Das außergewöhnliche Leben des Friedrich Joseph Haass - Dirk Kemper - E-Book

Das außergewöhnliche Leben des Friedrich Joseph Haass E-Book

Dirk Kemper

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Beschreibung

Der deutsche Arzt Friedrich Joseph Haass wird im Volksmund bis heute der »heilige Doktor von Moskau« genannt. Als Modearzt der Moskauer Oberschicht nach Russland gegangen, nimmt er sich immer mehr der Ärmsten der Armen an, verbessert die Situation der nach Sibirien Verbannten, versorgt Obdachlose und Cholerakranke. Sein gesamtes Vermögen setzt er dafür ein und stirbt schließlich verarmt. Eine spannende und eindrucksvolle Biografie über einen in Deutschland wenig bekannten Mann, der bald selig gesprochen werden soll.

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Seitenzahl: 388

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Dirk Kemper

Das außergewöhnliche Leben des Friedrich Joseph Haass

Biografie einer Legende

Gedruckt mit Unterstützung

der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Moskau,

des Instituts für russisch-deutsche Literatur- und Kulturbeziehungen an der RGGU Moskau,

der Deutschen Schule Moskau, »Friedrich-­Joseph-Haass-Schule«

und der St.-Elisabeth-Gemeinde Moskau.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv aus: (russ.:) A. F. Koni:

Fjodor Petrowitsch Gaas (Friedrich Joseph Haass).

Biografische Skizze: 3. erg. Aufl. Sankt Petersburg 1904.

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN E-Book (E-Pub): 978-3-451-82603-0

ISBN Print: 978-3-451-39051-7

Inhalt

Einleitung: Warum Haass?

Provokation der Vernunft

Romanfähig, gut für die Weltliteratur

Eigensinn und westliche Werte

Kulturgeschichte als Leseabenteuer

Christliche Leitfigur

Der Freiheitsbaum in Münstereifel

Die Deutschen und die Revolution

Zettel und Einschlag: Das Generationengewebe der Familien

Goethe war schuld: Moderner Individualismus

Bindung und Eigensinn: Verwurzelte und entwurzelte Familientradition

Schulzeit in Münstereifel

»Besatzung«, »Befreiung« oder »Réunion«

Studienvorbereitung in Köln

Studium

Das Medizinstudium um 1800

Medizinphilosophie oder empirisch-experimentelle Naturwissenschaft

Medizinphilosophische Strömungen

Romantische Medizin

Jena

Anatomie bei Justus Christian Loder

»Romantische« Philosophie bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling

Schelling I: Das ganze Wesen der Dinge und die Einheit der Welt

Schelling II: Organismus

Schelling III: Erregbarkeit

Karl Himly und die Augenheilkunde

Göttingen

Wien

»Medicinische Polizey«

Aufbrüche nach Russland

Der russische Arbeitsmarkt

Von Peter I. bis Katharina II.

Volksaufklärung und Anwerbung: Der Beginn des 19. Jahrhunderts

Der russische Arbeitsmarkt für Mediziner

Anwerbungen und Abwanderungen in Haass’ Umfeld

Nach Moskau! In Moskau

Moskau, nicht Petersburg

Kaukasus, Mineralquellen, Badekuren

Forschung im Dienst der »medicinischen Polizey«

Croup

Im »Vaterländischen Krieg« 1812–1814

Vom Erfolg im Ausland und dessen Grenzen

Gefängniskomitee

Strafe und Gefängnis

Menschenrechte im Gefängnis?

Der humanistische Einspruch gegen die Verwahrlosung der Gefängnisse

Die Erweckungsbewegung und John Howards Gefängnisvisitationen

Die Petersburger Gefängnisschutzgesellschaft

Haass im Moskauer Gefängniskomitee

Verbannung und Strafe

Der »Wilde Osten« oder das »Totenhaus«

Verbannung und Kolonisation

Vielfalt und Beliebigkeit – Verbannungsgründe

Zuständig für mobile und immobile Gefangene: Haass im Moskauer Gefängnisschutzkomitee

Medizinisches Armenasyl und »Haassowka«

Cholera

Antriebskräfte

Das Menschenbild der Aufklärung

Christlicher Glaube als Urgrund

Unbeirrbarkeit

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Über den Autor

Einleitung: Warum Haass?

Provokation der Vernunft

Niemand wird so schnell fertig mit Friedrich Joseph Haass. Das war schon bei den Zeitgenossen so. Seinem Handeln und Denken haftet etwas an, das irritiert und auch provoziert. Denn in der Auseinandersetzung mit dem eigenwilligen deutschen Arzt in Moskau stellt sich der Betrachter immer wieder die Frage, wer denn nun auf der sicheren Seite der Vernunft stehe: Er oder ich? In seinem Engagement für die nach Sibirien Verbannten handelt Haass gut – aber immer wieder auch fanatisch gut. Er verweigert stets die Logik von Macht und Verwaltung, um menschlich zu handeln – aber auch allzu menschlich. Er wird verehrt als großer Humanist – verbeißt sich aber auch so sehr ins Kleine, dass er einem schon »ganz verteufelt human« vorkommt, um Goethes Wort zu benutzen.1

Unsere Vernunft will natürlich das Gute, aber mit Maßen; das Humane, aber im wohl erwogenen Ausgleich mit anderen Werten. Haass will das nicht. Er folgt seinem inneren Kompass, der christlich genordet ist, ganz bedingungslos. Er ist kein Revolutionär, der Grenzen einreißt, wohl aber einer, der Grenzen schlichtweg ignoriert oder gar nicht sieht. Er verdient und erheischt unsere Sympathie und Zustimmung, und doch erweist er sich als anstrengender, gelegentlich auch nervenzehrender Weggefährte.

Haass hat viele Beinamen bekommen, auch solche, die ihm nicht nur schmeicheln. Wer nicht mit ihm zurechtkommt, nennt ihn einen Sonderling an den Rändern der Gesellschaft oder einen aus dem Ruder gelaufenen Philanthropen, schlimmer noch, einen Don Quijote mit Realitätsverlust. Dem entgegen steht das faszinierende Bild des Narren in Christo, dessen Narretei nicht aus einem Defizit, sondern aus einer großen Gabe, aus einer überwältigenden Glaubens- und Weltsicherheit resultiert.

Romanfähig, gut für die Weltliteratur

Eine solche psychische Konstellation musste natürlich denjenigen russischen Schriftsteller faszinieren, der wie kein anderer das komplexe Gewirr von Sünde, Absturz, Buße, Sühne und Wiederaufrichtung im menschlichen Leben zu durchleuchten wusste. Bei Fjodor Dostojewski, dem Psychologen von Weltrang, findet sich in dem Roman Der Idiot ein kristallklares Porträt des Dr. Haass, nur dass er aus dem Mediziner einen alten General macht: »[…] der hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, dauernd die Gefängnisse und die Verbrecher zu besuchen; jede Abteilung der nach Sibirien Verschickten wusste schon im Voraus, dass außerhalb Moskaus auf den Sperlingsbergen ›der alte General‹ sie besuchen würde. Er erfüllte seinen Vorsatz mit größtem Ernst und in aller Frömmigkeit […]«. Dostojewski interessiert natürlich die vermeintliche Konfrontation des »nur« Guten mit dem »nur« Bösen und deutet kurz an, wie beide Seiten einander über- und unterschätzen. Doch dieses Zusammentreffen bleibe nicht folgenlos, so Dostojewski. Der Effekt der Haass’schen Arbeit sei nicht vordergründig zu greifen: »Aber wer kann es wissen, welch ein Samenkorn ›der alte General‹, den er in zwanzig Jahren nicht vergessen hatte, ihm [dem Schwerverbrecher] auf ewig in die Seele geworfen hat?«2

Doch das weltliterarische Potenzial von Haass reicht weiter. Der berühmte Raskolnikow in Schuld und Sühne, der eine alte Frau umbringt, einfach aus dem Bewusstsein heraus, das Recht zu dieser Tat zu haben, sollte nach einer frühen Arbeitsnotiz Dostojewskis Haass begegnen. Gespräche zwischen beiden wären gefolgt. »Warum kann ich nicht sein wie Haass?«, sollte sich Raskolnikow fragen, bevor er sich tatsächlich diesem Vorbild anverwandelte. Letztlich schrieb Dostojewski den Roman anders, doch Haass war als Hauptfigur eines großen Romans zeitweise in der Planung des Romanciers gewesen.

Eigensinn und westliche Werte

Wird Friedrich Joseph Haass aus Münstereifel von den Russen bis heute als der »heilige Doktor von Moskau« verehrt, weil er so russisch oder weil er so deutsch, beziehungsweise westeuropäisch, war? Mit seinem Engagement für die nach Sibirien Deportierten stand er jedenfalls in Russland nicht allein. Wer wusste, dass die wenigsten Verbannten von einem ordentlichen Gericht verurteilt worden waren und dass man den meisten lediglich Ordnungswidrigkeiten und geringfügige Vergehen vorgeworfen hatte, betrachtete die Gefangenen nicht als Verbrecher, sondern als »Unglückliche«, die sich in den Fallstricken des Schicksals verheddert hatten. In Russland begegnete man ihnen mitfühlend und suchte ihre Not ein wenig zu lindern, sei es aus philosophischen, sei es aus religiösen Gründen. Doch das Engagement des Friedrich Joseph Haass hatte noch eine andere Qualität. Er brachte ein westeuropäisches Denken von den Rechten der Person und der Würde des Menschen mit, das dem russischen Rechtssystem und überhaupt der russischen Kultur damals noch völlig fremd war. Für Haass war der Mensch schon von Geburt an Inhaber unveräußerlicher Rechte, die er auch im Stande der Gefangenschaft nicht ganz verlieren konnte. Leicht verband sich dieses Gedankengut der Aufklärung mir seinem christlich-katholischen Menschenbild. In der russischen Kultur, in der auch die Rechte und die Würde des Menschen noch völlig vom sozialen Status einer Person abhingen, in der Menschenrechte ein Oberklassenprivileg waren, wirkte Haass’ Standpunkt wie ein Import aus einer fernen Zukunft. Als lautstarker Theoretiker hätte er ihn auch nie vertreten dürfen. Doch als Grundlage seines praktischen Handelns verlieh dieser westliche Standpunkt seinem Engagement eine besondere Strahlkraft, etwas Verheißungsvolles. Es war das stille Versprechen, dass sich die Dinge auch in Russland ändern könnten.

Kulturgeschichte als Leseabenteuer

In Haass’ Biografie schneiden sich zahlreiche Linien der Kulturgeschichte, und zwar ganz unterschiedlicher Herkunft. Die politische Ereignisgeschichte wartet mit Umwälzungen von der Französischen Revolution über den Dekabristenaufstand 1825 gegen den neuen Zaren Nikolaus I. bis zu den europäischen revolutionären Bewegungen von 1848 auf. In der Medizingeschichte arbeiteten die Lehrer der Generation Haass daran, dem Fach eine eigene theoretische Basis zu geben und es aus dem Langzeitsog der antiken Vier-Säfte-Lehre zu befreien. In der Rechtsgeschichte stößt Westeuropa zu Haass’ Lebzeiten mit dem Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 und dem Code civil von 1804 in die Moderne vor, während Russland noch damit beschäftigt ist, mittelalterliche Rechtsvorschriften zu sammeln und zu kodifizieren. In der Theologie wird die Verherrlichung der Vernunft, die nach der Reformation in der Aufklärung so lange gefeiert wurde, bis sich die Religion(en) in ein bisschen Philosophie auflösen sollten, wieder zurückgepfiffen. Aus der geschichtlichen Erzählung von Kirche und Ketzern wurde wieder die Lehre von Gott, seiner Schöpfung und seinem Walten.

Das Buch lädt ein, auf all diesen Wegen und Kreuzungen zu flanieren, mitzunehmen, was interessiert und gefällt – und gelegentlich auch zu überspringen, was im eigenen Fragehorizont keine Rolle spielt.

Christliche Leitfigur

Jeder, der über Haass geschrieben hat, hat »seinen« Haass erfunden. Für seinen Entdecker und ersten Biografen, den Russen Anatoli Koni, war Haass ein strahlender Held der Gefängnisschutzbewegung, der er selber angehörte. Der große Humanist Lew Kopelew machte aus ihm einen großen Humanisten, der seinen Platz innerhalb der russisch-deutschen Partnerschafts- und Versöhnungsgeschichte einnimmt. Die russische Medizingeschichtsschreibung feiert ihn als Reformer auf verschiedenen Gebieten der Diagnostik und therapeutischen Praxis. Im religiösen Schrifttum erscheint er je nach Richtung als konsequenter Praktiker der Liebestheologie des Neuen Testaments oder als Narr in Christo. Auch auf Anregung der russischen Orthodoxie hin betreibt die katholische Kirche ein Seligsprechungsverfahren.

All diese Ansätze tragen ihre Berechtigung in sich und stoßen doch nach außen an Grenzen ihres Geltungsanspruchs. Natürlich entwirft auch dieses Buch einen bestimmten Haass, doch weder ihm noch seiner Lebensgeschichte soll ein bestimmtes Etikett aufgezwungen werden. Vielmehr darf und wird Haass unterschiedlich erscheinen, je nachdem, in welchem geschichtlichen oder fachlichen Zusammenhang wir ihn betrachten. Leichte Dissonanzen zwischen diesen Erzählsträngen erschienen dabei unvermeidbar und eher erkenntnisfördernd als -störend. Ein Heiligenbuch ist nicht beabsichtigt, doch liegt es in der Sache selbst, dass die Biografie auch eine christliche Leitfigur anbietet.

1 An Schiller, 19. Februar 1802.

2 Dostojewski 1963, S. 61f.

Der Freiheitsbaum in Münstereifel

Die Deutschen und die Revolution

Auch Revolutionen brauchen Symbole, die vermitteln, worin der Kern des revolutionären Anliegens besteht. Mit dem Dreiklang »Liberté, Égalité, Fraternité« hatte die Französische Revolution ab 1789 auf rhetorischer Ebene schnell eine Parole gefunden, die eingängig und klar war und sich somit für die Ausbreitung des revolutionären Funkens bestens eignete. Bis heute identifiziert sich die Französische Republik mit diesen Leitbegriffen und stellt sich damit bewusst in die Tradition der Revolution von 1789. Doch Menschen brauchen neben abstrakten Begriffen vor allem Bilder und Zeichen. Die Errichtung von Freiheitsbäumen entsprach ganz dieser Logik. Bereits 1790 soll von den Jakobinern der erste »arbre de la liberté« in Paris errichtet worden sein. Ein schlanker Baumstamm, geschmückt mit Bändern, Schleifen und Tafeln, die das revolutionäre Programm durch Schlagworte unterstrichen, an der Spitze geschmückt mit der roten Jakobinermütze, so wurden die Freiheitsbäume von Revolutionsfreunden umtanzt – und von Revolutionsgegnern wieder umgeworfen.

Abb. 2: Freiheitsbaum mit Jakobinermütze. Aquarell über Feder- und ­Bleistiftzeichnung von J. W. Goethe (1792)

Münstereifel, die Geburts- und Heimatstadt von Friedrich Joseph Haass, wurde von den französischen Truppen, die die linksrheinischen Gebiete besetzten, Anfang Oktober 1794 erreicht. Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz, der gleichzeitig Herzog von Jülich-Berg war, hatte als Landesherr noch im August die Bevölkerung zu unbedingtem Widerstand aufgerufen, doch seine Untertanen folgten ihm nicht. Vertreter aller Ortschaften erklärten vielmehr, bei der Besetzung keinen Widerstand leisten zu wollen, um Brandschatzungen und anderen Exzessen der Besatzer zu entgehen. Von größeren Ausschreitungen der Franzosen weiß die Stadtchronik auch nichts zu berichten. Deren Waffen waren subtiler: Sofort wurden die besetzten Gebiete vom französischen Verwaltungs- und vor allem Steuerwesen erfasst. Noch bevor die französische Herrschaft durch Militärpräsenz gesichert war, wurde dem Blankenheimer Bezirk, zu dem auch Münstereifel gehörte, im März 1794 eine Kontributionssumme von 1,2 Millionen Livres auferlegt. In den Akten der Stadt wird unter dem 12. Mai 1796 vermerkt: »In der Stadtkasse ist kein Geld mehr. Deshalb wird der Kommandant gebeten, von weiteren Requisitionen und Anschaffungen abzusehen.«1

Kurz, der Herrschaftswechsel vollzog sich nicht unproblematisch, aber weitgehend unblutig. Das scheint die politische Atmosphäre in Münstereifel auf Dauer eher profranzösisch eingestimmt zu haben. Immerhin, in Rheinbach (zwischen Münstereifel und Bonn gelegen und Münstereifel als Kanton übergeordnet) – oder nach anderer Überlieferung direkt in Münstereifel2 – errichteten am 15. März 1798 »Volksfreunde« einen Freiheitsbaum, und das zu diesem späten Zeitpunkt, offenbar nicht auf Anweisung der Franzosen. Mit dem Frieden von Campo Formio war nämlich das linksrheinische Gebiet im Oktober 1797 Frankreich zugefallen, und im Januar 1798 waren die vier neuen, linksrheinischen Departements eingerichtet worden. Die Franzosen bedurften also zu diesem Zeitpunkt der Symbolpolitik der Freiheitsbäume nicht mehr, wohl aber die »neufränkische« Bevölkerung, die – sei es aus profranzösischer Gesinnung oder Opportunismus – Kooperationssignale aussandte. In Rheinbach oder Münstereifel hatte die Sache Volksfestcharakter: »Zu dieser Feier ist die ganze Bürgerschaft auf dem Rathaus eingeladen worden, wo sie sich bei Schmaus und Tanz auf Kosten der Stadt bis über Mitternacht vergnügt.«3

In der Nacht fiel der Freiheitsbaum um. Zudem war das Symbol der republikanischen Liberté am nächsten Morgen »mit Menschendreck beschmiert« worden. Ganz klar wird die Sache nicht. Die Annalen der Stadt Münstereifel wissen zwar von einem pfälzischen Soldaten, den man im Namen der Republik wegen seines ungebührlichen Verhaltens habe vom Platz verweisen müssen, der aber schwer angetrunken in der Nacht wieder aufgetaucht sei und berichtet habe, er sei von aristokratisch gesinnten Subjekten zu gegenrevolutionären Taten aufgefordert worden. Doch ob man in ihm im Namen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit den wahren Täter zu zwei Tagen bei Wasser und Brot verurteilt hatte, bleibt doch ungewiss.

Und es sollte ungewiss bleiben, weil das beliebte Narrativ vom aufgerichteten und dann umgehauenen Freiheitsbaum seinerseits symbolisch wirkt. Das Aufrichten changiert zwischen Anweisung der Besatzer, vorauseilendem Gehorsam der Besetzten und vermeintlich aufrechter Revolutionsbegeisterung – und das Umhauen zwischen kollektivem Widerstand, einer mutigen Einzeltat gegen die Besatzer und dem Zufallsgeschehen eines ausufernden Gelages. Schließlich hatte die Freiheitsbaum-Feier die Gemeindekasse »für Wein, Essen, Kaffee, Branntwein 248 Reichstaler und 58 Stüber«4 gekostet.

Diese Vagheit und Mehrdeutigkeit des Narrativs war vor allem in der nachfranzösischen Zeit, nach dem endgültigen Sieg der Koalition über Napoleon und nach dem Wiener Kongress von 1814, Gold wert. Wie in einer Kippfigur konnten profranzösische Sympathien in nationalen Patriotismus umschlagen, mochte der Täter zum Opfer werden, der Nutznießer der Franzosenherrschaft zum prinzipiellen Gegner. – Der Freiheitsbaum war umgefallen. Wer nur hatte das getan?

Die große und die kleine Bühne des Welttheaters

Als politische Tat waren Revolutionen den Deutschen in ihren vielen kleinen Staaten zwar durchaus suspekt, nicht jedoch als gedankliches Spiel, als theoretische Idee.5 Sich im Gedankenspiel einzurichten und sich dort für die bittere Realität schadlos zu halten, war eine den deutschen Intellektuellen durchaus vertraute Strategie. Die Aufklärung hatte ein Denken in zwei Dimensionen gelehrt: Realpolitisch war man beispielsweise Untertan in einem Duodezfürstentum; philosophisch aber war man Teil »der« Menschheit und ihrer neu erfundenen »Geschichte« (im Singular), hatte Anteil an menschheitsgeschichtlichen Entwicklungen, war ein kleines Rad in dem umfassenden Vervollkommnungsprozess, der durch die Vernunft selbst angetrieben wurde.

Das »Theatrum mundi«, das Theater der Welt, wurde gleichsam auf zwei Bühnen parallel gespielt: auf der kleinen Bühne des Alltäglichen und auf der großen der »Weltgeschichte« oder – in der Begrifflichkeit Friedrich Schillers – der »Universalgeschichte«.6 Ganz entscheidend war dabei, dass die Aufklärer im Laufe des 18. Jahrhunderts einen neuen Drehbuchautor für das Geschehen auf der Großbühne ausmachten, und das war nicht mehr Gott, sondern die Vernunft. »Geschichte« war nunmehr das Kontinuum, in dem sich die Vernunft selbst verwirklichte, was heißen sollte, dass die philosophische und theoretische Idee der Vernunft in der Geschichte konkret und praktisch wurde. Die Französische Revolution bedeutete für viele den Triumph der Philosophie in der Praxis.7

Nach diesem Drehbuch zerfiel die »Geschichte« nicht mehr in viele kleine, mehr oder weniger unzusammenhängende Geschichten, sondern bildete die eine große Erzählung. Und die war spannend und dramatisch, denn auf der Bühne stand die ganze Menschheit, die in der Geschichte langsam alle ihre Möglichkeiten entfaltete und umsetzte, um am Ende perfekt, vollkommen (Perfektibilität) zu werden. Was auf der großen Bühne geschah, war also von Belang, von Bedeutung, ja von menschheitsgeschichtlicher Dimension. Das war nicht nur bedeutungsvoll, sondern auch tröstend, denn der Universalgeschichte, so wie sie von den Aufklärern konzipiert worden war, war eine frohe, optimistische Botschaft zu eigen, nämlich die des Fortschritts. In allen Bereichen des Lebens, in der Wissenschaft, der Technik, der Ökonomie und der Politik, konnte man darauf vertrauen, dass die Logik der Geschichte in naher, mittlerer oder ferner Zukunft eine höhere Entwicklungsstufe hervorbringen würde, in der dann auch alle Probleme auf der kleinen Alltagsbühne gelöst sein würden. In exakt diesem Fortschrittsglauben bauen wir heute noch Atommeiler, obwohl wir weder die Abfalltechnik noch die Entsorgung beherrschen.

Diese neue Dimension der Weltgeschichte erzeugte also einen Raum, in dem politische Ereignisse wie Kriege oder Revolutionen, die man früher als unvermeidbare Schicksalsschläge auf der kleinen Bühne verortet hätte, plötzlich eine enorme, ja geradezu aufgeblähte Bedeutung auf der großen Bühne bekamen. Sie wurden jetzt gelesen als Teil des größten denkbaren Zusammenhangs, nämlich der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Man muss sich deutlich vor Augen führen, dass die Verlagerung von geschichtlichen Ereignissen wie der Amerikanischen oder der Französischen Revolution von der kleinen Alltagsbühne auf die große Menschheitsbühne diese Ereignisse überhaupt erst monumentalisierte: Was auf der kleinen Bühne der Streit zwischen politischen und finanziellen Einzel- und Gruppeninteressen in Frankreich war, der zudem noch mit äußerst schmutzigen Mitteln ausgetragen wurde, nahm sich auf der großen Bühne plötzlich als »Revolution« aus, in der nicht mehr Gruppen miteinander zankten, sondern die Menschheit zu Idealen wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aufbrach. In dieser medialen Wandlung erschienen die Amerikanische ebenso wie (zumindest bis zum Terror) die Französische Revolution als etwas Begrüßenswertes, Zukunftsträchtiges, dem man auch in Deutschland seine Sympathien nicht verweigern mochte.8

Natürlich konnte die zukunftsoptimistische Botschaft auf der großen Bühne mit der Misere auf der kleinen des Alltags versöhnen, natürlich hatte das Gedankenspiel auf der großen Bühne insofern eine entlastende und auch kompensatorische Funktion. Wie jedes auf Wirkung abzielende Drama bedurften auch die Stücke auf der großen Bühne eines möglichst klaren Identifikationspotenzials, und daran mangelte es bereits dem Amerikanischen Unabhängigkeitskampf von 1775 bis 1783 wahrlich nicht. Zwei Strategien der berichtenden Texte fallen in diesem Zusammenhang auf: Erstens musste die Handlung in den Rang der »Welthistorie« erhoben werden; zweitens sollten die Helden des Dramas ihr bloßes Menschsein überschreiten, sollten als Repräsentanten eines größeren Prinzips erkennbar und verehrungsfähig sein. Es ging um eine neue Form des Nation Buildings ohne »gottgewolltes« Königtum, ohne einen Herrscher »von Gottes Gnaden«. Auf der Bühne entstand nichts weniger als die »Utopie freier Weltbürger«.9 Deren Lichtgestalt und Anführer, Benjamin Franklin, wurde mythologisiert, wurde zum »Prometheus der neueren Zeiten« wie zum wahren Volkstribun verklärt.10

Abb. 3: Hugo Vogel – Prometheus bringt den Menschen das Feuer, 1910

Die Prometheus-Metapher findet sich bereits 1756 bei Kant wegen der Erfindung des Blitzableiters;11 doch Franklin-Prometheus ist mehr, eben auch der trutzende junge Mann, der den alten Autoritäten die Anerkennung verweigert, der die Blitze des Zeus als Strafe nicht fürchtet, der die kulturstiftende Kraft des Feuers den Göttern stiehlt und den Menschen schenkt, um so eine ganz neue Ära der Menschheitsgeschichte einzuleiten. Auch Benjamin Franklin konnte man schließlich als Menschenbildner in Szene setzen, dabei Goethes Prometheus-Hymnos folgend:

Hier sitz’ ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sey, […]

Nicht, indem er Lehm in die Hand nimmt und ihm Leben einhaucht, sondern als Lehrer wird Franklin zum Menschenbildner. So redet ihn Herder an: »[…] er, der Menschheit Lehrer, einer großen Menschengesellschaft Ordner sei unser Vorbild«.12 Als Volkstribun lehrt dieser Lehrer den Ausgang des Menschen aus dem politischen Joch der Tyrannis, der den jungen Schiller immer wieder bewegt hat. Noch im Wilhelm Tell verbindet dieser sein Motto der frühen Jahre – »in Tirannos« (Titelblatt der Räuber 1782) – mit der Figur dessen, der aus dem Himmel nicht das Feuer, sondern die unveräußerlichen Menschenrechte holt, wie sie 1789 auch in der Bill of Rights kodifiziert wurden, um die Kultur der Menschheit zu befördern:

Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht,

Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,

Wenn unerträglich wird die Last – greift er

Hinauf getrosten Mutes in den Himmel,

Und holt herunter seine ew’gen Rechte,

Die droben hangen unveräusserlich

Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst –

Bei alldem ist zu bedenken, dass die Amerikanische Revolution – anders als die Französische – für das deutschsprachige Publikum ein reines Medienereignis war. Es gab keine Besatzung, keine durchziehenden Truppen und keine Schlachten, die das Leben auf der kleinen Alltagsbühne betroffen hätten. Umso mehr eignete sich dieses mediale Lesedrama für Projektionen sowie für die Kompensation eigener Unfreiheit. Goethe sah diesen Zusammenhang im Alter ganz klar: »Amerika war damals, vielleicht noch mehr als jetzt, das Eldorado derjenigen, die in ihrer augenblicklichen Lage sich bedrängt fanden.«13

Zunächst galt diese mediale Distanz auch für die Französische Revolution. In der europäischen Wahrnehmung stellte sie sich nämlich bis 1791 als innere Angelegenheit der Franzosen dar. Man konnte mit der Abschaffung von Adelsprivilegien und anderen Maßnahmen sympathisieren oder nicht; konkrete Auswirkungen auf das eigene Leben erwartete man zunächst kaum. Selbst die profiliertesten Gegner der Revolution, Gustav III. in Schweden und Katharina II. in Russland, sahen in dieser Zeit keinen Anlass für ein außenpolitisches, sprich militärisches Eingreifen.

Natürlich waren die französischen Emigranten unter Führung des Comte d’Artois, eines Bruders Ludwigs XVI., bereits zu dieser Zeit aktiv und suchten den Zusammenschluss mit den europäischen Gegnern der Revolution. Im August 1791 wurde das in einem politischen Bündnis auch bekräftigt, das als Pillnitzer Erklärung auch vom preußischen König Friedrich Wilhelm II. und dem römisch-deutschen Kaiser Leopold II. unterzeichnet wurde. Der Schutz des französischen Königtums sowie der Person Ludwigs XVI. wurde als europäisches Anliegen betrachtet, das notfalls auch militärisch durchzusetzen sei, doch Ludwig XVI. selbst sorgte zunächst dafür, dass eine Militärintervention unterblieb. Unter Druck »akzeptierte« er am 3. September 1791 die neue Verfassung der von Vertretern des Dritten Standes eingerichteten Nationalversammlung, durch die Frankreich zur konstitutionellen Monarchie wurde. Der König galt nun nicht mehr als von Gott eingesetzt, wohl aber als erster Repräsentant des Volkes, was seine Unantastbarkeit und Unversehrtheit zu garantieren schien.

Doch bereits im Oktober 1791 gewannen die Girondisten prägenden Einfluss auf die Gesetzgebende Nationalversammlung, die sich vom antirevolutionären Bündnis Österreichs und Preußens machtpolitisch provoziert fühlte. Ein halbes Jahr später, im April 1792, erfolgte die Kriegserklärung Frankreichs an Österreich, mit der Eroberungsfeldzüge Frankreichs gen Osten eingeleitet wurden, die letztlich erst 1815 ein Ende fanden.

In der internationalen Wahrnehmung veränderte sich das Gesicht der Revolution seit dem Sturm auf die Tuilerien, den städtischen Wohnsitz des Königs, am 10. August 1792. Vom Hunger gequält wie auch von der Angst, die auf französischem Boden stehenden österreichischen Heere könnten der Revolution schnell den Garaus machen, radikalisierte sich die verarmte Pariser Bevölkerung unter dem Einfluss gewaltbereiter Jakobiner. Ihre Unzufriedenheit entlud sich 1792 in den Septembermorden an inhaftierten Revolutionsgegnern und dem gegenrevolutionären Klerus. Die nun einsetzende Phase des Terrors gipfelte in der Hinrichtung Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793 und der Schreckensherrschaft Robespierres 1793/94.

In der heutigen Geschichtsschreibung gilt der Sturz der Jakobiner und die Machtübernahme durch die gemäßigten Girondisten, die 1795 das Direktorium als neues Machtzentrum etablierten und durch eine neue Verfassung absicherten, als Beginn einer gemäßigten, unblutigeren Phase der Französischen Revolution. Doch für die Zeitgenossen im europäischen Ausland, vor allem für die absolutistischen Herrscher selbst, blieb das weitgehend bedeutungslos. Sie waren durch die Jahre des Terrors traumatisiert und sannen – wie im Falle Russlands – auf Maßnahmen, den französischen Bazillus außer Landes zu halten: In seiner nur fünfjährigen Regierungszeit als Zar von 1796 bis 1801 kassierte Paul I. alle Lizenzen für Druckereien in Privatbesitz und brachte den Buchdruck so wieder ganz unter staatliche Kontrolle; ausländische Bücher durften nicht importiert werden; russische Studenten wurden aus dem Ausland zurückgeholt, die Zensur wurde verschärft und die Grenze für Europäer weitgehend geschlossen. Nicht weniger konsequent hatte seine Mutter, Katharina II., prorevolutionäre Einflüsse vom Lande ferngehalten, obgleich sie sich ansonsten gern als aufgeklärte Herrscherin inszenierte, die mit Diderot in persönlichem Kontakt und mit Voltaire im Briefwechsel stand. Doch Macht- und Interessenpolitik waren der Kaiserin viel wichtiger als das Dekor schöngeistiger Aufklärung, von dem man nicht weiß, inwiefern es ihr handlungsrelevantes Denken je prägte. Auch Katharina las die bürgerlich geprägte europäische Presse, die Frankreichs Weg zur konstitutionellen Monarchie in den ersten Revolutionsjahren durchaus begrüßte. Daneben standen ihr als Herrscherin natürlich die diplomatischen Berichte aus Paris zur Verfügung. Ferner erwies sich ein geheimdienstliches Mittel als äußerst ergebnisfördernd, das sie konsequent anwandte, die Perlustration. Gemeint war damit die dauernde und systematische Öffnung von Korrespondenzen, die zwischen Diplomaten am Petersburger Hof und ihren Heimatländern verschickt wurden.

Doch ihre revolutionsfeindliche Grundhaltung erwuchs nicht aus diesen Quellen, sondern aus ihrem ureigenen Denken. Schon die Amerikanische Revolution bereitete ihr tiefes Unbehagen. König Georg III. hielt sie für einen Schwächling, weil er der Unabhängigkeit letztlich zugestimmt hatte. Für den strahlenden Volkstribun Benjamin Franklin hielt sie nur ein lakonisches »Ich mag ihn nicht« bereit.14

Auch gegenüber der rhetorischen Verführungsmacht der Französischen Revolution zeigte sie sich immun: »Gleichheit ist ein Monster, das selbst König sein will.«15 Den Sturm auf die Bastille kreidete sie der Schwäche des Königs an. Ein Zauderer und politischer Ignorant war Ludwig XVI. in ihren Augen. »Warum ist der König?«,16 lautete ihr lakonischer Kommentar. Katharinas Pessimismus über den weiteren Verlauf der Sache und das Schicksal des französischen Herrschers war ausgeprägt. Bereits zweieinhalb Jahre vor der Hinrichtung Ludwigs XVI. stellte sie fest: »Freilich! Sie [die Franzosen] sind in der Lage, ihren König an die Laterne zu hängen. Das ist ja furchtbar.«17

Als Haass 1806 nach Moskau kam, stand Russland bereits im sechsten Jahr mit dem revolutionären, dann napoleonischen Frankreich im Krieg. Trotz aller Bewunderung für Napoleon trat Zar Alexander II. 1805 der dritten Koalition zwischen Österreich, Großbritannien und Schweden gegen die Franzosen bei.

Zettel und Einschlag: Das Generationengewebe der Familien

Haass’ Geburt am 10. August 1780 in Münstereifel (man nimmt wenigstens an, dass sein Taufdatum auch sein Geburtstag war18) stand ganz unter dem Stern, der auf der weltgeschichtlichen Bühne zu leuchten begann. In Amerika schritt die verfassungsmäßige Anerkennung der Menschenrechte voran: Massachusetts verabschiedete 1780 einen Verfassungspassus, der als Verbot der Sklaverei verstanden wurde; im selben Jahr beschloss Pennsylvania die stufenweise Abschaffung der Sklaverei. Seit seinem neuntem Lebensjahr wird Haass mit Nachrichten aus dem nahen Paris aufgewachsen sein, wo die Flamme der Revolution loderte. Auf den Tag genau an seinem zwölften Geburtstag, am 10. August 1792, erfolgte der Sturm der Sansculotten auf die Tuilerien; mit der Verhaftung des Königs war die französische Monarchie beendet. In Haass’ vierzehntem Lebensjahr wurde Münstereifel – wie das ganze linksrheinische Gebiet – von französischen Truppen besetzt. Die Sprache, die Schule, später die Universität, die öffentliche Verwaltung und vieles, vieles mehr änderten sich, denn Frankreich wollte die linksrheinischen Gebiete nicht einfach besetzen, sondern nostrifizieren, zu einem Teil der Französischen Republik machen. Lebensgefühl, Sitten und Identität sollten sich ändern. – Haass’ Geburtsort in der Eifel mag an sich nichts besonders Aufregendes anhaften, die Zeitumstände jedoch ließen ihn in einem Brennpunkt der europäischen Geschichte aufwachsen.

Mit den Truppen im Alltag erreichte das linksrheinische Gebiet auch die große Erzählung darüber, was die Besatzung in menschheitsgeschichtlicher Dimension bedeuten solle. Gerechte Steuern und Abgaben, Abschaffung der Privilegien, Freiheit, Volkssouveränität und anderes wurden in Aussicht gestellt, aber der Preis dafür war auch klar definiert: Man musste sich den neuen Idealen der französischen Politik unbedingt verschreiben, wenn man nicht zum Feind, der zu seinem eigenen Glück erst ganz unterworfen werden muss, mutieren wollte. Die linksrheinischen Gebiete wurden zum Schaukasten der zukünftigen französischen Expansionspolitik, in dem man lernen konnte, was die »Befreiung« den Befreiten abforderte und wie sich die nostrifizierende Umerziehung zu Franzosen vollziehen konnte.

Die Sprache in Verwaltung, Schule und öffentlichem Leben zu ändern erschien noch relativ leicht, zumal die Franzosen hier eher auf die lange Dauer setzten als auf sofortigen großen Druck. Französische Institutionen – Verwaltung, Schulen, Universitäten, Polizei, Gerichte und anderes mehr – waren in der Wahrnehmung der Besatzer den alten deutschen Einrichtungen weit überlegen, weil viel moderner, sollten also eher als kulturbringendes Geschenk angenommen denn bekämpft werden.

Doch was bestimmte die Identität des Bürgers, der nunmehr Franzose werden sollte? Was definierte den Menschen, bevor der Individualismus im 20. Jahrhundert seine Kathedralen errichtete und ihn damit letztlich seiner Identität beraubte? Mehr als alles andere waren es im 18. und 19. Jahrhundert die Gemeinschaften, denen man zugehörte, die den Einzelnen einschlossen und ihm so sagten, wer er sei, wer er sein solle und sein könne. Das waren vor allem die Familie, die Glaubensgemeinschaft, die soziale Schicht, die Gruppe der ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit, schließlich die der staatlich-politischen Identität.

Zwei Faktoren ragen hier heraus: das eigensprachliche Kultursystem und die Tradition der eigenen Familie. Die deutschsprachige Literatur und Kultur waren schon lange die Identifikationsgrundlage einer virtuellen »Kulturnation«, bevor die Kleinstaaterei wenigstens in einer kleindeutschen Variante der nationalen Einheit beendet wurde. Das kulturelle kollektive Gedächtnis wurzelt tief, und es konnte in der gesamten französischen Besatzungszeit im Linksrheinischen nie ausgelöscht oder überschrieben werden.

Daneben definierte den Menschen in der Regel kein anderes System so umfassend und nachhaltig wie die Familie. In ihr waren gleichsam alle anderen Gemeinschaften präsent; sie vermittelte auch den Glauben, auch die soziale Lebenswelt und die Selbstwahrnehmung, auch das regionale und politische Zugehörigkeitsgefühl. Nichts war so zentral wie die familiäre Identität, und nichts wurde mit so viel Sorgfalt und Einsatz über Generationen hinweg gepflegt wie die Entfaltung dieser Identität in der Familiengeschichte.

Ein Bild mag helfen: Für jedes Familienmitglied spanne man einen Faden von oben nach unten in einen Webrahmen ein und führe dies für einige Generationen fort. Aus diesen parallel gespannten Lebensfäden, in der Sprache der Weber Zettel genannt, entsteht erst dann ein Gewebe und ein Muster, wenn Fäden quer durchgeschossen werden, also durch den sogenannten Einschlag. Erst der Einschlag bringt Vernetzung, Farbe, auch unterschiedliche Struktur. Als Einschlagsfäden dieser Art durchkreuzen und verbinden ganz unterschiedliche Elemente die familiären Lebensfäden, zum Beispiel Religion und Kirche, ländlicher oder städtischer Lebensraum, Peripherie oder Zentrum der kulturellen Einheit, die Wirtschaftsstruktur, die Verwaltungsstruktur, das Bildungs- und Ausbildungssystem der Lebenssphäre, ihr Arbeitsmarkt und vieles mehr.

All diese Elemente färben auch den einzelnen Lebensfaden und erzeugen individuelle Identität, doch auf dem Webstuhl entsteht das Muster der Familiengeschichte, einer übergeordneten, korporativen Identität, die durch das bestimmt wird, was die Lebensfäden verbindet.

In unserer hochindividualistischen Gegenwart sind wir jedoch ganz und gar auf die individuelle Identität fixiert. Wir fragen heute nicht mehr, was das Individuum mit anderen gemein hat, sondern was es von anderen unterscheidet.

Für die frühe Lebensphase des 1780 geborenen Friedrich Joseph Haass wäre die moderne Denkweise noch ganz unpassend. Man fing gerade erst an, den Kult um das moderne Ich, die Feier der Einzigartigkeit eines jeden zu entwickeln; gesamtgesellschaftlich definierte man sich aber über den Verbund, dem man angehörte.

Wenn man also verstehen will, wer der junge Friedrich Joseph war, sollte man sich mit vielen anderen Personen beschäftigen, bevor man sich seiner individuellen Lebensgeschichte zuwendet. Das wenige, was wir über seine Kindheit und Jugend wissen, wird erst als Teil der Familiengeschichte, im Ensemble der letzten Generationen in der mütterlichen wie väterlichen Linie sowie im Vergleich zu seinen Geschwistern sprechend.

Für all diese Familienmitglieder galt, was in Thomas Manns Roman Konsul Jean Buddenbrook an seine Tochter Antonie schrieb:

Wir sind, meine liebe Tochter, nicht dafür geboren, was wir mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette, und wir wären, so wie wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangingen und uns die Wege wiesen, indem sie ihrerseits mit Strenge und ohne nach Rechts oder Links zu blicken, einer erprobten und ehrwürdigen Überlieferung folgten.19

Innerhalb der Romanhandlung der Buddenbrooks spielt diese Szene 1846, doch das Gesagte galt eins zu eins bereits für die Jugendjahre des Friedrich Joseph Haass ein halbes Jahrhundert zuvor. Sobald wichtige Lebensentscheidungen anstehen, so lehrten die Väter, solle sich der junge Mensch auf das besinnen, was ihn einschließt, was ihm Sicherheit gibt und Orientierung gewährt – kurz: auf die Familie. Nicht im Hier und Jetzt seien Struktur, Ordnung, Halt und Orientierung zu finden, sondern in der Familientradition, gebildet aus »Glieder[n] in einer Kette«, die Vergangenheit und Gegenwart mit der Zukunft verbinden. Den eigenen Platz im Leben schrieb man nicht sich selbst und seinen Verdiensten zu (à la »Jeder ist seines Glückes Schmied«), sondern den Altvorderen der eigenen Familie, die Geld, Ansehen, Bildungsstand, Privilegien und Einfluss stetig erobert hatten. Dieses Kapital musste man wahren und mehren und ungeschmälert, nach Möglichkeit aber vermehrt, an die nächste Generation weitergeben. Das Gefühl des Einschlusses in einen größeren Verbund, des Aufgehobenseins in der Familientradition musste hellwach sein, wenn Weichenstellungen im Leben anstanden. Solche waren für die Jungen beziehungsweise ihre Eltern die Wahl von Ausbildungsort und Ausbildungsrichtung sowie später die Berufswahl und für die Mädchen die Heirat, durch die Geld, Ansehen, Bildungsstand, Privilegien und Einfluss bewahrt oder vermehrt werden konnten.

Goethe war schuld: Moderner Individualismus

Aus den eindringlich mahnenden Worten des Konsuls wird aber auch deutlich, worin die Gefahr für dieses System, Ansehen und Einfluss einer Familie über Generationen hinweg zu wahren und zu mehren, bestand. Gefährlich war die Konzentration auf »unser eigenes, kleines, persönliches Glück«. Wer diesem Ideal nachlief, erachtete die Wünsche des Einzelnen und die Rechte des Individuums für wichtiger als die Ansprüche der Familie. Die Väter wussten genau, seit wann dieser gefährliche Gedankenbazillus in Umlauf war, und auch, wer ihn in die Welt gesetzt hatte: Goethe!

In der europäischen Mentalitätsgeschichte zeichnet sich in allen Bereichen des Lebens im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, in dem Haass 1780 geboren wurde, ein Umbruch ab. Vieles, was über Jahrhunderte unhinterfragte Tradition gewesen war, musste in dieser Phase neuen, modernen Konzepten weichen, die uns heute noch vertraut und eigen sind. Auf die grundlegenden Fragen »Wer bin ich?« und »Was soll ich sein?« entstanden neue Antworten. Um solche zu finden, schaute man nicht mehr in die Struktur und die Geschichte der eigenen Familie, sondern in sein eigenes Selbst. Im eigenen Ich, in dem, was man nun die eigene Individualität nannte, fand man Dinge, die ganz neue Antworten ermöglichten: »Ich bin die Summe meiner besonderen Stärken, Fähigkeiten und Talente, die alle in mir vorhanden sind und entwickelt werden wollen.« – »Meine individuellen Anlagen machen meine Persönlichkeit aus und stellen meinen Besitz dar.« – »Meine individuellen Anlagen zu entwickeln ist mein Recht.« Ganz im Sinne dieses modernen Individualismus heißt es auch heute in Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes: »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit […]«. Plakativ gesagt, in vormodernen Zeiten fragte man: »Was soll ich sein?«, in modernen: »Was kann ich sein?«, »Was darf ich sein?« oder noch prägnanter »Was will ich sein?«.

Wer so dachte, musste unweigerlich in Konflikt mit den Vätern geraten, und tatsächlich erzählt die deutsche Literatur aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ständig von diesem Konflikt der Väter mit den Söhnen. Die nämlich strebten nach Selbstverwirklichung, verlangten das Recht, sich nicht mehr von der Familie fremdbestimmen zu lassen, und feierten den Kult ihrer eigenen Individualität. Die Väter hatten bald ein Schimpfwort für diese Aufsässigen, die völlig aus der sozialen Spur liefen: Man nannte sie die »Herren Genies«, weil die abweichenden Lebensentwürfe oft eine Berufung zum Künstlertum beinhalteten.

Plötzlich erzählte die Literatur überall von diesem Generationenkonflikt, der eigentlich den Umbruch zwischen zwei verschiedenen Denkstilen oder Mentalitäten repräsentiert. Die Väter planen für ihre Nachfahren das Nützliche, so etwa die Ausbildung zum Arzt oder Juristen; die Söhne frönen ihrer musikalischen oder theatralischen Sendung – und fliehen von zu Hause. Ab 1770 fangen die Helden der deutschen Romane an, von zu Hause wegzulaufen oder auf Reisen zu gehen, um ihrer »eigenen Bestimmung« zu folgen. Das gilt für Goethes Werther – sein erster Brief beginnt mit dem Satz »Wie froh bin ich, daß ich weg bin« –, das gilt für Goethes Wilhelm Meister, für Wilhelm Heinses Ardinghello, aber auch für die Helden der frühen Romantik wie Wackenroders Tonkünstler Joseph Berglinger und viele mehr.

Die Protagonisten dieser Romane sind alle jung; sie entdecken und definieren eine neue Lebensphase, nämlich die Jugend. Man schaue sich Familienporträts aus dem Jahre 1700 an und vergleiche sie mit solchen aus dem Jahre 1800. Der Dresscode auf den alten Bildern kennt nur zwei Gruppen, nämlich Kinder und Erwachsene, wobei die Kinder für uns Heutige wie verkleidete Erwachsene aussehen. Die Wahrnehmung um 1800 unterschied schon drei Gruppen: Kinder, Jugendliche und Erwachsene und setzte ganz vorsichtig erste Jugendmoden ins Bild. Eine solche hatte der Stammvater der »Genies« eingeführt, nämlich Goethes Werther, der »im blauen Frak mit gelber Weste«20 herumlief. In ganz Europa eilten die jungen Leser damals zum Schneider, um sich die Werther-Montur anfertigen zu lassen. Jugend war plötzlich ein angesagter Habitus: Wenigstens in einer begrenzten Lebensphase bis zum Eintritt in das Berufsleben wollte man sich nicht mehr von außen durch andere definieren lassen, sondern selbst aus der eigenen Individualität heraus bestimmen. Wie Werthers Beispiel verdeutlichte, gehörte es zur Jugendphase, alle Fremdzuweisungen, alle Hilfen und alle Belehrungen, mit denen Eltern, Verwandte, Lehrer und Pfarrer hilfreich aufwarteten, strikt zurückzuweisen. Man wollte sich auch nicht über die eigene Nützlichkeit durch den geschulten Gebrauch von Vernunft und Verstand definiert sehen, sondern durch Talente, Leidenschaften und Gefühl. Werthers eingängige Formel dazu lautet: »Ach was ich weis, kann jeder wissen. – Mein Herz hab ich allein.« Auch die Grundformel des Generationenkonflikts zwischen Alten und Modernen lässt sich aus dem Werther herleiten, die Opposition zwischen der alten Generation des Sollens und der jungen des Wollens. In schroffer Provokation der Nützlichkeitspädagogik seiner Zeit bekennt Werther: »Auch halt ich mein Herzgen wie ein krankes Kind, all sein Wille wird ihm gestattet.«

Das mochten die Väter so nicht hinnehmen und schlugen gegen die »Genies« zurück. Auf dem Höhepunkt des Streites formulierte ein Nützlichkeitspädagoge, der den Menschen zur gesellschaftlichen Gemeinnützlichkeit anstatt zur egoistischen Eigennützlichkeit erzogen sehen wollte, den Schlachtruf: »Kastriert die Genies!«.21 Die Erziehung zum Gemeinnutz erfordere es, das stärkste Talent eines Menschen zu brechen und zu unterdrücken, damit sich alle anderen maßvoll und in Harmonie entwickeln könnten.

Das mutet an wie eine Erzählung aus längst vergangener Zeit – und doch ist sie höchst aktuell. Wer heute als junger Mensch die Wahl eines geisteswissenschaftlichen Studiums gegenüber skeptischen Familienmitgliedern rechtfertigen will, wird auf Argumente aus Werthers Repertoire zurückgreifen: »Das Studium ist, was mir entspricht, meinen Talenten, Anlagen und Wünschen«, »Diese Sache ist einfach mein Ding« (früher sagte man: mea res agitur) oder »Ich will mich so selbst entdecken und selbst entfalten«.

Doch in unserem Zusammenhang ist die gegenwärtige Aktualität des modernen Jugendbegriffs nicht entscheidend; uns interessiert vielmehr seine Geltung Ende des 18. Jahrhunderts, als Haass geboren wurde und aufwuchs. Für die Art und Weise, wie er die Lebensentscheidungen über Bildung und Beruf traf oder wie die Eltern diese für ihn trafen, haben wir keine direkten Zeugnisse in Form von Tagebüchern, Briefen oder autobiografischen Texten. Wir müssen Fakten zum Sprechen bringen, die für sich allein stumm blieben. Wenn wir uns also die Fakten über Schulbesuch und Universitätsausbildung bei Haass, bei seinen Geschwistern und in seiner Familie ansehen, müssen wir diese Entscheidungen vor dem Hintergrund verstehen, dass seinerzeit zwei völlig konträre Denkstile, Lebensauffassungen und Mentalitäten miteinander kämpften, die jede Entscheidung auch als Bekenntnis in die eine oder andere Richtung lesbar machen. – In diesem Spannungsfeld werden wir Haass’ Entscheidung für den russischen Arbeitsmarkt lesen müssen.

Bindung und Eigensinn: Verwurzelte und entwurzelte Familientradition

Der Großvater mütterlicherseits, Franziskus Brewer,22 bekleidete seit 1767 das Amt des Amts- und Gerichtsschreibers in Münstereifel. Seine gehobene Position verlangte die Erledigung vielfältiger Aufgaben, so im Gerichtswesen, bei der Steuereintreibung und im Strafvollzug. Auch bei der amtlichen Untersuchung von Leichen war er zugegen.

Heute würden wir sagen, dass die Mutter in einer bildungsnahen häuslichen Atmosphäre aufwuchs, in der man sich für das öffentliche Leben der Stadt interessierte und sogar – damals keineswegs selbstverständlich – eine Zeitung hielt.

Die Chancen seiner drei Söhne, den Stand, das Ansehen und den Einfluss des Vaters zu erneuern oder auszubauen, sicherte der Gerichtsschreiber durch Bildung. Alle bezogen die Kölner Universität und etablierten sich in akademischen Berufen: Der Erstgeborene übernahm das Amt des Gerichtsschreibers, der Zweitgeborene wurde Jurist und der Drittgeborene bekleidete in Köln das Amt des Presbyters und Kanonikers. All das spielt sich in einem kulturellen Raum ab, der durch seine über tausendjährige römisch-katholische Tradition geprägt war, dem Erzbistum Köln. Die Werdegänge (nicht nur) der Vorfahren in der mütterlichen Linie des Friedrich Joseph Haass machen augenfällig, wie diese kleine kulturelle Formation funktionierte. Geistliches wie geistiges Zentrum war die Stadt Köln als Sitz des Erzbischofs und der Universität. Wer Karriere machen, wer an politischer Macht teilhaben, wer sich lokal in den oberen Schichten etablieren wollte, strebte aus der Peripherie (Münstereifel) in das Zentrum (Köln), wo die sogenannten Funktionseliten, Führungspersönlichkeiten in unterschiedlichen Funktionen und Bereichen, ausgebildet wurden. Dann entließ das Zentrum die Funktionseliten wieder in die Peripherie und sorgte so dafür, dass der gesamte Raum mit seinen Werten, Idealen und Normen gleichsam durchtränkt und mit ihm vernetzt wurde. So entsteht kulturelle Identität, deren wesentliches Bindemittel im Erzbistum Köln der katholische Glaube war, in dem nach allen Zeugnissen, die wir haben, auch die Familie Haass tief wurzelte.

In diesem kulturellen System bildeten also die männlichen Mitglieder der Familie ganz vorbildlich die »Glieder in einer Kette« und schrieben die Geschichte der eigenen Familie, die jedem Mitglied Identität und Würde verlieh, weiter fort. Doch was konnte Haass’ Mutter, die 1750 geborene Catharina Josepha Sophia Brewer, für ihre Familie tun?

Abb. 4: Haass’ Mutter

Von universitärer Bildung in ihrer Zeit noch ausgeschlossen, oblag es weiblichen Nachkommen, vernünftig, geschickt und gewinnbringend zu heiraten. Unsere moderne Idee einer Liebesheirat lag der damaligen Zeit noch weitgehend fern. Als Catharina 24 Jahre alt war, erschien 1774 Goethes Werther, der eben auch zeigte, wohin einen das irrlichternde Gefühl der Liebe lenken konnte, nämlich in die Katas­trophe, in den Selbstmord und damit in die Todsünde. Zudem war es der damaligen Zeit noch völlig fremd, einen Lebensbund auf etwas so Flüchtiges wie Gefühle aufzubauen, was doch auf die Dauer eine solche »Liebe« hoffnungslos überfordern musste. Auch war es nicht Sache des oder der Einzelnen, einen Ehebund auszuhandeln, sondern die der Familien, deren ökonomische, soziale und sonstige Interessen zueinander passen mussten.

Auch Catharina wusste, was sie zu tun hatte. Sie heiratete in die einflussreiche Münstereifeler Apothekerfamilie Zaaren ein. Diese pflegte enge Beziehungen zum Kern des bürgerlichen Establishments in Münstereifel, das in einem Ratsprotokoll von 1760 als der Kreis der »zwölf Meistbeerbten«23 bezeichnet wird. Gegenüber diesem geburtsständischen Patriziat gehörte auch die so erfolgreiche Familie Brewer zu den Neuen, den Aufsteigern, die sich umso mehr um die Nähe zu den Alten, zum Kern, bemühten.

Doch der Apotheker Zaaren starb bereits früh und hinterließ 1773 eine dreiundzwanzigjährige Witwe, die nun die Apotheke erbte. Allein, der Apothekerhaushalt konnte und sollte nicht ohne männliches Oberhaupt bleiben, und so heiratete Catharina noch im November desselben Jahres den Kölner Apotheker Peter Haass. Dessen persönliche Qualifikation sowie seine familiäre Tradition entsprachen passgenau den Bedürfnissen der Familie Brewer-Zaaren.

In der Familie des Vaters dominierten Theologen und Mediziner. Der Großvater Friedrich Josephs hatte es vom Barbier zum Chirurgen gebracht; sein Bruder praktizierte ebenfalls als Arzt in Köln. Seinen sozialen Aufstieg sicherte der Großvater für die Zukunft, indem er dreien seiner Söhne ein Studium ermöglichte. Ein Altvorderer, der Priester Adolf Mengwasser aus Neuss, Kanonikus zu St. Andreas und St. Maria in Köln, hatte für seine männlichen Nachfahren 1591 eine Stiftung eingerichtet, die ihre Ausbildung fördern sollte.24 Gefördert wurden der fünfjährige Besuch des Kölner Gymnasiums Montanum und dann weitere vier Jahre für das Studium der Theologie, Jurisprudenz oder Medizin an der Universität Köln. Eine direkte Verwandtschaftsbeziehung zum Stifter war unabdingbar; 1804 fungierte der Apotheker Peter Haass aus Münstereifel, 1884 der Apotheker Eberhard Haass aus Viersen als vorschlagsberechtigter Repräsentant der Stiftung.

An der Universität waren die Familienmitglieder teils als »nobiles« eingeschrieben. Das konnte nicht im Wortsinn gemeint sein, denn von Geburtsadel war die Familie nicht. Ein zweites Kriterium für diese Einstufung war jedoch seit dem Mittelalter das Vorhandensein finanzieller Privilegien, einer sogenannten Pfründe, die die Ausbildungskosten sicherte.25 In der Verstetigung von Bildung, in der Weitergabe von Bildungskapital von Generation zu Generation, lag damals (wie zum Teil noch heute) die erfolgreichste Strategie der Funktionseliten, ihren eigenen Sozialstatus zu »vererben«, zu reproduzieren. Im wahrsten Sinne des Wortes »stiftet« man so Familientradition, eine Familienerzählung, die vom stolzen Bewusstsein eines Langzeitzusammenhangs getragen wird.

Der zweit- und der drittgeborene Sohn des Chirurgen wurden nach dem Besuch des Montanums ebenfalls Kanoniker; doch der erstgeborene Peter (1740–1814), der Vater von Friedrich Joseph, erlernte den Beruf des Apothekers. Der jüngste, viertgeborene Sohn Friedrich Joseph Florentin Haass, der später zwei seiner Vornamen an sein Patenkind weitergab, stieg zum Professor der Medizin in der Fachrichtung Geburtshilfe auf.

Diesem Patenonkel stand Friedrich Joseph später nahe. Man wechselte Briefe, und dem Oheim legte er 1806 die Gründe für seine Entscheidung dar, nach Russland zu gehen. »Theilen Sie meinen Eltern diese Nachricht mit«, setzte er knapp hinzu,26 nachdem er seiner besonderen emotionalen Bindung an den Onkel intensiv Ausdruck verliehen hatte. Von ihm fühlte sich Friedrich Joseph verstanden, seiner Geistesart meinte er nahezustehen. Was ihn angezogen haben mag, brachte Jakob Haaß, der Sohn des Kölner Medizinprofessors, in einer Charakterisierung seines Vaters trefflich zum Ausdruck:

Er hatte uns Kinder zur Gottesfurcht erzogen, weil er selbst ein gottesfürchtiger Mann war. Er war tief religiös, aber kein Kirchenbesucher in übertriebener Form, obgleich er seine religiösen Pflichten pünktlich beobachtete. Er war der Arzt mancher Klöster, aber die meisten frommen Leute hatten ihn nicht als Arzt; sie hielten ihn, glaube ich, für einen so genannten aufgeklärten Mann; er konnte seinen Freimuth nicht immer vielleicht in ein schlaues Schweigen zurückdrängen, und so mag er von dieser Klasse verkannt worden sein. Er war nichts weniger als ein Anhänger der Encyklopädisten-Schule, obgleich er mit geistreichen Leuten, die man Freigeister nannte, im wissenschaftlichen Verkehr stand.27

Ihre Bindung an den römisch-katholischen Glauben und das traditionelle Selbstverständnis der Familie Haass schlossen also Offenheit für die geistig-kulturelle Bewegung der Aufklärung nicht aus, auch wenn man sich natürlich nicht gleich mit deren französischer Variante (»Encyklopädisten«) gemeinmachen wollte. Doch man scheute nicht einmal das Etikett »Freigeist«, das in konservativen Kreisen – zumal nach der Französischen Revolution – ein übles Schimpfwort gewesen wäre.

Passgenau, so sagten wir, fügten sich die sozialen Interessen der mütterlichen Familienlinie aus Münstereifel mit denen der väterlichen aus Köln zusammen, und so wuchsen nach der Eheschließung der Eltern 1773 zwei Familiengewebe anscheinend nahtlos ineinander. Dem Apothekerehepaar waren fünf Söhne beschieden; ein weiterer aus erster Ehe28 lebte mit im Haushalt, dem auch drei Mädchen angehörten. Haass hatte drei ältere, 1772, 1774 und 1778 geborene Brüder, denen nach seiner Geburt 1780 noch zwei jüngere (1782 und 1790) nachfolgten.

In diesen zwei Jahrzehnten ereignete sich ungeheuer viel: Die Französische Revolution erschuf ein völlig neues Bewusstsein von Zeit, Politik und Schicksal. Der Zeithorizont kippte, und man lebte in einen zukunftsoffenen Horizont hinein anstatt aus der Vergangenheit heraus. In Bezug auf die wirtschaftlichen Beziehungen der europäischen Länder spricht man heute von der ersten Globalisierung, und auf allen Ebenen wurden alte Strukturen der Vormoderne durch solche der Moderne abgelöst, etwa in Verwaltung und Rechtsprechung. Das und nicht weniger lag in der Atmosphäre der Zeit, in der diese sechs jungen Männer in Münstereifel heranwuchsen. Umso mehr mag es zunächst erstaunen, wie traditionell sich ihre Lebenswege in dieser Zeit auf den ersten Blick ausnehmen.

Die drei älteren Brüder studierten sämtlich – wie Friedrich Joseph auch – am Michaelschen Lehrhaus in Münstereifel, dem St.-Michael-Gymnasium, bevor sie nach Köln auf das Montanum gingen, um Theologie zu belegen. Selbst der letztgeborene Bruder kam in Heidelberg noch in den Genuss der Förderung durch die alte Mengwasser-Stiftung. Die beiden jüngeren Brüder wurden Juristen; Friedrich Joseph selbst wählte als einziger die medizinische Richtung der väterlichen Linie.

Schulzeit in Münstereifel

Über die Schulzeit in Münstereifel wissen wir wenig. Die Haass-Kinder durchliefen das St.-Michael-Gymnasium, das zu ihrer Zeit in der Tradition der katholischen Aufklärung stand, die durch den Landesherrn, Karl Theodor von Jülich und Berg, gefördert wurde.

Abb. 5: St.-Michael-Gymnasium