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››Du wurdest gesegnet, Junge. Du musst es doch fühlen. Du bist anders!‹‹ Das Waisenkind Felix hat nichts Gutes in seinem Leben. Keine Konzentration, keine Freunde, keine guten Noten und keine Familie… Am liebsten würde er aus dem Kinderheim ausreißen, auffallen würde das ohnehin nicht, wie er glaubt. Eines Tages jedoch ändert sich alles Schlag auf Schlag und er erhält die Chance in eine Welt einzutauchen, die es sonst nur in Geschichten und Filmen gibt – eine magische Welt. Ein Neuanfang wie er es sich immer gewünscht hat! Doch leider muss Felix auch dort feststellen, dass er aus unbekanntem Grund zwar begabt ist, aber ihn seine Familiengeschichte teilweise erneut zum Außenseiter macht. Noch dazu wird schnell klar, dass die Schule ein Geheimnis birgt. Ein Geheimnis, welches mit seiner Vergangenheit verstrickt zu sein scheint und alles mit einem großen, dunklen Schatten überzieht… Ein Abenteuer von Freundschaft, Leid, Hoffnung und Zuversicht beginnt!
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Seitenzahl: 647
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Melanie Ruschmeyer
Ignis In Tenebris
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Der Atem des Rath
Impressum
Texte: © 2024 Copyright by Melanie Ruschmeyer
Cover: © 2024 Copyright by Melanie Ruschmeyer
Verantwortlich:
Melanie Ruschmeyer
Güntherweg 5
31785 Hameln
Druck/Vertrieb: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Im Büro des Schulleiters
Die Sonne war gerade hinter den Baumwipfeln verschwunden und läutete die letzten Minuten des Tages ein, die sich in Form eines Feuer ähnlichen Schimmers über den Horizont erstreckte. Wie Fangarme griffen sie zu allen Seiten und gaben auch den Tieren des Waldes zu verstehen, dass es an der Zeit war sich zur Ruhe zu begeben. Bald würde die Nacht hereinbrechen und andere Jäger würden ihre Augen öffnen.
Letzte Vogellaute waren zu vernehmen. Ein Rotmilan erhob sich in die Lüfte und schlug kräftig mit den Flügeln, um gegen den aufkommenden Wind anzufliegen. Sein Horst war sehr weit oben. Er flog über den dichten Wald, machte Schlenker hin und her, bog sich in die Strömungen. Plötzlich lichtete sich die Dichtheit und ein großer See erstreckte sich unter seinen Schwingen. In mitten des spiegelglatten Sees stand auf einer kleinen grasbewachsenen Insel ein großer Baum. Er war gigantisch und überragte den angrenzenden Wald. Dahinter jedoch verlief eine sehr steile Steinwand hinauf. Ein gewaltiges Rauschen verkündete den Wasserfall, der sich durch das Gestein in den See ergoss.
Das Tier hielt auf die Wand zu, richtete seine Schwingen aus und schoss wie ein Pfeil einen halben Meter entfernt davon hinauf.
Das Wasserrauschen dröhnte in seinen Ohren, benebelte die Sinne des Milans, ließ ihn aber auch aufatmen. Bald hatte er sein Ziel erreicht.
Wassertropfen peitschten in sein Gesicht, legten sich wie Regen auf seine Federn.
Immer höher musste er hinauf. Sein Schwung reichte nicht mehr aus und er begann hektisch mit den Flügeln zu schlagen. Ein Blick zurück und ihm wurde klar, dass die Sonne verschwunden war. Das Licht erlosch. Panik kroch in seine Glieder. Er musste sich beeilen!
Wasser trat durch Steinrisse. In Rinnsalen schlängelte es sich zum Wasserfall hinab. Moos und kleine Pflanzen überwucherten das Grau.
Nur noch wenige Meter! Sein Schnabel tauchte in eine dicke Suppe, die sein Ziel vor all den Blicken unwürdiger verborgen hielt.
Als er auf der anderen Seite des Nebels heraustrat, konnte er die geschlängelte Treppe schon sehen, die Fackeln, Zinnen und Türme und endlich auch das rettende Tor!
Nun kam die Burg vollends zum Vorschein. Die Lichter aus den Fenstern, die Fackeln überall in und um diesen Ort. Wie Lampen auf einer Landebahn luden sie zur Landung ein.
Das mächtige Schloss auf dem höchsten Berg in dieser Region lag friedlich dar.
Obwohl er viel zu spät heimkehrte, flog er um jeden Turm und machte einen spielerischen Salto über dem Innenhof. Dort bemerkte er auch eine Gestalt, die wild und wütend gestikulierte. Er würde unweigerlich großen Ärger bekommen, was machten da schon ein oder zwei Minuten mehr aus?
Dabei flog er am größten und breitesten Turm des Schlosses vorbei.
Vorbei an einem großen spitz zulaufenden Fenster.
Während er langsam zur Landung ansetzte, fand hinter diesem Glas eine Unterhaltung statt. Eine Auseinandersetzung, die vieles veränderte...
Es schepperte laut, als der Mann auf die Tischplatte seines sehr großen Schreibtisches schlug. Einige Gegenstände klapperten, die drei Federkiele samt Tintenfässer hüpften und seine hellen Augen schauten finster drein. Durch seinen Wutausbruch saß die Brille, die mit einer dünnen Kette hinter seinem Ohr befestigt war, schief. Um sich zu beruhigen richtete er sie wieder gerade aus und strich durch das anfänglich ergraute Haar. Sein kleiner Ziegenbart begann zu zucken. Beiläufig ließ er seinen Blick durch den rundlichen Raum schweifen.
Ungefähr drei Meter vor seinem Mahagonischreibtisch stand ein hochgewachsener, schlaksiger Mann mit dunklem Haar. Seine Augen saßen ein wenig zu eng und er besaß eine knubbelige Nase. Gehüllt in mehrere farbenfrohe Schichten Stoff, die übereinander lappen, erschien er noch größer. Selbst sein schwarzer Umhang vermochte nicht den Boden zu berühren.
››Nein, ich bleibe dabei!‹‹, knurrte er den Mann vor sich an und hoffte, dass der ihm gegenüber endlich aufgeben und verschwinden würde. Sein sonst so bequemer Stuhl, fühlte sich in diesem Augenblick recht hart an. ››Ein weiteres Mal lasse ich mich nicht überreden, Ikarus!‹‹ Die Stimme durchflutete den Raum wie eine gigantische Welle. Mit voller Absicht legte er alle Kraft hinein, um seinen Standpunkt ein für alle mal klar zu machen. Dabei lugte er flüchtig zu seinem Butler hinüber, der links an der Wand stand.
Bidwig Winter war schon ewig hier. Seine Zuverlässigkeit war unbeschreiblich, seine Loyalität einzigartig und die Hingabe für seine Arbeit unvergleichlich. Bidwig war ein Halbelf und daher schon sehr alt, was man ihm nicht ansah. Sein schwarzes Haar hatte einen bläulichen Stich, seine Ohren liefen leicht spitz zu und er besaß ein kantiges Gesicht. Als er den Blick bemerkte, nickte er hochachtungsvoll. Der Halbelf trug stets einen dunklen Anzug. Nie hatte der Mann gesehen, dass auch nur ein Staubkorn den Soff besudelte.
Die gesamte rechte Wand wurde von Büchern belagert. Teilweise türmten sie sich von der obersten Regalablage bis unter die Decke. Die Ledereinbände wirkten alt. Viele Schriften waren in seltsamen Hieroglyphen geschrieben.
Nach einer langen Pause, in der er geglaubt hatte nun endlich seinen eigentlichen Pflichten nachgehen zu können, räusperte sich der schlaksige Mann vor ihm und erhob abermals das Wort: ››Das ist nicht Recht und das weißt du ganz genau!‹‹ Mit gehobener Hand streckte er den Zeigefinger aus und deutete hinter den Mann. ››Wende den Blick nicht ab! Jahr für Jahr nimmst du sein Bild von den Anfängern herunter. Du versperrst ihm seine Zukunft! Es ist sein Geburtsrecht! Wie lange willst du das noch tun, Arkadius?!‹‹
Arkadius verzog die Mundwinkel als habe er in eine Zitrone gebissen. Das Wissen, was Recht und Unrecht ist, wusste er nur zu gut, jedoch konnte er das Geforderte nicht tun!
Er richtete sich auf, klopfte den Stoff seiner Robe gerade und sah schräg hinter sich. Dort befand sich, ganz unscheinbar und versteckt hinter einem Regal aus Reagenzien und allerlei Krimskrams, sowie einigen verstaubten Bildern, die kleine Tür zu einem der Türme. Direkt dahinter eine Wendeltreppe, die nur wenige betreten durften. Eines der Privilegien, die er genoss. Allerdings auch Ikarus.
Man nannte ihn auch der Turm der Erwählten. Dort, ganz oben, befanden sich an den Wänden leere Bilderrahmen. Einmal im Jahr wurden diese gesichtet, entfernt und neue aufgehängt. Innerhalb eines Jahres sammelte sich auf magische Weise Farbe in den Bilderrahmen. Die Namen derer brannten sich auf den unteren Rahmen. Gemälde von jungen Menschen entstehen, die bereit sind sich der Welt der Zauberei zu öffnen. Menschen, die das Schicksal als Magier bestimmt hat. Menschen, die das Recht haben auf diese Schule zu gehen.
Sie hatten die Pflicht diese Magier auszumachen und hierher zu bringen. So war es seit Jahrhunderten! Und so sollte es immer sein!
Alle bis auf einen.
Ja, Arkadius hatte ein Bild Jahr für Jahr entfernt. Hatte es verbrannt, entzaubert, zerrissen, sogar aus Wut, da es immer wieder kam, bombardiert, doch das Schicksal erwählte diese Person immer wieder. Anfangs war er so schnell damit gewesen, dass er seinen Diebstahl vor Ikarus hatte verbergen können, doch nicht lange.
››Wenn ich anmerken darf, mein Herr‹‹, Bidwig entriss Arkadius aus seinen Gedanken und trat vor. Der Butler stand steif aber selbstsicher da. ››Es gibt genügend kleine Schulen, die der junge Herr besuchen kann.‹‹
››Genügend?! Genügend?!‹‹, höhnte Ikarus empört und wurde noch wütender. Die Lippen zitterten vor Zorn und Trauer. ››Dies ist die beste Schule im ganzen Land, eine der besten in ganz Europa und wir sind es ihm schuldig, dass er hier unterrichtet wird! Willst du ihn wirklich dazu verdammen, auf eine gewöhnliche Schule zu gehen?‹‹, Ikarus machte eine abfällige Geste in Richtung Bidwig, ››Oder auf eine dieser Stümpermagieschulen!‹‹
Bidwig fühlte sich wohl angegangen und hob einen Arm mit Faust zur Brust. ››Schuldig, der Herr?! Wir wären es ihm schuldig?! Ich möchte doch sehr bitten! Sie sprechen hier vom Sohn einer schändlichen Familie!‹‹
››Lässt du immer deinen Butler für dich sprechen, Arkadius?‹‹, fragte der schlaksige Mann provokant und setzte sogar noch eines drauf: ››Denke daran, du hast schon einmal verloren und ich werde auch dies nicht länger hinnehmen. Arkadius, du bist mein Freund, bitte lass mich das nicht tun müssen!‹‹
››Dann tu es nicht, verdammt noch mal!‹‹ Der Rektor fasste sich an die Stirn und sah missmutig drein. Allmählich wurde er zu alt für diese Auseinandersetzungen.
››Du weißt genau, dass es meine Pflicht ist. Ich habe auf das Buch der Lehrerschaft geschworen, auf das Buch dieser Schule! Du hingegen bist dabei sie zu verraten! Bitte, Arkadius, lass es ihn wenigstens ...‹‹
››Glaubst du etwa ich habe das nicht getan? Ich beschütze Schüler und Schule mit meinem Leben, gerade deshalb darf dieser Fehler nicht wiederholt werden!‹‹ Zornig fiel sein Blick auf ein Dokument, das auf seinem Schreibtisch lag. Es war heute angekommen und, überflogen oder nicht, es brachte Unheil.
››Womöglich ist es kein Fehler und du nimmst jemand Unschuldigen die Zukunft.‹‹ Er machte auf dem Absatz kehrt und seine Schritte waren absichtlich laut gewählt.
Der Schulleiter stützte sich am Tisch ab und sah an die Decke. Er stellte sich den Raum über ihm vor. All die Bilder, die er vom Vortag gesichtet und dessen Namen er an das Sekretariat weitergereicht hatte.
››Soll ich ihn aufhalten, mein Herr?‹‹, wandte sich sein Butler an ihn.
››Nein‹‹, er winkte gestenreich ab, ››nein, das hat keinen Sinn. Heute wird er ohnehin keine Beschwerde mehr verfassen. Er kümmert sich um die Beaufsichtigung von Herrn Frießs Arbeit.‹‹
Aus einem seiner Taschen fischte er einen goldenen Schlüssel und steckte ihn in eines der Fächer des Schreibtisches. Im Anschluss entnahm er einen gelblichen Briefumschlag, zog das ebenfalls vergilbte Pergament heraus und schüttelte traurig den Kopf. ››Es tut mit leid. So leid. Jetzt habe ich ein weiteres Mal versagt. Du hast auf den Falschen gesetzt.‹‹
Pflichtbewusst und mit klarer Stimme vernahm er Bidwig: ››Ich werde auf ihn aufpassen, mein Herr!‹‹
››Mein lieber, lieber Bidwig. Ich kenne niemanden, der so gut in allem ist, wie du‹‹, Arkadius seufzte schwer und schloss die Augen vor den Worten, die sein Freund ihm hinterlassen hatte, ››aber auch du kannst nicht überall sein.‹‹
››Ich bin ein Halbelf, Sir.‹‹
Ja, Arkadius wusste um seine Schnelligkeit, um seine magischen Fähigkeiten, die die menschlichen bei weitem überschritten und auch um sein gewaltiges Magiewissen. Jedoch allem zum Trotz, sah der Schulleiter schwarz.
››Zweifelsohne, Bidwig, aber niemand kann mit Bestimmtheit sagen, wann die Finsternis zurückkehrt.‹‹
››Sie ist da draußen, mein Herr, und sie wird niemals weichen.‹‹
››Jede Kerze, und sei sie noch so klein, lässt einen dunklen Schatten entstehen.‹‹ Der Schulleiter sah zum hellen Schein der cremefarbenen Kerze auf seinem Schreibtisch. Dabei fiel ihm erneut der Brief des Zauberschulamtes ins Auge. Das bedeutete Ärger; großen Ärger. Alle würden derbe Einschränkungen erwarten. Sie hatten doch bereits eiliges unternommen um kein Aufsehen zu erregen und das Geheimnis vor den Blicken anderer zu verstecken. Kurz loderte ein Feuer des Zornes in ihm auf. Arkadius Fortiscor hatte geglaubt mehr Zeit zu haben, um seine Pläne umzusetzen. Wer nur war es gewesen, der ihn das Amt auf den Hals hetzte? Eine Vermutung lag nahe, aber nicht immer barg ein Schein auch das Ergebnis.
››Und dennoch vermag ein Licht in Dunkelheit zu erstrahlen.‹‹
Arkadius lächelte. ››Wie wahr.‹‹ Seine Finger tippten gedankenverloren auf dem Holz. ››Ich habe schlimme Vorahnungen, Bidwig. Wir müssen unsere Bemühungen ihn zu finden verdoppeln.‹‹
Es war ein schöner Sommertag. Die Sonne stand hoch am Himmel, als die Schulglocke ertönte und das Ende des Lernens hinausschrie.
Natürlich dauerte es nicht lange, da wurden die Eingangstüren aufgerissen und die Kinder rannten in Scharen hinaus. Ein Johlen, Grölen und Jauchzen war zu vernehmen. Am Ende des Schulhofes teilte sich die Menge.
Einige gingen die Straße hinüber zu einer Bushaltestation, vereinzelt schlenderten manche die Wege entlang und eine weitere Schlange von Schülern nahmen den Weg in die entgegengesetzte Richtung. Für sie war der Weg nach Hause recht kurz. Es handelte sich um die Heimkinder des Hauses Abendröte. Ein recht großes Haus möchte man sagen, mit vielen Kindern unterschiedlichen Alters.
Auch Felix lebte unter ihnen. Gerade behielt er einen großen Abstand zu den anderen. Er ärgerte sich mal wieder über die schlechte Note, die er in Deutsch bekommen hatte. Die Tage vor der Klassenarbeit waren so schön gewesen, dass ihm nicht einmal im Traum eingefallen wäre dafür zu lernen. Dass er nun die Quittung bekam, war abzusehen, trotzdem ärgerte er sich nun über sich selbst. Frustriert biss er sich auf die Lippe und kickte mit dem Fuß einen Kieselstein über den Bürgersteig.
Felix war dreizehn, sehr dünn und normal groß gewachsen. Er hatte blonde, kurze Haare, die sich zu kleinen Locken kräuselten, was ihm total missfiel. Egal, was er versuchte, ob Gel, Haarspray oder sonst irgendetwas, seinen Haaren war das einerlei. Sie zogen sich in Sekunden zurück, als wollten sie ihn auslachen. Sein Gesicht war recht bleich und kantig. Zu seinem Entsetzen bemerkte er auch allmählich die ersten kleinen Bartstoppeln, die zwar noch weich, aber viel zu dunkel waren. Eigentlich mochte Felix nur eines an seinem Aussehen, seine Augen! Er besaß bernsteinfarbene Augen, eine echte Seltenheit. Um so schlimmer war es, dass ihm letzten Winter die Augenärztin mitgeteilt hatte, dass er eine Brille bräuchte. Echter Horror! Seine Augen hinter Glas verstecken? Eingerahmt von Ringen?! Als ihm dieser Gedanke wieder kam, stöhnte er. Die Brille war in seinem Rucksack und das war gut so, trotzdem war klar, welcher Kommentar auf ihn wartete.
Als Schlusslicht bog jetzt auch er in die Schöne-Blumenstraße ein. Ein Witz, wie er fand. Hier gab es nämlich keine Blumen! Die Vorgärten der Häuser waren mit Steingärten aufgehübscht, oder für die Parkplätze der Autos gepflastert. Auch eine graue Wand, um Fußgängern den Blick in einen Garten zu versperren, verlief auf seinem Weg. Schönes Grau wo man nur hinsah.
FLAP! FLAP! Und ein Rabe landete auf der grauen Wand. Er hüpfte darauf herum und legte den Kopf schief, als er zu Felix hinuntersah. Felix schmunzelte, er kannte ihn. Der Rabe mit dem weißen Fleck auf der Brust, beugte sich in seine Richtung. Als wolle er sich beschweren, krächzte er laut. Manchmal glaubte Felix, dass ihn dieser Rabe verfolgte. Dummer Gedanke, das konnte nicht sein. Allerdings hatte er ihn hier und da mal gefüttert, was sein Interesse an ihm wohl nährte.
Ein paar Meter weiter tauchte die einzige grüne Hecke in der ganzen Straße auf. Dahinter jeweils drei Parkplätze zu beiden Seiten, die für Besucher des Kinderheims reserviert waren.
Das direkt angrenzende Gebäude war vierstöckig und hatte, wie Felix wusste, einen großen, grünen Hinterhof. Die Eingangstür stand noch offen, das letzte Kind musste wohl gesehen haben, das er noch kam. Obwohl, wenn Felix so darüber nachdachte … Nein, er war eh immer der letzte.
Felix wusste nicht recht, ob er sich freuen sollte. Tief atmete er durch, straffte und wappnete sich für den Rüffel, der mit Sicherheit auf ihn wartete und trat ein.
››Felix, wo ist deine Brille?‹‹ Da war er auch schon und er verdrehte die Augen.
Bonita stemmte die Hände in die Hüften - sehr dicke Hüften wohl bemerkt – und musterte ihn finster. ››Die Ärztin hat gesagt, dass du sie tragen musst! Du kannst sonst nichts in der Ferne sehen. Mensch, Bürschchen, es ist doch nur zu deinem Besten.‹‹
Nicht das schon wieder, dachte Felix. Dass seine Schultern bei dem Gedanken einen Ruck tiefer gingen, blieb Bonita nicht unbemerkt. ››Wie war Deutsch?‹‹
››Ach, das … ähm.‹‹ Er verzog die Mundwinkel.
Sie hob eine Braue. ››So schlimm, ja?‹‹
Bonita war eine rundliche, in die Jahre gekommene Frau. Die braunen Haare waren stumpf und krisselig. Felix glaubte, sie sei gefrustet. Verdammt dazu ihnen allen nachzuräumen und sich um sie zu kümmern. Einen Mann? Gott bewahre. Die nahmen alle Reißaus, so war er sich sicher.
Zugegeben, mit den Heimkindern war es auch nicht immer einfach. Mit ihm war es nicht immer einfach!
Der Blondschopf überging die Frage und machte sich auf zum Mittagessen.
In der Kantine herrschte bereits reges treiben. Seine Mitheimkinder hatten eine Schlange zur Essensausgabe aufgestellt. Instinktiv begann sein Magen zu knurren und so tat er es ihnen gleich.
Das Essen war nie besonders gut, aber Margot die Küchenchefin, war eine liebevolle Person, die sehr bemüht war mit dem wenigen Geld abwechslungsreich und gut zu kochen. Da sie immer ein Lächeln und liebe Worte zu verkünden hatte, mochte Felix sie sehr.
Nachdem er gegessen hatte, machte er sich auf in sein Zimmer. Dies war ein großer Raum, welchen er mit vier anderen Jungs teilen musste. Taylor, Emil und Andy waren in seinem Alter. Jakob war mit seinen fünfzehn Jahren nicht nur älter, seine Interessen waren auch völlig anders, was manchmal zu Problemen führte. Er las gerne nachts, hörte lange Musik oder behinderte das Schlafen der anderen anderweitig.
Während die Jungs schon alle an ihren Hausaufgaben saßen, kam Felix erst hinein. Traurig schaute er zu einem der Etagenbetten in der Nähe der Tür. Das untere war unberührt, die Decke ohne Falten, das Kissen ohne Delle. Hierbei handelte es sich um Jeremys Bett. Jeremy Frieß war vor fast fünf Jahren gegangen. Nun kam er nur noch in den Sommerferien her. Warum, blieb für alle ein Rätsel. Das einzige, was er ihnen verriet, war, dass er auf eine Schule weit weg ging. Eine Art Internat. Felix fand dies nicht verwunderlich, denn Jeremys Noten waren vorbildlich gewesen. Außerdem war er ein freundlicher Junge, jemand, der ihm Nachhilfe gegeben hatte. Da hier sonst kaum jemand mit ihm zu tun haben wollte, litten seine Noten seitdem er gegangen war.
Fast so, als haben seine Zimmergenossen seine Gedanken lesen können, sahen sie kurz auf, rümpften die Nasen, machten abfällige Gesten oder verdrehten die Augen.
Bald waren Sommerferien und er hoffte doch sehr, dass Jeremy zurückkommen würde.
Somit atmete Felix tief durch und machte sich an seine Hausaufgaben. Nur wenn er sie vorzeigen konnte, durfte er auf dem Hof spielen. Und bei diesem schönen Wetter spielten die Jungs fast immer draußen Fußball. Eines der wenigen Dinge, die ihm tierischen Spaß machten, da er sich austoben konnte. Bewegung war etwas, wonach sein Körper täglich verlangte. Stillsitzen, wie in der Schule, war eine Qual für ihn.
Er brauchte auch hier länger als die anderen für seine Hausaufgaben. Seine Gedanken aufzuhalten, war sinnlos. Wie ein dickes Knäuel behinderten sie ihn. Quasi eine Armee, die gegen seine Konzentration anhielt und sie kontinuierlich vernichtete. Jede noch so kleine Bewegung lenkte ihn ab. Er hasste es! Dass sein Kopf sagte, er müsste sich jetzt mal konzentrieren, brachte sein Körper gleich zum Scheitern. Spielend mit dem Radiergummi stöhnte er. Als er endlich fertig war – mehr schlecht als recht – konnte er nach draußen.
Der Hof hinter dem Gebäude war doppelt so groß wie in der Schule. Hier war ein Fußballfeld, welches früher einmal mit Gras bewachsen war. Jetzt allerdings lag dort ein Sandplatz mit zwei Toren zu den Seiten. Da dieser Ort so stark in Anspruch genommen wurde, hatte man es aufgegeben den Rasen zu pflegen und hatte anstatt seiner eine dünne Sandfläche platziert. Das war nicht gut für die Knie. So einige Schürfwunden hatten die kleinen Steine schon gekostet.
Ein kleines Klettergerüst, in die Jahre gekommen, fand rechts davon Platz. Die Mädchen hängten sich gerne daran, oder saßen darauf. Dann gab es noch zwei Bänke, wobei einer im Schatten eines Apfelbaumes stand. Auf dieser saß Bonita und beaufsichtigte die Kinder. Felix warf sie einen kurzen, flüchtigen Blick zu.
Im Baum raschelte es. Vermutlich befand sich der Rabe darin. Felix sah ihn oft dort.
Viele Jungs spielten bereits auf dem Fußballfeld, ihre Rufe waren weit zu hören. Felix zählte und freute sich über die ungerade Zahl der Teilnehmer. Schnell machte er sich zu ihnen auf.
››In welcher Mannschaft kann ich mitspielen?‹‹ Er stand am Spielfeldrand und verfolgte den Ball, damit er sofort ins Spiel kam.
Anfänglich beachtete ihn niemand, doch irgendwann, Felix klopfte schon nervös mit dem Fuß, winkte ihn Anton heran. ››Wir sind einer zu wenig, du kannst bei uns mitspielen.‹‹
Erics Lippen kräuselten sich angewidert. ››Das wird doch wieder nix!‹‹
Felix rannte los, suchte sich eine Lücke und wartete auf seine Chance. Dass Eric sauer war, konnte er ihm leider nicht verdenken. Wenn Felix irgendwo mitspielte, passierte immer etwas. Provokationen konnte er leider nie übergehen. Seine Geduld war ein dünner Faden. Felix versuchte stets das zu ändern und sich zusammen zu nehmen, aber Fehlanzeige, er schaffte es nicht. Das führte oft unweigerlich dazu, dass seine Mannschaft Elfmeter, oder rote Karten kassierte. Tim, der fast ausschließlich der Schiedsrichter war, nahm die Regeln sehr genau und er mochte Felix überhaupt nicht.
Blitzschnell schnappte sich Felix den Ball und preschte vor.
››Tim?!‹‹, hörte er Bonita rufen und der Schiedsrichter war abgelenkt. Taylor bückte sich, nahm eine Handvoll Sand und warf ihn, als Felix ihm näherkam, in das Gesicht.
Wie Nadelstiche stachen die kleinen Steine in die Haut. Der Staub legte sich auf seine Augen. Felix kam ins Straucheln. Wild rudernd und sich durch das Gesicht wischend, versuchte er sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Doch da kam noch eine Ladung und noch eine.
Sein Fuß bekam den Ball an der oberen Hälfte zu fassen und durch die falsche Gewichtsverlagerung rutschte er ab. Unsanft landete er auf der Seite und rutschte über den Sand.
Die Wut überdeckte den aufkommenden Schmerz. Mit hochrotem Kopf stand er auf und fühlte wie das zornige Gift sich ausbreitete. Seine Nase blähte sich bei den tiefen Zügen auf. Die Hände zu Fäusten geballt vibrierend. Er sah förmlich rot. ››Spinnst du? Was soll das?!‹‹
Die Jungen lachten. Taylor hob unschuldig die Schultern.
Er wusste es war falsch und dennoch konnte er nichts tun. Die Bewegungen verliefen ohne sein Zutun. Innerlich schrie Felix und wollte es verhindern, nichts geschah. Auf ein neues war er nicht Herr seiner selbst.
Felix griff in den Sand, machte einen Sprung nach vorn und schleuderte ihm den Inhalt der Hand ebenfalls in das Gesicht. Dass Taylor keine Anstalten machte ihm auszuweichen, war eine weitere Warnung, die er außer Acht lies.
››Wirfst du jetzt wie ein Mädchen mit Sand, Felix?‹‹, heizte er die Situation noch mehr an, schloss die Augen und legte das Gesicht schief. Sand und Staub klatschten in sein Gesicht. Taylor schüttelte den Kopf und blinzelte. ››Felix ist ein Mädchen, Felix ist ein Mädchen!‹‹
››Mädchen! Mädchen!‹‹, röhrten die anderen Jungen.
Die Wut, die sich unaufhörlich in ihm aufblies wie ein Ballon, forderte Felix zu einem Reflex auf, den er noch im Flug bereute. Im nächsten Moment hatte er Taylor bei den Schultern gepackt, ihn auf den Boden geworfen und zärgelte an ihm, als er auch schon Bonitas hysterische Stimme vernahm: ››Taylor, Felix, auseinander!‹‹ Ihre Beleibtheit hob und senkte sich beim Laufen. ››Was ist hier los?‹‹, fragte sie in ernstem Ton, angekommen am Tatort.
››Felix hat Taylor mit Sand beworfen und sich dann auf ihn gestürzt!‹‹
››Nur, weil er ihm den Ball abgenommen hatte!‹‹, log ein anderer Junge.
Felix, gelähmt von seinen Gefühlen, konnte Taylor erst jetzt aus seinem Griff entlassen. Er setzte dazu an, die Wahrheit zu sagen, kam jedoch nicht dazu.
››Da bin ich kurz mal weg und schon gibt´s Streit! Ich fasse es einfach nicht!‹‹
Hilfesuchend wandte sich Felix an Anton. Dieser presste die Lippen eng zusammen und schaute zu den anderen Kindern. Einige Augen wurden drohend schmal, andere zischten leise, um ihn an der Wahrheit zu hindern.
Da Bonita dies nicht bemerkte, war sie nur auf die zwei vermeidlichen Streithähne fixiert, versuchte sich Felix zu verteidigen: ››Ich … ich … Er hat mir Sand in das Gesicht geworfen und mich provoziert!‹‹
››Gelogen!‹‹, fuhr ihn Taylor an, rappelte sich auf und klopfte den Staub von seiner Kleidung. ››Wie immer gelogen!‹‹
Felix deutete mit gehobenem Finger in sein Gesicht. ››Sie sehen doch, dass ich voller Sand bin! Ich habe nicht gelogen!‹‹
Bonita hob eine Braue, wie sie es so oft tat und Felix entglitt der Mut. ››Wie sollte es auch anders sein, wenn ihr euch auf dem Boden wälzt?‹‹
Die ersten Kinder grinsten breit und Felix zählte innerlich schon die Sekunden bis zum Urteil. Er kannte es, es war immer dasselbe.
››Auf den Dachboden, aber dalli!‹‹
Tränen wollten ihm aus den Augen treten, aber er atmete sie weg und ging von dannen. Aufbegehren hatte keinen Sinn. Sie würden ihm alle ohnehin nicht Recht geben, dieses Glück hatte er zu oft verspielt.
Über eine kleine Luke im oberen Stockwerk gelangte man auf den Dachboden.
Felix zog an einem dicken Tau und mit einem Rums schloss sich der Aufgang. Hier oben war es staubig und voll. Dekorationen zu Feiertagen, Kleidungen, die derzeit nicht von den Kindern benötigt wurden, altes Spielzeug und vieles mehr fanden ihre Plätze in diesem spitz zulaufenden Dach. Im Giebel gab es ein kleines, rundes Kippfenster. Darunter ein Pappkarton.
Auf der Pappe war ein runder, staubloser Halbkreis zu sehen. Felix seufzte. Erst gestern hatte er hier gesessen, sein Stammplatz.
Voll Traurigkeit und auch Wut auf sich selbst, setzte er sich vorsichtig hin. Kälte und Feuchtigkeit zogen durch die Ritzen und hatten die Pappe einmal zu oft klamm gemacht.
Durch das Fenster schaute er hinaus. Unten war der Garten zu sehen und die Kinder, die spielten. Felix spürte den Zorn auf sie.
Wenn man es jedoch genau nahm, konnte er es ihnennicht verdenken. Jahrelang war er der Raufbold gewesen. So wie er sich hatte eben nicht beherrschen können, war es auch schon früher gewesen, nur um einiges schlimmer. Streitereien, Sticheleien, Treten, Schlagen, Gegenstände werfen, Lügen, damit er um die Strafen herumkam … Das war seine Welt gewesen. Nie konnte er über seine Gefühle die Oberhand gewinnen. Manchmal, wenn er hier oben saß, abgeschottet und allein, überlegte er, wo das alles noch hinführen sollte. Was sollte er mit seinem verkorksten Leben anfangen? Wie sollte er je eine Arbeit bekommen? Eine Ausbildung? Ein eigenes Zuhause?
Warum nur?, fragte er sich dann jedes mal aufs neue und auch jetzt. Warum nur kann ich es nicht einfach ignorieren? Bei den anderen geht es doch auch.
Er spielte mit seinen Fingern.
Vielleicht war sein Vater auch so gewesen? Oder seine Mutter? Womöglich hatten sie einst dasselbe durchgemacht. Aber er kannte sie nicht, würde sie wohl niemals kennenlernen. Er wusste nicht einmal, ob sie noch lebten. Wenn sie es aber taten, wünschte er sich, dass er ihnen irgendwann einmal die Meinung geigen könnte! Kinderheime waren doof!
Unter Umständen war er als Baby so schlimm gewesen, dass man ihn hatte einfach abgeben müssen!
Wieder seufzte Felix.
Dann fiel ihm eine Bewegung des Baumes auf. Das Blätterdach schüttelte sich und einen Wimpernschlag später, schoss ein schwarzer Punkt auf das Fenster zu.
In der nächsten Sekunde flatterte der Rabe vor dem Glas und klopfte mit dem Schnabel dagegen.
Felix klappte das Fenster auf, es war warm, er würde schon keinen Ärger bekommen, wenn er etwas frische Luft hineinließ.
Der Vogel landete auf dem Glas und seine Krallen klapperten über das Material, bis er schließlich auf den Boden hüpfte. Staub wirbelte auf und es kam Felix so vor, als schüttelte sich der Rabe. Er fixierte den Jungen und legte lauernd den Kopf schief.
››Na, hast du keine Lust mehr, dir das Elend dort unten anzusehen?‹‹
Als Antwort kam ein lautes Krähen und das Ausbreiten der Flügel. Er machte sich lang und zeigte seinen weißen Fleck.
››Du wartest doch nicht etwa auf etwas?‹‹, gab Felix belustigt von sich.
Nun pickte der Rabe auf dem Boden.
Felix lachte und packte in einen dünnen Spalt neben sich. Zum Vorschein kam eine kleine Plastiktüte.
Der Rabe hüpfte zwei Mal vor Freude.
››Aber nicht so viele‹‹, verkündete Felix, ››ich weiß nicht, wann es wieder welche gibt.‹‹
Ein paar kleine Sonnenblumenkerne plumpsten auf den Holzboden und der Rabe stürzte sich darauf.
››Ist nicht das beste Essen, aber bald kannst du die Äpfel ernten.‹‹ Kichernd dachte Felix an die letzten Jahre, wo Bonita und Renate Kettelhake, die Heimleiterin, versucht hatten ihn zu verscheuchen.
Der Vogel war hartnäckig geblieben.
Plötzlich hallte der Ton der Türklingel durch das Haus. Eine echte Seltenheit. Zwar kam es sehr leise bei ihm an, aber da hier oben niemand war, konnte er es trotzdem gut hören. Die Töne hallten zwischen dem Gebälk wider.
Leider gab es nur ein Fenster im Dach, er konnte nicht auf die Vorderseite des Gebäudes schauen. Felix wurde neugierig. Schnelle Schritte hallten. Sie mussten aus dem Büro der Heimleitung kommen, welches sich eine Etage unter ihm befand. Ein weiterer Grund mehr sich ruhig zu verhalten, wenn er seine Strafen in diesem Gebäudeteil absitzen musste. Zwar war Renate Kettelhake eine pflichtbewusste und gerechte Person, nur war es auch ihr nicht immer gegeben Lügen aufzudecken.
Dumpfe Schritte drangen an seine Ohren. Stocksteif versuchte er die Stimmen zu verstehen, die langsam näher kamen. Eine Tür fiel ins Schloss, vermutlich die des Büros.
Das Nuscheln und Tuscheln kitzelte in seinen Fingern. Die Neugier wurde unerträglich.
Trotz der staubbedeckten Bodendielen legte sich der Junge hin.
Durch die Ritzen drangen nur Bruchstücke aus denen er sich keinen Reim machen konnte. Erst als er das Ohr an das Holz drückte, wurden das Verständnis besser.
››Es freut mich sehr Sie wiederzusehen.‹‹ Die Stimme der Hauschefin war schrill und hoch.
Eine männliche Stimme antwortete: ››Ganz meinerseits.‹‹
Wie er so da lag, kam ihm ihr Abbild in den Sinn. Eine kugelrunde, kleine Frau mit wunderschönen hellbraunen Haaren. Ein Markenzeichen, dass sie gut in Szene zu setzen wusste. Hochsteckfrisuren, geflochtene Zöpfe und viele Bänder, Schleifen und Spangen verzierten ihre lange Haarpracht. Felix fragte sich manchmal, ob sie zu oft in ihrem Leben intensiv nachgedacht und die Stirn dabei kraus gezogen hatte. Das tat sie nämlich oft. Sie war ein wenig jünger als Bonita, trotzdem machten sich die ersten Falten auf ihrer Stirn bemerkbar.
››Es sind schon zwei Jahre vergangen. Macht sich Jeremy noch immer gut? … Das dachte ich mir, er war ein absolutes Vorzeigekind.‹‹
››Das war für uns nicht von Belang.‹‹ Eine Pause entstand und Felix hörte wie die Dielen des Büros knarrten, jemand bewegte sich. ››Nun, wie es der Zufall so will, möchten wir ein weiteres Ihrer Kinder in unserer Schule willkommen heißen.‹‹
››Oh!‹‹, froh jauchzte Frau Kettelhake und Felix stockte der Atem. ››Das ist ja wundervoll! Ihre Schule scheint einfach wunderbar zu sein! Wenn ich Jeremy sehe, wie glücklich er aussieht. Er strahlt regelrecht, wenn er hier ist. Dass es nun noch ein Kind geschafft hat! Oh, ich freue mich so!‹‹ Eine Mischung aus Kichern und Lachen entstand.
Die Augen des Jungen weiteten sich und er lauerte auf den Namen. Da die Stimmen sich im Raum unter ihm bewegten und er sich nicht mehr über ihnen befand, rutschte er vorwärts.
››Wir haben uns mit der Auswahl natürlich sehr schwer getan, aber unsere Wahl fiel auf ...‹‹
Sein Bein kam dem Raben zu nah und dieser krähte laut auf.
››SCHHHH!‹‹, zischte Felix. Der Rabe hüpfte meckernd auf das aufgeklappte Fensterglas.
››WAS?‹‹, hörte er Renate entsetzt rufen.
Wütend sog Felix die Luft hörbar durch die Nase und schaute seitlich zum Raben hinüber. ››Du dummes Mistvieh! Jetzt habe ich nichts verstanden!‹‹ Obwohl er seine Worte flüsterte, musste der Rabe seine Wut spüren. Er machte ein abfälliges Geräusch, drehte sich um, ließ ein weißliches Häufchen Kot fallen, hüpfte hinaus und flog davon.
Hat der mich gerade verstanden?, fragte sich Felix und blinzelte fassungslos mehrere Male, bis das Gespräch ihn wieder fesselte.
››Das … das‹‹, stotterte die Chefin, ››das verstehe ich beim besten Willen nicht.‹‹
››Unsere Kriterien sind nicht immer nachvollziehbar.‹‹ Der belustigte Unterton gefiel Felix, er schmunzelte.
››Wir haben weitaus qualifiziertere Schüler für ihre Schule, glauben sie mir. Ich möchte vermeiden, dass das Kind und sie enttäuscht werden. Ja‹‹, auf einmal wurde ihre Stimme ganz leise und er drückte seine Ohren instinktiv stärker auf das Holz, ››ja, Enttäuschungen hatte er genug.‹‹
››Ich bezweifle doch sehr, dass unsere Schule enttäuscht sein wird‹‹, verkündete der Besucher.
Renate stöhnte auf und ein Rumps war zu hören. Hatte sie sich in den Stuhl fallen lassen? ››Ich möchte Ihnen nicht widersprechen, aber Sie haben ihre Auswahl anhand unserer übersandten Dokumente getroffen, nehme ich an?‹‹
››Aber natürlich und ich versicher Ihnen, es hat alles seine Richtigkeit.‹‹
Sie stöhnte erneut. ››Wenn Sie meinen, ich möchte nur verhindern, dass er zu uns zurückkehren muss und noch trauriger wird als er ohnehin schon ist.‹‹
Der Besucher überging einfach ihre letzte Aussage. Entweder, weil es ihn nicht interessierte, oder weil sie ihm die Zeit raubte. ››Machen Sie bitte die Unterlagen fertig.‹‹
››Selbstverständlich. Gestatten Sie mir noch eine Frage?‹‹ Er musste wohl zugestimmt haben, denn sie redete weiter: ››Warum konnten Sie mir das nicht telefonisch mitteilen?‹‹
››Ich mache mir gerne ein Bild von den Orten, wo unsere Schüler herkommen. Wie Sie bereits erwähnten, es ist zwei Jahre her. Des Weiteren wollte ich Sie darüber in Kenntnis setzen, dass Herr Frieß einen Teil der Sommerferien eine Aushilfstätigkeit hat. Da er noch minderjährig und somit Ihren Zuständigkeitsbereich obliegt, benötigt er eine Unterschrift als Zustimmung für diese Tätigkeit.‹‹
››Ach so.‹‹
Rascheln.
››Ich soll Ihnen in seinem Namen seinen herzlichen Dank aussprechen. Herr Frieß kommt daher erst die letzten zwei Wochen der Ferien in ihr Heim zurück.‹‹
››Ich verstehe‹‹, konterte Renate hörbar traurig. ››Was den Jungen angeht, soll ich ihm sofort mitteilen, dass ...‹‹
››Ich denke, dass es besser sein wird, wenn Herr Frieß das übernimmt. Er ist zwei Jahre älter und kennt unsere Schule bereits. Bereiten Sie nur alle Formalien vor und übersenden sie uns.‹‹
››Gut.‹‹
››Vielen Dank noch einmal für ihre Unterschrift und die Kooperation. … Ach‹‹, es hörte sich an, als war er umgedreht, ››und ich möchte Sie für die grüne Hecke beglückwünschen. Entfernen Sie sie niemals!‹‹ Das Letzte klang drohend.
Die Heimleitung musste verdutzt gewesen sein, kam von ihr nämlich rein gar nichts mehr. Selbst die Verabschiedung blieb aus.
Danach hallten die Schritte des Besuchs wider und verklungen im Treppenhaus.
Es war ein Junge, so viel stand fest! Und dieser Junge wäre nicht die erste Wahl von Frau Kettelhake gewesen. Ein weiterer Pluspunkt für ihn! Aber konnte das wirklich möglich sein? Er, mit seinen schlechten Noten? Er, der immer gegen den Strom schwamm und an alles und jeden aneckte? Wenn Kinder von Pflegeeltern adoptiert wurden, war er nie in die engere Wahl gekommen. Ihn alleine vorzustellen, daran dachte niemand! Und das nicht, weil man ihn nicht mochte, sondern weil Menschen nun einmal gerne liebe, vorzeigbare, perfekte Kinder in ihrem Umfeld haben wollten! Ob Schein oder nicht, war gleich! So war es ihm erklärt worden. In all den Jahren hatte er verstanden, dass es stimmte, traurig aber wahr. Dass Frau Kettelhake ihn nie den Vortritt ließ, nahm er ihr daher nicht mehr übel und sie mochte ihn dennoch, dass hatte sie ihm wieder und wieder gezeigt. Wenn er mal eine kleine Schokolade ganz heimlich in ihrem Büro vertilgen durfte, oder sie einmal mehr eine Entschuldigung schrieb, damit er noch etwas länger für eine Klassenarbeit lernen durfte. Na ja, das war wirklich kein gutes Beispiel, aber es zeigte das gute Herz der Frau. Und ihr Lächeln ihm gegenüber wirkte ehrlich und aufrichtig.
Wenn Felix genau darüber nachdachte, erschien die Möglichkeit diesen blöden Ort verlassen zu dürfen, weit, weit weg. Dieses Haus war sein ganzes Leben lang sein Zuhause gewesen, er kannte nichts anderes und liebte und hasste es zugleich.
Ein anderes Leben, ein besonderes Leben, das hatte er sich gewünscht! Jeder träumte doch davon, oder? Träume konnte ihm niemand nehmen und so wollte auch das kleine Licht der Hoffnung in ihm nicht weichen, dass womöglich ihm diese Chance zuteil wurde.
Einer der Gründe warum Felix über das Gehörte nicht sprach. Für die Kinder des Heims war er – wie so oft – auf den Dachboden verbannt worden. Keiner interessierte sich für den langweiligen Dachboden! Eigentlich dachte er, man sähe ihm die Aufregung an, aber er konnte sie wohl gut mit seiner allgemeinen Hibbeligkeit überspielen. Am Anfang brannten ihm die Worte auf der Zunge und nur zu gerne hätte er offenbart, dass jemand an diese tolle Schule gehen durfte, auf die auch Jeremy ging, aber wer sagte ihm, dass die Schule auch wahrhaftig toll war? Schließlich war es eine Schule! Waren nicht eh alle Schulen doof?! Jeremy jedoch … Er war so anders seitdem er sie besuchte ...
Die nächsten Wochen waren eine schiere Qual.
Klassenarbeiten wurden auf den letzten Drücker vor den Zeugniskonferenzen geschrieben. Alle Jahre wieder fiel den Lehrern auf, dass das Schuljahr ja viel zu schnell vorüber ging. Es war wie bei den Menschen, die wenige Tage vor Weihnachten feststellten, dass Weihnachten vor der Tür stand und sie noch gar keine Geschenke für ihre Lieben gekauft hatten! Feiertage kamen ja so plötzlich! Für Felix war dies unverständlich, hatten die keinen Kalender?! Die Leidtragenden waren stets die Schüler.
Viel zu viel Lernstoff fand Felix und alles auf einen Schlag. Mit den Gedanken im Kopf, er könne womöglich der Glückliche sein, fiel ihm das Lernen nur noch schwerer. Dies war auch der Tatsache geschuldet, dass er ein Geheimnis schlecht für sich behalten konnte und so spukte es unaufhörlich in seinem Kopf herum, begleitete seine Träume und Tagträume.
Wie die Tage, ohne dass er es einem erzählte, vergingen, war ihm selbst ein Rätsel. Stolz fühlte er sich darüber allemal!
Irgendwie schaffte er es mit einer fünf und zwei vieren auf dem Zeugnis geradeso am Abgrund des Scheiterns vorbei zu schliddern und versetzt zu werden.
Ihm reichte das völlig aus, Bonita und Kettelhake sahen ihn betreten an. Egal, fand Felix, nun musste er nur noch die Zeit rumbekommen, bis Jeremy Ende der Ferien eintrudelte.
Normalerweise vergingen die Ferientage wie im Flug. Das meist schöne Wetter im Sommer, die Wärme, vieles Toben auf dem Spielplatz und die Möglichkeit ab und an einmal in das Freibad gehen zu können, ließen die Stunden wie einen einzigen Wimpernschlag vergehen. Sonst jedenfalls! Nicht in diesem Jahr.
Felix nahm jeden Jungen genaustens unter die Lupe und stellte ihn sich auf einer anderen Schule vor. Wer mochte es sein? Wem war das Glück zuteil geworden, diesen trostlosen, langweiligen Ort verlassen zu können? Viel zu oft stellte er sich selbst auf dieses Podium und das Herz wurde ihm schwer, wenn er sich der Realität stellte. Vielleicht hätte er doch mehr lernen müssen? Dumm war er gewiss nicht, nur faul, viel zu schnell abgelenkt, besaß keine Ruhe, … Die Liste könnte er unaufhörlich weiterführen.
Traurig seufzte er, legte seinen Kopf auf die stützende Hand, dessen Arm auf seinem Oberschenkel ruhte und schaute aus dem kleinen, runden Dachfenster.
Draußen regnete es. Wind peitschte die nassen Tropfen gegen die Scheibe. Ganz hinten, am Horizont schimmerte blauer Himmel hindurch und kündigte das hoffentlich baldige Ende des Sommerregens an.
Mal wieder hier oben, dachte Felix und rollte mit den Augen.
Es hatte den ganzen Vormittag in kurzen Schauern geregnet. Da er nicht ausgelastet war, waren ihm ein paar Flausen gekommen. Bonita hatte kurz das Zimmer verlassen und ihr Handy auf dem Tisch mit dem Kartenspiel liegen lassen. Da sie in letzter Zeit oft danach griff, wenn es piepste – und das tat sie mittlerweile wirklich oft – war Felix sehr neugierig geworden. Ihre Tastensperre war kein großes Hindernis, fand er, da wäre selbst das Passwort 12345 schwieriger gewesen.
Die anderen Kartenspieler hatten ihn davon abhalten wollen. Unter ihnen war auch Frieda gewesen: ››Du bekommst nur wieder ärger!‹‹
››Lass ihn doch, haben wir etwas zu lachen‹‹, hatte Taylor gespottet.
Felix, nicht verunsichert, wollte nur einen Blick auf den Namen des ständigen Nachrichtenschreibers werfen. Konnte es tatsächlich sein, dass Bonita einen Freund hatte?! Das war nicht möglich!
Dass ihn ein Mann mit ungepflegtem Dreitagebart, roten und dicken Wangen und hochgezogenen, buschigen Augenbrauen anstarrte, hatte ihn geschockt. Das Gesicht des Unbekannten war so dick, dass es das gesamte Display einnahm und leider kam, was kommen musste: Felix war das Handy im Schockzustand aus der Hand gerutscht. Polternd ging es zu Boden, das Display bekam einen Riss und alle riefen: ››Spiderapp! Spiderapp! … Jetzt hat Bonita ne Spiderapp!‹‹
Felix klatschte die flache Hand gegen die Stirn – wie blöd! Warum hatte das Pech ständig ihn im Fokus?
An die ganzen Flüche und Ausrufe konnte er sich jetzt nicht mehr erinnern, nur, dass Bonita schnurstracks zu Kettelhake gerannt war, mit ihm am Ohr ziehend. Dieses tat ihm noch immer weh und er kam bei der Erinnerung nicht umher, es zu reiben.
Die Chefin, nicht davon begeistert gewesen, mal wieder den Versicherungsvertreter anzurufen, bat ihn zu gehen. Ihr vor Wut zuckendes Auge hatte ihm alles gesagt. Er war freiwillig auf den Dachboden gegangen. Weg von allem!
Wie er so darüber nachdachte, glaubte er sich an ein Grinsen auf Bonitas Gesicht zu erinnern. Vielleicht freute sie sich schon auf ein neues Handy.
Unter den rhythmisch prasselnden Regen mischte sich die Klingel der Haustür.
Felix schnaubte. Sonst so neugierig, war ihm gerade nicht danach. Er legte den Kopf an die Wand neben dem Fenster und schaute den Tropfen beim Herunterschlängeln zu.
In den Räumlichkeiten unter ihm herrschte Tumult. Durch das Unwetter konnte er nichts verstehen, war ihm aber auch egal. Viel lieber überlegte er sich, wie er heute noch an das Abendessen kam, ohne jemanden zu begegnen. Auf das Lachen der Anderen konnte er gut und gerne verzichten.
Plötzlich bemerkte er eine Bewegung im Apfelbaum. Ob das der Rabe war? Ihm wurde schlagartig bewusst, dass er ihn schon länger nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Nachdem er irgendwie ziemlich aufgebracht davongeflogen war, war er ihm kein einziges Mal aufgefallen. Die ganzen Wochen hatte er andere Dinge im Kopf gehabt.
KNARRR!!!, macht es und Felix fuhr steif zusammen. Entsetzt und verwundert darüber, dass ihm jemand hier auf seinem Dachboden besuchen würde, starrte er auf die Dachluke. Sie ächzte und knarrte, dann gab es ein Aufprallgeräusch – die aufklappende Treppe stand auf der unteren Etage.
Ein Räuspern ertönte und der Rahmen der Luke wackelte.
Im nächsten Augenblick kam ein brauner Haarschopf zum Vorschein und zwei große Augen starrten ihn an. ››Noch immer nichts gelernt?‹‹
Felix war derart verunsichert von der Situation, die noch nie dagewesen war, dass er den Mund zwar öffnete, ihm aber alle Worte entfallen waren.
Die Person kam hinauf, hockte sich hin, zog die Luke zu und machte eine theatralische Verbeugung. Auf den ersten Blick wusste er gar nicht, wer vor ihm stand, doch nach etlichen Malen des Blinzelns, machte er die üblichen Gesichtszüge von Jeremy aus. In nur einem Jahr hatte er sich mächtig verändert! Die braunen Haare an den Seiten kurz, in der Mitte ein wenig länger. Vorne mit Gel hochtupiert, am Hinterkopf ein kleiner Zopf, den man gerade so als einen solchen bezeichnen konnte.
››Ja, ich musste mal etwas ändern‹‹, bemerkte er seinen musternden Blick und grinste breit. ››Ist hier noch was frei?‹‹ Suchend schaute er sich in dem vollgestellten Raum um.
Felix stotterte. ››Äh, j… ja, … be… bestimmt.‹‹
Gegenüber standen drei Kartons aufeinandergestapelt und er schob den oberen weg, wollte ihn packen und dieser landete mit einem lauten Knall auf den Boden. Dem Klirren nach zu Urteilen befand sich allerhand Zerbrechliches darin. Jeremy fasste sich an die Stirn. Felix guckte verlegen.
››Meinst du, sie haben was gehört?‹‹
Jeremy prustete los.
Felix stöhnte traurig.
Anschließend setzten sie sich. Jeremy rieb sich das Kinn und warf einen Blick durch das Fenster. ››Das Wetter hier mag mich nicht. Egal, wann ich hier ankomme, es regnet.‹‹
Ein seltsamer Anfang für ein Gespräch, fand Felix und er erwiderte darauf nichts.
››Wie war der Ferienjob?‹‹, fragte er dann schließlich, da ihm die betretende Stille zu blöd war.
Die Miene des jungen Mannes verdunkelte sich. ››Woher weißt du davon?‹‹
Felix deutete nach unten, dann auf sich und auf den Raum.
››Lauschen ist eine sehr schlechte Angewohnheit.‹‹
Er verteidigte sich: ››Was kann ich dafür, wenn das Büro direkt unter mir ist?‹‹
Verschmitzt grinste Jeremy breit und schüttelte den Kopf. ››Unverbesserlich.‹‹ Nachdenklich spielte er mit seinen Fingern. ››Was hast du noch gehört?‹‹
››Nun ja‹‹, begann Felix und fühlte sich sichtlich unwohl, ››eigentlich … wenn man es ...‹‹
››Also alles?‹‹ Sein einstiger Zimmergenosse tat nicht verwundert, ihm schien diese Tatsache aber nicht zu gefallen.
Ertappt brummte Felix und machte sich klein.
››Hast du jemanden davon erzählt?‹‹
Er schüttelte den Kopf und fühlte sich noch mieser.
Kurze Zeit trat Stille zwischen sie beide. Eine dicke, schneidende Stille, die Felix beängstigte, jedoch fing Jeremy aus heiterem Himmel an lauthals zu lachen.
››Zufälle gib´s!‹‹ Nun starrte er Felix an.
››Ich weiß nicht wer‹‹, polterte es aus Felix heraus. ››Leider, leider konnte ich nicht erfahren, wer der Glücklich ist, nur dass es sich um einen Jungen handelt.‹‹
››Achso?‹‹ Die Stirn Jeremys schlug skeptische Falten.
Felix presste seine Lippen aufeinander, drückte die Hände zwischen die Knie. Etwas forderte ihn auf zu gehen, der peinlichen Situation zu entfliehen.
Jeremy lehnte sich weit zurück und spannte ihn auf die Folter. ››Hast du jemanden in Verdacht?‹‹
››Nein. Ich bin alle Jungs durchgegangen und das frustrierte mich.‹‹
››Dass du einmal etwas für dich behalten kannst, etwas so wichtiges, das ist schon bemerkenswert und es zeigt eindeutig, dass es richtig ist.‹‹ Er nickte und legte den Kopf schief.
››Wer ist es?‹‹ Felix wollte es unbedingt wissen. Seine Fingerspitzen kitzelten und wurden feucht. ››Jetzt kannst du es mir doch sagen, oder? Die da unten wissen es bestimmt schon, oder erzählst du es erst morgen?‹‹
››Das wirst du wohl noch früh genug erfahren. Schließlich dauert es ja noch zwei Wochen bis ich mit ihm gehe.‹‹
››Zwei Wochen?!‹‹, rief er laut aus und stand auf. ››Du willst mich echt lange zwei Wochen auf die Folter spannen? … Wenn ich doch bis jetzt dicht gehalten habe, dann werde ich das die nächste Zeit auch noch schaffen. … Moment mal, heißt das, der Glückliche weiß selbst noch nichts?‹‹
Jeremy hob eine Braue und wirkte viel erwachsener. ››Ja, das wirst du. Ganz gewiss wirst du das!‹‹
Jetzt verstand Felix gar nichts mehr. Verwirrt musterte er den Mann vor ihm, der ein sehr kleines Röhrchen mit violetten Kugeln darin aus der Jeans zog. Er hielt das Behältnis vor seine Augen, schüttelte es und betrachtete die Bewegungen im Inneren. Er öffnete den Verschluss und gab Felix eine Kugel, lies sie auf seine offene Hand fallen. Danach steckte er den Rest wieder weg.
Wie Felix das kleine violette Teil auf der Handfläche drehte und es sich bewegte, wurde ihm übel. ››Was ist das?‹‹
››Nichts Schlimmes, nur zu, probier mal.‹‹
››Hm.‹‹
››Ehrlich, es ist nichts Schlimmes‹‹, er zuckte mit den Schultern, ››Ich gehe sogar davon aus, dass es dir gefallen wird. Das ist etwas Süßes aus dem Dorf, wo ich das ganze Jahr verbringe.‹‹
››Wie darf ich das denn verstehen? Komm schon, Jeremy, was ist das für nen Zeug?‹‹
Unverändert sah er ihn an.
Felix sah noch einmal hinunter auf das Kügelchen.
››Wenn du das genommen hast, reden wir weiter.‹‹
Angewidert stürzte Felix die Lippen.
››Na los, runter damit‹‹, forderte ihn Jeremy gestenreich auf.
Was soll schon passieren?, fragte sich Felix und lies das Kügelchen in den Mund fliegen. Es schmeckte seltsam. Eine Mischung aus sauer und süß, blumig und algig und im Abgang bitter. Er schabte mit der Zunge gegen die Zähne, um den letzten Geschmack schnell loszuwerden. ››Äh, was is´n das. Schmeckt scheußlich. Sag mir nicht, dass du das magst?!‹‹
››Lass uns kurz warten.‹‹ Jeremy grinste.
Mit einem Mal füllte sich Felix´ Bauch. Er fühlte sich von Sekunde um Sekunde fülliger an. Nach Luft schnappend, musste er sich setzen. Ihm wurde komisch. Was hatte er ihm da gegeben? Er wollte etwas sagen, doch da war nur ein leichtes Aufstoßen.
››Ah, sehr gut.‹‹
Und auf ein Mal musste Felix rülpsen. Beschämt und irritiert fasste er sich an den Bauch.
Wieder ein Rülpsen und noch einer und noch einer. Sie wurden immer lauter und lauter und mischten sich zum prasselnden Regen. In seinem ganzen Leben hatte Felix nicht derart oft aufstoßen müssen. Jeremy begann zu lachen, was er alles andere als lustig fand. Der Bauch blähte sich unaufhörlich auf. Geglaubt, er wäre endlich luftleer, ging das Spiel von vorne los. Die Geräusche waren unmenschlich laut.
››Wa…?‹‹ Ein gewaltiger Rülpser drückte die Luft aus seinem Bauch. Anschließend war es still, jedenfalls bei Felix, Jeremy lachte sich regelrecht kaputt. Schlug auf seine Knie und freute sich des Lebens.
››Was soll denn der Mist?!‹‹, spuckte Felix aus, als das Schauspiel zu Ende war.
Prompt wurde Jeremy ganz ernst. Seine Miene war eisern. ››Das war eine Rülpskugel, sei froh, dass die Furzkugeln ausverkauft waren.‹‹
Erneut fing Jeremy an zu lachen und Felix wusste es nicht zu deuten.
››Du müsstest dein Gesicht sehen!‹‹, machte er sich lustig.
››HAHA!‹‹, brummte Felix. ››Du hast mich veräppelt, schön für dich. Wo kann man denn so etwas kaufen? Hab ich noch nie von gehört.‹‹
››Richtig‹‹, Jeremy beugte sich vor und tippte ihm gegen die Brust. ››Weil die Normalos nicht daran kommen.‹‹
››Normalos?‹‹
››Normalos. Gewöhnliche. Nichtmagier. Es gibt viele Namen für sie.‹‹
Um ihm klar zu verstehen zu geben, dass er spinne, tanzte Felix´ Zeigefinger Kreise neben seinem Kopf, er stand auf und wollte gehen. ››Du bist ja völlig übergeschnappt!‹‹ Und er murmelte weiter: ››Was hat der denn genommen?! Ich lass mich doch nicht für blöd verkaufen!‹‹ Er war schon bei der Luke, als er inne hielt. Allmählich wurde ihm klar, was er da gehört hatte. ››Nichtmagier?‹‹, griff er seine Worte auf und er schüttelte sich ungläubig.
››Ja, Felix, Nichtmagier.‹‹ Es war die Art und Weise wie sein Freund es sagte, so direkt und durchdringend, so sicher und ohne Unterton, dass es ihm bewusst machte, dass hier kein Irrtum vorlag. ››Ich habe dir das Kügelchen gegeben, um dir ein wenig von der anderen Welt zu zeigen. Was wäre denn geschehen, wenn ich das als erstes gemacht hätte.‹‹ Jeremy machte eine Faust und öffnete sie leicht. In der Mitte erwachte ein blaues Feuer zum Leben.
Felix spürte wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, er musste weiß wie die Kacheln des Badezimmers sein. Zitternd zeigte er auf das Feuer. ››Das … das geht nicht.‹‹
››Die Schule auf die ich gehe, Felix, diese Schule ist eine Schule, die nur bestimmten Menschen vorbehalten ist. Auserwählte Menschen. Magiern und Zauberern.‹‹ Er schüttelte das Feuer ab, stand auf und machte einen Schritt auf ihn zu. ››Magiern wie dich!‹‹
Minuten verstrichen. Minuten, in denen Felix sich stets aufs Neue fragte, ob er diesen Unsinn glauben sollte. Den Zauber konnte er jedoch nicht außer Acht lassen. Ein Trick! Es musste ein Trick sein, aber was hatte er übersehen?
››Mach das noch mal!‹‹, forderte er ihn schließlich auf, nachdem sich Jeremy gesetzt hatte und auf eine Regung seinerseits wartete.
Angesäuert blickt er zurück. ››Geht nicht. Es gibt strenge Auflagen, die uns nur in Notfällen erlauben lassen zu zaubern. Ist wie ein Führerschein, den darf man auch erst ab einem bestimmten Alter machen. Bei uns sind das die Abschlussprüfungen.‹‹
Ihm musste klar werden, dass Felix kein Wort glaubte, also redete er einfach weiter: ››Strebt nicht jeder danach etwas Besonderes zu sein, gerade Kinder? Vor allem Kinder ohne Eltern und Pflegeeltern. Ich wollte das so sehr, es gab nichts anderes in meiner Vorstellung. Das‹‹, er seufzte schwer, ››war auch der Grund warum ich so intensiv gelernt habe. Das ganze Chaos in meinem Kopf, es war mir so schwer gefallen. Diese Konzentration, ich dachte, ich platzte. … Jeden Tag hoffte ich, dass Pflegeeltern kommen und mich mitnehmen würden. Hey‹‹, er schnaubte, ››schließlich war ich DAS Vorzeigekind! … Aber wie du weißt, kam niemand. Vielleicht auch zum Glück, denn für mich war eine andere Laufbahn bestimmt.‹‹
Felix hörte aufmerksam zu und setzte sich auf seinen alten Platz ihm gegenüber.
››Bald wirst du klarer sehen können und verstehen was ich meine.‹‹ Auf einmal wirkte er bedrückt, Jeremy schaute aus dem Fenster. ››Allerdings...‹‹
››Allerdings?‹‹ Felix, der das Ganze noch für ein ausgeklügeltes Märchen hielt, beugte sich vor.
››Meine Aufnahme in Ignis war das Schönste, was mir jemals widerfahren ist. Ich wurde etwas Besonderes und die Weltanschauung wurde eine vollkommen andere. Plötzlich war beinahe alles möglich.‹‹
Was sollte daran schlimm sein?, dachte sich Felix, doch das sollte er noch erfahren.
››Anfang letztem Schuljahr wurden die Sicherheitsvorkehrungen drastisch erhöht. Unter anderem wurden Ausgangssperren verhängt. Viele machten sich Sorgen und natürlich warf es Fragen auf. Seltsame Dinge seien geschehen und man wollte auf Nummer sicher gehen, erklärte uns der Schulleiter. Also nahm man es hin. Genaugenommen bekamen wir Schüler von den seltsamen Ereignissen nichts mit und so wurden die Sicherheitsvorkehrungen zum normalen Umgang und die Fragen gerieten über das Jahr in Vergessenheit. Ach ja, das kannst du noch nicht wissen: Wir schreiben keine Klassenarbeiten. Es gibt nur Jahresabschlussarbeiten. Das hat gute und auch schlechte Seiten, wenn du mich fragst. Jedenfalls lenkten uns eben diese Prüfungen ab und der Fokus war auf dem Lernen. Nach dem Abschluss sind die meisten Schüler über die Ferien nach Hause. Da ich meine Schulden für die Schulmaterialien zurückzahlen muss – wie du wahrscheinlich auch – bleibe ich fast alle Ferien dort und arbeite meine Schulden ab. Das ist gar nicht so schlecht. Ich lerne viel und es bleibt auch fast immer ein bisschen Kleingeld für mich übrig. So fielen mir dann Dinge auf, die nicht normal waren. … Und so wie es scheint, wurden weitere Vorkehrungen getroffen. Bevor ich hierher zurückkam, wurden unzählige Kisten geliefert. Weiß der Geier, was darin steckt. Man wollte es mir nicht sagen, nur, dass es unserer Sicherheit diene.‹‹ Er schüttelte sich, als liefe ein Schauer über seinen Rücken. Mit Mühe hellte sich seine Miene auf. ››Gerade für Neuankömmlinge ist es mit Sicherheit beängstigend. Da ist es doch gut, dass dir ein Pate zur Seite steht, dem du vertrauen kannst und der dich kennt.‹‹
››Ein Pate? Du?‹‹
Er nickte.
Felix kannte Schulpaten. Die gab es hier auch. Sollte er ihm wirklich glauben? Das war alles so seltsam und wie er schon selbst gesagt hatte, wünschte sich nicht jeder etwas Besonderes zu sein? Er musste ihn einfach auf den Arm nehmen und das wollte er ihm auch gerade abermals an den Kopf schmeißen, als Jeremy ihm zuvor kam: ››Mir ist klar, wie sich das alles anhören muss. Ich habe diese widersprüchlichen Gefühle alle selbst hinter mir, aber es ist alles wahr. Und das dein Pate sogar dein Zimmergenosse in diesem Haus ist, ist noch unvorstellbarer, aber auch super! Fast alle Schüler bekommen ihre Paten erst auf Burg Ignis vorgestellt. Der Ort ist riesig. Gut, dass man jemanden hat, der einen am Anfang unterstützt.‹‹ Bei der Erwähnung des Namens strahlte sein Gesicht. ››Die haben mich dir zugeteilt, weil wir uns kennen und sie wussten auch, dass ich dir früher einmal Nachhilfe gegeben habe. Aber‹‹, er winkte lächelnd ab, ››die wissen eh alles über einen, echt beängstigend!‹‹
Zwar stutzte Felix, aber die Neugier, die Freude und die Abenteuerlust ließen ihn allmählich an diese Geschichte glauben. Sein Gegenüber erzählte alles so lebendig, es wirkte keineswegs einstudiert und warum sollte er ihn auch belügen? Er war der einzige gewesen, der ihm früher geholfen hatte.
Wie als habe Jeremy ihn verstanden, versuchte er ihm Ignis zu beschreiben. Sie redeten bis in die Nacht hinein. Niemand rief sie zum Abendessen, was ebenfalls befremdlich war. So fiel ihnen auch erst spät auf, dass es draußen dunkel geworden war. Der tobende Sturm, der scheinbar kehrt gemacht und zurückgekommen war, hatte ihre Wahrnehmung getrübt. Bevor die beiden den Dachboden verließen, machte Jeremy Felix unmissverständlich klar, dass er mit absolut niemanden darüber sprechen dürfe. Es handle sich um eine ganz gewöhnliche Schule, die sich ihre Schüler selbst aussucht. Nicht mehr und nicht weniger.
Ganz gewiss wollte Felix keinen Schulverweis riskieren, wenn all die unglaublichen Worte der Wahrheit entsprachen. Danach schlichen sich beide in die Küche, die Heimkinder schienen alle in ihren Zimmern verschwunden zu sein, und machten sich ein paar Brote.
Wie Kaugummi zogen sich die nächsten zwei Wochen dahin. In Form von Bauch- und Kopfschmerzen schlugen sich die ganzen aufkommenden Fragen in Felix nieder. Merkwürdig war auch, dass ihn keiner der anderen Kinder auf seinen drohenden Abschied ansprach. Meist waren alle anderen neugierig und wollten wissen, wo es hinging, auf welche Schule, welche Pflegeeltern und so weiter. Es kam ihm so vor, als wenn niemand über seinen Auszug wusste. Oder behielten sie es nur für sich oder freuten sie sich gar? Das wäre echt gemein!
Ärgernisse gab es auch keine. Jeremy behielt ihn wie ein Adler im Auge und war ständig in seiner Nähe. Nachdem es anfangs Tayler versucht hatte, ihn wieder vorzuführen und mit ihm aneinandergeraten war, waren die Sticheleien wie kleine Flammen erloschen. Zu Felix´ Leidwesen brachte es nicht nur Gutes mit sich. Der Dachboden blieb verlassen. Ergebnis: Jeremy und er waren nie allein! Beantwortete Fragen, Fehlanzeige! Aus Ärger wurde Frust.