschwindet, holt ihr mir ein Bier aus dem Kühlschrank.«
Hanna sah sie an, vor lauter Ekel gelang es ihr nur mit Mühe, sich zu bewegen. Carry dagegen schaltete schnell, lief zum Kühlschrank, holte ein Bier und brachte es ihrer Mutter. Sie packte flink ein paar Sachen ein und verließ dann mit Hanna die Wohnung.
»Glaubst du nicht, dass deine Eltern sauer sind, wenn ich einfach so mitkomme?«, fragte sie.
Doch Hanna schüttelte den Kopf und sagte: »Nein sicher nicht.«
Zu Hause angekommen erzählte sie ihrer Mutter, dass sie ihre Freundin zum Übernachten eingeladen hatte.
»Prima«, meinte Laura.
Carry kam auf sie zu und sagte: »Hallo Frau Lauber.«
»Hallo Carry, dich hab ich ja schon lange nicht mehr gesehen. Wie sieht es mit Mittagessen aus?«, fragte sie.
Das Mädchen nahm dankend an.
»Wie lange dauert es?«, informierte sich Hanna bei ihrer Mutter.
»Eine halbe Stunde, dann essen wir.« »Wir sind so lange oben, ja?« »Ist gut«, meinte Laura.
»Ich erzähl dir was«, sagte Hanna zu Carry. »Wir waren in Norwegen im Urlaub. Ursprünglich hatte mein Vater vor zu jagen, doch dann ist er mit mir zum Angeln gefahren. Das war richtig toll«, erzählte sie. »Doch das Beste war das Haus, das wir gebucht hatten. Es war eine große Blockhütte am See. Als sich meine Eltern eines Tages mittags zum Schlafen hingelegt hatten, durchstöberte ich ein bisschen das Haus. Ich fand einen Raum, der versperrt war. Ich holte mir Werkzeug und schloss die Tür auf. Die Fenster waren zugenagelt und die Glühbirne
war kaputt. Ich habe mir eine neue Birne geholt und mich dann in diesem Raum umgesehen. Das war ein eigenartiges Zimmer, glaub mir.« »Hast du was gefunden?«, fragte ihre Freundin.
»Ja, ein Tagebuch, ein paar Rabenfedern, einen Ring und ein Amulett.«
»Meinst du das hier?«
Als Carry den Anhänger mit ihren Fingern berührte, verfärbte er sich blutrot.
»Was war das denn jetzt?«, fragte Carry.
»Ich weiß es nicht. Das ist noch nie passiert«, flüsterte Hanna. »Das ist verflucht«, meinte Carry.
Doch bevor sie weitersprechen konnten, rief Laura zum Essen. Während sie hinunterliefen, sagte Hanna: »Kein Wort zu meiner Mutter.«
Sie setzten sich an den Tisch und plauderten über alles Mögliche. Nach dem Essen halfen sie, aufzuräumen und verzogen sich dann wieder nach oben. Hanna erzählte von dem Tagebuch.
»Ich zeige es dir«, sagte sie gespannt.
»Aber klar, doch zeig schon her.«
Hanna holte es unter der Matratze hervor und gab es Carry. Sie nahm es in die Hand und schlug es auf.
»Du verkohlst mich, oder?«, fragte sie etwas beleidigt.
»Wieso?«, fragte Hanna.
»Na, da steht ja nichts drin. Es ist ein leeres Buch.«
»Das stimmt nicht«, erwiderte Hanna. »Gib mal her.«
Sie schlug die erste Seite auf und sagte: »Da ist doch der Rabe.« Carry sah ihre Freundin misstrauisch an und meinte: »Ich weiß ja nicht, wo du hier was siehst, ich auf jeden Fall sehe nur ein leeres Blatt.«
Hektisch blätterte Hanna weiter und sagte ihrer Freundin, was sie sah. Doch für Carry blieben die Seiten leer.
»Das ist eigenartig«, meinte Hanna. »Wenn ich es sehe und du nicht ... Bitte fass an mein Amulett!«, befahl sie Carry.
Diese gehorchte und wieder färbte es sich blutrot.
»Ich denke, die Sachen sind verflucht«, meinte Carry.
»Glaubst du?«, fragte Hanna. »Wir brauchen mehr Infos darüber.
Komm, lass uns im Internet suchen.«
Hanna schaltete den Computer an und sie gaben verschiedene Schlagwörter ein. Doch es war nichts zu finden.
Dann sagte Carry: »Versuch es doch mal in der norwegischen Geschichte. Gibt es eine Sage über das Amulett?«
Damit landeten sie einen Treffer. Es hieß in der Sage, dass ein norwegischer Edelmann verflucht wurde, weil er die Dame nicht ehelichte, die seine Eltern für ihn ausgesucht hatten. Sein Name war Raven. Er liebte eine andere und würde nur sie heiraten. Seine Eltern aber waren mit dem Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen nicht einverstanden und ließen ihn verzaubern. Dieser Zauber würde so lange anhalten-
bis er sich entschlösse, die Auserwählte zu ehelichen. Was aus ihm und dem Fluch geworden war, wusste niemand. Denn mit dem Tod der Eltern ist das Geheimnis des Zaubers gestorben.
»Ha« rief Carry, »da haben wir es ja! Das ist es. Und du hast seine
Sachen gefunden.«
»Ja, aber wie kann man den Zauber lösen?«, fragte Hanna.
»Keine Ahnung«, erwiderte Carry. »Aber bist nur du in der Lage dazu?«
»Okay Schluss jetzt mit dem Zaubern«, sagte Hanna. »Ich habe eine Neuigkeit.«
»Dann schieß mal los, ich bin ganz Ohr«, forderte ihre Freundin sie auf.
»In circa drei Monaten bekommen wir ein Baby«, erzählte Hanna.
»Was? Ein Witz, oder?«, lachte Carry.
»Nein gar nicht«, meinte sie.
»Freust du dich etwa darauf?«, fragte ihre Freundin.
»Na klar«, sagte Hanna. »Wenn es ein Mädchen wird, suche ich den
Namen aus und bei einem Jungen mein Bruder.« »Cool«, sagte Carry wenig begeistert.
»Hast du Geschwister?«, fragte Hanna.
»Nein, ich bin ein Einzelkind.«
Wie sie das sagte, klang so traurig, dass Hanna schnell das Thema wechselte.
»Kommst du zu meiner Party in eineinhalb Wochen?«
»Wieso?«, fragte Carry. »Was feierst du denn?«
»Meinen sechzehnten Geburtstag, das weißt du doch.«
»Hm, ich weiß nicht, ob ich komme.«
»Na unbedingt«, meinte Hanna. »Es wird sicher eine geile Fete.
Mein Vater hat an alles gedacht.«
»Wann steigt das Fest?«
»Ich dachte gegen 15 Uhr. Es gibt Kaffee und Kuchen, dann wird getanzt und am Abend gegrillt.«
»Ich weiß nicht so recht«, sagte Carry.
»Ich werde kein Nein akzeptieren«, antwortete Hanna. »Nicht von dir!«
»Okay, wenn ich die Erlaubnis bekomme, dann gerne.«
»Meine Eltern könnten mit ihnen sprechen«, schlug Hanna vor. »Nein, bloß nicht«, erwiderte Carry, »dann hat es sich eh erledigt. Das mache ich schon. Versprochen.«
»Mama?«, rief Hanna nach unten. »Carry und ich beziehen das Gästebett.«
»Ja gerne, wenn ihr Lust habt«, kam die Antwort. »Ich komme gleich und gebe euch Bettwäsche«, rief Laura nach oben.
Keine fünf Minuten später stand sie mit den Bezügen im Arm in der Tür.
»Bitteschön, ihr zwei Hübschen. Braucht ihr sonst noch was?«, fragte sie freundlich.
»Nein, danke Mama, das ist alles.«
Die zwei Mädchen quatschten eine Zeit lang, dann legte Carry sich in die Federn. Sie hatte schon so lange nicht mehr in einem ordentlichen Bett geschlafen, dass es ihr nicht schnell genug geschah. Hanna hingegen lief zu ihren Eltern nach unten. Ihre Mutter sah ihr an, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
»Komm, setz dich zu uns und erzähle, was du auf dem Herzen hast«, sagte sie.
»Versprecht mir aber nichts zu Carry zu sagen«, bat sie die Eltern. »Carry hat mich mit Berlin total angelogen und da war ich stinksauer auf sie. Ich bin zu ihr nach Hause, weil ich nicht wusste, was los war. Ihre Mutter saß im Wohnzimmer. Aber ihr habt keine Vorstellung, wie sie aussah. Sie war sturzbetrunken. Als ich sie fragte, ob Carry bei mir übernachten darf, hatte sie nur einen Wunsch: Holt mir ein Bier aus dem Kühlschrank, bevor ihr verschwindet. Carry hat mir erzählt, dass sie immer nur als Nichtsnutz bezeichnet wird. Sie ist neidisch auf mich, weil ich ein schönes Zuhause habe und meine Klamotten nicht wie sie aus dem Second-Hand-Shop bekomme. Außerdem bekommt sie nicht einmal Taschengeld. Ich glaube, sie ist todunglücklich. Deshalb erfindet sie unschöne Sachen, um damit Aufmerksamkeit zu erhalten. Als ich ihr dann erzählt habe, dass wir noch ein Baby bekommen, ist sie ausgerastet. Mama, sie ist so traurig, und ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann.«
»Was ist denn mit ihrem Vater?«, fragte Thomas.
»Soweit ich weiß, ist er drogensüchtig. Warum?« »Und ihre Mutter ist Alkoholikerin oder wie?« »Ja, stell dir das mal vor«, weinte Hanna traurig.
»Es liegt nicht in deiner Macht, etwas daran zu ändern, meine Kleine«, sagte Thomas.
»Mir hat sie so leidgetan, dass ich sie mitgenommen habe. Und zu meinem Geburtstag habe ich sie eingeladen, damit sie auf andere Gedanken kommt. Ist das in Ordnung für euch?«
»Aber sicher«, sagten beide. »Wir finden es wirklich ehrenwert, dass du deine Freundin nicht hängen lässt. Menschen in dieser Situation haben es nicht leicht. Und ein junges Mädchen erst recht nicht.«
»Danke, dass ihr mir zugehört habt. Gute Nacht!«
Da sich Hanna etwas Luft verschafft hatte, war sie bereit, sich ins
Bett zu legen. Doch ein schrecklicher Traum ließ sie nicht schlafen. Sie träumte von Raven, dem Amulett, den Federn und dem Tagebuch.
Außerdem rief schon wieder diese Stimme nach ihr.
»Hilf mir bitte, befreie mich! Nur du wirst mein Schicksal beenden.«
Eine Hand griff nach ihr. Schweißgebadet wurde sie wach. Sie versuchte, die Hand, die sie festhielt, wegzuschieben, aber es gelang ihr
nicht. Da erst öffnete sie die Augen und sah Carry vor sich stehen.
»Hanna wach, doch auf«, flehte das Mädchen.
Als sie schon aufzugeben drohte, öffnete Hanna endlich die Augen. »Du hast so laut gerufen und geweint, dass ich dich bis rüber gehört habe«, sagte Carry.
»Entschuldigung, ich wollte dich nicht wecken. Aber dieser Traum hat mich nicht losgelassen.«
»Aber wovon hast du denn geträumt?«
»Na von dem Amulett und dem ganzen anderen Kram.« »Ich geh wieder schlafen«, sagte Carry.
»Ja, geh nur. Ich danke dir für deine Hilfe.«
Am nächsten Morgen war Hanna schon vor der Familie wach. Sie bereitete das Frühstück vor, mit allem, was dazugehört und wartete, bis die anderen endlich aufgestanden waren. Ihre Mutter kam als Erstes.
»Hm, hier riecht es aber appetitlich«, sagte sie. »Morgen, mein Schatz. Sag mal, wie lange bist du denn schon auf?«
»Seit sechs Uhr. Da dachte ich mir, ich bereite für euch schon mal das Frühstück vor.«
»Das ist nett von dir. Schläft deine Freundin?«
»Ja, ich denke schon. Ich wecke sie jetzt auf!«
»Nein, lass sie schlafen. Gönnen wir es ihr.«
»Okay, dann fangen wir eben alleine an. Kaffee, Mama?« »Ja, gerne. Und von deinen Eiern mit Speck nehme ich auch was.« Plötzlich wurde die Haustür geöffnet.
»Nanu, wer kommt denn um diese Zeit schon zu uns?«, fragte Laura.
Markus steckte den Kopf zur Tür herein. Hanna sprang auf und fiel ihrem großen Bruder um den Hals.
»Hallo meine Kleine«, sagte er und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Wo kommst du denn schon so früh am Morgen her?«, fragte seine Mutter.
»Ich war bei einem Kunden in der Gegend und habe das Leckere
Frühstück bis dahin gerochen.«
»Du Schwindler«, scherzte Hanna. »Isst du was?« »Wenn ich etwas bekomme, dann gerne«, sagte er.
»Kaffee?«
»Nur her damit«, antwortete er. »Na Mama, wie läuft es mit dem
Baby? Ist alles in Ordnung bei euch beiden?«
»Ja, danke mein Schatz«, sagte sie und umarmte ihren großen Sohn.
»Markus, bist du zu meinem Geburtstag hier?«, fragte Hanna.
»Na klar«, antwortete er. »Ich lasse mir doch die leckeren Sachen nicht durch die Lappen gehen.«
Er fragte sie, was sie sich wünsche, da sprang die Tür auf.
»Morgen« sagte Carry etwas verlegen.
»Nanu, wen haben wir denn da?«, fragte er.
»Das ist meine Freundin Carry. Und das ist mein großer Bruder
Markus.«
Sie gaben sich die Hand und Hanna bot ihr einen Stuhl an.
»Was frühstückst du?«, fragte sie.
»Für mich bitte nur etwas Rührei und Speck«, erwiderte Carry.
»Zu trinken?«
»Ein Glas Milch danke.« »Aber gerne«, sagte Hanna.
Als sie mit dem Frühstücken fertig waren, halfen alle zusammen und Hanna brachte ihre Freundin nach Hause. Carry betrat die Wohnung und rief nach ihrer Mutter, bekam jedoch keine Antwort. Sie begab sich ins Wohnzimmer und schloss, bevor Hanna etwas mitbekam, schnell die Tür.
»Ich bin wieder zu Hause«, sagte sie.
Ihre Mutter saß auf einem jungen Kerl, nackt!
»Was glotzt du so?«, fauchte ihre Mutter sie an. »Wenn du zusiehst, dann bleibe, wenn nicht, dann verschwinde.«
Schockiert verließ Carry das Wohnzimmer. Sie lief in ihr Zimmer, warf sich auf die Matratze und fing fürchterlich zu weinen an.
Hanna war entsetzt! Wie brachte es eine Mutter fertig, dem eigenen Kind so etwas anzutun?
»Carry, das hättest du nicht sehen sollen. Kann ich dir helfen?«, fragte sie.
»Nein, danke! Es ist besser, du gehst jetzt. Und sprich bitte mit niemandem darüber. Ich brauche nur meine Ruhe.«
»Verstehe«, sagte Hanna. »Wir sehen uns dann morgen in der Schule.«
Sie umarmte ihre Freundin und verließ das Haus. Das ganze Szenario hatte Hanna so verstört, dass sie auf dem Heimweg weinte. Sie stürzte zu Hause ins Wohnzimmer, wo Markus und ihre Mutter saßen.
Sie lief zu ihrem Bruder und fiel ihm schluchzend um den Hals.
»Hey, was ist passiert? Schau mich an Hanna.«
Ihr Bruder wischte ihr die Tränen ab und beruhigte sie erst einmal. Ihre Mutter war aufgestanden und setzte sich neben die beiden. Als sich Hanna wieder etwas beruhigt hatte, fing sie unter Schluchzen zu erzählen an, was sie erlebt hatte. Ihr Bruder und ihre Mutter waren schockiert über das, was sie da zu hören bekamen.
»Das gibt es nicht«, sagte Markus. »Was ist das denn für eine Mutter?«, fragte er in den Raum. »Der Frau gehört das Sorgerecht entzogen«, murrte er aufgebracht.
»Nein, bitte nicht«, sagte Hanna. »Ich habe Carry versprochen, mit niemandem darüber zu sprechen.«
»Ich verstehe dich ja, aber das ist doch kein Zustand für deine Freundin«, erklärte er ihr.
»Ich weiß, aber ich habe keine Möglichkeit, das zu ändern«, jammerte Hanna.
Nachdem sie es erzählt hatte, fühlte sie sich ein bisschen besser.
»Ich gehe jetzt ins Bett, morgen ist Schule und ich habe keine Lust, mit geschwollenen Augen aufzukreuzen.«
Sie wünschte eine gute Nacht und umarmte die beiden. Dann verließ sie das Wohnzimmer und begab sich in ihr Zimmer. Als sie ihre Kette abnahm und ins Regal legte, sah sie dort eine Rabenfeder liegen. »Die war heute Morgen noch nicht hier«, sagte sie laut vor sich hin.
Sie nahm die Feder in die Hand und spürte sogleich ein leichtes Brennen. Sie hörte Schritte auf dem Flur, es war ihre Mutter. Da verschwand die Feder vor ihren Augen. Es blieb allein ein winzig kleines Häufchen Asche zurück. Das ist unmöglich, dachte sie sich. Bilde ich mir das ein oder ist das wirklich passiert? Komplett durcheinander kletterte sie in ihr Bett und wünschte sich nur, schnell einzuschlafen.
In dieser Nacht hatte sie keinen Traum von Raven oder dem Amulett. Sie stand auf, als ihr Wecker klingelte, stieg unter die Dusche, zog sich an, nahm ihre Schultasche und lief hinunter. Ihre Mutter hatte das Frühstück vorbereitet und fragte, wie sie geschlafen habe.
»Geht so«, antwortete sie. »Ich bin gespannt, ob Carry heute zum Unterricht kommt«, nuschelte sie.
»Das wirst du spätestens in der Schule sehen«, sagte ihre Mutter.
»Aber beeile dich, sonst kommst du zu spät.«
»Ja Mama«, erwiderte Hanna, gab ihr einen Kuss und verließ das Haus.
An der Bushaltestelle wartete sie auf Carry, doch sie erschien nicht.
Der Bus kam, hielt an, ließ alle einsteigen und fuhr los. Ohne Carry!
Sie kam nicht zum Unterricht und ihr Handy war aus.
Hanna war besorgt um ihre Freundin. Gleich, als sie zu Hause war, erzählte sie es ihrer Mutter.
»Was mache ich denn jetzt nur?«, fragte sie.
Laura hatte keine Idee.
»Ich gehe und bringe ihr die Hausaufgaben.«
»Ja, das könntest du versuchen. Dann ist es nicht so auffällig.« »Okay«, sagte Hanna. »Ich nehme mein Handy mit und melde mich dann bei dir.«
»Bitte pass auf dich auf, Hanna.«
Ihrer Mutter war nicht wohl dabei, aber sie verstand ihre Tochter.
Hanna machte sich mit den Hausaufgaben auf den Weg. Als sie eine halbe Stunde später bei Carry klingelte, machte wie immer keiner auf. Sie drückte vor Panik auf eine andere Klingel, und als sich jemand über die Sprechanlage meldete, sagte sie, sie habe ihren Schlüssel vergessen. Dann sprang die Tür auf und Hanna rannte nach oben zu Carrys Wohnung. Sie hörte eine Frau schreien und dachte schon an das Schlimmste. Da sah sie, dass die Türe nur angelehnt war. Vorsichtig schob sie die Tür ein Stück auf und trat leise hinein. Wieder war ein Schrei zu hören. Er kam aus dem Wohnzimmer. Da diese Tür offen war, entschied sie sich, hineinzugehen und nachzusehen. Geschockt sah sie Carrys nackte Mutter beim wilden Sex mit einem Typen. Sie war so entsetzt, dass sie zurücktaumelte und dabei gegen den Schrank stieß. Die beiden drehten sich um und sahen sie fassungslos an.
»Was treibst du hier?«, fragte Carrys Mutter.
Der Typ starrte sie an und meinte: »Na, wenn sie schon mal da ist, lassen wir sie mitmachen.«
»Nein danke! Ich suche Carry. Wissen Sie, wo sie ist?«
»Nein, die ist abgehauen, obwohl wir vorhatten, ein Video mit ihr zu drehen.«
»Was?«, schrie Hanna empört.
»Tu nicht so weißt du, was man mit Jungfrauen-Sex verdient?«, sagte dieser Typ.
Völlig außer sich vor Wut schrie Hanna die beiden an: »Wenn Carry etwas zugestoßen ist, wende ich mich an die Polizei, das schwöre ich euch!«
Damit drehte sie sich um und verließ die Wohnung. Als sie das Haus hinter sich hatte, rief ihre Mutter an.
»Hanna, deine Freundin ist hier. Bitte komm nach Hause.«
Hanna lief, so schnell sie ihre Füße trugen. Als sie die Tür aufschloss und hineinging, kam ihre Freundin auf sie zugelaufen. »Hanna
bitte sag nichts deinen Eltern«, bat sie.
Sie entgegnete: »Nein, so läuft das nicht. Die beiden gehören zur
Verantwortung gezogen.«
Carry drückte sich an ihr vorbei, um aus der Wohnung zu flüchten.
Doch genau in diesem Moment kam Markus herein.
Hanna rief: »Lass sie nicht raus!«
Ihr Bruder reagierte blitzschnell und hielt Carry am Arm fest. »Hiergeblieben Fräulein«, meinte er und schob sie in die Küche. »Setz dich«, befahl er ihr.
Carry gehorchte ohne Widerworte. »So, mal langsam«, meinte er.
»Erklärt mir mal einer, was hier los ist?«
Hanna erzählte ihm haargenau, was vorgefallen war, was Carrys Mutter und der Typ zu ihr gesagt hatten. »So, jetzt reicht´s mir.«
Markus nahm sein Handy raus, als die Tür abermals aufging. »Wow«, meinte Hannas Vater »was für ein Empfangskomitee.« »Freu dich nicht zu früh«, sagte Markus.
Als sie sich begrüßt hatten, setzten sich alle ins Wohnzimmer. Hanna und ihr Bruder erzählten ihm von dieser Angelegenheit. Thomas musterte Carry und fragte sie nebenbei, ob ihre Mutter das schon öfter gemacht hätte. Beschämt fing sie zu weinen an und flüsterte dann: »Ja.«
»Warum macht sie das denn?«, fragte er.
»Na wegen des Geldes. Sie und mein Vaterverschnitt brauchen die Kohle für Alkohol und Drogen.«
»Haben sie dich schon mal gezwungen, mitzumachen?«, bohrte Markus nach.
»Ja des öfteren.«
»Hattest du Sex mit diesen Männern?«
»Nein, ja auf eine andere Art. Ich äh ...«
»Stopp«, sagte Thomas entsetzt. »Bitte keine Einzelheiten.« »Entschuldigung«, meinte Carry und schämte sich jetzt noch mehr.
Markus sah Carry an und erklärte ihr, dass es hier Handlungsbedarf gebe. So etwas gehöre bereinigt. »Sorry, aber du wirst mich jetzt begleiten.« »Wohin denn?«, fragte Carry.
»Zur Polizei, das gehört angezeigt.«
»Nein, niemals!«, schrie sie. »Wissen Sie, was meine Eltern mit mir anstellen, wenn sie das erfahren?«
»Sie werden dir nichts anhaben, denn so schnell kommst du nicht mehr nach Hause.«
»Ja, aber meine Sachen, ich brauche doch Schulsachen und so.«
»Das ist kein Problem, Carry«, beruhigte sie Markus. »Mein Kollege und ich werden mit dir zu deinen Eltern fahren, dann holst du deine Sachen. Sie werden nicht erfahren, wohin wir dich dann bringen. Verstehst du das?«
Carry sah ihn an und nickte.
Markus verständigte einen Kollegen, der mit ihm und dem Mädchen zu ihr nach Hause fuhr. Als die Beamten mit Carry in der Wohnung ankamen, saß ihre Mutter nackt und sturzbetrunken auf der Couch. Ihr Vater lag fast bewusstlos auf dem Boden. Beide realisierten gar nicht, dass die Polizei in ihrem Wohnzimmer stand.
»Frau Bera, verstehen Sie mich?«, sagte Markus. Sie, schaute ihn an und lallte: »Es kostet 50 Euro.« »Was 50 Euro?«, fragte der andere Polizist.
»Na, eine Nummer mit mir.«
Markus war entsetzt. Er versuchte es wieder: »Wir nehmen Ihre
Tochter jetzt mit! Haben Sie mich verstanden?«
»Die bringt nichts, die ist sogar dafür zu blöd«, kam die Antwort.
Markus sah seinen Kollegen an und befahl ihm, mit Carry die Sachen zu packen. Zu ihrer Mutter sagte er nur: »Das wird ein Nachspiel haben. Für Sie beide.«
Als Carry und sein Kollege fertig waren, fuhren sie auf die Wache.
»Und jetzt?«, fragte Carry.
»Ich rufe eine Sozialarbeiterin an, die sich um alles Weitere kümmern wird«, beantwortete Markus ihre Frage.
Die Frau vom Jugendamt wurde über die Vorkommnisse informiert und war auch schnell da. Sie füllten die Papiere aus, dann nahm sie Carry mit.
»Bitte Markus«, flehte das Mädchen ihn an, »bring mich zu Hanna. Sie ist doch meine beste Freundin.«
»Ich weiß«, sagte er, »ich versuche alles, was in meiner Macht steht, das verspreche ich dir.«
Zu der Frau vom Jugendamt sagte er: »Wir hören voneinander.« Dann fuhr sie mit Carry los.
Markus rief seine Mutter an und fragte, ob er nach Dienstschluss mit ihnen reden könne. Laura sagte zu. Nach der Arbeit fuhr er sofort zu seinen Eltern. Er erklärte ihnen, was passiert war, und teilte ihnen Carrys Wunsch mit. Die beiden sahen sich an und fragten fast gleichzeitig: »Haben wir eine Chance, sie zu bekommen?«
»Das weiß ich nicht«, entgegnete Markus »aber, wenn ihr wollt, rede ich mit der Frau vom Jugendamt.«
»Das wäre nett von dir«, erwiderte seine Mutter. »Das arme Mädchen.«
»Wo ist Hanna?«, wollte er wissen.
»Sie ist schon zu Bett gegangen, es war doch etwas hart für sie«, erklärte seine Mutter.
»Schläft sie schon?«
»Das weiß ich nicht, aber geh doch hoch und sieh selber nach«, sagte sein Vater. Dem das alles zusetzte.
Markus lief nach oben zu seiner kleinen Schwester. Er klopfte an die Tür und fragte, ob sie wach sei.
»Ja, komm rein«, sagte sie.
Er betrat das Zimmer und fragte, wie es ihr ginge.
»Was ist mit Carry? Wo ist sie?«
Ihr Bruder erzählte ihr alles und versprach, sich darum zu kümmern. Dann sagte er »Schlaf jetzt« und verließ ihr Zimmer.
In dieser Nacht träumte Hanna wieder von Raven. Er sagte ihr, dass er ihre Hilfe bräuchte. Der Fluch sei nur von ihr zu brechen. Aber wie, das wusste er nicht. Immer wieder rief sie seinen Namen, doch bekam keine Antwort.
Am nächsten Morgen legte sie das Amulett an und spürte eine seltsame Vibration. Es leuchtete kurz auf, dann war es wieder nur ein
Amulett. Sie beeilte sich, um rechtzeitig an der Bushaltestelle zu sein. Im Vorbeigehen schnappte sie sich ein Brötchen und war verschwunden.
Nach dem Unterricht fragte sie ihren Geschichtslehrer, ob er etwas
von dem Norweger Raven wusste. Er überlegte kurz, dann meinte er:
»Da gibts doch eine Sage von dem Rabenjungen.« »Gibt es die denn?«, fragte Hanna.
»Ja, das steht sogar in einem Buch. Wenn ich es finde, gebe ich es dir.«
»Danke, das ist nett von Ihnen«, sagte Hanna und verabschiedete sich.
Sie verließ das Schulhaus und rief ihre Mutter an.
»Hallo Mama, hast du schon etwas von Markus gehört?«
»Nein, leider nicht mein Schatz, aber wenn es Neuigkeiten gibt, meldet er sich bei dir.«
Während Hanna ihre Hausaufgaben erledigte, schweiften ihre Gedanken immer wieder zu Raven ab. Wenn ich doch nur wüsste, was es mit dem Fluch auf sich hat, dachte sie. Da kam ihr die Idee. Warum suchte sie nicht im Internet? Kurz entschlossen schaltete sie den Computer ein und gab »Rabenjunge« ein. Sie war schon auf Seite zehn, hatte aber nichts über einen verfluchten Rabenjungen gefunden.
Dann endlich ein Lichtblick. Da stand geschrieben, dass Raven der
Sohn zweier adliger war. Eigentlich hieß er Raffael. Weil er sich aber für Raben interessierte, nannten ihn die Leute Raven. Aus Geldgier hatten seine Eltern ein reiches Mädchen für ihn ausgesucht. Diese Hochzeit würde ihnen zu Ruhm und Reichtum verhelfen. Doch Raffael hatte sich in ein anderes Mädchen verliebt. Dieses kam aus einem ärmlichen Elternhaus und war seinen Eltern deshalb ein Dorn im Auge. Raffael hatte keine Wahl, denn wenn er das reiche Mädchen nicht zur Frau nehmen würde, würden sie ihn bis an sein Lebensende verfluchen. »Dann ist es so«, sagte Raffael zu seinen Eltern. »Eher verflucht als ein Leben lang unglücklich.« Und so geschah es. Raffael wurde für den Rest seines Daseins in einen Raben verwandelt. seither, fliegt er in der Welt umher und sucht jemanden, der seinen Fluch zu brechen vermag.
Hanna berührte gedankenlos das Amulett, das sie umgehängt hatte. Da ihr der Anhänger warm vorkam, nahm sie ihn ab und betrachtete ihn. Plötzlich tauchten goldene Zeichen darauf auf. Bevor sie diese genauer begutachten konnte, waren sie wieder verschwunden. Oh Mist, ich war zu langsam, dachte sie. Sie hatte eine Idee: Wenn das Amulett erneut warm wird, würde sie mit ihrem Handy ein Foto davon schießen und die Zeichen dann in aller Ruhe studieren. Wenn ich doch nur in der Lage wäre, mit Raven Kontakt aufzunehmen, könnte
ich ihm vielleicht helfen, dachte sie.
Plötzlich klingelte ihr Handy.
»Hallo?«
Am anderen Ende war nichts zu hören. Sie legte auf und war im Begriff, aufzustehen, als es erneut klingelte.
»Hallo? Wer ist denn da?«, fragte Hanna.
Da hörte sie, wie eine weibliche Stimme sagte: »Ich, bedanke mich bei dir, dass du mir meine Tochter weggenommen hast. Das wirst du mir büßen, das schwöre ich dir.«
Bevor Hanna etwas erwidern konnte, hatte die Fremde aufgelegt.
Entsetzt und kreidebleich lief sie zu ihrer Mutter nach unten.
»Mama, Mama, stell dir vor, was gerade passiert ist« sprudelte es aus ihr heraus.