Nachmittage mit Mördern - Sibylle Tamin - E-Book

Nachmittage mit Mördern E-Book

Sibylle Tamin

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Beschreibung

***Mensch oder Monster?*** Der schockierende Blick in die Abgründe der menschlichen Seele »›Messerblöcke sind mir unangenehm. So was mag ich nicht. Ich mag's nicht sehen. Und ich weise die Leute darauf hin, dass man bei einem Konflikt schnell in den Messerblock rein greifen kann und in einer Art Kurzschlussreaktion das Messer dann benutzt.‹ Es brach aus ihm heraus, nichts konnte er mehr zurückhalten. Die, die ihm jetzt zuhörte, sollte alles wissen. Sie sollte es genau wissen. Sie würde ihm zuhören müssen und nicht eher gehen können, bis alles erzählt war.« Sibylle Tamin sitzt den Mördern gegenüber. Auge in Auge. Allein. Stundelang. Und in dieser scheinbaren Intimität offenbaren sich grauenvolle Abgründe und menschliche Tragödien. So spannend wie erschütternd.

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Sibylle Tamin

Nachmittage mit Mördern

10 wahre Tätergeschichten

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto]1 Pflaumenmus2 Pläne3 Püppi4 Fahrtkosten5 Liebesgeflüster6 Feigling7 Quittung8 Wahnsinnig verliebt9 Wahrheit1234510 FreundschaftNachwort

Für Tassilo

Jeder moralische Satz [liefert Beispiele, die zwischen Wahrheit und Subjektivität liegen], etwa gleich der bekannte und einfache: Du sollst nicht töten. (…) Man weiß, dass wir uns in mancher Hinsicht streng an ihn halten, in anderer Hinsicht sind gewisse und zahlreiche, jedoch genau begrenzte Ausnahmen zugelassen, aber in einer sehr großen Zahl von Fällen dritter Art, so in der Phantasie, in den Wünschen, in den Theaterstücken oder beim Genuss der Zeitungsnachrichten, schweifen wir ganz ungeregelt zwischen Abscheu und Verlockung.

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

Mir wurde klar, dass ich das Gleichgewicht des Tages zerstört hatte, die außergewöhnliche Stille eines Strandes, an dem ich glücklich gewesen war. Da hab ich noch viermal auf seinen leblosen Körper geschossen (…)

Albert Camus, Der Fremde

1 Pflaumenmus

Kurz nach Weihnachten trat ich zum letzten Mal hinaus durch das stählerne Tor und sah zu, wie der Beamte den doppelbärtigen Schlüssel ins Schloss des nächsten schob, ein mit Rosetten und vergoldeten Blattranken versehenes herrschaftliches Tor, als läge dahinter ein Gutshaus. Dahinter lag ein grauer Hof, den nur Wachleute betreten durften und Häftlinge, die entlassen wurden.

Langfeld würde noch mindestens fünfzehn Jahre warten müssen, um da hinaus in ein anderes Leben gehen zu können. Ich beschloss, ihn nicht mehr zu besuchen.

 

»Det is Herr Langfeld«, hatte der Beamte beim ersten Treffen gesagt und dem Mann eine Hand auf die Schulter gelegt, behütend, wie es ein Lehrer mitunter bei einem neuen Schüler tut. Langfeld war am massigen Beamten vorbei in die Besucherzelle getreten und hatte sich mit einem Nicken wortlos an den Tisch gesetzt. Kaum war die Tür geschlossen, hatte er zu sprechen begonnen, schnell und atemlos.

»Sie kennen vielleicht die Geschichte, an deren Ende die 42 steht? Nein? Nach einem jahrelangen Rechenvorgang spuckt der größte existierende Rechner die Formel der Welt aus: 42. Diese ironische Entlarvung wissenschaftlicher Hybris mit Hilfe einer einzigen Zahl – das ist doch nicht zu toppen, oder?«

Langfeld mied den Blickkontakt, saß seitlich auf dem Stuhl und sprach zur Wand.

»Ich hab schon immer gern mit Zahlen gearbeitet und denke meist in Zahlen. Man bekommt klare Aussagen. Mit Worten hingegen ist das so eine Sache, und Missverständnisse kommen gratis.«

Er drehte den Kopf und schaute durch die randlose Brille her, zeigte sein schmales Gesicht mit der langen Nase, die, wie jetzt zu sehen war, sich leicht nach vorn verdickte und diesem strengen Blick etwas Unernstes gab.

»Ach Worte –«, sagte er und atmete aus, »ich bin Buchhalter. Wenn ich damals klug gewesen wäre, hätte ich den Ermittlern eine andere Geschichte erzählt. Und ein guter Anwalt hätte die Dinge juristisch plausibel gemacht. Fast aus jedem Mord lässt sich ein Totschlag machen. Wussten Sie das? Aber ich, wie ein Idiot, erzähle genau die Wahrheit. Und mit der Wahrheit hab ich mich reingeritten. Ich hab mich mit der Wahrheit unverdient ins Lebenslängliche gebracht.«

 

Langfeld stand auf, groß, schlank, sportlich, in schwarzen Jeans und schwarzem Sweatshirt, und trat ans Fenster. Im Hof leuchtete ein kleiner Weihnachtsbaum.

»Weihnachten im Knast. – Am 1. Feiertag gibt’s Gänsekeule mit Rotkohl und Klößen, dann kann man in den Gottesdienst gehen und danach ist Einschluss. Da fragt mein Sozialarbeiter gestern: Was hat Weihnachten mit dir gemacht, und ich sage: ›Gar nichts, ich bin froh, dass es vorbei ist.‹ Auch an Weihnachten gehen hier keine Wünsche in Erfüllung. Man versucht möglichst emotionslos durch die Feiertage zu kommen. Viel Schlafen hilft, wenn man’s kann. Aber tatsächlich ist Weihnachten furchtbar.«

Er stand am Fenster, übermäßig aufgerichtet, als wolle er gleich salutieren. Seine Bewegungen waren kantig, und er sprach wie mit zusammengebissenen Zähnen.

»Wir haben es uns immer schön gemacht an Weihnachten. Daran versuche ich möglichst nicht zu denken. Die meisten hier behaupten zwar, Weihnachten gehe ihnen am Arsch vorbei, aber dann sitzen sie auf ihrem Bett und heulen. Und Silvester ist wieder so ein schwieriger Tag. Man wird in alte Gefühle hineingezogen, in das, was schön war, und was man sich selbst kaputtgemacht hat. Ich hab von meinem Zellenfenster aus einen exzellenten Blick. Ein Himmel voller Feuerwerk. Aber auf was für eine Zukunft soll ich mich freuen?«

Er drehte sich her, blass vor Anspannung und mit mahlenden Kiefermuskeln.

»Es ist gut, dass die Feste jetzt vorbei sind, und ich wieder arbeiten kann.«

Er schwieg und schaute hinaus in die beginnende Dämmerung.

»Vor fünf Jahren hab ich Weihnachten und Silvester in Innsbruck verbracht. In der U-Haft. Da hab ich keinen einzigen vernünftigen Gedanken fassen können. Man hofft nur, dass es endlich vorbei ist. Keine Fragen mehr. Ruhe. Die andern Insassen in der U-Haft haben sich fair verhalten. Teilweise ist da sogar Solidarität entstanden. Sie gaben mir Kaffee und Briefmarken, und der Schwerkriminelle gab Käse, Wurst und Marmelade. Ja, das gibt es auch im Gefängnis, Mitmenschlichkeit. Sie sagten: ›Gib’s mir wieder, wenn du’s hast.‹ Ich hab gestaunt.«

Langfeld blieb am Fenster stehen und zeigte hinaus auf den Hof. »Der Freizeitpark dort ist 100 auf 80 und immerhin grün.« Gelbe und braune Blätter flogen durch die Luft. »Das sind keine Blätter«, sagte er, »das ist Brot. Hier fliegt alles zum Fenster raus, nicht nur Brot, auch Verpackung, Taschentücher, Obst – alles, was nicht gefällt, wird von den Gefangenen rausgeschmissen. Der Hof ist ihr Mülleimer. Viele regt das auf, aber kein Beamter klemmt sich dahinter. Sie sagen, Haus 2 und 3 seien schon immer Schweinehäuser gewesen. Und das ist alles. Statt mit Disziplinarmaßnahmen zu reagieren, zucken sie bloß die Schultern. Der Dreck ist hier überall. Auch auf den Gängen. Jeden Vormittag machen die Hausarbeiter sauber, aber gleich ist’s wieder vollgemüllt. Das ist eklig«, sagte Langfeld und schüttelte den Kopf. »Aber das ist das kleinste Übel hier.«

Er schwieg, und es schien, als hielte er den Atem an, so bewegungslos stand er da am Fenster. Gedämpft drangen die Stimmen der Häftlinge herein, die sich noch bis zum Einschluss im Gebäude bewegen durften.

Es war eine ehemalige Zelle in Haus zwei, die als Gesprächsraum eingerichtet worden war, mit Tisch und drei Stühlen und einer Türklinke, die es sonst nicht gab. Vor der Tür in einem Glaskasten saß ein Beamter mit dem Ausblick auf die dreistöckigen umlaufenden Galerien bis hinab ins Erdgeschoss. Die hallenden Stimmen, die Galerien, der Wächter in seinem Ausguck – fast wie in einem altertümlichen Schwimmbad.

 

»Lebenslänglich«, sagte Langfeld. »Es gibt, wie Sie vielleicht wissen, ein gutes und ein böses Lebenslänglich. Beim guten ist das Strafmaß auf fünfzehn Jahre festgelegt, und es ist nicht ausgeschlossen, dass man bereits nach zehn Jahren in den offenen Vollzug kommen kann. Das böse wird verhängt bei besonderer Schwere der Schuld. Hier fallen mindestens zwanzig Jahre Haft an, ehe man in den offenen Vollzug kommt, und eine Zweidrittelregelung ist nicht vorgesehen.«

Er atmete tief ein und aus.

»Das ist mein Lebenslänglich.«

Es war kalt in diesem Besuchsraum, und Langfeld hielt die Hand an den eisernen Fensterrahmen. »In unseren Zellen sind neue dämmende Fenster eingebaut. Früher muss es im Winter hier eisig gewesen sein.« Und während er hinausschaute in den trüben Winternachmittag, fuhr er fort auf diese gehetzte Weise zu sprechen, als müsse er die letzte Chance nutzen, jetzt, in dieser Stunde all das mitzuteilen, was sich seit Jahren angestaut hatte.

»Wer als normaler Mensch mit einem bürgerlichen Vorleben ins Gefängnis geworfen wird, muss sehen, dass er sich möglichst schnell zurechtfindet. Er muss sich anpassen. Die Anpassung ist seine Überlebenschance.«

Sein Vater sei besorgt gewesen. Er habe gewalttätige Übergriffe auf den Sohn befürchtet. »Ich sagte, mach dir keine Sorgen, ich komm schon zurecht.« Und tatsächlich müsse man nur einige Regeln beachten, um in Ruhe gelassen zu werden.

Das oberstes Gebot sei: »Du sollst schweigen.« Nichts, kein Wort von den Vorgängen zwischen den Häftlingen, dürfe zu den Beamten dringen. Wer das nicht beherzigte, dem würden allerdings schnell andere Seiten gezeigt. »Und die«, sagte Langfeld, »die – wie soll ich sagen – können äußerst unangenehm sein.«

Es habe zum Beispiel einen Vorfall mit heißem Öl gegeben, in das die empfindlichsten Teile eines Mithäftlings getaucht worden waren. Der Mann war lebensgefährlich verletzt worden, und der Täter hatte einen Nachschlag auf seine Strafe erhalten. Aber solche Geschichten seien selten geworden.

Mittlerweile hätten sie hier alle Einzelzellen. Da könne man sich aus dem Weg gehen. Ohnehin seien Gewaltverbrecher von Sexualverbrechern getrennt. Die Kifis würden sonst schnell dezimiert, sagte Langfeld. Neulich habe ein Häftling am Arbeitsplatz geäußert, mit einem Kinderficker zusammen würde er niemals arbeiten, und ein anderer habe zum Beamten gesagt: »So einer hat nichts neben mir in der Dusche zu suchen.« Tatsächlich nähme man im Knast auf diese Aversionen Rücksicht. Und so könne man an Zellentüren Schilder finden nicht nur mit »Sonderkost« und »Einzelfreistunde«, sondern auch mit »Einzeldusche«.

»Meine Zelle inklusive Toilette und Waschbecken hat ungefähr 7,9 m2, eher gegen sieben. In dem jetzt geschlossenen Haus 1 gab es Zellen, die waren nur 5,6 m2. Also, das können Sie sich vielleicht gar nicht vorstellen.«

Langfeld streckte die Arme aus und zeigte, wie klein so eine Zelle war und wie dagegen seine eigene Zellengröße sei und wie die Möbel standen, Schrank, Tisch, Stuhl, Waschbecken, die Höhe der Decke, die Breite des Fensters. »Circa 90 Zentimeter«, sagte er, »und es schließt richtig.«

Während er sprach, hatte es zu schneien begonnen, und eine weiße Decke legte sich auf die Marmelade- und Gurkengläser, die Margarineschachteln und Packungen mit Aufschnitt und Käse, die aufgereiht vor den Gittern der Zellenfenster auf dem Mauervorsprung lagerten.

»Jeden Tag ist da unten auf dem Hof Freistunde. Sie ist Pflicht und hat mit Freiheit nichts zu tun. Sie werden wie eine Schulklasse hinausgeführt und haben täglich eine Stunde im Freien zu verbringen. Und wenn es nach einer halben Stunde regnet, dann stehn Sie eben im Regen. Ja, ungelogen. Der Freistunde können Sie sich nur entziehen, wenn Sie krank sind oder gegen die Regeln verstoßen haben. In dem Fall kommen Sie in den Bunker. Das heißt Einzelhaft. Der Einkauf wird gestrichen, Sie haben keinen Fernseher mehr und als Bett ein Steinpodest mit Matratze. Nun, die Beamten brauchen hier eben auch Druckmittel, um die Kontrolle zu behalten.«

Langfeld drehte sich mit einem Ruck um.

»Gott sei Dank«, sagte er und machte ein Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. Gott sei Dank hätte er noch Kontakte nach draußen. Die Sportskameraden, die Kollegen, die Chefin und der Vater. Alle hätten ihn mal besucht. Und als der Sohn das erste Mal kam, aßen sie gemeinsam Pizza, die er, Langfeld, in der Knastküche gebacken hatte. »Pizza Salami, das isst Kai so gern.« Und mit am Tisch sei auch die Therapeutin gesessen, und alle hätten sich ganz nett unterhalten, sagte Langfeld. »Das heißt, können Sie sich das vorstellen: Wir haben da gesessen im Knast bei Pizza und Kuchen, und mein Sohn erzählt mir fröhlich, was er so alles erlebt hat. Er ist jetzt in der Ausbildung und wird Kfz-Mechatroniker.«

Er habe seinem Sohn bereits mündlich und schriftlich angeboten, mal tiefer einzusteigen in die Geschichte. Aber die Therapeutin habe abgewinkt. Er wird wahrscheinlich noch nicht so weit sein, habe sie gesagt. Er habe ihm trotzdem einen Brief geschrieben.

»Ich wollte versuchen, ihm mal einiges zu erklären. Wie es zu dem Ganzen gekommen ist«, sagte Langfeld. »Das lese ich Ihnen später mal vor.«

 

Die Knastsirene schrie wie zum Weltuntergang. Täglich um diese Zeit käme dieses furchtbare Schrillen, der Befehl für die Häftlinge, in ihren Zellen zu verschwinden, damit die Zählung durchgeführt werden könne. Langfeld kam zum Tisch und setzte sich. Er hatte die Erlaubnis, für die Dauer des Gesprächs im Sprechraum zu bleiben.

»Wissen Sie was«, sagte er und lächelte plötzlich, »vielleicht halte ich Ihr Buch vor Ihnen in der Hand. Könnte ja sein«, sagte er, und es schien, als habe dieses kurze Gefühl der Überlegenheit ihn etwas gelockert. Er arbeite nämlich seit einigen Monaten in der Buchbinderei. Diese Handarbeit sei zwar für einen, der aus der Verwaltung käme, zunächst schwierig gewesen, denn wenn einer zwei linke Hände habe – er hob die gespreizten Hände und dreht sie ein paarmal hin und her – , dann sei der Anfang nicht ganz leicht. »Aber jetzt bin ich zufrieden. Der Arbeitsplatz ist gut.«

Mit dem Einarbeiten allerdings müsse er sich beeilen. Die beiden Vorarbeiter kämen im April in Freiheit. In drei Monaten müsse er dann selbst Vorarbeiter sein. »Das schaff ich schon. Das werde ich schaffen.« In anderen Arbeitsbereichen müsse man hier in der Regel jedes halbe Jahr den Betrieb wechseln. In der Buchbinderei aber könne man schon mal sieben, acht Jahre bleiben. »Gerade in der Buchbinderei wollen sie keine Kurzstrafer haben. Da wollen sie die Lebenslänglichen.«

Unvermittelt schaute Langfeld mich an und dämpfte die Stimme, als käme jetzt ein Geheimnis zur Sprache. »Vielleicht kommt Robert auch hierher. Bis zu meiner Verlegung waren wir im gleichen Knast, haben die gleiche Deliktproblematik. Wir waren in derselben Therapiegruppe und, sooft es ging, zusammen. Die Mitgefangenen machten sich schon lustig: ›Ach, da kommt das Ehepaar wieder.‹

Wenn Robert nun irgendwann hierherkäme, könnten wir beide in der Buchbinderei arbeiten und in zwei Jahren vielleicht nach Haus 5 verlegt werden. Dort sieht es nämlich besser aus, nicht ganz so hässlich wie hier – das haben Sie vielleicht gesehen. Eine gewisse Ordnung und Sauberkeit herrscht dort. Ich habe in der Finanzverwaltung gearbeitet, da können Sie sich vorstellen, in welch bürgerlichen Bahnen mein Leben verlaufen ist. Da gehörten Ordnung und Sauberkeit unbedingt dazu.«

Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Ich habe mir damals meinen Beruf aussuchen können. Und weil ich die Ausbildung mit sehr gut abgeschlossen hatte, durfte ich wählen, in welcher Abteilung ich arbeiten wollte. Ich entschied mich für die Vollstreckungsstelle.

Ja, lächeln Sie nur, es steckt ja durchaus eine ironische Komponente darin: Am Vollstreckungsbeamten Langfeld wird nun selbst vollstreckt. Auf eingreifendere Weise allerdings als durch eine Konto- oder Autopfändung. 28 Jahre lang war ich Vollzieher im Außendienst. Da kommen Sie mit allen Gesellschaftsschichten in Berührung, vom bekannten Anwalt bis zum Bordellbesitzer und Hartz-IV-Empfänger. Und obwohl es bei den Vollziehern heißt: Je höher die Beträge, desto gewisser bleibt die Forderung uneinbringlich, habe ich doch einmal einen Auftrag über zweihunderttausend Euro eingetrieben. Das waren Architekten, und die Frau sagte: Wir haben einen Investor, und wir kriegen das Geld. Und niemand wollte das glauben, aber ich gab ihnen eine Chance, und nach zwei Monaten kam die Frau und hat einen Scheck gezückt. Und der war gedeckt.«

Er habe nur selten den guten Onkel gegeben. Denn so gut wie jeder verspräche die Zahlung. Zu 95 Prozent würden solche Versprechen aber nicht eingehalten, und dann stünde man da wie ein Idiot.

»Sie meinen, es sei emotional anstrengend gewesen? Nein, das ist wie bei den Beamten hier. Sie stumpfen ab.«

Er habe diesen Beruf gern gemacht. Nur die letzten sieben Jahre war der Außendienst mehr und mehr abgebaut worden, und schließlich habe er in den Innendienst gemusst. Langfeld blies die Wangen auf, als wollte er zurückhalten, was jetzt gesagt werden musste.

»Das ging ganz schön ans Selbstbewusstsein. Und es hat mir niemand erklärt, weshalb gerade ich versetzt wurde. Und ich hab mich auch nicht getraut zu fragen.«

 

Langfeld war am Rand der Stadt aufgewachsen. Ein Einzelkind in bescheidenen, aber gesicherten Verhältnissen. Der Vater Bauschlosser, die Mutter Hausfrau. Seine Kindheit sei höchst unspektakulär gewesen. Eine Art geborgener Langeweile. Das, was ihm Spaß gemacht habe, war den Eltern nichts wert. Fußballspielen war seine Leidenschaft. Das bringe nur dreckige Klamotten, habe die Mutter gesagt. Besser er ginge in den Schwimmverein. Aber sie ließen ihn Fußball spielen, haben, was er wollte, nicht untersagt. Noch heute, sagte Langfeld, kränke es ihn aber, dass der Vater nur zweimal beim Fußballspiel zugeschaut habe. Er sei ein ausgezeichneter Sportler gewesen, aber die Eltern hätten ihn da nicht gefördert. Tennisspielen, Skifahren, das hatte er erst viel später gelernt, mit Anfang zwanzig. Und oft habe er gesagt, nur so zum Spaß, man müsse die Eltern auf entgangene Weltcuppunkte verklagen. Denn hätte er mit fünf, sechs Jahren angefangen, würde er jetzt fahren wie ein junger Gott. Aber schließlich habe ja alles auch so noch ganz gut geklappt. Er sei ein guter Skifahrer geworden und ein guter Tennisspieler.

»Mein Tennisverein ist übrigens gleich hier«, er zeigte die Richtung an. »Vierhundert Meter hinter der Mauer. Dort hab ich meine Frau kennengelernt.«

Seine Erziehung, sagte Langfeld, sei ohne Druck verlaufen. Freilich auch ohne Empfehlungen. Nie hätten die Eltern Vorschläge gemacht. Veränderungen seien ihnen verhasst gewesen. Das Leben sollte im immer Gleichen dahingehen. Ohne Neues und ohne Katastrophen.

Jeden Sommer reiste die Familie an denselben Ort nach Spanien. Das Jahr über blieb man zu Hause. Er könne sich nicht erinnern, dass seine Eltern je etwas unternommen hätten. Einmal hatten sie Karten für ein Musical bekommen, aber die Mutter habe gesagt: »Wozu?« So was könne man auch im Fernsehen sehen. Sie lebten zu dritt in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung mit Balkon, und das habe ihnen genügt. Die Mutter bepflanzte den Balkon und machte den Haushalt, der Vater ging morgens zur Arbeit und kam Punkt 17 Uhr zurück. Dreißig Jahre lang. Sie waren zufrieden mit diesem Leben, sagte Langfeld. Und als es ihm in der Wohnung zu eng wurde, besorgte die Mutter eine Wohnung in derselben Siedlung, eine Querstraße weiter. Vom Küchenfenster aus konnte er ihr zuwinken.

Nach der sechsten Klasse habe er nur eine Realschulempfehlung bekommen. Das habe ihn geärgert, denn er fand, dass er ein guter Schüler sei und es leicht mit den andern, die ans Gymnasium gingen, aufnehmen könne. »Ihr seht mich in vier Jahren wieder«, habe er ihnen zugerufen, und tatsächlich sei er am Ende der Realschulzeit aufs Gymnasium gekommen. Aber die Noten dort seien nicht so glänzend ausgefallen, und obwohl ihm die Eltern, wie er sagte, bei Entscheidungen immer freie Hand gelassen hatten, habe der Vater schließlich einmal vorgebracht, der Sohn solle sich vielleicht vorsorglich, ja, der Vater habe »vorsorglich« gesagt, bei einem Amt bewerben. Und das habe er dann gemacht. Und gleich war er angenommen worden und hatte in dem Job achtundzwanzig Jahre lang gearbeitet.

Seine Frau hatte Langfeld vor 25 Jahren kennengelernt. »Eben dort im Tennisverein«, Langfeld wies wieder mit der Hand hinaus. »Das war toll in diesem Verein. Es war ein nicht abgeschlossenes Bauprojekt, aber mit Schwimmbad und Tennisplätzen und voll mit netten Leuten. Der damalige Mann meiner Frau war Wasserballer, und Micha, der kleine Sohn, wuselte auch herum. Sechsmal die Woche haben wir Tennis gespielt – wir waren die sogenannten Platzwanzen. Dann sind wir uns nähergekommen. Evi wollte mehr, doch ich sagte: ›Ich misch mich nicht in deine Ehe ein.‹« Das sei aber keine Ehe mehr, habe Evi gesagt. Sie sei dabei, sich zu trennen, und tatsächlich sei die Trennung zu der Zeit schon in Gang gewesen.

»Ein halbes Jahr später waren wir verheiratet; das Haus wurde gebaut und Kai geboren. Ja, und dann kamen wechselvolle Ehejahre.«

Er wandte den Blick und schaute hoch zu den sirrenden, leicht flackernden Neonleuchten.

»Was ich an ihr geliebt habe? Ihre Spontaneität, die Fröhlichkeit, die Sportlichkeit.«

 

Langfeld hatte nicht weit vom Gefängnis entfernt gewohnt und war täglich an den weitläufigen Gebäuden vorbeigefahren.

»Gleich gegenüber, in dem holländischen Blumencenter, hab ich die Pflanzen für den Garten gekauft. Wir liebten beide die Gartenarbeit. Und wir hatten es uns schön gemacht.«

Das große Rosenbeet mit englischen Züchtungen sei unter seiner Pflege gediehen. Das Beet mit dem hohen weißen und roten Phlox habe er auch gemocht. »Das war das Beet meiner Frau. Meine Frau mochte vor allem Phlox, weil er so toll duftet.«

Und in den zwanzig Jahren, die er hier täglich zur Arbeit vorbeigefahren sei, wäre ihm der Gedanke absurd erschienen, selbst einmal hier zu landen, im größten Männerknast Deutschlands.

 

»Wenn ich an die ersten Jahre denke, an die ersten acht Jahre meiner Ehe, da ist es harmonisch zugegangen. Wir hatten mit dem Hausbau zu tun und mit dem Aufbau des Gewerbes meiner Frau. Wir wollten alles schön haben.«

Diese Aufbauphase sei reizvoll gewesen. Beide hätten sie noch Illusionen gehabt, vom guten, erfüllten Leben, das auf sie warte. »Und als alles gut und schön eingerichtet war, traten die Schwierigkeiten mit den Kindern auf.«

Erst habe man mit den schweren schulischen Problemen Michas, des Sohnes aus erster Ehe, zu kämpfen gehabt, und als der sich auf wunderbare Weise selbst am Schopf gepackt habe, da hätte das Gleiche mit Kai begonnen. »Das war wie im Steinbruch«, sagte Langfeld. »Das war belastend. Sehr belastend.« Dazu seien die finanziellen Probleme gekommen. Von da an habe er an mehreren Fronten zu kämpfen gehabt. Sein eigener Job sei zwar gut und sicher gewesen, aber seine Frau war selbständig und ihre Einnahmen seien mal höher, mal geringer ausgefallen. Ihre Ansprüche aber hätten unverändert fortbestanden, und gleichzeitig sei alles teurer geworden. Die Preise für Wasser, Strom, die Hypotheken hätten sich erhöht, und im Nu sei ein größeres Loch im Konto entstanden.

Immerhin habe er als Beamter ja nicht arbeitslos werden können. Aber das habe er sich oft und oft von seiner Frau als Vorwurf anhören müssen. Er habe ja nicht zu kämpfen, habe sie gerufen, er habe ja einen sicheren Job.

»Sie hat mir das immer wieder vorgehalten, obwohl sie ja davon profitiert hat.«

Langfelds Frau hatte sich zur Kosmetikerin ausbilden lassen. Sie wollte nicht nur Friseuse sein und habe die Kosmetik mit einer wahren Leidenschaft betrieben. Aber die anfänglichen Investitionen waren hoch und die Einnahmen gering. Das ganze Unternehmen sei von Beginn an eine finanzielle Belastung gewesen, und das sei es auch geblieben. Die Wirtschaftskrise habe dann die Portemonnaies der Leute richtiggehend vernagelt.

Seine Frau sei eine gute Kosmetikerin gewesen, das hätten ihr alle Kundinnen attestiert. Als Verkäuferin aber habe sie versagt. Das teure Kosmetik-Depot habe im Keller gestanden, unbenutzt, bis die Haltbarkeit abgelaufen war. Und wenn er mal was gesagt habe, sei sie wütend geworden. »Du hast doch keine Ahnung«, habe sie dann gerufen.

Eigentlich, sagte Langfeld, habe seine Frau sich selbst nicht genügend wertgeschätzt. Sie habe sich minderwertig gefühlt, weil sie nicht so viel verdient habe wie er. Darunter, sagte er, habe sie stark gelitten. Und so habe sie ihm und sich immer wieder beweisen wollen, dass sie durchaus was auf die Beine stellen könne.

»Meine Frau hat durch ihren Beruf viele Leute kennengelernt, die gute Jobs hatten, und ich sagte: ›Mit denen können wir uns nicht messen.‹ Aber die Kunden kamen und erzählten von ihrem Wochenendtrip in ein Fünf-Sterne-Hotel und sagten: ›Das müssen Sie sich auch mal gönnen, Frau Langfeld. Sie arbeiten ja hart.‹ Und ich sagte ihr, so ein Wochenende wäre zweifellos schön, aber wir hätten das Geld nicht dafür und außerdem sei der Sommerurlaub schon gebucht. Aber das wollte sie alles nicht hören. Sie kaufte weiter teure Klamotten, fuhr öfter mal ein, zwei Tage an die Ostsee oder machte Wellness mit einer Freundin.« Das habe sich summiert, sagte Langfeld. Er habe gebremst, wo es ging. Mit dem Ergebnis, dass er von ihren Freundinnen ausgelacht wurde.

Da kommt der Herr Gerichtsvollzieher, hätten sie gesagt, die Spaßbremse, der Pfennigfuchser.

Er stand auf und ging zum Fenster. Auf dem Hof joggte ein Häftling im Schnee um den Platz. »Es ist Einschluss«, sagte Langfeld. »Wie kann das sein, dass einer draußen rumläuft?« Er machte eine wegwischende Gebärde und begann nun wie zu sich selbst zu sprechen.

»Ja, Geld war ein Problem. Es wurde zum großen Streitpunkt. Meine Sportsfreunde sagten: ›Wenn deine Frau an die Ostsee fährt und entspannt zurückkommt, ist ja was gewonnen.‹ Und genau so hat auch sie mir das beigebracht. Aber die Sprüche kennt man ja: ›Man muss sich auch mal was gönnen.‹ So kann ich alles kleinreden.« Er schwieg und stieß die Luft aus. »Um die Löcher notdürftig zu stopfen, hab ich mir die Sache mit dem Pizzadienst einfallen lassen.«

Langfeld wandte sich vom Fenster ab und ging auf und ab. »Meine Frau fand das peinlich, dass ich nach Feierabend Pizza ausfuhr, und dennoch hat sie das drei, vier Leuten erzählt. Ich sagte: ›Moment mal, das war doch unser Geheimnis, und jetzt posaunst du das aus?‹ Aber eigentlich war es mir zu der Zeit bereits egal, was sie sagte und tat.« Von einem Bekannten sei er einmal gefragt worden, warum er einen solch lausigen Job mache, wo er doch ein gutes Gehalt habe. Der habe das nicht verstehen können. Aber er sei, sagte Langfeld, ja nicht abendelang mit Pizzas durch die Stadt gefahren, nur weil sie beide den Hals nicht hätten vollkriegen können. Er habe es getan, um all die Rechnungen bezahlen zu können.

»Das Konto begann völlig aus dem Ruder zu laufen, und ich habe versucht, mit allen Mitteln dagegen anzugehen.«

Und doch habe er sich während des Prozesses vom Richter die Frage gefallen lassen müssen, ob sie nicht beide über ihre Verhältnisse gelebt hätten.

»Was sollte ich darauf sagen? Ich konnte doch nicht sagen, das war alles die Schuld meiner Frau.«

 

Wieder begann die Knastsirene zu heulen.

»Alarm«, sagte Langfeld. »Diesmal ist’s Alarm.«

Die Warnleuchten an den Toren begannen zu blinken, und ein Rettungswagen kam langsam gefahren, in Richtung gewiesen von einem Beamten, der durch das Schneetreiben dem Wagen vorausging. Wahrscheinlich habe es eine Schlägerei gegeben, sagte Langfeld. Er wundere sich, dass er hier sitzen bleiben dürfe. Regel sei, dass während eines Alarms alle Häftlinge ausnahmslos eingeschlossen werden müssten. Doch niemand kam, ihn abzuholen. Die Sirene verstummte. Stille. Nur das rhythmische Vorbeiwischen des Warnlichts am Fenster.

»Natürlich hab auch ich nicht auf alle Wünsche verzichtet. Wir hatten uns ein Auto bestellt, ein Cabrio. Ein wirklich tolles Auto. Und als ich gerade auf der Leiter stehe, um das Regal festzuschrauben, da schreit meine Frau auf einmal: ›Das darf doch nicht wahr sein.‹ Da war der Nachbar mit dem gleichen Cabrio vorgefahren. Wir hatten unseres ja erst bestellt. Und da hat sich Evi sehr aufgeregt, dass wir nun nicht die Ersten waren, die so ein Auto hier fuhren. Sie wollte immer die Erste sein und diejenige, die am besten aussah. Sie hat sehr nach außen gelebt. Aber dadurch war auch alles schön. Wollen Sie mal ein Foto von meinem Wohnzimmer sehen?«

Er kam zum Tisch, zog ein Foto hervor und reichte es mir, ohne es anzuschauen.

»So sah das aus. Es war perfekt. Wie aus ›Schöner Wohnen‹. Es war wirklich schön bei uns. Alle haben unser Haus bewundert.«

Er griff nach dem Bild mit der weißen Sofalandschaft vor einer bodentiefen Fensterfront, steckte es wieder ein und setzte sich. Er versuchte, sich betont entspannt zurückzulehnen, aber es geriet so steif, als trüge er ein Korsett.

»Ja, so ein Haus muss man eben vergessen. Achtzehn Jahre habe ich dort gewohnt. Schön, sehr schön haben wir gewohnt. Letztes Jahr hab ich es verkauft. Über diesen Verlust hab ich noch nicht geheult. Aber Kai hab ich sein Heim genommen. Das ist schlimm. Doch ich glaube, es gibt jetzt Wichtigeres.«

Er stand wieder auf und stellte sich ans Fenster, sprach hinaus, laut und fast ohne Modulation. Als habe er aufgehört, die Dinge zu gewichten. Als sei ihm das Maß dafür verlorengegangen.

»Oft und oft hat meine Frau mir vorgeworfen, dass ich das Abitur nicht gemacht habe. ›Hättest Du wenigstens das Abitur gemacht‹, hat sie gesagt, dann ginge es uns finanziell besser. Sie selbst hätte das Abitur leicht geschafft, und sie hätte auch studiert, wenn ihr Elternhaus nicht derart chaotisch gewesen wäre. Das hat sie dann bei so einer Gelegenheit immer wieder betont. Also, ich hatte manchmal den Eindruck, sie bricht mit Absicht einen Streit vom Zaun.«

Jahrelang habe sie immer wieder die gleichen Vorwürfe erhoben. Er habe dieses Herumreiten auf Vergangenem nicht verstehen können. Es sei wohl ein typisches Frauending, nicht mehr aufhören zu können. Er kenne das im Übrigen auch von seiner Mutter. Sie habe Dinge hervorgekramt, die Jahre zurücklagen, völlige Nichtigkeiten und ihm unbegreiflich, weshalb sie derart daran festgehalten habe. Frauen, sagte Langfeld, machten sich häufig das Leben schwer durch ihr Festhalten an Nichtigkeiten.

»Und die andere Seite dieser furchtbaren Streitereien ist, dass wir uns beide vielleicht überfordert haben. Mit dem Job, mit den Kindern, mit unseren Ansprüchen und der Vorstellung vom guten Leben.«

Nach dem Tod seiner Mutter habe er eine Geldspritze erhalten. Ein Viertel ihrer Lebensversicherung und den Anteil vom Verkauf der Eigentumswohnung. Aber das Geld sei wie Schnee in der Sonne geschmolzen. Und er habe sich damals gefragt, wo das hinführen werde.

Immerhin habe er einen Teil des Kredits von beiden Autos ablösen können. Doch schon bald hätten abends wieder die Mahnungen auf dem Tisch gelegen. »Es war, als brächen sämtliche Dämme«, sagte Langfeld.

Zu alledem sei die Putzneurose seiner Frau gekommen. Vielmals am Tag habe sie staubgesaugt. Und obwohl sie spätabends noch ihre Studioräume gesaugt habe, sei sie als Erstes frühmorgens wieder mit dem Staubsauger zu Gange gewesen.

»Da half kein Reden. Sie beharrte, wie übrigens bei allem, dass richtig sei, was sie tue.«

So habe der Unfrieden zugenommen. Da habe der eine nur ein Wort sagen müssen, und schon sei der andere darauf abgefahren.

»Das war beidseitig«, sagte Langfeld. »Und das ging aufs Gemüt, aufs Kreuz und auf die Beziehung.«

Langfeld schwieg. Er wandte sich vom Fenster ab, her zum Besucher und beantwortete das erste Mal eine Frage.

»Ach, meine Eltern«, sagte er, »sie hatten ein Problem mit Evi, und Evi hatte ein Problem mit ihnen.«

Die Eltern hätten auf seine Ehe denkbar ungut eingewirkt, das müsse er sagen. Mit seiner Heirat habe sich eine unheilvolle Konstellation ergeben. »Konstellation«, das sei geradezu suboptimal untertrieben. Er könne das gar nicht in Worte fassen, sagte Langfeld, wie negativ die Einwirkung seiner Eltern auf die Ehe gewesen sei. Seine Mutter habe von Anfang an seine Frau schlechtgemacht und ihr auch gezeigt, wie wenig sie von ihr halte.

»Sie wollte nicht, dass wir heiraten. Und als wir verheiratet waren, hat sie nicht eingelenkt, sondern in einem fort meine Frau schlechtgemacht. Und wenn ich sie zur Rede stellte, wenn ich sagte: ›Mensch Mutter, was hast du denn da schon wieder gesagt‹, sagte sie nur: ›Ich hab doch gar nichts gegen Evi.‹ Und ich glaube auch, sie meinte, was sie über Evi sagte, gar nicht so.

Wie die Frau hätte sein sollen, damit sie meiner Mutter gefällt?

Ich hätte auch ’ne andere bringen können, da hätte meine Mutter auch was auszusetzen gehabt.

Evi hat gesagt: ›Ach, deine Eltern haben dich total vereinnahmt, weil du ein Einzelkind bist.‹ Vielleicht ist das nicht so abwegig, was sie da gesehen hat. Sie hatte irgendwie für manches einen siebten Sinn. Doch damals konnte ich das nicht so sehen.

Sie warf mir vor, ich hätte mich nicht abgenabelt, und ist jedes Mal ausgerastet, wenn ich zu den Eltern gefahren bin. Sie hat dann regelrecht verrücktgespielt, bekam Schrei- und Heulkrämpfe, nur weil ich meine Eltern besuchen wollte, vor allem dann, wenn ich Kai mitnahm. Sie rief, diese schrecklichen Menschen würden das Kind gegen sie aufhetzen und hätten das ja bereits mehrfach versucht. Das war aber gar nicht der Fall.« Er habe reden können, wie er wollte, sie sei bei ihrer Meinung geblieben und habe von ihm den vollständigen Bruch mit den Eltern verlangt.

»Doch warum sollte ich mit meinen Eltern brechen? Sie haben mir nichts Böses getan, sondern im Gegenteil uns mit Geld für den Hausbau unter die Arme gegriffen.«

Die Eltern seiner Frau hätten seine Eltern auch nicht gemocht.

»Sie empfanden sie als Aufschneider – aber das waren sie nicht. Sie haben damals bei dem ersten und schließlich auch einzigen Besuch auf dem Campingplatz von ihren Ferien in Spanien erzählt. Diese Ferien waren nichts Besonderes. Sie fuhren seit dreißig Jahren jeden Sommer an denselben Ort. Die Schwiegereltern hatten ihren Campingplatz und die Eltern hatten eben ihr Spanien. Vielleicht hatte meine Mutter an dem Tag einen Brillantring zu viel angehabt, vielleicht – aber, nein, ich versteh es nicht. Jedenfalls konnten sich unsere Eltern nicht besonders leiden.«

 

Schon bald nach der Hochzeit habe seine Frau ihm von sexuellen Übergriffen seines Vaters erzählt, und er habe den Vater schließlich zur Rede gestellt.

»Obwohl ich im Zweifel war, bin ich damals zu meinen Eltern nach Kiel gefahren und habe ihnen Vorhaltungen gemacht.«

Er habe die Sache mit den sexuellen Übergriffen klar angesprochen, sagte Langfeld, aber der Vater habe die Anschuldigung lächerlich gemacht. Und auch seine Mutter habe geradezu höhnisch darüber gelacht.

»Aber ich sagte es ja bereits, ich wusste nicht, ob das alles so stimmte, wie es Evi mir erzählte. Ich hatte immer den Eindruck, sie habe das erfunden.«

Vater und Mutter hätten jedenfalls gesagt, das bilde sich Evi nur ein. Das sei das Hirngespinst seiner Frau, habe der Vater zu ihm gesagt. Und außerdem: Vergangenheit aufzurollen, das sei wie Erbsenzählerei, und: »Ihr habt euch auch nicht immer gut verhalten. Wollen wir jetzt nicht das Kriegsbeil begraben?«

»So ist er mir gekommen. Da stand ich da wie ein kleiner dummer Junge.«

Seine Eltern hätten in der Beziehung eine Einheit gebildet. Er sei da gar nicht durchgekommen. Und das habe seine Frau in ihrem Urteil über seine Eltern bestätigt.

»Ich hatte die Theorie, dass sie bewusst den Kontakt zu meinen Eltern unterbinden wollte, weil sie den zu ihren auch abgebrochen hatte.«

Langfeld zuckte die Schulter.

»Ich weiß es nicht. Jedenfalls hat meine Frau über die ganze Ehezeit hin versucht, ihre Kindheit therapeutisch aufzuarbeiten. Am täglichen Miteinander haben diese Sitzungen allerdings nichts geändert.« Die jahrelange Therapie sei ohne spürbare Wirkung geblieben. Ihr Vater habe Evi als Kind misshandelt und missbraucht, sagte Langfeld, das habe sie ihm vor der Ehe erzählt. Und bald nach der Heirat habe sie ihre Eltern aufs Abstellgleis geschoben und ihre drei Geschwister gleich mit.

Seine Schwiegereltern seien Schichtarbeiter gewesen. Mit achtzehn habe die Mutter das erste Kind bekommen und im Jahresabstand die nächsten drei. Sie sei eine herzliche Frau, aber schwach. Sie habe sich scheiden lassen wollen von ihrem gewalttätigen Mann und war schließlich doch bei ihm geblieben. Evi, sagte Langfeld, habe damals ihre Mutter im Entschluss zur Scheidung bestärkt. Das habe der Vater ihr nie verziehen. Doch nach außen sollte der Schein einer intakten Familie gewahrt bleiben. Und dann habe erst die Tochter den Kontakt zur Familie abgebrochen und bald darauf der älteste Sohn.

»Er hat sich umgebracht. Mit Gift«, sagte Langfeld.

Seine Frau habe schließlich seine Eltern nicht mehr sehen wollen. Sie sollten auch das Haus nicht mehr betreten dürfen. Und dann habe seine Frau gesagt, er müsse sich entscheiden, entweder für seine Eltern oder für sie.

»Hab ich gesagt: ›Spinnst du?‹ Können Sie sich das vorstellen? Ich bin da zwischen den Parteien durchgeschossen wie eine Flipperkugel und habe gar nichts bewirkt, überhaupt nichts.«

Er habe sich schließlich zur Ehetherapie entschlossen. Und da sei auch sein Vater zur Sprache gekommen, und seine Frau habe an einer Stoffpuppe ihre Gefühle für seinen Vater demonstrieren sollen.

»Da hat sie die Stoffpuppe windelweich geprügelt. Sie hat sehr genau die sexuellen Übergriffe meines Vaters beschrieben und die Situation geschildert. Einmal soll ich drei Meter vom Haus entfernt gewesen sein, das andere Mal in der Küche. Sie sagte: ›Du hast mich nicht beschützt.‹«

Seine Frau habe sich irgendwie verraten gefühlt, denke er heute. Sie habe absolute Solidarität von ihm erwartet. »Wobei ich oft gesagt hab, ich steh doch zu dir. Sagt sie: ›Wenn ich in die Zukunft schau, fühl ich mich unbehaglich.‹«

Seine Mutter sei vor zehn Jahren gestorben. Doch die Fronten zwischen ihr und seiner Frau, sagte Langfeld und zog mit der Handkante eine Linie auf dem Tisch, die seien bis zum Ende verhärtet geblieben.

Sein Vater lebe noch. Ihm sei er nach wie vor sehr zugeneigt. Mehr als übrigens jemals der Mutter. Mit ihr habe man keine schwierigen Gespräche führen können. Mit dem Vater hingegen konnte man einiges besprechen und könne es bis heute. Vor der Ehe habe Langfeld sogar eine Reise nach New York mit dem Vater unternommen, die sehr harmonisch verlaufen sei. Mit der Mutter wäre so eine Reise nicht möglich gewesen, sagte er. Sie habe auch gleich gesagt, da wolle sie gar nicht mit.

Im Gefängnis habe er nochmals versucht, mit seinem Vater über die ablehnende Haltung gegen seine Frau zu sprechen.

Aber der Vater sei jetzt sechsundachtzig und begreife vieles gar nicht mehr.

»Und ich hab keine Kraft mehr, ihm das alles noch mal darzulegen«, sagte Langfeld.

 

Er drehte sich wieder zum Fenster und blickte hinaus in die Dunkelheit, durch die der fallende Schnee leuchtete. Und obwohl in dem Moment ein wütendes Gebrüll vor der Tür begann, blieb Langfeld ungerührt und sagte in den Lärm hinein, er habe gestern versucht, seinen Sohn anzurufen. Seit einer Woche versuche er, ihn zu erreichen.

»Er geht nicht ans Telefon. Aber ich sage mir, es wird ihm schon gutgehen, ich sage mir immer und immer wieder diesen Satz vor. Es wird ihm schon gutgehen.« Er drehte sich um. »Es wird ihm schon gutgehen, meinen Sie nicht auch?«

Für Kai sei der tägliche Unfrieden nicht gut gewesen. Bereits mit zwölf habe er alles mitbekommen, die ganzen Streitigkeiten. »Wenn ich versucht habe, vernünftig mit Evi zu sprechen, hat sie das nur noch mehr aufgebracht, und sie begann zu schreien. Sie begann immer gleich zu schreien.«

Kai habe sich schließlich mehr und mehr zurückgezogen, doch ab und zu, und das sei schon gegen Ende gewesen, habe er sich eingemischt und habe gesagt: »Mama, lass mal gut sein, das sind doch nur Kleinigkeiten.«

»Vielleicht hätten wir eine Trennung versuchen sollen«, sagte Langfeld, denn es habe ja doch noch gute Gefühle füreinander gegeben. Für sich selbst könne er das mit Bestimmtheit sagen.

Zwar habe seine Frau sich bei Bekannten böse über ihn beklagt. Sie wolle ihn am liebsten austauschen, habe sie gesagt. »Aber scheiden lassen wollte sie sich nicht. Sie konnte nicht alleine leben und hätte sich erst trennen können, wenn ein neuer Partner in Sicht gewesen wäre. Aber da war keiner weit und breit. Sie konnte sich nicht einfach nur so trennen. Sie drohte bloß damit. Sie hat gesagt: ›Glaubst du etwa, dass du Versager und dieses Scheißhaus mich noch halten können?‹ Und da habe ich gesagt: ›Dann geh doch.‹«

Ich wollte nicht, dass sie geht, aber da hab ich mich nicht zurückhalten können. Das war zu viel für mich.« Langfeld setzte sich wieder und schaute auf seine Hände, die kräftig und langgliedrig waren und jetzt gerötet durch die Kälte in dieser Besucherzelle auf dem Tisch lagen, wie die eines braven Kindes, das auf seine Suppe wartet.

Ein Schulfreund habe ihm einen Brief ins Gefängnis geschrieben und darin die Frage gestellt, ob er und seine Frau nicht gesehen hätten, dass das alles auf eine Katastrophe zusteuere. Warum sie beide mit niemandem darüber geredet hätten. »Aber wir hatten keinen, mit dem wir das hätten bereden können.«

Doch vor allem sei zwischen ihm und seiner Frau kein Vertrauen mehr gewesen und keinerlei Wertschätzung.

»Es war alles aufgebraucht«, sagte Langfeld. »Ich bin noch dabei, das aufzuarbeiten. Mit der vielfältigen Hilfe von Therapeuten und Sozialarbeitern wird es vielleicht gelingen. Es sind alles gute Gesprächspartner. Und wenn ich etwas habe, ist es Zeit. Das ist immerhin ein kleines Plus. Ich kann die Sache in Ruhe angehen.«

Er schwieg. Er war während des Sprechens wieder aufgestanden, unruhig einige Male hin und her gegangen und schließlich zum Tisch zurückgekommen. Er saß nun da voller Anspannung, die sich auch auf die Stimmbänder zu legen schien. Er räusperte sich mehrmals, ehe er wieder zu sprechen begann.

 

»Ich kann mich an den letzten Sonntag zu Hause erinnern. Da hatte ich die Soße für die Ente versaut, hatte einfach zu viel Pflaumenmus reingetan. Da ist sie süß geworden. Es tat mir leid, und ich hab mich entschuldigt, aber meine Frau hat es mir vielmals und in einer entsprechenden Lautstärke vorgehalten. Ich hätte mit dem Pflaumenmus alles verdorben, nicht nur das Essen, sondern auch ihre so notwendige Erholung. Und da sagte Kai sehr bestimmt: ›Mama, es reicht jetzt‹, und ist aufgestanden. Ja«, sagte Langfeld, »ich könnte viele solcher Geschichten erzählen. Doch wozu? Es hört sich dann womöglich so an, als ob ich die Schuld nur bei meiner Frau suchte und nicht auch bei mir selbst.« Er wolle jetzt hier auch nicht schlecht über sie reden, denn sie könne sich ja nicht wehren.

»Wir sind beide schuld. Wir haben beide die Ehe an die Wand gefahren. Kai hätte viel dazu sagen können, wie die Dinge zu Hause liefen. Aber er war klug und hat von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Denn sollte er etwa Schlechtes über seine Mutter erzählen?«

Langfeld stieß die Luft zwischen den Zähnen aus.

»Darauf wäre es aber hinausgelaufen.«

 

In den letzten Jahren seien er und seine Frau ein paarmal miteinander verreist in der Hoffnung, dass die Reisen zusammenschweißen könnten und sich alles zum Besseren wenden würde. Aber das sei nicht der Fall gewesen.

»Ein Freund, der uns im Urlaub erlebte, sagte: ›Mensch, ihr seid ja entspannt und ihr streitet euch nicht‹, und wir haben uns angeguckt und gelacht und gesagt, da müsstest du uns mal zu Hause erleben. Also im Urlaub war das relativ entspannt. Aber sobald wir wieder zu Hause waren, waren diese alten Verhaltensmuster wieder da – ja, das war nicht schön. Der Alltag war Gift.«

Die Psychologin habe beim Einweisungsgespräch gesagt, es mache den Eindruck, als habe er es seiner Frau immer recht machen wollen.

»Aber so hab ich es nicht empfunden.« Vielleicht habe er es des Öfteren versucht, einfach um seine Ruhe zu haben. Er habe seiner Frau dann zugestimmt oder einfach geschwiegen. Aber es sei auch so gewesen, dass er nicht alles in sich habe reinfressen können und dass er in diesem letzten Jahr oftmals Widerworte gegeben habe; und das habe dazu geführt, dass es bei seiner Frau nur noch wilder hochgekocht sei und das Geschrei und Geschimpfe gar kein Ende mehr habe nehmen wollen.

»Zu der Zeit hatten wir die Ehetherapie begonnen. Und jedes Mal sind wir zu spät zum Termin gekommen. Das hat mich empört. Ich konnte das nicht hinnehmen, und so hatten wir uns auf der Hinfahrt gestritten und auf der Rückfahrt auch. Evi konnte nicht pünktlich sein. Sie konnte es einfach nicht. Sie war ihr Leben lang unpünktlich, und es war ihr gleichgültig, dass andere auf sie warten mussten. Mir hingegen war das peinlich.« Eigentlich, sagte Langfeld, habe in den letzten Ehejahren eine Art Abnutzungskrieg stattgefunden. Und schließlich habe es so gut wie keinEinvernehmen mehr zwischen ihnen gegeben.

Langfeld schwieg. Er rückte mit dem Stuhl vom Tisch, und es schien, als wolle er das Gespräch beenden. Aber er blieb sitzen und schaute mich an.

»Ich hatte immer Glück im Leben. Vielleicht war mein Glück an dem Tag einfach aufgebraucht. An dem Morgen jedenfalls war ich vom Glück ganz und gar verlassen worden. Ich habe die Kontrolle über mich verloren und die Erfahrung machen müssen, dass ich innerhalb von sechzig Sekunden mein restliches Leben ruiniert hab.«

 

Es war nicht mit Sicherheit zu sagen, ob Langfelds Augen für einen Moment wässrig geworden waren. Sein Ausdruck hatte sich nicht verändert. Es blieb das verschlossene Gesicht eines Menschen, der sich selbst fremd geworden ist.

Er schüttelte fast unmerklich den Kopf, stand auf und ging hin und her. Es hatte aufgehört zu schneien, und ein schwerer schwarzer Himmel hing über dem Gefängnishof.

»Wenn ich heute darüber nachdenke, war das Ausschlaggebende dieser lächerliche Flyer. Dieser Flyer vom Bordell, den ich achtlos und unbeachtet in der Tasche hatte liegen lassen.

Wir waren am Abend zuvor im Restaurant gewesen. Es gab frische Muscheln, die wir beide so sehr mochten, und jeder trank ein Glas Riesling dazu. Gegen 22 Uhr sind wir nach Hause gegangen. Es war alles angenehm verlaufen. Kai war gerade dabei, ins Bett zu gehen, kam aber herunter und umarmte uns beide. Wir haben noch ein Glas Rotwein getrunken, und ich sagte dann: ›Ich bin müde, ich muss morgen früh raus‹, und ging hoch. Evi blieb noch unten. Sie brauchte noch etwas Rotwein. Sie hatte seit einiger Zeit Angst vor dem Zubettgehen, hatte Angst vor schlechten Träumen.

Ich war im Badezimmer, als sie plötzlich wie eine Furie hereingeschossen kam und mir einen Flyer an den Kopf warf. Sie hatte meine Arbeitstasche durchwühlt und einen Flyer von Artemis gefunden, einem Bordell. Den hatte ich beim Pizza-Ausliefern bekommen. Die Frau am Counter hatte mir das Geld für die Pizza gegeben und den Flyer dazu. Diesen Flyer hatte ich ganz vergessen. Er lag schon seit etlichen Tagen in meiner Tasche. Evi schrie nach einer Erklärung. Sie verdächtigte mich, statt Pizza auszufahren, die Abende im Bordell zu verbringen. Sie wisse nun, rief sie, wo das ganze Geld bleibe. Und womöglich hätte ich sie bereits mit Geschlechtskrankheiten angesteckt. Sie schmiss die Tür und ging wieder nach unten. Aber nach kurzem kam sie zurück und hielt mein Handy hoch. Sie hatte einen Anruf von Annika darauf gefunden. Annika war Physiotherapeutin und die Exfreundin meines Stiefsohnes. Evi und ich hatten eine gute Beziehung zu ihr, aber meine Frau dichtete mir nun plötzlich ein Verhältnis mit Annika an. Das war absurd. Ich schrie sie an, sie schrie zurück und rannte ins Schlafzimmer und warf mein Bettzeug vor die Tür. Ich verzog mich hoch in den Spitzboden ins Gästebett. Da ist sie mehrmals hochgekommen mit den immer gleichen wilden Beschimpfungen. Das ging bis gegen drei Uhr morgens.

Um sieben Uhr sah ich, dass Kai verschlafen hatte und fuhr ihn schnell zur Schule. Meine Frau war noch im Schlafzimmer. Ich hatte sie zu der Zeit noch nicht gesehen. Als ich von der Schule zurückkam, stand sie in der Küche und war dabei, sich Kaffee zu kochen. Ich begann, sie zur Rede zu stellen. Ihre Vorwürfe konnte ich unmöglich so stehenlassen. Aber sie wollte nicht sprechen. Sie blieb stumm. Das war bei ihr immer ein schlechtes Zeichen. Das bedeutete, dass in ihr etwas zu gären begonnen hatte, und das würde irgendwann zur Explosion führen. Da hab ich den ersten entscheidenden Fehler an jenem Morgen gemacht. Ich begann nachzubohren. Ich sagte: ›Das ist doch nicht dein Ernst, dass du mir Bordellbesuche und ein Verhältnis mit Annika unterstellst.‹ Und da ist sie explodiert.

Sie hat die Vorwürfe wiederholt und noch ein paar Dinge draufgelegt. Ich sei eine sexistische Mistsau, die alle Frauen ankrabble, dabei aber ein Versager auf der ganzen Linie – so hat sie vom Leder gezogen.

Sie rannte aus der Küche nach oben ins Bad. Und ich hinterher. Sie hielt die Tür zu, und da hab ich plötzlich einen Stein in der Hand.«

Langfeld blieb stehen und schüttelte den gesenkten Kopf.

»Lassen wir es mal vorerst dabei«, sagte er und drückte den Klingelknopf, damit die Tür geöffnet würde.

Ich reichte Langfeld, ehe der Beamte käme, die Briefmarken, um die er mich gebeten hatte. Briefmarken hatten im Knast hohen Tauschwert. Langfeld steckte die Marken mit einem Lächeln wortlos ein. Die ungenehmigte Übergabe von Waren war verboten.

Draußen auf dem Gang war es still geworden. Keine Stimmen, kein Hin und Her mehr auf den eisernen Treppen und Galerien. Ruhe im Knast. Niemand kam die Tür zu öffnen. Langfeld setzte sich wieder. Er hatte es sich anders überlegt. Er wollte die Geschichte zu Ende erzählen.

 

Warum er sich dem Streit nicht entzogen habe, das frage er sich oft und oft. Warum habe er sich nicht lösen und einfach weggehen können? Er wisse keine Antwort, sagte er.

»Warum hab ich die Wohnung nicht verlassen? Ein Kollege hatte es mir doch vorgemacht. Der war für zwei Nächte einfach ins Hotel gegangen. Oder warum habe ich die Beziehung nicht beendet? Warum beendet man so eine Beziehung nicht? Ich weiß es nicht.«

Es sei in ihren Auseinandersetzungen bis dahin nie Gewalt im Spiel gewesen. Doch an jenem Morgen sei eine so unheilvolle Verquickung von verschiedenen Gegebenheiten entstanden wie nie zuvor. Und da seien ihm die Sicherungen durchgebrannt.

Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und ein Beamter stand in der Tür. »Was? Noch nicht?«, sagte er. »Na, dann läuten Se wieder, wenn Se so weit sind.«

Langfeld saß aufrecht und bewegungslos und keine Miene verriet, was in ihm vorging.

»Ja, der verhängnisvolle Stein – ich schlug mit ihm gegen die Tür. Sie war nicht abgeschlossen. Der Schlüssel fehlte. Wir hatten ursprünglich zu jeder Tür einen Schlüssel, haben aber alle entfernt. Einzig im Gäste-WC steckte noch einer. Wir haben es nicht mit verschlossenen Türen gehabt. Bei uns war alles offen. Jetzt hatte Evi von innen ein Schränkchen unter die Türklinke geschoben, so dass sie sich nicht mehr bewegen ließ, und so begann ich, mit dem Stein gegen die Tür zu schlagen. Und mit einem Mal war sie irgendwie nicht mehr zu, sondern einen Spalt weit offen, und dann hab ich die Tür – ich weiß nicht mehr wie, ob mit dem Fuß oder mit meinem Gewicht –, hab ich dann – ja – aufgestoßen« – Langfeld macht eine kurze Pause –, »und dann hab ich mit dem Stein auf ihren Kopf geschlagen.«

Er starrte auf den Tisch.

»Woher ich den Stein hatte? Nein, der lag nicht vor dem Badezimmer. Er lag auf der Terrasse. Und das hat mir der Richter übel angekreidet. Ich hätte, hieß es im Urteil, genügend Zeit gehabt, um zu mir zu kommen. Ich sei noch mal runtergegangen, hätte den Stein geholt, hätte ihn in ein Tuch gewickelt und sei dann wieder die Treppe hochgestiegen. Damit unterstellten sie mir den Vorsatz. Sie waren der Meinung, es hätte eine Zäsur im Handlungsablauf gegeben. Aber so war es nicht. Ich war auf hundertachtzig. Ich war derart in Rage und bin die Treppe hochgerannt, in was weiß ich wie viel Sekunden, und kann nur sagen: Ich hatte keinen Vorsatz. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hat, aber ich hatte nicht vor, sie zu töten. Ich war völlig außer Kontrolle geraten. Ich habe mich zutiefst ungerecht beschuldigt gefühlt.

Der Gerichtsmediziner hat festgestellt, dass es mehrere Schläge gewesen sind und dabei auch welche auf den Hinterkopf, und wenn es auf den Hinterkopf geht, dann ist es von hinten geschehen, und von hinten bedeutet Heimtücke und Heimtücke ist ein Mordmerkmal.«

Er stand auf und ging mit gesenktem Kopf von der Tür zum Fenster, vom Fenster zur Tür und blieb schließlich am Fenster stehen. Erneut waren die schurrenden, dröhnenden Schritte auf den eisernen Treppen und Galerien zu hören und mischten sich mit entfernten, unverständlichen Stimmen zu einem diffusen Hörstück, dessen Verlauf plötzlich ein wilder Schrei unterbrach. Ein Augenblick der Stille, eine Lautsprecherdurchsage, vielfaches eiliges Hin und Her. Langfeld blieb ungerührt. Er stand mit hängendem Kopf.

»Was mich so in Rage geraten ließ? Das kann ich Ihnen sagen.«

Er straffte sich und drehte sich um und schaute mich an. Er war jetzt jemand, der sich kein Zeichen der Schwäche mehr erlaubte.

»In Rage gebracht hat mich, dass Evi gesagt hat, sie wird es allen Leuten erzählen. Sie wird es unseren Söhnen sagen, unseren Bekannten, ihren Kundinnen – sie will es allen sagen, auch den Nachbarn, hat sie gesagt. Sie werde allen sagen, was für ein sexbesessenes Schwein ich sei und dass ich das Geld der Familie im Bordell verprassen würde. Das hat sie gerufen.«

Die Neonleuchte an der Decke begann sirrend zu flackern, und eine der Röhren erlosch. Als werde durch weniger Helligkeit mehr sichtbar, zeigte sich der schmale Raum mit der hohen Decke, mit seinen zerkratzten Wänden, dem fleckigen Zementfußboden in seiner ganzen Trostlosigkeit.

»Der Therapeut hat gesagt, gewöhnlich würden sich Männer mit ihrer Potenz brüsten. Warum ich Angst vor dem Gerede gehabt hätte. Aber ich hatte keine Angst. Es war eine große Wut – eine Bitterkeit – ein Schmerz … alles gleichzeitig.

Ich muss das noch mal mit ihm besprechen.

Er hat mir das letzte Mal ein Zitat vorgetragen. Sinngemäß heißt es da, vor der Tat begänne es tief unten zu leuchten. Und er wollte wissen, wie das bei mir gewesen sei.«

Langfeld lachte bitter auf.