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Sibylle Tamin

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Beschreibung

Dramatisch, packend und wahr: Kriminalfälle aus einer scheinbar heilen Welt. Gründonnerstag 2009: der allseits beliebte und engagierte 18-jährige Tobias Z. richtet gemeinsam mit seinem Freund bestialisch und grausam seine beiden Schwestern hin. Danach feiern die Täter seelenruhig in einer Gaststätte mit den Eltern, um sie später ebenfalls kaltblütig zu ermorden. Die monströse Tat zweier junger Männer stürzt eine ganze Gemeinde in Entsetzen, Fassungslosigkeit und Verzweiflung. Es gibt keine Erklärung. Kein Motiv. Das Böse mitten in unserer Gesellschaft – das ist das große Thema der preisgekrönten Journalistin Sibylle Tamin. Ihre Neugier gilt der vermeintlich heilen Welt, der Provinz, in der das plötzliche Aufbrechen des Bösen die Oberflächengemütlichkeit dramatisch zersetzt. Wie konnte das passieren? Vor unseren Augen? Mitten unter uns?

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Sibylle Tamin

Das Böse von nebenan

Wahre Kriminalfälle aus der Provinz

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Inhalt

Aus der Mitte der Gesellschaft123456789101112131415161718JagdszenenFRÜHLINGSOMMERHERBSTWINTEROSTERNHalaliDer Fall SchubertSchluss und RuhEine Ermittlung1234567891011Nachwort von Sophie Freud

Aus der Mitte der Gesellschaft

»Tobi, ich liebe Dich«, steht auf der Bank an Gleis zwei. Wie viele Tobis gibt es wohl in dieser Stadt von zwanzigtausend Einwohnern?

Ein ICE donnert durch die Station, aber der Fahrtwind lässt die gegelten Haare der drei Jungs unbewegt. Ob diese Liebeserklärung vielleicht ihm gegolten habe, frage ich sie, dem beliebten umschwärmten Schüler des Wirtschaftsgymnasiums, dem Schulsprecher, dem »Sunnyboy« und »Gute-Laune-Bär«, der jetzt zu lebenslanger Haft mit Sicherungsverwahrung verurteilt worden ist. Die drei zucken die Schultern und gucken sich an. »Kann sein«, sagt einer und geht weg und die andern hinterher, weil sie nichts mehr hören wollen von dieser Geschichte, die ihre Stadt so lang ins Medieninteresse gerückt hat, mit diesem Fall, der so verstörend ist. Auch jetzt noch, nach dem Urteil.

1

Dieser Karfreitag war ein besonders schöner Tag, fast sommerlich warm, und Kriminalkommissar Berger hatte für das Wochenende einen Ausflug mit der Familie geplant. Die Rucksäcke waren schon im Auto verstaut, als der Anruf kam. Ein Kollege sprach von vierfachem Mord in Riedberg und einem flüchtigen Täter. Da habe er gewusst, was zu tun sei, sagt der Kommissar, und seine blauen Augen weiten sich, als sähe er das, was er vier Monate zuvor sehen musste, aufs Neue. Und er habe gewusst, dass ihm nun statt der Wanderung über die Schwäbische Alb ein langes, arbeitsreiches Wochenende bevorstehe. Er habe seine Dienstkleidung angezogen und sich auf unbestimmte Zeit von seiner Familie verabschiedet.

 

Das Haus Nummer 10 in der Bogenstraße ist eins der wenigen Mehrfamilienhäuser zwischen den kleinen Spitzgiebelhäusern. Mit seiner hellen Fassade, den blauen Fensterläden, den Tontöpfen mit Immergrün auf den Simsen erfüllt es den schwäbischen Standard eines soliden und gepflegten Hauses.

Am späten Vormittag des Karfreitags waren Polizei- und Rettungswagen vorgefahren, waren Polizisten und Sanitäter ins Dachgeschoss zur Maisonettewohnung gestiegen, die die Familie Schaller bewohnte. Von den drei Kindern lebte nur der achtzehnjährige Sohn Tobias noch bei den Eltern. Die beiden Töchter studierten in einer entfernten Stadt und kamen hin und wieder zu Besuch. Kurz vor Ostern waren sie angereist.

Tobias Schaller hatte die Polizei gerufen. Jemand habe seine Eltern ermordet und die Schwestern auch. Er und sein neunzehnjähriger Freund Jan Reichel hatten die Toten in der Wohnung aufgefunden, und beide waren schreiend und weinend aus dem Haus gestürzt.

Sie habe gedacht, was hat er denn, warum schreit er denn so, der Tobi, erzählt die alte Frau, die seit vielen Jahren mit ihrem Mann im Erdgeschoss des Hauses wohnt. Sie sei vors Haus gegangen, und dort, sagt sie, dort bei der Hecke, und sie streckt die Hand, aus der ein Schlüsselbund hängt, hin zur Hecke, die das Grundstück des Hauses Nummer 10 umgibt, dort habe er gesessen, der Tobi, und habe geheult und geschrien, und sie: »Was ist denn los, Tobi?« Und er: »Oh, Tante Emmy, du weißt ja gar net, dass von den Schwestern keine mehr da ist.«

Er habe, wird ein Rettungsassistent später vor Gericht sagen, Tobias Schaller erst auf dem Bürgersteig hin und her laufend vorgefunden und plötzlich habe der mit dem Kopf gegen ein Auto geschlagen und gerufen: »Meine Schwester muss doch arbeiten, sie bekommt ja sonst Schwierigkeiten.«

Jan Reichel, einige Meter entfernt von seinem Freund Tobias am Straßenrand, habe von einer Zigarre gestammelt, die er gerade noch mit Herrn Schaller rauchte, und als der Helfer ihm eine Zigarette anbot, habe er abgelehnt, weil er Nichtraucher sei. Es sei offensichtlich gewesen, dass die jungen Männer nicht mehr gewusst hätten, was sie sagten.

Übereinstimmend werden die professionellen Helfer der ersten Stunde aussagen, dass die beiden Freunde alle Symptome eines authentischen Zusammenbruchs gezeigt hätten. Bei niemand sei auch nur ein leiser Verdacht auf ein falsches Spiel aufgekommen.

 

Als Kommissar Berger am Tatort eintraf, waren einige der Beamten nicht mehr einsatzfähig. Beim Anblick der vier Leichen waren sie in Tränen ausgebrochen und brauchten die Hilfe von herbeigerufenen Psychologen.

Schon bald wurde deutlich, dass der Täter sich gut mit den Schließverhältnissen des Hauses ausgekannt haben musste. Keine der Türen war aufgebrochen. Nirgendwo waren Spuren gewaltsamen Eindringens in die Wohnung zu finden.

Kommissar Berger begann Tobias und Jan getrennt zu befragen, und als sich die ersten Widersprüche zeigten und die Spurenlage auch keine Abwehrhaltung der vier Opfer erkennen ließ, fiel der Schatten eines dringenden Tatverdachts auf den Sohn und seinen Freund. Sie wurden festgenommen und zum Verhör gebracht. Am nächsten Tag erließ der Untersuchungsrichter Haftbefehl.

 

Die Nachricht vom Tod der Familie Schaller ging wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Die Anwohner kamen mit Kerzen und Blumen, stellten sie auf die Bank vor der Haustür und legten kleine Botschaften dazu: »Tobias, wir stehen Dir bei«, »Tobias halte durch«, »Tobi, wir glauben an Dich«. Wer ihn kannte, wollte ihn nicht als Täter sehen. Freunde der toten Familie sprachen bei der Kripo vor. Sie wollten Tobias bei sich aufnehmen und waren erst bereit, das Präsidium zu verlassen, als man ihnen versicherte, Tobias sei wohl versorgt und es ginge ihm so weit gut.

 

Wenige Tage nach der Tat veröffentlichte die Polizei eine Rekonstruktion des Tathergangs, die zu großer Bestürzung in der Kleinstadt führte. Was sollte man glauben? Was war richtig, was war falsch? Hatte man über Jahre hin diesen liebenswerten Jungen und seinen schüchternen Freund verkannt? Die Verstörung war so weitgreifend, dass die Vereine, in denen die beiden jungen Männer Mitglieder waren, nach Notfallseelsorgern riefen. Angst machte sich breit, denn niemand in der Stadt glaubte, dass mit Tobias und Jan die Mörder der Familie gefasst seien. Die Angst sei in den ersten Tagen so schlimm gewesen, dass viele das Haus nicht verlassen wollten, sagt eine Nachbarin; eine Angst, die noch gewachsen sei, bis der Freund gestanden habe. Bis zu diesem Geständnis, sagt sie, dachten die Menschen, wenn es die Familie Schaller getroffen hat, kann es jeden hier treffen.

Die Polizei vermehrte ihre Streifengänge, um die verstörten Bürger zu beruhigen.

2

An Gründonnerstagabend, dem 9. April, sitzen die Töchter des Ehepaares Schaller, Klara und Marlene im Dachgeschoss ihres Elternhauses vor dem Fernseher. Beide sind Studentinnen des Lehramts und nur gelegentlich zu Hause. Doch heute sind sie beide da, sitzen in Schlafanzügen auf dem Bett.

Gegen 22 Uhr, so das Ermittlungsprotokoll, treten Tobias, der Bruder, und dessen Schulfreund Jan ins Zimmer der Schwestern. »Was soll der Scheiß?«, habe Klara laut Jans Aussage gefragt, und Tobias habe geantwortet: »So ist sie, arrogant bis zum Schluss.«

Sie feuern aus zwei Kleinkaliberpistolen frontal auf die jungen Frauen. Acht Schüsse auf die 24-jährige Klara, neun auf Marlene, die vor kurzem 22 geworden ist. Die Kugeln treffen Brust, Hals und Gesicht der Schwestern.

Die Freunde sammeln die Patronenhülsen ein, verstecken die Waffen samt Schalldämpfern und Tatkleidung im Keller und verlassen das Haus. Sie suchen Tobias’ Eltern in einer Gaststätte auf. Es ist gegen 22.30 Uhr, als sie sich zu ihnen an den Tisch setzen. Sie plaudern und lachen und brechen nach einer halben Stunde wieder auf. Sie kehren zurück nach Hause in die Bogenstraße, gehen in den Keller, wechseln in die Tatkleidung, nehmen die beiden Waffen mit den selbstgebauten Schalldämpfern, steigen ins Dachgeschoss hinauf und setzen sich ins Wohnzimmer.

Die Eltern treffen kurz nach Mitternacht ein. Der Vater wird im Wohnungsflur von acht Kugeln niedergestreckt, die Mutter durch drei Schüsse an der Tür zum Bad getötet. Die Patronenhülsen werden eingesammelt, die Tatkleidung wird samt Waffen, Munition und Hülsen in Plastiktüten verpackt und in einem vorbereiteten Erdloch im Wald vergraben. Den Rest der Nacht verbringen die beiden jungen Männer in Jans Elternhaus.

»Wie hast du geschlafen, Elke?«, fragt Tobias am Morgen die Mutter seines Freundes und nimmt sie in den Arm. Er holt frische Brötchen, und es wird gemeinsam gefrühstückt, dann verlassen die beiden Freunde das Haus. Wenig später ruft ein Rettungssanitäter bei Jans Eltern an: »Kommen Sie bitte sofort; bei der Familie Schaller gab es ein dramatisches Ereignis.«

3

Die Stadt Riedberg liegt zwischen Stuttgart und Ulm. Mit der Regionalbahn ist man in kaum vierzig Minuten in beiden Städten. Jahrhundertelang war Riedberg zweigeteilt, geographisch durch den Fluss, historisch durch unterschiedliche Herrschaftsbereiche. Ein Teil unterstand dem Bistum Würzburg, der andere dem protestantischen Haus Württemberg. Der Fluss hielt Bewohner und Machtsphären getrennt. Es ist ein altes Siedlungsgebiet, diese Flusslandschaft zwischen den Hügeln. Bereits vor 10000 Jahren wurde hier gelebt und gejagt.

1933 wurden die beiden Ortschaften zusammengeschlossen, was der jungen Stadt Brücken und vier Kirchen einbrachte, in denen jetzt sechs Pfarrer wirken. Für die Einwohner gibt es sechs Schulen, eine Volkshochschule, eine Stadthalle, eine Stadtbücherei, ein Kino, Hallenbad, Sport- und Tennisplätze, zwei Jugendhäuser, ein Altenheim und sechzig Vereine.

Hier ist kein Stillstand zu spüren, wie so oft in anderen Kleinstädten. Riedberg ist eine Stadt, die ihre Verkehrskreisel mit moderner Kunst schmückt und die wächst, ohne dabei das Wohlgeordnete zu verlieren.

Riedberg liegt in Schwaben, und die Menschen hier haben sich feste Regeln für ihr Miteinander gegeben: Die Hausbesitzer halten den Gehweg vor dem eigenen Grundstück sauber, und die Nachbarn behalten Straße, Gärten und Häuser im prüfenden Blick. Man könne, sagt die Gemeindesekretärin Schneider, hier in den alten Ortsteilen ganz selbstverständlich die Fenster offen lassen, da passiere gar nichts, denn man gebe Acht aufeinander, es »guckt jeder ein bissle nacheinander«, sagt sie, und wenn mal ein Rollladen den Tag über unten bleibe, dann schaue man nach, was da los sei. Im neuen Wohngebiet allerdings, in dem überwiegend Zugezogene wohnten, dort gelten solche Regeln nicht, dort sei man anonym. Da kümmere sich keiner, sagt Frau Schneider, und schaut bekümmert über diesen Mangel an hilfreichem Miteinander.

 

Die Bogenstraße ist lang. Schnurgerade führt sie vom Friedhof bis hinunter zum kleinen Ehrenbach. Links und rechts Spitzgiebelhäuser neben Würfelbauten hinter hohen Gartenzäunen und Garagenzufahrten »Wer hier parkt, fährt auf Felgen heim«, steht auf einem Schild. Die Straße liegt im alten Ortsgebiet, wo Nachbarn nicht nur über den Zaun hinweg kleine Gespräche führen, sondern eben auch registrieren, welches Leben da geführt wird in den Gärten und in den Häusern nebenan. Und die Familie Schaller, die hier seit zwanzig Jahren wohnt, bekommt ein gutes Zeugnis ausgestellt. Es ist das Bild einer gutbürgerlichen, gutsituierten Familie, in der alles stimmt, der Vater ein engagierter Heilpraktiker, die Mutter eine beliebte Englischlehrerin, die drei Kinder hübsch, erfolgreich und wohl erzogen.

Eines Morgens, sagt die Gemeindesekretärin, sei sie die Bogenstraße entlanggeradelt, vorbei an der Bushaltestelle, und jemand habe ihr »Hallo, guten Morgen« zugerufen. Und als sie sich umdrehte, sah sie einen jungen Mann an der Haltestelle stehen, der ihr zulächelte. Und da habe sie gedacht: »Hoppla, was ist das für ein hübscher Bub, der mich da grüßt«, und dann habe sie Tobias Schaller erkannt.

4

Am 1. September ist es in Riedberg viel zu heiß. So heiß, dass die hölzerne Aufhängung der Kirchenglocke sich zusammenzieht und der Klöppel der Stundenglocke zwölfmal ins Leere schlägt. High noon ist auch in Riedberg geräuschlos.

Vom Bahnhof gehe ich vorbei an der Stadtbücherei im ehemaligen Herrenhaus, vorbei an der Gaststätte Blue Star, in der das Ehepaar Schaller den letzten Abend seines Lebens verbrachte, vorbei am Nippesladen mit dem Igel in der Auslage, der lachend einen Ball mit dem Aufdruck »Folge deinem Weg, vertraue deiner Zukunft« hinunterrutscht.

Durch die schmalen Straßen braust der Verkehr, und ich trete durch die abgewetzte braune Tür ins Pfarrhaus ein, weil dort der evangelische Pfarrer Rainer Straub als einer der wenigen bereit ist, über den Fall »Vierfachmord« zu sprechen.

»Die Frage«, sagt der Pfarrer und lehnt sich weit in seinen knarrenden Bürostuhl zurück, »die Frage, die bei vielen Eltern und Lehrern mitschwang, war: Was für ein Potential ruht in meinem Sohn oder in meinen Schülern, und kann ich die Vorboten, die es eventuell geben könnte, wahrnehmen?« Das sei etwas, was große Angst mache, wenn man nicht wisse, was in den eigenen Kindern schlummere.

Der Pfarrer Straub spricht langsam und mit großen Pausen. Er formuliert mit Vorsicht. In dieser unklaren Situation, voller Spekulationen und wenige Wochen vor Prozessbeginn, möchte er Zurückhaltung üben.

 

»Ist es das Archaische, was uns an der Tat erschreckt, die tiefsitzende Angst, dass auch wir dazu fähig wären?«

»Ja, das ist sicher so«, sagt Pfarrer Straub. »Bei Kain und Abel ist es sehr deutlich. Gott sagt: Deine Aufgabe ist es, über die Sünde zu herrschen und diese destruktiven Impulse zurückzuweisen. Die Bibel«, sagt er, »sieht uns als verantwortungsfähig und daher auch als schuldfähig an. Da möchte ich nicht dahinter zurück, bei allen berechtigten Versuchen, Verständnis oder auch Mitgefühl für die beiden Täter aufzubringen. Sie sind verantwortlich für das, was sie tun, und in diese Verantwortung muss jeder hineinwachsen. Das ist wichtig für unsere Gesellschaft, dass wir darin ganz klar sind: Jeder hat für seine Taten Verantwortung, sonst wird die Angst voreinander uferlos.«

Seit Jahren engagiert sich der Pfarrer in der Jugendarbeit, entwickelt Projekte für Freizeit und Fortbildung und hat dabei auch Tobias und Jan kennengelernt. Doch über die beiden wolle er zu diesem Zeitpunkt kein Wort verlieren, nur ganz allgemein wolle er sprechen.

»Ich nehme nicht an«, sagt er, »dass den beiden jungen Männern tatsächlich bewusst war, was sie tun, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie wirklich wissen, warum sie es getan haben. Die meisten unserer Taten haben ja diesen hohen Anteil an nicht bewussten Aspekten in unserer Motivation. Dass die beiden nach der Tat verstummen und nicht in der Lage oder willens sind, über das zu reden, was sie getan haben, das macht es für mich sehr plausibel, dass ihnen nicht klar war, auf welchem Trip sie unterwegs sind.«

Pfarrer Straub lehnt sich zurück, der Stuhl ächzt, dann ist es still in dem Zimmer des alten Pfarrhauses. Der junge, fast schlaksige Pfarrer schaut hinaus in den Apfelgarten mit den vollbehangenen Bäumen und schweigt.

»Bei jungen Männern«, fährt er fort, »fällt mir besonders auf, dass sie nicht in Fühlung sind mit sich selbst und erst recht nicht mit ihrer Umgebung. Sie spüren das nicht, was sie tun, und weigern sich, über die Konsequenzen ihres Tuns nachzudenken.« Von außen ließe sich keine Antwort finden auf das Warum, sagt der Pfarrer. Nur wenn die beiden Täter beginnen würden zu reden, könnten Zugänge zum Warum entstehen. Aber das müsse eben von innen heraus kommen. »Von außen muss man akzeptieren, dass die Tat absolut rätselhaft und unbegreiflich bleibt.« Besonders verstörend an dieser Tat sei, dass keiner den andern gebremst habe. Beide waren gemeinsam auf diesem furchtbaren Weg immer tiefer hineingegangen ins Dunkle.

 

Ich frage Pfarrer Straub, ob er eine Verbindung sieht zu der Tat in Winnenden, jener schwäbischen Kleinstadt, in der fast auf den Mordtag genau ein Jahr zuvor ein Schüler fünfzehn Menschen erschossen hatte, Lehrer, Mitschüler und drei ihm ganz fremde Menschen.

»In Winnenden«, sagt der Pfarrer, »war es für mich deutlich sichtbar, dass es im Grunde genommen eine aggressive Weise des Suizids war. Der junge Mann wusste, glaub ich, dass er diesen Amoklauf nicht überleben wird und nicht überleben will. Dem Täter von Winnenden war das klar.« Und wieder ächzt der Stuhl und wieder schweigt der Pfarrer. In der Tür steht jetzt eine rundgesichtige junge Frau und nickt ihm zu. Pfarrer Straub schaut auf die Uhr und nickt zurück. »Die beiden jungen Männer hier haben im Grund’ auch sich selbst erledigt«, sagt er. »Und ja, das ist einer von meinen Gedanken, das war deren Art, Selbstmord zu begehen.« Einen Moment lang hält er inne. »Auf der sozialen Ebene«, sagt er dann und steht auf, »da ist ihnen dieser Suizid auch komplett gelungen.«

5

»Mit unseren eigenen Kindern sind wir sehr gesegnet. Alle sind gesund und machen uns viel Freude. Ich hoffe, dass alle, die diesen Brief lesen, genauso gesund und zufrieden sind wie wir.« Dem Weihnachtsbrief Herbert Schallers an Freunde und Verwandte war ein Foto beigelegt, das diese Behauptungen belegen sollte. Hübsche Menschen allesamt. Der Sohn mit der Hand auf Vaters Schulter und ihm lächelnd zugewandt, die Schwestern neben der Mutter und strahlend.

 

»Ich weiß, wie liebevoll seine Mutter mit ihm umgegangen ist«, wird Frau Mögle im Lauf des Abends sagen, »Tobias hat eine herausgehobene Position bei ihr gehabt.« Einmal, daran erinnere sie sich, habe der Vater gesagt: »O ja, meine Frau macht wieder Brutpflege mit ihrem Tobi.«

Die Karin Schaller sei eine temperamentvolle und liebenswerte Frau gewesen. Sie habe sich als Dozentin durchsetzen können und auch die Fähigkeit gehabt, die Leute mit interessanten Themen zu fesseln. Eine schwache Persönlichkeit, die ihr manche nachsagen wollen, könne das nicht.

Familie Mögle hat den Tisch gedeckt. Es gibt Aufschnitt, Käse, Tomaten und die besten Brezeln der Region. Das Gespräch muss warten, erst soll der Gast essen, im Kreis der Familie, die er fünf Minuten vorher das erste Mal gesehen hat.

Familie Mögle kannte die Schallers seit Jahren, die beiden Töchter waren mit den Schaller-Töchtern befreundet und oft zu Gast in der Bogenstraße 10.

»Ich hab mich wohl gefühlt in der Familie«, sagt die ältere Tochter, »es war immer schön und gemütlich. Freunde waren dort willkommen. Seine Schwestern haben Tobias geliebt. Sie waren stolz auf den Bruder und haben ihn richtig verhätschelt.«

»Tobias war jahrelang mein bester Freund«, sagt die Jüngere. »Er war so witzig und phantasievoll, er war charmant und sah gut aus. Er hatte einfach alles, was anziehend war.« Sie macht eine Pause und starrt auf den Tisch, als käme von daher Beruhigung, doch die Tränen lassen sich nicht zurückhalten. »Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denken muss. Und wenn ich mir dann vorstelle, wie er jetzt da sitzt in seiner Zelle, könnt ich heulen.« Sie habe ihm bereits zwei Briefe geschrieben, aber bisher keine Antwort erhalten. Und dann sagt sie: »Der Tobias ist jetzt wie tot für mich, aber ich möchte ihn in Erinnerung behalten, so wie ich ihn kannte.«

Die Mutter kommt mit frischgebrühtem Kräutertee, weil der dem Gast jetzt guttue. »Die Familie Schaller«, sagt sie, »war im sozialen Leben integriert. Mit wem Sie auch sprechen, es war nichts, was auffällig gewesen wäre. Freunde, die mit der Familie immer wieder zusammengekommen waren, können nicht die kleinste Auffälligkeit schildern.« Allerdings, sagt sie, sei es keine Laisser-faire-Familie gewesen. Es habe Regeln gegeben, eine gewisse Struktur des Miteinanders, auf deren Einhaltung der Vater bestanden habe. So zum Beispiel das gemeinsame Mittagessen, da habe eine Art Anwesenheitspflicht geherrscht. »Solche Dinge«, sagt sie, »waren dem Vater wichtig.«

»Und alle haben sich gefügt?«

»Der Vater war dominant, das war offensichtlich. Beim CDU-Fest, da hatte ich den Eindruck, dass der eloquente Tobias eher schweigt, wenn der Vater redet, also sich an die unausgesprochene Aufforderung hält: ›Tritt du in meine Fußstapfen und schau, wie ich das mache.‹«

 

In ihrer Trauerrede hatte die Pfarrerin den Sohn vor dem Vater in Schutz genommen und ziemlich deutlich gesagt, dass der Vater nicht nur ein liebevoller Vater gewesen sei, sondern auch streng mit seinen Kindern.

»Es war ihm wichtig«, sagt Frau Mögle, »dass seine Kinder einen vernünftigen Start ins Leben haben, dass sie auf dem richtigen Weg sind, um dann ihren eigenen Weg gehen zu können. ›Materiell‹, hat er mal zu mir gesagt, ›sind alle drei versorgt‹.« Und tatsächlich wisse man ja jetzt, wie wohlhabend er war.

Ob sie sich vorstellen könne, dass man es mit Herrn Schaller als Vater nicht aushalten konnte?

Sie zögert mit der Antwort. »Vielleicht zeitweise«, sagt sie schließlich, aber das sei doch überall so. Und sie zitiert Nachbarn, die gesagt haben: Ja, er war ab und zu laut im Garten und hat seine Kinder angeschrien. Aber ihr eigener Mann, sagt Frau Mögle, habe auch manchmal ihre Kinder angeschrien. Bei diesem freundlichen Mann, denke ich, der da so still und zurückhaltend am Tisch sitzt, sind solche Ausbrüche kaum vorstellbar. Doch da nickt Herr Mögle Zustimmung und seine Frau nickt mit einem kleinen Vorwurf zurück. »Das kommt doch in den besten Familien vor«, sagt sie. »Aber nun heißt es, der Vater sei ein Tyrann gewesen. Ich bitte Sie, dann wären ja alle Väter, die ihre Kinder mal zurechtweisen, gleich Tyrannen.«

»Wenn dem Vater was nicht passte«, sagt die älteste Tochter, »dauerte es eine Weile, bis er sich wieder beruhigte. Aber das dauerte nicht tagelang.«

»Er machte es wieder gut« sagt die Jüngere.

»Der Vater machte es wieder gut?«

»Ja«, sagt sie. »Es war egal, wie schlimm so ein plötzlicher Streit war, die Versöhnung kam genauso schnell.«

 

Herr Mögle hat bisher geschwiegen. Jetzt spricht er und wägt seine Worte. »Ich denke nicht, dass die Liebe gefehlt hat. Der Werner Schaller hat seinen Sohn geliebt, aber es gibt verschiedene Ausgestaltungen der Liebe, und ich glaube, das war eine sehr fordernde Liebe, die diesen Sohn vielleicht überfordert hat.«

Frau Mögle nickt. Dann seufzt sie. »Man hatte das Bild von einer gutbürgerlichen, gutsituierten Familie, bei der alles stimmte. Und dann diese Erkenntnis, dass es hinter dem Vorhang doch ganz anders ausgesehen haben könnte.« Frau Mögle schaut auf ihren Teller, an dessen Rand ein kleiner Tomatenstrunk abgelegt ist, und hebt dann den Blick hinaus zu den großen samtroten Dahlien im Vorgarten. »Aber was war denn hinter dem Vorhang?«, fragt sie und erwartet keine Antwort. »Was steckt da dahinter? Wie kann ein Mensch überhaupt so eine Tat begehen? Das ist, was uns alle hier bewegt und wovon man gar nicht mehr wegkommt.«

 

Er habe zu seinem Vater keine gute Beziehung gehabt, wird Tobias Schaller dem psychiatrischen Gutachter sagen. Er habe sich gegängelt gefühlt und unter dem despotischen Vater gelitten und gedacht, er sei ein Kuckuckskind, und habe schließlich Selbstmordphantasien entwickelt. Seine Schwestern aber habe er gemocht und die Mutter geliebt, doch ihre Solidarität mit dem Vater habe ihn stets ins unerträgliche Abseits und am Ende vor die Entscheidung gestellt: entweder sie oder ich. Der Entschluss zum Schlussstrich sei, so Tobias, während einer Schneewanderung mit der Familie entstanden. Dort im Schnee und in der Dunkelheit, als sie sich durch die Fehleinschätzung des Vaters verlaufen hatten, habe sich bei ihm das Gefühl der ohnmächtigen Wut Bahn gebrochen und habe sich schließlich in der Tat entladen.

Was er sich wünschen würde, fragt der Gutachter, wenn er die Zeit um ein Jahr zurückdrehen könne. Und Tobias Schaller antwortet: Dass alles wieder so wie vor den Morden sein möge und dass er seinen Freund Jan nie getroffen hätte. Und, sagt er, das Schlimmste sei, dass er seinen Vater so sehr vermisse.

6

Sechs Monate nach der Tat beginnt vor der Großen Jugendkammer des Landgerichts Ulm der Prozess. Drei Richter und zwei Schöffen haben sich durch die zweiundzwanzig Aktenordner mit den Ermittlungsprotokollen zu dem vierfachen Mord in Riedberg gearbeitet, die aufgereiht hinter dem Vorsitzenden stehen.

Auch das erste Gespräch, das ein Polizist an jenem Karfreitagmorgen mit dem zwischen Schluchzen und Wutausbrüchen wechselnden Tobias Schaller führte, ist hier abgelegt und wird später vom Zeugen vorgetragen werden.

Schaller habe den Verdacht zuerst auf die beiden langjährigen Freunde der Schwestern gelenkt, wird der Polizist Maler aussagen. »Warum sind die nicht da?«, habe Schaller ihn gefragt und dann vom gemeinsamen Säubern der Terrasse am Vortag erzählt und vom Abendessen im Garten und dem Streit mit den Schwestern, weil er als Einziger kein Auto habe. Und später habe ihn der Vater zu Jan, dem Freund, gefahren, wo er, Tobias, nochmals zu Abend aß, Kässpätzle habe es gegeben. Und dann sei er mit Jan noch kurz in den Blue Star gegangen, zu den Eltern, die dort mit Freunden bei Live-Musik saßen und Wein und Bier tranken, und habe dann bei Jan übernachtet.

Und er schildert dem Polizisten, wie er am Morgen in die Wohnung gekommen sei und dort erst den Fernseher ausgeschaltet habe, oben bei den Schwestern, und wie er gedacht hätte, die machten ein ›Späßle‹ mit ihm, und erst als er sie umgedreht habe, hätte er gesehen, dass sie tot sind. Und der Polizist gibt zu Protokoll, dass Tobias Schaller überraschend ruhig gewesen sei und er nicht den Eindruck hatte, dass da jemand sitze, dessen Eltern und Schwestern gerade tot aufgefunden worden sind.

Ob die Wohnungstür denn unverschlossen gewesen sei, will der Ermittler noch wissen. Ja, sagt Tobias, sie sei offen gewesen, denn wenn er den Schlüssel benutzt hätte, wäre er ihm aus der Hand gefallen vor Schreck. »Aber ich hab ihn hier in der Tasche, also hab ich ihn nicht benutzt.«

 

Von den fünfzig Sitzen des Gerichtssaals sind nur neun belegt. Die Kammer hatte sehr zum Ärger der zahlreich aus ganz Deutschland herbeigeströmten Journalisten eine eng begrenzte Öffentlichkeit verfügt und lediglich neun ausgewählte Presseleute zugelassen. Das Jugendgerichtsgesetz schreibe die Nichtöffentlichkeit des Verfahrens vor, gestatte aber aus diesem nichtöffentlichen Verfahren eine eingeschränkte Berichterstattung. Hinter den hohen Fenstern im hellen, holzgetäfelten Gerichtssaal ragt über die Dächer der Stadt das massige Gebäude einer modernen Kirche, deren Türme ihrer abgerundeten Spitzen wegen »Granatentürme« heißen. Eine kleine rundliche Frau, die gleich hinter den Wachleuten sitzt, blickt hinaus auf die Türme, neben ihr ein schmächtiger Mann im dunklen Anzug, ein kleines Notizbuch so fest in der Hand, als suche er daran Halt. Es sind die Eltern von Jan Reichel. Sie sitzen so nah wie möglich beisammen auf diesen festgeschraubten Stühlen. Still und stumm.

 

»Wenn ich das Ehepaar Reichel sehe, diese netten Leute«, sagt die Bäckersfrau in Riedberg, »dann denke ich, dass man als Eltern nie genau weiß, was in seinem Kind steckt.« Die Reichels seien so friedfertige, freundliche Menschen, aus so einer Familie könne doch kein Verbrecher herauswachsen.

 

Über ein halbes Jahr hin, an zwanzig Verhandlungstagen, werden sie da sitzen, die Eltern des wegen Mordes Angeklagten Jan Reichel, werden an jedem Prozesstag immer an derselben Stelle sitzen, dicht an der gläsernen Trennwand, hinter der jetzt nacheinander die beiden Angeklagten hereingeführt werden. In die Mitte genommen und mit Handfesseln an einen der beiden Beamten gekettet, gehen sie mit schlurfenden kleinen Schritten, bis die Fußfessel spannt, zu ihren Plätzen, als sei die Welt um sie versunken; Tobias Schaller, bleich, mit zusammengepressten Lippen, die, wenn sie sich öffnen, eine Reihe tadellos gewachsener Zähne zeigen, für deren Pflege er viel Aufwand betrieben haben soll. Er ist ein gutaussehender junger Mann in Jeans, grauem Kapuzenpulli und roten Sneakers, das braune kurze Haar leicht gelockt. Durch sein selbstbeherrschtes Auftreten wirkt er älter als sein um ein Jahr älterer Freund.

Jan Reichel, den Kopf gesenkt, das Gesicht rot wie fiebernd, auch seine Hände und Füße in Fesseln, schleppt sich zu seinem Platz. Er ist ein schmächtiger Junge. Er habe schon gedacht, sagt sein Anwalt, sein Mandant müsse wesentlich gestörter sein. Aber er mache auf ihn einen ganz normalen Eindruck. »Jan«, sagt der Anwalt, »ist wirklich ein liebenswerter Mensch, das kann ich so sagen.«

Und während Jan Reichel leicht nach vorn gebeugt sitzt und auf den Tisch starrt, wie er neben dem Anwalt verharrt, versteinert, selbst als er schweres Nasenbluten bekommt, das der Vorsitzende Richter schließlich bemerkt und deshalb eine Unterbrechung anordnet, hat sich Tobias Schaller darauf verlegt, den Prozess zu protokollieren, als ginge es darum, über das Gericht Gericht zu halten. Stunde um Stunde sitzt er schreibend, ohne aufzublicken, ohne eine emotionale Regung zu zeigen.

»Vielleicht«, sagt sein Verteidiger in einer Verhandlungspause, »schreibt er, dass alle Journalisten den Tod verdienen.« Der Anwalt ist gewitzt im Umgang mit Presseleuten. Gleich zu Prozessbeginn wird er den kompletten Ausschluss der Öffentlichkeit beantragen. Ein Antrag, der vom Gericht zurückgewiesen werden wird.

 

Die Anklageschrift, die Oberstaatsanwältin Harms verliest, lautet auf gemeinsam und heimtückisch begangenen vierfachen Mord aus Habgier.

Tobias Schaller habe sich als unterdrückt empfunden, heißt es in der Anklage. Er habe sich in seiner Familie »nicht mehr wohl gefühlt« und habe zunächst sein Elternhaus verlassen wollen. Er habe das Vorhaben jedoch aufgegeben, weil er die materielle Sicherheit geschätzt habe. Als er mit achtzehn gemeinsam mit seinen Schwestern die Vollmacht über ein Schweizer Konto mit 256000 Euro erhielt, sei in ihm der Gedanke gereift, Eltern und Schwestern zu töten, um allein über das Vermögen verfügen zu können. Die beiden Freunde hätten mehrere Mordszenarien entworfen: Erschießen der vier Familienmitglieder während einer Wanderung, Vergasen mit anschließender Säurebeseitigung der Leichen, Tod durch Verbrennen.

 

Es sei bei ihm selbst, wird der psychiatrische Gutachter später sagen, nach vielen Stunden der Exploration immer noch ein beträchtliches Maß an Fassungslosigkeit und Ratlosigkeit vorhanden. »Alles von diesen angeblichen Belastungen und Dramatisierungen, alles was Tobias Schaller selbst darüber gesagt hat, bezog sich überwiegend auf den Vater. Und die Frage, die für mich nach wie vor im Raum steht, ist, warum nicht nur der Vater sterben musste, sondern auch die Mutter und die beiden Schwestern. Diese Frage bleibt weiterhin völlig ungeklärt.«

Von den drei Frauen in seiner Familie habe Tobias Schaller nichts erzählt, was auch nur annähernd traumatisierend hätte wirken können, wird der Gutachter später sagen. »Insofern würde ich mir nicht anmaßen zu behaupten, ich wüsste, wer diese beiden Angeklagten wirklich sind.«

 

Die Anklage entrollt eine kriminelle Karriere, die zwei Jahre vor der Tat begann. Man sieht die Schulfreunde in entwendeten Autos ohne Führerschein durch die Landschaft sausen, sieht sie nachts bei Einbrüchen in Schule, Supermarkt und Sportvereinen, sieht kriminelle Anfänge aus Abenteuerlust – »Wir gegen den Rest der Welt« –, bei der die Beute bloße Nebensache bleibt. Zweimal war den Freunden die Polizei auf der Spur gewesen, und zweimal waren sie unentdeckt entkommen.

Eines Nachts hocken sie mit ihrer Kletterausrüstung auf dem Dach des Supermarktes gleich um die Ecke des schallerschen Hauses. Während unten die Polizei vorgefahren ist und nach Einbrechern sucht, sagt Jan: »Ich geb auf, ich stelle mich«, aber Tobias hält ihn zurück, denn: »Ob du dich stellst oder entdeckt wirst, macht bei der Strafe keinen Unterschied.« So bleiben sie sitzen, bis die Polizei wieder abgezogen ist, steigen anschließend durchs Oberlicht ein und nehmen Spirituosen und Zigaretten mit, alles Waren, die sie selber gar nicht konsumieren. Am Morgen sitzen sie im Klassenzimmer des Wirtschaftsgymnasiums und sind die guten Schüler, von denen der Rektor sagt, dass er stolz auf sie sei.

 

Sieben Monate vor dem Mord begehen die beiden einen folgenschweren Einbruch. Das erste Mal haben sie es dabei gezielt auf die Beute abgesehen.

Tobias und Jan sind Mitglieder der Riedberger Schützengilde. Beide sind keine besonders guten Schützen. Note drei bis vier gab der Jugendleiter Tobias beim Schießen mit dem Luftgewehr; Note fünf beim Kleinkaliberschießen. Aber ihre Faszination für Waffen ist groß. »Wir wollten die Waffen besitzen«, sagt Jan seinem Anwalt, »wir wollten sie in unserer Nähe haben, aber niemanden damit schädigen.«

Eines Abends blockieren sie die Tür des Schützenhauses und dringen nachts dort ein. Sie schneiden den Schlüsseltresor mit einer elektrischen Säge auf und entnehmen dem Waffenschrank neunzehn groß- und kleinkalibrige Waffen samt 1700 Schuss Munition. Im Kofferraum des großen BMW von Jans Vater wird die Beute abtransportiert und anschließend versteckt.

Am nächsten Tag ist die Aufregung im Schützenverein groß. Das Mitglied Tobias Schaller regt sich mit auf, und als die andern rätseln, wie die Einbrecher wohl ins Schützenheim hineingekommen seien, sagt er: »Ich wär durch die Tür gegangen«, und lacht. Niemand kommt auf den Gedanken, den allseits beliebten Tobias und seinen stillen, schüchternen Freund Jan zu verdächtigen. Die Polizei ermittelt lustlos und schließt ihre Ermittlungsakte ergebnislos. Sie verschwindet im Archiv.

Drei Kleinkaliberpistolen werden von Jan und Tobias an einem Ort verwahrt, auf den sie schnell Zugriff haben, die restlichen Waffen im Haus von Jans Großmutter auf dem Dachboden unter Dielenbrettern versteckt. An manchen Tagen tragen sie die Pistolen in ihren Rucksäcken mit sich herum und rufen sich eine Zahlenkombination zu, im Klassenzimmer, auf dem Schulhof, auf der Fahrt nach Hause: »5, 1, 4, 2«, rufen sie. Es ist ein tödlicher Code, den Jan Reichel im Prozessverlauf erklären wird.

 

Gestanden hat die Mordtat bisher nur Jan Reichel: »Wir waren das zusammen«, hatte er in der Untersuchungshaft gesagt und das Versteck im Wald mit den Tatwaffen und der Tatkleidung verraten. Ohne diesen Hinweis, sagt sein Anwalt, hätte die Polizei das Walddepot niemals gefunden und die Tat wäre den beiden wohl kaum nachzuweisen gewesen. Selbst nach dem Hinweis noch hatte die Polizei Hubschrauber und Sprengstoff-Spürhunde einsetzen müssen, um das Vergrabene im dichten Unterholz zu finden.

»Wenn also die beiden wirklich geschwiegen hätten«, sagt Jan Reichels Anwalt, »dann wäre ihre Tat womöglich das perfekte Verbrechen geworden.«

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