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Langweilig. Gewöhnlich. Eintönig. So war Penelopes Leben. Jedenfalls bis ein unbekannter Mann mit wahrhaftiger Magie in ihr Leben platzt, ihren Arbeitsplatz verwüstet und sie auffordert ihm einen Gegenstand auszuhändigen, dessen Duft sie unweigerlich verströmt. Erst mit Hilfe von Max, der sich in das Geschehen einmischt, gelingt ihr die Flucht. Doch tut er das nicht aus Hilfsbereitschaft, sondern allein aus Eigennutz, denn auch er ist auf der Suche nach dem Objekt, welches sich in ihrem Besitz befindet. Gefunden und in den Händen haltend, wird ihm klar, dass er einen ganz anderen Schatz gefunden hat… So gerät Penelope zwischen die Fronten zweier Gruppen, die über das Ende der Welt, wie wir sie kennen, entscheiden.
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Seitenzahl: 685
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Melanie Ruschmeyer
Das Blutquartett
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.
Impressum
Texte: © 2024 Copyright by Melanie Ruschmeyer
Cover: © 2024 Copyright by Melanie Ruschmeyer
Verlag:
Melanie Ruschmeyer
Güntherweg 5
31785 Hameln
Vertrieb: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Die Stadt war in tiefe Schwärze gehüllt. Das Licht weniger Laternen wirkte wie rettende Inseln, die in der dunklen Suppe schwammen. Straßen und Gassen waren verlassen. Niemand schien sich zu dieser Zeit aus der Sicherheit der Häuser zu trauen.
Leises Klappern und Zischen war zu vernehmen. Gefährlich und drohend durchbrach es die Stille.
Einzig zwei in Mäntel gehüllte Gestalten suchten sich einen Weg durch die verwinkelten Ecken der Stadt. Versteckt vor den Blicken ihrer Feinde, huschten sie durch ihre Lücken hindurch und verbargen ihre Geräusche so gut es ging. Die Gesichter tief in ihren Kapuzen verborgen.
Die größere Person von beiden rutschte aus und die Schuhsohle erzeugte einen unerwünschten Ton. Die kleinere Gestalt, dessen Mantel viel zu groß war und teilweise auf dem Boden schliff, erfasste mit beiden Händen den Saum der Kapuze. Zitternd vor Kälte und Angst klammerten sich die dünnen Finger um den Stoff.
Für wenige Augenblicke verharrten beide in ihren Positionen und lauerten, ob sie entdeckt worden waren. Schließlich wandte sich die größere Gestalt um, umarmte seine kleine Begleitung, drückte sie an sich und ging gemeinsam mit ihr weiter.
››Alles wird gut‹‹, flüsterte eine männliche Stimme. Sofort hob die kleine Person ihren Kopf und der Stoff der Kapuze verzog sich, sodass das Gesicht eines kleinen, rothaarigen Mädchens hervorlugte. Sie nickte und drehte sich wieder in die Richtung, die sie nehmen wollten.
Die Umgebung war erfüllt von Hast und der Schwere von geballter Spannung. Er drückte sie an sich und zwang sie Meter um Meter vorwärts. Schützend umschlang er den kleinen Körper. Sein Mantel rutschte vor und verbarg das Mädchen beinahe völlig.
Ihr Herz schlug so schnell, dass sie Angst hatte, es könnte seinen Dienst versagen. Die Finger ergriffen den Stoff seiner Hose und krallten sich krampfhaft daran fest, als habe sie Sorge ihn zu verlieren. Er, der ihr all die Jahre Schutz gegeben hatte. Er, der ihr Leben bereichert hatte. Er, der sie gerettet hatte!
Ein Quieken drang durch ihre Kehle. Der Ton war leise, aber qualvoll. Sie spürte die Tränen, die brennend in den Augen stachen, doch sie konnte diesem Drang nicht nachgeben. All das Adrenalin, die Angst und die Ungewissheit füllten sie aus, wie einen Ballon, der zu platzen drohte. Das Gefühl machte sie schwer und starr.
Jeder Meter, den beide hinter sich gelassen hatten, schien sie geschwächt zu haben.
Seine schlurfenden Schritte waren so leise und dennoch hallten sie durch die Gosse wie ein Donnergrollen, dass die Stadtbewohner aufwecken wollte.
Das Pflaster war grob. In der Schwärze der Nacht wirkte es wie Hügel, die einen fehlerhaften Schritt nicht verziehen. Es roch nach Dreck und Matsch.
Lediglich ein Lichtkegel drang in die kleine Gasse ein. Er kam von der Laterne der Straße.
Sie hatten es fast geschafft! Sie hatten so viele Straßen und Stadtteile hinter sich gebracht und hatten ihre Verfolger scheinbar in die Irre geführt. Eigentlich sollte das kleine Mädchen voller Hoffnung sein, doch dies war nicht der Fall. Die Angst lähmte ihre Glieder und trübte ihre Gedanken. Sie wollte laufen und konnte es dennoch nicht. Sie hasste sich dafür, denn so fühlte er sich verpflichtet ihr zu helfen und sie waren langsamer; viel langsamer.
Er schob sie stetig weiter zum Lichtkegel, versuchte sie anzuheben und stöhnte vor Schmerzen auf. Die Verletzung, die sich über seinen gesamten Rücken erstreckte, machte ihn schwerfällig. Fieberschübe zogen wie Wellen über sein Gesicht, das sah sie aus dem Augenwinkel. Schweiß zeugte von der Hitze. Das Keuchen, die schwere Atmung und seine trüben Augen zeigten ihr eindeutig, dass er der Ohnmacht nahe war und trotzdem schützte er sie vehement.
Plötzlich formte sich ein Schatten an der gegenüberliegenden Wand im Lichtkegel. Umgehend zog er sie an die Wand und atmete so flach wie möglich. Behutsam legte er seine Hand auf ihren Mund, um jeglichen Ton ihrerseits zu ersticken. Doch dies wäre nicht nötig gewesen, denn sie hielt die Luft an und ihre Augen waren tellergroß. Sie starrte auf das sich formende Gebilde.
Der Schatten verwandelte sich in eine Mischung aus menschlichem Skelett und Monster. Er wirkte wie eine unförmige Masse, die sich nicht so recht entscheiden konnte.
Ein Zischen ertönte und das Wesen hielt inne. Es schien zu lauschen und zu lauern, wandte sich dann aber doch ab. Der Schatten wurde kleiner und kleiner und verschwand.
››Onkel...‹‹, keuchte sie und ihre Lungen brannten wie Feuer, ››ich … ich habe solche Angst!‹‹
Der Druck seiner Umarmung nahm zu. Er flüsterte so ruhig wie es ging: ››Habe Zuversicht, mein Engel.‹‹
››D… du bist … verletzt.‹‹ Und das ihretwegen, weil er sie beschützt hatte! Ihre Lippen zitterten bei jedem Wort und waren durch die erinnernden Bilder gebrandmarkt.
››Warte hier. Ich sehe nach, ob es weg ist‹‹, gab er so leise von sich, dass es durch das Rauschen ihres Blutes in ihren Ohren kaum zu vernehmen war. Er entließ sie aus der Umklammerung und prompt wurde ihr kalt. Sie kauerte sich auf den Boden zusammen und zitterte so stark, dass sie aufpassen musste, dass ihre Zähne nicht zu klappern begannen. Beruhigend strich sie sich durch das rote Haar. Es fühlte sich so an, als seien sie verklebt. Als sie dann ihre Hand betrachtete, war diese von Dreck und einer klebrigen, stinkenden, braunen Masse belegt. Sie wischte sie an ihrem zerrissenen Mantel ab.
Wenige Sekunden darauf kam er zurück. Er machte einen Buckel und hielt sich die linke Schulter. Sein sonst so freundliches Gesicht war verzerrt. Der Bart, den er hegte und pflegte, wirkte zerzaust. Schnitte im Stoff erinnerten sie an das, was zuvor passiert war.
Entkräftet brach er einen Meter vor ihr an der Wand zusammen, rutschte sie hinunter wie ein schwerer Sack. Auf Knien robbte sie vor und griff nach seinen Achseln. Sie wollte ihm Halt geben, was sie in ihrem Alter unmöglich konnte. Sofort fing er seine Wucht ab, um sie nicht unter sich zu begraben.
››Der Weg‹‹, hauchte er, ››er … er ist frei.‹‹ Dann sah er sie mit seinen eisblauen Augen durchdringend an. Gerade jetzt wirkten sie nicht mehr trüb, sie waren bestimmend und klar. ››Geh!‹‹
Sie schüttelte den Kopf, ihre Augen weit aufgerissen.
››Du musst!‹‹ Liebe lag in dem Ausdruck seines Gesichtes. Mitfühlend legte er seine Hand auf ihre Wange. ››Katharina … meine Katharina … mein Engel‹‹, er versuchte ein Lächeln. Es wirkte gequält und doch liebevoll. ››Es tut mir so leid. Ich hätte mir auch mehr Zeit mit dir gewünscht. Ich habe dir alles beigebracht, was ich weiß.‹‹ Sein Blick drang tief in sie hinein. Katharina schüttelte weiter energisch den Kopf.
Sie schluckte die Angst hinunter und gab sich mit jedem Wort Mühe fest und standhaft zu klingen: ››Ich gehe nicht ohne dich!‹‹
Obwohl ihr Herz schlug wie eine Dampfwalze, stand sie auf und zog an seinem Arm. Der Mann versuchte ihrer Aufforderung entgegenzukommen und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. Scharf sog er die Luft ein und ein Stöhnen grollte in seiner Kehle. Er antwortete ihr nicht, nickte ihr lediglich zu.
Er hangelte sich an der Wand entlang zum Lichtkegel, dichtgedrängt und sich jedem Ton bewusst. Vorsichtig lugte er in die Straße und sah in jede Richtung. Anschließend nahm er ihre Hand und rannte mit ihr los.
Vor ihnen befand sich die große Kreuzung Richtung Brücke. Mehrere Laternen leuchteten die Wege zum nördlichen Stadtausgang aus. Das Pflaster war glatter geworden. Durch das stetige Fahren der Autos erschien es verschlissen.
Die Schatten, die durch das Licht entstanden, erschienen wie Gegner, die sich auf sie zu stürzen drohten. Kurz blieb er stehen und sah panisch hinter sich. Die Häuser waren dicht an dicht. Teilweise befand sich ein kleiner Laden in den unteren Bereichen.
Katharina durfte ihre Angst nicht mehr zulassen, das wusste sie. Jede Minute, die sie nun gewinnen konnten, war von unschätzbarem Wert. Beide hatten es schon so weit gebracht und allein diese Erkenntnis schenkte ihr wirklich Hoffnung. Sie war wie ein kleiner Funke, den sie hegen wollte.
Sie stieß mit ihm zusammen, da sie unbeirrt weiterging und drückte ihn dann sanft vor. Er sah auf sie hinab und lächelte. Auch ihm fiel scheinbar sofort auf, dass sie die Rollen gewechselt hatten.
Erneut drehte er seine Hand und zog imaginäre Linien in der Luft nach. Sein Zeigefinger tanzte einen Zauber. Das kleine Mädchen war beeindruckt woher er all diese Kraft nahm. Er nickte in Richtung Freiheit und durch den Zauber getragen machten ihre Schuhe trotz rennen kein Geräusch. Die Tritte federten, wie von Watte eingebettet, ab.
Sie passierten das Stadttor, was einst mit den Außenmauern verbunden war. Die Zeit hatte an den Steinen genagt, genauso wie das Leben der Menschen. Man hatte dieses Tor als Zeichen der Vergangenheit und des Entstehens einer neuen Epoche stehen gelassen. Jetzt allerdings wirkte es wie eine Zielgerade, die sie passierten und voller Euphorie aufatmen ließ.
Sie rannten mittig auf der Straße der Brücke, die zu beiden Seiten von Bürgersteigen eingefasst war. Katharinas Lippen formten ein Lächeln. Sie sah zu den strammen Metallseilen, die der Brücke ihren Halt gaben. Wie Linien, die ihnen den Weg wiesen, zogen sie sich voran. Schwarze Konturen traten am Ende der Brücke hervor. Katharina wusste, dass es Bäume waren. Nur zu oft war sie von hieraus zum Wald spazieren gegangen. In ihm würden sie sich verstecken können. Er war so dicht und weitläufig, dass ihnen ab dort die Flucht gelingen würde.
Doch auf ein Mal erfüllte ein klappernder Ton die Umgebung. Am Ende der Brücke tauchten mehrere Skelette auf. Sie stellten sich ihnen wie eine Wand entgegen. Beinahe so, als haben sie nur auf ihren Einsatz gewartet. Ihre Knochen sahen so zerbrechlich aus, obwohl Katharina um die Robustheit wusste. Rote, glühende Augen funkelten in ihren Augenhöhlen. Das einzige Zeichen von magischem Leben in ihnen. Sie waren Marionetten in einem Theater. Kleine, beschworene Handlanger, die leider sehr hartnäckig und ihnen zahlenmäßig überlegen waren.
Prompt verlangsamten beide ihre Schritte.
Der Mann blieb stehen, hob einen Arm, um auch das Mädchen zum Stillstand zu bewegen. Er sah hinter sich. Seine Brauen gruben sich tief in das Gesicht. Für einen Magier wie ihn, waren diese Gegner kein Hindernis, jedoch war er schwer verletzt und das Fauchen dieser Untoten, würde all ihre Kumpanen hierher führen. Sie waren unbeschreiblich schnell.
Schritte hallten und da war sie wieder, die zuckersüße Stimme, die Katharina das Blut in den Adern gefrieren ließ: ››Willst du mich schon verlassen, Hektor?‹‹
››Nein, nicht!‹‹, flehte Katharina ihn an, als sie das Knistern der Luft um sie beide herum bemerkte. Hektor sammelte seine letzten Kraftreserven. Er ergab sich ihrer Provokation.
Ein schwarzer Dunst entstand urplötzlich. Wie ein Geist wirbelte er umher und versuchte sie in eine Kuppel einzuschließen. Funken glimmten in der Luft auf und Hektor schnippte mit den Fingern, als wollte er durch sie ein Feuer entfachen. Die roten, langen Haare des Mädchens fuhren hoch, als ein gigantischer Wirbel den gegnerischen Dunst verpuffen ließ. Mauern gleich baute er sich um sie herum auf und schoss majestätisch gen Himmel empor.
Der Mann wirbelte herum, packte ihre Schultern und schüttelte sie einmalig, fast so, als müsse sie dringend aus einem Albtraum erwachen. ››Katharina, hör mir zu!‹‹
Geschockt riss sie Augen und Mund weit auf. Wenn er mit einem derart strengem und harschem Ton mit ihr sprach, wusste sie, es war ernst.
››Von nun an wirst du die Wächterin sein‹‹, jedes Wort wog er bedeutsam ab und griff in seinen Mantel hinein. Heraus kam ein lederner Beutel, der mit einem Lederband zugezogen war. Mit der freien Hand schnappte er nach dem Stoff ihres Mantels und ließ den Beutel in eine Innentasche rutschen. Dann drückte er das Kleidungsstück samt Inhalt an ihre Brust.
››Ich werde sie aufhalten. Du musst jetzt gehen‹‹, forderte er sie auf und jetzt brachen alle ihre Dämme. Die Tränen rannen wie Wasserfälle über ihre Wangen. ››NEIN!‹‹
››Doch, mein Engel. Du musst!‹‹ Hektor strich mit seinen Fingern über ihre nasse Haut.
››Ich kann nicht! Du bist alles, was ich habe!‹‹, schluchzte sie. ››Ich lasse dich nicht allein! Niemals!‹‹
››Das ehrt dich, mein Engel, doch sie dürfen es nicht bekommen und du weißt das! Ich habe dich zu meinem Nachfolger erzogen.‹‹
Sie unterbrach ihn mit einem schwachen Schlag vor seine Brust. ››Es ist zu früh … viel zu früh!‹‹ Verzweiflung schwang in ihrer Stimme und in ihren Taten mit.
Die Barriere um sie herum mischte sich abermals mit Dunkelheit. Die Farbe ergoss sich wie ein Gift hinein; befleckte den Zauber und versuchte ihn zu verunreinigen. Das Mädchen bemerkte die vielen roten Punkte, die durch den Wirbel hindurch schimmerten. Es waren mehr geworden und sie kamen näher! Ihr Gegenspieler versuchte sich durch ihre magische Barriere zu schlängeln.
››Ich werde für immer bei dir sein‹‹, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger auf ihren Kopf und anschließend auf die Position ihres Herzens, ››aber nun ist unsere gemeinsame Zeit leider vorbei. Du wirst eine großartige Wächterin sein, das weiß ich. Dein Herz ist rein und stark und du bist das intelligenteste Kind, was ich kenne. Ich liebe dich, mein Engel.‹‹
››Ich liebe dich auch, Papa.‹‹ Sie hatte ihn nie Papa genannt, weil es falsch klang, allerdings liebte sie ihn wie einen solchen und er hatte es verdient ihn so zu bezeichnen. In genau diesem traurigen Moment hasste sie sich dafür, dass sie ihn nur einmal so genannt hatte. Hinfort war die Zeit der Sorglosigkeit, der Spiele und des Lachens.
Hektor breitete die Arme aus und lächelte sie an. Er war bereit für sie zu sterben, das las sie in jeder Bewegung und in seinem Blick.
Der Wirbel nahm an Schnelligkeit zu. Wurde dichter und stärker, schien regelrecht alles und jeden mit seiner Kraft zerschneiden zu wollen. Ein trübes Blau mischte sich hinein. Kälte und Nässe spritzte in ihr Gesicht, als sich Hektor zu seiner vollen Größe aufrichtete. Das Blau seiner Augen leuchtete auf und der Kreis, in dem sie standen, wurde größer und größer.
Kurz darauf sah Katharina wie das Wasser links und rechts von der Brücke in den Wirbel eintrat. Skelette wurden vom Sturm mitgerissen. Ihre Knochen traten aus dem Wirbelsturm heraus.
Das Wasser getrübt von der Dunkelheit der Nacht, färbte sich hellblau. Ein wunderschöner Tanz aus Linien entstand, der gegen die Schwärze ankämpfte.
Hektor stöhnte und ein Ruck ging durch ihn hindurch. Katharina wollte ihn stützen, doch er schüttelte den Kopf. ››Nein, geh jetzt!‹‹
Ihre vorgeschnellte Hand ging zurück und sie blickte sich hektisch um. In ihren Augen waren sie beide hier gefangen, vorerst geschützt, aber gefangen. Fragend sah sie ihn an und bemerkte das Blut, welches aus seinen Nasenlöchern trat. Er deutete mit dem Kopf hinter sich, sie folgte seiner Deutung und ihr fiel das kleine, sich bildende Loch im Wirbel auf. Es war gerade so groß, dass sie hindurchpasste. Voller Verzweiflung sah sie ihn noch einmal an, versuchte sich jedes Detail seines Gesichtes zu merken. Die leicht ergrauten Haare. Jede Falte. Die buschigen Augenbrauen, die sein Gesicht so markant machten. Jedes Haar seines Bartes.
››Überlebe, mein Engel!‹‹
Es war wie ein Gong, der ihr einen Schlag versetzt. Sie rannte los. Sie rannte so schnell ihre kleinen Beine sie trugen. Das Loch glich einem Schlauch, der sich durch den Sog zog. Erst jetzt bemerkte Katharina wie dick die Wand geworden war, welcher Stärke sich sein Zauber bediente.
››Überlebe!‹‹, schrie er ihr noch einmal hinterher. Es waren die letzten Worte, die sie von ihm hörte.
Der Zauber zu ihrer Rettung würde all seine Lebensenergie aufbrauchen. Sie durfte es nicht umsonst gewesen sein lassen. Sie stolperte beinahe, fing sich aber wieder und rannte und rannte.
Sie hatte den Wirbel schon hinter sich gelassen, wagte es jedoch nicht sich umzusehen, rannte immer weiter. Die Angst zu erstarren, wenn sie hinter sich blickte, war zu groß. Sie war wie ein Tier, dass man verfolgte.
Die dunklen Bäume sausten an ihr vorbei.
Sie hörte das zischende Gebrüll der Untoten, die hoffentlich noch in seinem Wirbel umherirrten. Sie hörte das hysterische Geschrei der Frau, dass wie eine Welle aus Kraft über die Erde schoss und ihr den Boden unter den Füßen nahm.
Dumpf krachte sie auf den harten Erdboden. Die Welt wackelte. Ihre Sicht war getrübt. Etliche Male blinzelte sie, bis sie bemerkte, dass ihr der Lederbeutel aus der Manteltasche gefallen war und wenige Meter vor ihr lag. Blitzschnell war sie hellwach.
Das Band hatte sich durch die Reibung gelöst und unzählige Karten lagen verstreut auf dem Boden.
››Oh nein … nein … nein.‹‹
Dann ertönte ein Knall. Die Erde bebte. Katharina hielt sich die Ohren zu und drehte sich grobmotorisch um. Sie wusste was es war! Es konnte nicht anders sein! Sie wollte nicht hinsehen, doch irgendetwas sagte ihr, dass sie es musste. Dass sie genau diesen Anblick brauchen würde, um ihren Weg fortzugehen.
Als sie den langen Pfad ausmachte, den sie gerannt war, konnte sie es einfach nicht glauben. Ob ihr Hektor mit einem Zauber geholfen hatte, wusste sie nicht und wahrscheinlich würde sie es auch nie erfahren. Sie musste bereits mehrere Kilometer den Hang hinauf gelaufen sein, denn die Brücke in der Ferne war klein. Ihre Pfeiler ragten wie Speere empor, die die Säule aus Wasser in ihrer Mitte einfassten. Metallseile waren gerissen, vermutlich war es das, was sie zuvor gehört hatte. Und dann wieder ein Knall. Anschließend brach der Wirbelsturm aus. Er bog sich nach links und vollführte eine Drehung, bog sich in die andere Himmelsrichtung, wurde breiter und explodierte, als habe man einen Luftballon zu sehr aufgeblasen.
Die Brücke krachte ins Wasser. Dächer wurden von ihren Häusern gefegt. Ziegel flogen ziellos durch die Luft. Bäume, die sich auf dem Weg zu ihr befanden, bogen sich, wurden teilweise entwurzelt.
Schnell hielt sie sich die Arme vor das Gesicht und wollte sich schützen, als sie die schockierende Erkenntnis packte. Ohne nachzudenken wandte sie sich um, sprang auf den Beutel zu und wollte ihn unter sich begraben, aber es war zu spät.
Die Wucht fegte über die Erde, erfasste den Beutel und alle Karten darin und in der Umgebung. Auch Katharinas Körper wurde gewaltsam ergriffen und nach vorne geschleudert. Panisch schnappten ihre Hände nach den Karten, in der Hoffnung sie zu erreichen. Ihre Hand bekam einen Lederfaden zu fassen, sie zog daran und drückte ihn an sich, dann fiel sie brutal auf die Schulter und wurde über den rauen Untergrund geschliffen. Drehte sich und versuchte so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten, doch dieser Gewalt war sie nicht gewachsen. Ihre Seite brannte, der Stoff war zerrissen.
Obwohl es nur wenige Sekunden waren, in denen sich der Zauber entlud, waren die Auswirkungen verheerend.
Trotz allem interessierte sich das Mädchen nicht für ihre geschundene Umgebung, sogar der Schmerz, der sich allmählich in ihren Körper schlich, war ihr egal. Sie kam auf die Knie und suchte den Himmel nach ihren Karten ab. Den Beutel drückte sie fassungslos an sich. Am Himmelszelt schimmerten kleine, vom Mond höhnisch angestrahlte Papierfetzen, die der Wind davontrug.
Mit offenem Mund sah sie auf ihre Brust hinab und öffnete ihre aufgeschürfte Hand.
Sie hatte sie verloren!
Sie hatte nur eine Aufgabe gehabt und hatte versagt!
Katharina schrie ihre Verzweiflung und Wut hinaus. Der Wind verwischte ihre Schleifspuren und streichelte über ihre Wange, als wollte er ihr zuflüstern. Sie spürte das Kribbeln der Magie in ihren Fingerspitzen. Sie wollte hinaus, wollte ihre Emotionen umwandeln und ein Chaos entstehen lassen. Sie schloss die Augen und atmete ruhig, wie es ihr Hektor beigebracht hatte. Ein solcher Zauber war zwecklos und unvorteilhaft. Ihr Herz hämmerte unerlässlich, doch den Zorn konnte sie bezwingen.
Schwerfällig rappelte sie sich auf, humpelte einige Schritte hin und her und war völlig desorientiert.
››Ich muss hier weg‹‹, dachte sie und stand doch so unter Schock, dass ihre Glieder nicht auf ihr Gehirn hören wollten. Krampfhaft drückte sie den Beutel und zwang sich tiefer in den Wald.
Sie musste hier weg!
Sie durfte nicht gesehen werden!
Fast 100 Jahre lebte sie im Verborgenen, bis sie die ersten magischen Anzeichen eindeutig spürte...
Der Herbst war da. Bäume und Büsche hatten sich in bunte Kleider geworfen. Die Blätter flogen durch die Luft und machten den Drachen der Kinder, die hoch oben am Himmel ihre Kreise zogen, Konkurrenz. Große und kleine, farbenfroh oder einfarbig und teilweise geformt wie Tiere erstreckten sie sich über das Himmelszelt.
Untermalt wurde der Moment von lustigen Melodien, die aus dem Hintergrund vom Wind herangetragen wurden. Gemischt mit einem Hauch von süßem Duft, der sich einladend auf die Zunge legte.
Penelope hielt sich die braunen, langen Haare zurück und betrachtete das Spiel der Kinder. Heute waren wirklich viele auf dem weitläufigen Platz. Einige kannten sich bereits und schrien oder betitelten einander mit Spitznamen. Sie dachte an ihren eigenen Namen, den sie nicht mochte. Für ihre Freund war sie stets nur Penny gewesen.
Im Frühjahr und Sommer grasten hier immer Schafe und Ziegen, daher war das Gras kurz.
Zu dieser Jahreszeit fegten die Kinder über die Wiese und trampelten die letzten Grashalme bodengleich. Für die kleinen Stadtbewohner war dies der beliebteste Platz. Sobald er freigeräumt und zugänglich war, stürmten sie in Scharen herbei. Allerdings, da war sich Penny sicher, war dies nicht nur der Tatsache geschuldet, dass der Wind hier gerne verweilte, es lag mit Sicherheit auch am Markt, der wenige Meter gegenüber seine Pforten geöffnet hatte.
Auf den vielen Bänken rundherum, waren die Anzeichen nicht zu übersehen. Eltern ruhten sich aus, beobachteten ihre Kinder beim Spielen, aßen hier und da etwas Köstliches oder hielten Erworbenes und Erspieltes Gut in den Händen. Über dem Kopf des ein oder anderen Elternteils schwebte ein Heliumluftballon in Form lustiger Tiere und Wesen.
Auf dem Platz herrschte hektisches, lautes Treiben. Einige Eltern oder Großeltern rannten hinter den Kleinen her. Manche ermahnten sie, andere versuchten den Drachen gemeinsam zu starten oder gaben ihnen lediglich eine Hilfestellung.
Auch ein Aufschrei mischte sich unter die freudigen Rufe. Eines der kleineren Kinder war hingefallen. Doch gegen die beunruhigte Mutter, die es unter die Lupe nahm, interessierte sich der Junge mehr um seinen abgestürzten Drachen, als um sich selbst.
Penelope nahm sich einige Sekunden Zeit und beobachtete das Farbenspiel der Drachen. Es erinnerte sie an ihre Kindheit.
In der Betrachtung des Treibens versunken, verliefen ihre Schritte flacher und sie stolperte über eine Erhebung. Mit den Armen rudernd rang sie um Gleichgewicht und setzte zwei unkoordinierte Schritte nacheinander, fiel aber wenigstens nicht hin. Peinlich berührt strich sie ihre schwarze Jacke glatt und ging unbeirrt weiter.
Das passierte ihr ständig. Früher hatte sie es als Pech abgetan, mittlerweile hatte sie sich mit der Tatsache abgefunden ein kleiner Tollpatsch zu sein.
Erneut schoss ihr eine Windböe ins Gesicht und verwirbelte ihren Pony. Sie grummelte leise und ärgerte sich darüber ihr Haargummi vergessen zu haben. Wohl oder übel würde sie ihr langes Haar bald loslassen müssen, denn wenige Meter neben dem Schauspiel der Kinder begann der Herbstmarkt. Obwohl der Abend noch nicht dämmerte, leuchteten die Buden bereits. Mit ihren bunten Lichtern sorgte sie für manches Kinderstaunen, aber auch für eine magische Anziehung.
Auf dem Weg zu ihrem Ziel, war der Markt nur eine Zwischenstation, auf die sie nun mit schnellen Schritten zutrat. Um sich gegen den Wind zu schützen, warf sie ihre Kapuze über und ließ ihr Haar nach hinten hinein fallen.
Wie jedes Jahr waren ein paar Buden aufgestellt. Penelope ging vorbei an kleinen Holzhäuschen, in denen man schießen und werfen konnte. Ein kleiner Zug fuhr im Kreis und belustigte die kleinen Menschen, die johlend ihren Eltern zu winkten. Es roch nach Zuckerwatte, Lebkuchen, gebrannten Mandeln und Fastfood.
Bei den größeren Fahrgeschäften, wo auch die Jugendlichen auf ihre Kosten kamen, wurde es schon voller und die Frau musste sich etwas durch die Menge zwängen. Dabei erntete sie so manchen bösen Blick, doch das bemerkte sie durch die Kapuze gar nicht. Ihr endgültiges Ziel lag weiter hinten in den Gassen. Bereits aus der Ferne sah sie die Tische voll mit Gegenständen. Hier war es nicht nur ruhiger, auch das Gedränge nahm abrupt ab.
Der Herbstbasar. Endlich. Dass worauf sie sich schon die ganze Woche gefreut hatte. Alten Gegenständen neues Leben einhauchen, nach Dingen stöbern, die vielleicht einmal etwas Bedeutsames gewesen waren, dass waren Momente, die Penelope liebte. Zwar bot ihre Ein-Zimmer-Wohnung nicht wirklich viel Platz, aber für den ein oder anderen Schatz würde es noch reichen. Genaugenommen war sie sowieso stets erstaunt, was manche Menschen an neuwertigen Sachen wieder verkauften. Im letzten Jahr hatte sie hier eine Kaschmirdecke ergattert, die nun auf ihrem Sofa lag. Der Preis war lachhaft gewesen. Natürlich war es nicht immer einfach derartige Schmuckstücke zu finden, doch irgendwie hatte sie ein Händchen dafür entwickelt.
Und so schlenderte sie von Tisch zu Tisch und bestaunte die Gegenstände die Feil geboten wurden. Dieses Mal befanden sich auch einige Kleidungsstücke darunter, an denen sie allerdings keinerlei Interesse hatte. Sich in getragenen Stoff zu hüllen, fand sie nicht ganz so toll.
Von weitem sah sie einen Stand mit Kerzenständern. Auf Anhieb gefiel ihr einer besonders gut. Er würde perfekt auf ihre Schuhkommode im Flur passen. Umso näher sie kam, desto sichtbarer wurden seine Verzierungen. Als sie davor stand, schnappte sie schnell zu und wog das schwere Stück in der Hand. Die Einkerbungen hatten etwas Mächtiges an sich. Er wirkte wie aus einer komplett anderen Zeit entnommen, majestätisch und erhaben.
››Der ist noch aus der Barockzeit‹‹, röchelte eine dunkle, rauchige Stimme und Penelope sah auf. ››Der stand schon zu Zeiten von Sissi auf dem Tisch. Vielleicht sogar auf ihrem?!‹‹ Ein Mann mittleren Alters stellte eine Kiste neben seinen Stand, der aus einem Tapeziertisch bestand, und trat näher heran. Er hatte eine Zigarette im Mund und lächelte breit.
Sie grinste ihn verschmitzt an. ››Früh-, Hoch- oder Spätbarock? … Na, Emil, entscheide dich.‹‹
Seine Mundwinkel verzogen sich. Er dachte angestrengt nach und seufzte dann schließlich. ››Och, Penny, du bist gemein. Musst du mir immer meine Geschichten zerstören?‹‹
››Du solltest dich besser informieren, dann sind sie auch Kugelsicher. Sissi lebte in keiner Barockzeit.‹‹
››Ach Mist, ich dachte … wegen der pompösen Kleider, weißt du?!‹‹ Er legte den Kopf schief. Emil hatte das Pech einer der Männer zu sein, die sehr früh seine Haare verloren hatten, aber auch das Glück der Wenigen, dass es ihm enorm stand. Er presste die Lippen zusammen, sodass die Zigarette beinahe zerdrückt wurde und lachte kehlig. ››Jetzt im Ernst, magst du den Kerzenständer?‹‹
Penelope wog in abermals in ihrer Hand und drehte ihn. ››Er war mir aufgefallen, aber so aus der Nähe betrachtet, ist er nicht mehr so besonders.‹‹
››Sagen wir 20 Euro?‹‹
Sie machte große, geschockte Augen und packte das Stück angewidert zurück. ››Nein, beim besten Willen nicht.‹‹
Emil lies nicht locker: ››18 Euro?‹‹
Penelope hob die Augenbraue. ››Was hast du denn in der Kiste da?‹‹
››Oh ja, nur das Beste natürlich. Habe ich neulich bei einer Hausräumung abgestaubt. Bei deinem Wissensdurst wirst du es lieben! Das musst du einfach haben!‹‹
Die Frau lachte herzlich und verdrehte die Augen. Sie mochte Emil. Er war lustig und bodenständig geblieben. Auch er liebte alte Gegenstände und schätzte sie. Als Handwerker vermochte er vielen Menschen zu helfen und hatte sogar seine eigene kleine Firma gegründet. Er war Einzelkämpfer, aber ließ es sich nicht nehmen auf Basaren und Märkten zu verkaufen. Es machte ihm Spaß und so kannten sich die beiden schon viele Jahre. Sonst sah man sich eher weniger, aber auf einem Basar war Emil ihr schon des Öfteren begegnet.
Bedeutungsvoll hob er den einen Arm und öffnete mit der freien Hand extrem langsam den Karton. ››Meine Dame, sie werden ihren Augen nicht trauen können‹‹, rief er euphorisch und errang damit die Aufmerksamkeit von ein paar Marktbesuchern. Penelope schmunzelte, da sie seine Darbietungen kannte. Sie stemmte gelangweilt die Hand in die Hüfte und beobachtete ihn herablassend. Sie musste unbedingt den Schein wahren, damit sie Oberwasser behielt.
Emil klappte die Pappe auf und zu. ››Ja, kommen sie, schauen sie!‹‹
Eine Frau lachte über seine Geste, war allerdings angetan.
Recht schnell kamen ein paar Passanten und bestaunten den Karton wie eine Schatzkiste. Emil verfehlte seine Wirkung nicht. Sollte der Inhalt den Menschen nicht gefallen, hatte er sie zumindest zu seinem Stand gelockt und der ein oder andere Gegenstand auf seinem Tisch und drumherum würde vielleicht das Interesse wecken.
››Emil, genug Theatralik. Was ist da drin?‹‹, fragte die braunhaarige Penny.
Er seufzte empört. ››Du musst echt immer alles kaputt machen.‹‹ Mit einem Hauch von Ärgernis im Gesicht klappte er alle Seiten auf und erst in dieser Sekunde bemerkte Penelope, wie groß die Traube von Menschen geworden war, die sich vor dem Tapeziertisch angehäuft hatte. Etliche Köpfe drückten sich an sie vorbei, bogen sich nach vorn und gen Kiste.
Prompt konnte sie nichts mehr sehen. Die Kiste wurde regelrecht verschluckt und sie bereute es, ihn gefragt zu haben. Ein Mann schob sie zur Seite und sie stolperte fast. Beschwichtigend hob sie die Arme und grummelte leise.
Emil war begeistert von seiner Vorstellung. ››Ja, meine Damen und Herren. Schätze vergangener Zeiten. Bücher, die sie womöglich heute nicht mehr finden werden. Die nicht mehr gedruckt werden und wo mit Sicherheit so manche Rarität auf sie wartet.‹‹
››Bücher?!‹‹ Sie wechselte einen Blick von Emil zu der Menschenmasse. Es stimmte! Eine Frau trat gerade einen Schritt zurück und strich über einen alten Einband. Penelope fiel die Kinnlade herunter.
››Ganz recht, Penny. Wenn mich nicht alles täuscht, liebst du doch Philosophie, oder? … Unter den Büchern ist meine ich so ein sehr altes Exemplar.‹‹
Sie schnappte nach Luft. Wollte er sie auf den Arm nehmen? Eine weitere Person, die aus der Masse trat, hatte ein Buch in der Hand und blätterte darin. Und dann noch eine.
Langsam wurde sie unruhig. Sie wollte sich nicht diesen Aasgeiern hingeben und es ihnen gleich tun, aber die Neugier nagte an ihr wie ein Tier.
››Ich kann dir natürlich nicht garantieren, dass es gleich noch da ist‹‹, warf Emil so beiläufig ein, dass es ihr eiskalt den Rücken runter lief.
Die Frau schaute zu dem Kerzenständer, der noch seelenruhig auf seinem Platz verweilte, atmete tief ein, griff in ihre Handtasche und hielt ihr Handy ans Ohr. ››Ist nicht wahr?! Wirklich? … Welche Straße, sagst du? Die Bäckerstraße! Gut, gut. … Nein, die meisten sitzen hier bei Emil und wühlen in alten Schinken. Dann beeile ich mich mal, damit ich die Schätze noch finden kann. Danke dir!‹‹ Penny gab sich alle Mühe ihre Schauspielkünste darzubieten und jedes Wort laut zu betonen.
Die vermeintlichen Käufer horchten auf. Einige wenige warfen Emil Geld hin, andere ließen die Bücher wieder in die Kiste fallen. Die Bäckerstraße war gleich nebenan und die Frau wusste, dass der Basar wie jedes Jahr dort weiterging. Dies war allerdings auch den anderen bekannt und so rannten sie was das Zeug hielt, damit sie die ersten waren.
Emil starrte den Menschen nach und knurrte. ››Das glaub ich jetzt nicht!‹‹ Sein Ton war noch recht gelassen, doch sein Augenlid zuckte böswillig.
››Nun‹‹, säuselte Penelope und lies das Handy wieder siegessicher in die Tasche gleiten, ››dann wollen wir mal sehen, was wir da haben.‹‹
Während sie sich vor die Kiste hockte, sagte sie noch: ››Nimm es mir nicht übel, Emil. Die kommen gleich wieder. Man kennt sich halt in dieser Szene.‹‹
Er schnaubte abfällig. ››Zu blöd, du hast ihnen schon so manches Mal ein Schätzchen vor der Nase abgeluchst.‹‹
››Jep, deshalb denken sie auch, dass dahinten etwas Besseres auf sie wartet.‹‹
Vorsichtig suchte sie im Inneren der Kiste. Es befanden sich wirklich ein paar wenige alte Bücher darin, jedoch auch viele Herzschmerz-Romane, die man früher einmal gelesen hatte. Von einer Sekunde auf die nächste fühlte sich Penny seltsam. Irgendwie schwer und leicht zugleich. Fast so, als war sie kurz zuvor mit einer Achterbahn gefahren. Schwindel rüttelte an ihrer Sicht und sie blinzelte. Tief atmete sie ein, beugte sich über die Papierkiste und tat das Phänomen ab. Vielleicht hatte sie sich ein wenig zu schnell heruntergebückt, sie war nicht gerade eine Sportskanone.
Schließlich stieß sie auf ein dickes Buch mit grünem, in die Jahre gekommenen Einband und zog es heraus. Sie las den Titel und den Autor. Vergessen war das vorgetäuschte Desinteresse, ihre Augen strahlten vor Freude. ››Du hast Recht!‹‹ Sie richtete sich auf, öffnete das Buch und las ein paar Zeilen. Ein seltsames Kitzeln erfasste ihre Fingerspitzen. Wärme breitete sich aus.
››100 Euro! Müsste ich jetzt eigentlich sagen, da du meine Kundschaft verscheucht hast‹‹, maulte Emil sie an und schaute missmutig drein, aber dann lachte er. ››Aber 50 Euro tun es auch.‹‹
››Echt jetzt?!‹‹ Verärgert lugte sie über den Rand des Buches.
››Na ja, du hast Recht, sie kommen zurück.‹‹ Emil grinste über das ganze Gesicht. Sein Kopf klappte zur Seite und er sah an ihr vorbei.
Penelope ließ die Schultern fallen und spürte prompt die stechenden Blicke, die sich in ihren Rücken bohrten. Blitzschnell lugte sie über die Schulter hinter sich. Leider hatte die Kundschaft wirklich gedreht. Wie eine Meute hungriger Löwen rannten sie auf ihr Ziel zu. Sie kam nicht umhin zu stöhnen, denn sie kannte die Meisten von ihnen. Wenn es um vermeidliche Schätze ging, gingen sie über Leichen! Außerdem waren sie mit Sicherheit der Meinung von Penelope an der Nase herumgeführt worden zu sein und daher würden sie nicht mit der besten Laune hier ankommen.
Die Frau sah noch immer über die Schulter und schätzte die verbliebene Zeit ab, da bemerkte sie ein Mädchen an der Ecke. Es starrte sie direkt an. Der Blick derart feindselig und starr, dass es Penelope wie ein Blitz traf. Ihre Kleidung wirkte auf die Entfernung zerschlissen und alt. Die roten, schulterlangen Haare rahmten ihr Gesicht ein. Um Ihre Nase glaubte sie viele Sommersprossen auszumachen. Hohe Wangenknochen. Die Mundwinkel der Kleinen waren weit heruntergezogen, der Kiefer mahlte vermutlich gerade. Geballte Fäuste vibrierten neben ihren Oberschenkeln. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment anfangen ihre Wut hinauszuschreien. Dass sie dabei direkt und unwiderruflich Penelope fixierte, machte der Frau Angst. Zeitgleich nahm die Hitze der Finger zu. Aus dem angenehmen Kitzeln wurde ein Brennen.
Plötzlich schob sich die nahende Menschentraube vor das Abbild des kleinen Mädchens und schlagartig wurde Penny bewusst, dass ihre Zeit schwand. Mit einem sanften Kopfschütteln versuchte sie das Bild des rothaarigen Mädchens aus ihrem Kopf zu bekommen.
››20 Euro und ich nehme den Kerzenständer mit‹‹, konterte sie und wandte sich wieder dem Verkäufer zu.
››Hm, lass mich nachdenken‹‹, er legte den Finger an die Lippen und gab sich denkerisch.
››Oh, komm schon, Emil. Es ist nicht das erste Mal, dass ich bei dir kaufe.‹‹
››Ich mach nur Spaß, Kleine‹‹, lachte er. ››Du kaufst für dich selbst. Die Gauner da‹‹, er nickte in die Richtung der Schar, ››sind immer nur auf ihren Vorteil aus. Du … du bist wie ich. Du suchst nach etwas Besonderem und das … das schätze ich. 30 Euro.‹‹
››Ist fair, danke.‹‹ Schnell machte sie ein paar Schritte zur Seite, um den Weg zur Kiste freizumachen, angelte in ihrer Handtasche nach ihrem Portemonnaie und bezahlte ihn. Fix verstaute sie Buch und Kerzenständer in einen Beutel, den sie ihrer Handtasche entnahm und rieb sich anschließend ihre Finger. Die Wärme, die sich beinahe in Hitze gewandelt hatte, verschwand nur langsam. Seltsamerweise fühlten sie sich nun elektrisiert an.
Während die ersten Sprinter bereits erneut an der Kiste zu kleben schienen und Penelope grimmig anstarrten, weil ihnen klar geworden war, ihr auf den Leim gegangen zu sein, machte sie sich auf weiter über den Markt zu schlendern. Sie hatte nicht vor sich etwas anmerken zu lassen und erst recht nicht, sich den Spaß an diesem Spektakel streitig zu machen.
Dabei kam sie an der Ecke vorbei, wo das Mädchen gestanden hatte. Sie war weg. Penny erinnerte sich an ihre hasserfüllten Augen und fühlte sich urplötzlich beobachtet. Kannte sie dieses Kind? Egal wie angestrengt sie nachdachte, es fiel ihr einfach nicht ein.
Ungewollt drehte sich Penelope zu allen Seiten um, konnte das Mädchen aber nicht ausmachen. In ihren Fingerspitzen jedoch spürte sie noch immer diese seltsame Wärme, unbewusst rieb sie die Fingerkuppen aneinander und hielt sie sich vor das Gesicht. Es war nichts zu sehen. ››Seltsam‹‹, dachte sie.
Am Nachmittag fiel die Eingangstür von Penelopes Wohnung hinter ihr ins Schloss. Sie seufzte schwer und lies sich Zeit einige Sekunden bedacht zu atmen. Sie hatte noch einen Schlenker in den nahegelegenen Supermarkt gemacht und ein paar Kleinigkeiten gekauft. Diese baumelten nun in einem Leinenbeutel, den sie in ihrer rechten Hand trug. Zusammen mit der Handtasche und dem zusätzlichen Beutel, in dem ihre Errungenschaften vom Markt darauf warteten in ihre Häuslichkeit einzutauchen, wirkte sie schwer bepackt.
Der Flur war schmal und kurz. Auf der rechten Seite befanden sich ein kleiner Schuhschrank, direkt darüber ein eckiger Spiegel und daneben eine Reihe mit drei Haken, die in der Wand befestigt waren. Die Frau stellte Leinenbeutel, Tasche und Handtasche vor der Tür gegenüber der Garderobe ab und zog sich die schwarze Jacke aus. Sie hing sie an einen der Haken, ließ den Schlüsselbund geräuschvoll in eine Schale auf der Kommode fallen und schaute in den Spiegel.
Ihre sonst so aalglatten Haare waren zerzaust. Der Wind hatte mit ihnen gespielt, wie mit einem der Herbstblätter. Sie pustete über die Nase zu ihrem Pony hin, der sich im Einklang des Luftzugs bewegte. Die Bluse war zerknittert. Der heutige stressige Tag auf der Arbeit hatte seinen Tribut gefordert, heute Abend würde sie in die Wäsche gehen. Wie so oft fielen ihr die kleinen Fettpölsterchen auf, die sie versuchte mit ihrer Kleidung zu kaschieren. Penny war die nicht dünnste Person, jedoch auch nicht zu dick. Trotzdem sehnte sie sich nach der Idealfigur, die einem von der Werbung stets angepriesen wird. Über ihren Schatten zu springen und Sport zu treiben oder ihre Essensgewohnheiten zu ändern, das vermochte sie nicht.
Sie zog ihre Schuhe aus, stellte sie in die aufgeklappte Kommode und holte sich ein Paar bequeme Hausschuhe heraus.
Dann schnappte sie sich ihre Tasche, in der der Kerzenständer transportiert worden war. Sie ging mit dem Finger die geschwungenen Konturen nach, stellte ihn anschließend auf die Kommode und betrachtete ihn. Er passte perfekt ins Bild und mit einer farbigen Kerze würde er zukünftig ihre Besucher willkommen heißen.
Sie drehte sich um, angelte die zwei Beutel vom Boden und trat durch die Tür in die Küche. Die Handtasche ließ sie stets daneben liegen.
Auch die Küche war nicht groß, aber geräumig. Obwohl in dem Raum ein kleiner Holztisch mit zwei Stühlen stand, nutzte sie diese Möbel fast ausschließlich als Ablagefläche. Essen und leben tat sie meistens im Wohn- und Schlafzimmer. Beide Beutel wurden auf die Küchenablage neben dem Kühlschrank gepackt und ausgeräumt. Mit einer schnellen Handbewegung griff sie nach dem Wasserkocher, füllte ihn anteilig und stellte ihn an. Ein paar weitere Handgriffe brachten ihr den gewünschten Teebeutel ein, den sie in einen großen, verzierten Becher warf.
In der Zeit, bis das Wasser aufkochte, holte Penny das Buch aus der einen Tasche. Ehrfürchtig strich sie über den grünen Einband. Abermals kitzelte es und sie glaubte, dass es ihrer Neugier und Vorfreude geschuldet war. Überglücklich über ihren Fund blätterte sie darin herum und las hier und da ein paar Passagen.
Als das Wasser zu kochen begann, goss sie es in den Becher und schielte nebenbei weiterhin auf die Zeilen. Die Sätze lenkten sie ziemlich ab und der Wasserkocher verharrte gefährlich nahe und schief in der Luft. Dabei fächerten die Buchseiten auf, weil sie ihr Gewicht verlagerte.
In diesem Moment fiel ein flacher Gegenstand, der zwischen den Blättern geklemmt hatte, heraus und flog mit einem schnellen Salto über die Bodenfliesen.
Penelope war verdutzt, stellte den Wasserkocher ab und bückte sich danach. Es sah aus wie ein Stück dickeres Papier. Fälschlicherweise erschien das Material warm, vermutlich hatte sie ihren erworbenen Schatz ein bisschen zu stark während der Busfahrt an die Brust gedrückt.
Irritiert drehte sie es und betrachtete den Gegenstand eingehend. Auf der einen Seite war nur graue Farbe zu erkennen, die rissig, verknickt und veraltet wirkte. Auf der anderen befand sich ein farbloses Bild. Es zeigte einen altertümlichen Hofnarr, wie man ihn aus Filmen und Geschichten kannte. Er trug eine zweifarbige Narrenkappe, die durch das Grau an Glanz verloren hatte und schien schallend zu lachen. Seine Arme waren ausgebreitet und jonglierten mit fünf Bällen. Der Stoff um seine Schultern war aufgebauscht, sodass er beinahe seine Wangen berührte.
››Ein Lesezeichen‹‹, schlussfolgerte Penelope. Sie drehte das Lesezeichen nochmals. Es war abgenutzt und das fade grau-weiße Bildnis des Narren sah unschön aus. Sie zuckte mit den Schultern. Ein kostenloses Geschenk, welches man zwischen den Seiten vergessen hatte.
Sie steckte es in das Buch, nahm den Becher und ging über den Flur an dessen Ende, vorbei an der Badezimmertür, in ihr Wohn- und Schlafzimmer.
Dieser Raum war größer und ihr ganzer Stolz. Sie hatte ihn mit einem klappbaren Raumtrenner aus Holz und zwei großen Pflanzen zu beiden Seiten getrennt. Im vorderen Bereich befand sich ihr Wohnzimmer, dahinter das Schlafzimmer. Vor der Trennwand stand ein für etwa drei Personen großes dunkles Sofa. Auf dessen Lehne hing ihre helle Kaschmirdecke. Davor ein Glastisch und gegenüber ein Fernseher, der an der Wand befestigt war. Darunter erstreckte sich ein langes Board für Technik, Filme und Bücher.
Im Schlafbereich stand an der Wand ein Futonbett und ein Kleiderschrank.
Beide Bereiche wiesen ein großes Fenster mit Sims auf. Im Wohnzimmer jedoch befand sich noch eine kleine Glastür, die auf einen Minibalkon führte. Gerade mal so groß für zwei Personen, aber Penelope liebte ihn. Dort hatte sie sich einen Balkonüberwurf zugelegt, in dem sie jedes Jahr Kräuter züchtete.
Heute hatte sie allerdings genug von dem Wind und wollte sich nicht auf den kleinen Holzstuhl setzen. Sie stellte den Tee auf den Glastisch und ließ sich auf ihr Sofa fallen. Mit der Decke und dem Duft des Tees wurde es schnell gemütlich. Eine ruhige Idylle, die die braunhaarige Frau sehr liebte und zu schätzen wusste. Waren diese Momente in ihrem Alltag selten geworden.
Das Lesezeichen zog sie wieder heraus und legte es neben sich. Wem es wohl gehört haben mochte? Es schien wirklich alt zu sein. Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich seufzend dem Buch zu.
Seelenruhig begann sie zu lesen.
Über das Lesen vergaß sie die Zeit und erst als ihr Magen laut zu rebellieren begann, wurde ihr bewusst, dass die Sonne schon lange untergegangen war. Der Samstag lag in den letzten Zügen, was Penny sauer aufstieß. Viel zu schnell ging ein Wochenende zu Ende. War erst einmal der Samstag vorbei, verging der Sonntag schneller als der Schall.
Ohne nachzudenken wollte sie das Buch mit einem lauten Knall schließen, als ihr in letzter Sekunde einfiel, dass sie das Lesezeichen vergessen hatte. Schnell drückte sie ihren Finger zwischen die Seiten, um den zuletzt gelesenen Absatz nicht zu verlieren, als ein brennender Schmerz die Hand durchzog. Sie zischte wie eine aufgebrachte Viper.
››Verdammte ...‹‹, fluchte sie wütend und unterdrückte den Reflex ihren Finger wieder herauszuziehen. Trotz Schmerz schaffte sie es das Buch nicht fallen zu lassen und die Seiten an der richtigen Stelle aufzudecken.
Das alte Papier hatte einen langen Schnitt durch die Haut gezogen. Erst war da nur ein Brennen und Pochen, dann suchte sich der Schmerz einen Weg zu den Nerven und schließlich trat Blut aus.
Penelope verzog die Mundwinkel. ››Das kann doch echt nicht wahr sein!?‹‹ Instinktiv steckte sie sich den brennenden Finger in den Mund und schmollte. Ein Gefühl von Wut und Frust erfasste sie, schüttelte sie regelrecht durch. Immer wieder passierten ihr Missgeschicke. Dinge, die einfach nicht sein mussten und ihr den Tag regelrecht versauten. Die Beine zitterten vor Ärgernis.
Als der erste Schmerz verebbte, zog sie den Finger wieder aus ihrem Mund, betrachtete ihn und seufzte. Der Schnitt war tief. Er teilte die Haut wie eine Erdspalte das Tal.
Die Frau schnappte sich das Lesezeichen und wollte es gerade in das Buch legen, als ein feines Rinnsal Blut auf das dicke Papier rann. Wie als wollte sie das Schicksal verhöhnen, bahnte sich die rote Flüssigkeit einen Weg über das Lesezeichen.
››Nein‹‹, sie atmete tief ein, hielt kurz die Luft an und stieß sie dann brutal wieder aus. ››Nein, ich rege mich jetzt nicht auf! Es ist nur ein altes, gammeliges Lesezeichen und dem Buch ist nichts passiert, oder …?‹‹ Geschockt untersuchte sie das Buch und fand es glücklicherweise unversehrt vor.
Sie legte das Lesezeichen vorsichtig und langsam mit dem Blutfleck nach oben neben das aufgeschlagene Buch, damit es trocknen konnte. Warum regte sie sich eigentlich auf? Insgeheim mochte sie dieses Bild sowieso nicht, also konnte es ihr auch egal sein. Ob das Papier das Blut in sich aufnahm und noch ewig von ihrer Dummheit sprach, oder nicht. Sie machte eine schmollende Geste und stöhnte genervt.
Dann holte sie sich ein Pflaster aus dem Bad und machte sich an ihr Abendessen.
Da an diesem Abend ein toller Film im Fernsehen lief und das Blut bereits getrocknet war, legte sie das Lesezeichen zurück zwischen die Seiten und schloss den Schatz.
Die Straßen der Stadt waren überfüllt von Autos, Bussen, Fahrrädern und Fußgängern. Ein Gedränge und Geschiebe. Es stank nach Benzin und den ersten morgendlichen Zigaretten. Fahrradfahrer schoben sich vor und die Autofahrer hupten und vollführten wilde Gesten hinter den Windschutzscheiben. Die Personen auf den Bürgersteigen machten fast alle einen krummen Rücken. Die Last des frühen Aufstehens entlud sich auf ihren Schultern.
Penelope bekam davon nicht viel mit. Sie war nur froh in dem überfüllten Bus einen Sitzplatz ergattert zu haben. Ihr Kopf lehnte am Fenster, die Augenlider halb geschlossen. Ausgiebig gähnte sie und hielt sich die Hand vor den Mund. Wie jeden Montag Morgen war sie nur schwer aus dem Bett gekommen, hatte beinahe den zweiten Weckruf ihres Handys überhört und war dann dem Zeitdruck erlegen gewesen. Die öffentlichen Verkehrsmittel warteten nun einmal auf niemanden und um in das Industriezentrum zu gelangen war es relativ weit zum Laufen. Also hieß es für sie jeden Arbeitstag aufs Neue, alles oder nichts. Schaffte sie ihren Bus nicht zu erreichen, würde sie eine ganze Stunde zu spät zur Arbeit kommen. Zum Glück war ihr dies bisher nur einmal widerfahren, was allerdings ein derbes Donnerwetter vom Chef mit sich gebracht hatte.
Die Müdigkeit wollte sie mit einer brutalen Dampfwalze überrollen. Der Film war durch die vielen Werbeeinblendungen schier unendlich gewesen. Verbunden mit der Tatsache, dass sie letzten Samstag ebenfalls Dienst gehabt hatte, ließ die Erholung für das vergangene Wochenende reichlich gering ausfallen. So war es gut, dass sie erst in vier Wochen wieder einen Samstagsdienst übernehmen musste.
Unaufhörlich blinzelte sie den drohenden Schlaf weg, der ständigen Angst erlegen einzunicken. Wenn dies geschehen würde, verpasste sie ihren Ausstieg.
Nur noch zwei Haltestellen, dann hatte sie ihr Ziel erreicht. Das musste doch zu schaffen sein!? Wieder gähnte sie lang und linste auf die Straße, in der Hoffnung etwas zu sehen, was ihre Aufmerksamkeit weckte.
Kurz darauf stieg sie aus und streckte sich. Die kalte Morgenluft umhüllte sie und legte sich rasch in einem sachten Rosa auf ihre Wangen. Mit hochgeklapptem Kragen nahm sie die letzten Meter zu ihrer Arbeitsstätte.
Es lag der Duft von Industriemaschinen in der Luft. Ein metallischer Gestank, der gegen das Treibgas der Automobile ankämpfte und sich teilweise mischte. Er legte sich mit jedem Atemzug auf die Zunge. Obwohl Penelope ihn kannte, musste sie husten.
In diesem Viertel gab es die unterschiedlichsten Gebäude. Einige waren klein und eher flach, andere langgezogen, wenige streckten sich wie Hochhäuser in die Höhe und wollten die Wolken greifen. Als Penny um die Ecke bog, sah sie ihn schon: Ihren Komplex. Ob Glück oder nicht, da war sie sich nie so sicher gewesen. Sie arbeitete in einem der größten Gebäude dieses Stadtteils.
Die Westmann GmbH & Co. KG war ein weltweites Großunternehmen, dass Computerchips und technische Datensicherungsspeicher herstellte. Erst vor kurzem hatte man einen Deal mit einem weltgrößten Handyhersteller gemacht. Penelope schmunzelte, als ihr die Erinnerung an letzte Woche in den Sinn kam, wo eine Gruppe Chinesen im Empfang aufgetaucht war. Unbedingt hatte man nach Veröffentlichung dieses Geschäftes die Produktion bestaunen wollen, aber da hatten sie nicht mit ihrem Chef gerechnet. Industriespionage war in der heutigen Zeit an der Tagesordnung.
Die hohen Absätze ihrer Pumps klapperten auf dem Asphalt, dann kam sie zum Stehen und sah an der Fassade empor. Der Komplex war bemerkenswert und erdrückend zugleich. Unmengen von Glas, die in den Himmel einzutauchen schienen, ließen das Gebilde eher verschwinden, als es hervorheben. Edel. Schmal. Graziös.
Etwa fünf Meter lang tat sich vor ihr ein grobes Steinpflaster auf. Zu beiden Seiten waren Bahnen von Pflanzen angelegt. In Gedanken ging sie die Termine für den heutigen Tag durch und musste bei dem Anblick an den Gärtner denken. Die Beete sollten winterfest werden.
Neben den breiten, elektrischen Eingangstüren stand der Firmenname in geschwungener, einladender Schrift. Die Buchstaben waren aus Stahl und, um den Anschein einer Dreidimensionalität zu erwecken, ein gutes Stück vom Mauerwerk abgesetzt.
Penelope straffte ihre Schultern, zog ihren Stiftrock zurecht und ging vorsichtig weiter. Der grobe Stein unter ihren Sohlen, hatte ihr so manches Schuhwerk gekostet, daher nahm sie diese letzten Meter sehr behutsam und sah dabei aus, als ginge sie auf rohen Eiern.
Die Türen schnellten auf und eine mechanische Stimme begrüßte sie: ››Wir heißen Sie herzlich Willkommen bei der Westmann GmbH & Co. KG. Ihre Zukunftsvision ist unser Geschäft!‹‹
Wenn man nach fast vier Jahren jeden Tag mehrere Male diesen Slogan hört, wünscht man sich einen Stromausfall im Empfangsbereich. Penelope äffte die Begrüßung angesäuert nach.
Hier arbeitete sie, hier war ihr Reich.
Der Empfang glich einer Oase der Schönheit, sollte es doch jeden Kunden einen ehrfürchtigen Seufzer entlocken, jeden Arbeitnehmer erfreuen hier arbeiten zu dürfen und jeden Konkurrenten vor Neid erblassen lassen.
Zu ihrer Linken befand sich eine Couchlandschaft mit Tisch und mehreren Werbeaufstellern. Wären nicht noch die beiden Pflanzen in den überdimensionalen Kübeln gewesen, würde es zu steril wirken. Die Couch war so ausgerichtet, dass jeder der Sitzenden einen guten Blick auf den Fernseher hatte. Auf dessen Bildschirm flimmerte die gesamte Arbeitszeit ein Werbevideo. Dort waren Mitarbeiter und Auszubildende befragt worden, Ausschnitte aus der Produktion zu sehen und vieles mehr. Eine weitere Folter für alle im Empfang, denn auch dieser Film war in den ganzen letzten Jahren nicht angepasst worden. Einige Auszubildende hatten die Abschlussprüfung längst hinter sich gelassen. Manche Kollegen kannte Penny nicht einmal, da man sie nicht mehr zur Belegschaft zählte. Für ein derart großes Unternehmen empfand sie das als unwürdig, aber was hatte sie schon zu sagen?
Direkt ihr gegenüber in eine Wand aus roten Backsteinen, die wohl das Gebilde auflockern sollten, war der Fahrstuhl eingelassen.
Zu ihrer Rechten war der Empfangstresen. Ein in Marmor gehaltener Klotz, der zwar schön aussah, dessen Hintergrund aber die andere Seite der Medaille darstellte.
Alles glänzte im Schein. Eine Welt aus Glanz und Trug, denn hier unten befanden sich die Arbeitnehmer, die am wenigsten geachtet und am wenigsten verdienten. Die aber, und das war der größte Betrug an sich, am meisten arbeiteten. Irgendwie war es eine Farce, dass sich die Gehälter Stockwert für Stockwerk erhöhten.
Die Frau bog nach rechts ab, öffnete den Reißverschluss ihrer schwarzen Jacke und holte aus einer Innentasche einen Schlüsselanhänger. An dessen Ring baumelten mehrere Schlüssel und ein kleiner, runder Chip. Diesen zog sie über das Display eines Kastens, der neben einer schmalen Tür befestigt war. Nach dem Signalton drückte sie noch eine Taste und öffnete die Tür daneben, die in den Bereich hinter dem Tresen führte. Hier, abgeschottet vor aller Augen, lagerten Ordner, alte Dokumente, eine kleine Küche zu Bewirtungszwecken und auch die Garderobe.
››Du bist heute knapp dran‹‹, murrte jemand in der Ecke, ››ich habe schon alles eingeschaltet, wir können sofort loslegen.‹‹
Penelope grummelte müde in sich hinein. ››Als ob mir das noch nicht aufgefallen wäre.‹‹
Im Ausziehen der Jacke lugte Penny über die Schulter in die Richtung, aus der die Stimme kam. Es war Jasmina. Ihre blonde, vollbusige Kollegin, von der sie nicht so recht wusste, wie sie sie einschätzen sollte. Manchmal war sie nett zu ihr, manchmal einfach nur hochnäsig. Jasmina war ihr Äußeres wirklich wichtig. Sie trug die neuste Mode, das teuerste Make-Up und hatte sich so oft unter das Messer gelegt, dass Penelope nicht mehr mit Sicherheit sagen konnte, was an ihr noch echt war. Was ihre Oberweite anging, hatte der Arzt in jedem Fall übertrieben. Gerade jetzt trug sie eine blaue Bluse, wo mehrere Knöpfe nicht geschlossen waren. Ihre Brüste stachen hervor wie zwei Melonen aus einem zu kleinen Korb.
Penny wandte sich ab, damit Jasmina nicht sah, wie sie die Augen verdrehte.
Ein Türbogen führte beide zurück in den Empfangsbereich und direkt hinter den Tresen. Dort standen vier Monitore und zwei Computer, zwei Bürostühle, mehrere Ordner und Ablagefächer, die aus Ordnungsgründen vor den Blicken der Kunden verborgen wurden.
Sie ließ sich auf einen der Stühle fallen und schaltete ihren Computer ein. Die Handtasche legte sie in eines der Fächer unter ihrem Schreibtisch.
››Einen guten Morgen zu wünschen wäre auch mal nett gewesen‹‹, knurrte Jasmina und tat es ihr gleich.
››Tut mir leid‹‹, stieß Penny seufzend aus und strich sich über die Stirn. ››Du hättest ja auch etwas sagen können. Und um auf deine Aussage zu kontern: Mein Bus hatte heute knapp zehn Minuten Verspätung.‹‹
Ihre Kollegin zeigte sich beleidigt. ››Hm.‹‹
Sie setzte ihr Headset auf und begann ihren Arbeitstag.
Penelope und Jasmina waren die Frauen für alles, die zentrale Schnittstelle des Unternehmens. Bei Ihnen gingen die Telefonate ein, die weitergeleitet werden mussten, sowie die allgemeinen E-Mails. Sie bewirteten und begrüßten Kunden und Kollegen. Jasmina kümmerte sich stets euphorisch um die Führungspositionen, zumindest wenn sie männlich waren. Mit ihrem Aussehen erhoffte sie sich eine besser bezahlte Position. Penny lachte innerlich jedes Mal darüber, weil sich die Frau dermaßen verbog, dass es irgendwann einfach in einem derben Misserfolg enden musste. Für sie war die Arbeit zwar nicht schön, aber sie bezahlte ihre kleine Wohnung und all das, was sie zum Leben brauchte. Der Job war stressig und natürlich könnte er gerne mehr einbringen, aber sie gab sich damit zufrieden.
Nachdem sie in ihrer Mittagspause an die frische Luft gegangen und ihre Scheibe Brot mit Käse gegessen hatte, setzte sie sich wieder vor ihre zwei Bildschirme und arbeitete an einem Schriftstück. Jetzt war Jasmina mit ihrer Pause dran, doch bevor sie verschwand flüsterte sie ihr noch zu: ››Die zwei Besucher für Herrn Kamm sind da. Er weiß schon Bescheid und kommt gleich runter, um sie zu empfangen.‹‹ Sie deutete zu dem Sofa und verschwand.
Dort hatten zwei Männer in Anzügen Platz genommen. Sie unterhielten sich gestenreich über das Werbevideo.
Einige Sekunden darauf ertönte wieder die mechanische Stimme und begrüßte einen Neuankömmling. Penny machte sich lang und lugte neugierig über den Tresen.
Ein Mann mit extrem weiter Kleidung, die Hände lässig in die Hosentaschen gesteckt, kam durch den Eingang. Sein dunkles Haar stand in der Stirnmitte nach oben ab. Er schlenderte durch den vorderen Bereich und sah sich mit einem staunenden Pfiff um. Die Statur des Mannes musste sehr zierlich sein, denn der graue Pullover schlug Beulen, als habe er ihn zwei Nummern zu groß erworben. Die helle Jeans musste in Hüfthöhe mit einem Gürtel gehalten werden, der eine lange Schlaufe zog.
››Kann ich Ihnen helfen?‹‹, fragte Penelope und winkte ihn zu sich.
Der Unbekannte hob eine Braue und verharrte in seiner Haltung. Noch einmal sah er sich zu allen Seiten um und die Frau musterte ihn abschätzend. Wie er so nähertrat glaubte sie zu erkennen, dass es sich um einen Jugendlichen handeln musste. Ohne weiter darüber nachzudenken, gab sie von sich: ››Es tut mir leid, wir haben derzeit keine Praktikums- und Ausbildungsplätze zu vergeben. Gern können Sie...‹‹
››Kein Interesse, Süße!‹‹
Sie stutzte verdutzt. Sorge etwas Wichtiges vergessen zu haben machte sich in ihr breit. Sie wollte auf keinen Fall einen Fehler machen und warf einen Blick in ihren Terminplaner. Auch dort war nichts zu finden. Heute würden keine weiteren Besuche stattfinden, jedenfalls nicht angekündigt.
Der junge Mann sog geräuschvoll die Luft durch die Nase ein. Seine Nasenflügel blähten sich. Allmählich gewann er die Aufmerksamkeit der Besucher auf der Couch. Beide Männer sahen leicht angewidert zu ihm hinüber, was der Empfangsdame unangenehm wurde.
››Suchen Sie vielleicht eine andere Firma? Ich kann Ihnen eventuell helfen.‹‹ Trotz dass Penny gerade über die Unterbrechung nicht glücklich war, legte sie eine freundliche Miene auf. Sie war die erste Instanz dieses Unternehmens. Das Bild, welches man in den ersten Sekunden sah und welches man sich einprägte. Geduld, ein gepflegtes Äußeres und Freundlichkeit hatten oberste Priorität!
Erneut sog er die Luft durch die Nase ein, nur noch viel länger. Der Ton, der dabei entstand, war abartig.
Die Männer begannen zu tuscheln und machten Penelope nervös. Wieso kam Herr Kamm nicht? Immer ließ er Besucher warten und sie musste die Kohlen aus dem Feuer holen, weil sie ungehalten darüber waren. Dass sie nun auch noch dieses Schauspiel mitbekamen, war mehr als unvorteilhaft.
Penny wurde langsam wütend. Sie stellte sich auf, um mehr Präsenz zu zeigen. ››Mir ist nicht bekannt, dass Besuch erwartet wird. Kann ich Ihnen also helfen? Kennen Sie jemanden in unserem Unternehmen und wollen mit ihm sprechen, oder …?‹‹
››Halt die Klappe!‹‹ Pennys Kopf zuckte ein Stück zurück bei dem harschen Tonfall, den er in ihre Richtung warf. Die beiden Männer zuckten ebenfalls zusammen. Der erste stand bereits auf.
Ein weiteres Mal roch der Junge und hob dabei das Kinn. ››Ich kann es riechen!‹‹
Der ältere Herr, der auf ihn zugegangen war, blieb stehen und seine Stirn grub fragende Falten. Er wollte gerade zu etwas ansetzen, als der Unbekannte sagte: ››