Das Buch des Schweigens - Wolfgang Melzer - E-Book

Das Buch des Schweigens E-Book

Wolfgang Melzer

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Beschreibung

Banale Situationen spitzen sich überraschend zu, eigentümliche Situationen wenden sich unversehens ins Banale. Die Geschichten sind alltäglich und bergen doch ein Geheimnis. Der Eigenbrötler, der sich mit einer unlösbaren Aufgabe abplagt, die Dichterin auf der Suche nach der richtigen Liebe, die Pubertierende, die sich auf mehr einlässt, als sie überblicken kann, die Spielzeugmacherin, die von einem Säufer erweckt wird. Mit Hintersinn und Humor liefern die Erzählungen den Beweis, dass jeder Mensch das Zeug zum schrägen Vogel hat.

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Für K., die immer dabei war.

Inhalt

Das Buch des Schweigens

»Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.«

Der Waldmensch

Die Zippe

Patchwork

Eine Expedition

Rock 'n' Roll

Brötchen für Klaus

Anrufe

Nebeltage

Engelszungen

Web 3.0

Das Buch des Schweigens

Später konnte keiner sagen, wie es gekommen war. Sie hatten nicht damit gerechnet. Obwohl sie ihn doch kannten. An diesem Freitag war Viktor vom Abendbrottisch aufgestanden und hatte sich mit den Worten zur Tür gewandt, er ginge jetzt nach oben in sein Arbeitszimmer, um das Buch seines Lebens zu schreiben. Weitere Erklärungen hatte er nicht gegeben, nur den Titel noch genannt: Das Buch des Schweigens. Dann war sein grauer Haarkranz durch die Tür verschwunden.

Alle am Tisch schauten auf die Tür als lauerten dahinter die sieben Plagen Ägyptens. Oder als wollten sie Viktor per Gedankenkraft zwingen, zurück zu kommen. Sie hatten aufgehört zu kauen und strengten die Ohren an, um nichts von dem zu verpassen, was jenseits der Tür vorging. Aber nur Viktors leiser werdende Schritte auf der Treppe waren zu hören. Der erste, der sich rührte, war Daniel. Er sprang zur Küchentür und öffnete sie vorsichtig. Oben schlug die Tür zu, dann drehte sich der Schlüssel im Schloss.

»Er schließt sich ein«, informierte Daniel die anderen mit gedämpfter Stimme.

»Mach die Tür zu und setz dich hin!« befahl seine Mutter.

Empört rückte der Vierzehnjährige den Schirm seines Base-Caps über das rechte Ohr, blieb aber stumm und ging an seinen Platz zurück. Lange sagte keiner etwas.

Viktors Abgang verhieß nichts Gutes. Mit Ausnahme von Daniel ahnten sie alle Unheil. Viktor war im Grunde ein harmloser Mensch und die Verlässlichkeit in Person, allerdings mit einer verderblichen Neigung zur Perfektion. Alles, was er tat, tat er übermäßig genau. Wenn es Regeln gab, hielt er sie ein. Buchstabengetreu. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, eine Regel zu missachten, nicht einmal im Namen eines höheren Zweckes. Niemand hatte Viktor je über eine städtische Rasenfläche laufen sehen, er benutzte immer die Gehwege, wie lang der Umweg auch war. Vermutlich würde er es selbst dann so halten, wenn es um Leben und Tod ginge. In Viktors Augen garantierten Regeln Gerechtigkeit, sie schützten vor Willkür und Rache, aber auch vor Laschheit und grundloser Güte.

Zum Perfektionismus kam ein phänomenales Gedächtnis. Viktor vergaß nichts. Niemals. Noch nach Jahren fand er in den tausenden von Akten einen Vorgang so zielsicher, dass seine Kollegen in der Agentur mit ihren Computern auch nicht schneller waren. Als man ihm die Leitung des Archivs angetragen hatte, hatte sich sein Lebenstraum erfüllt.

Das war inzwischen fast zehn Jahre her. Im letzten Februar war er in den Ruhestand gegangen.

Seitdem traf sich die Familie jeden Monat an einem Freitag zum gemeinsamen Abendessen. Die lange Kette der übrigen Abende verbrachte Viktor damit, seine Falter zu präparieren, sie zu erfassen und zu bewahren. Er liebte die Ruhe und Konzentration des Archivierens. Und die Beständigkeit, die ein Archiv verströmt. Beständigkeit und Gleichmaß – wäre es nach ihm gegangen, hätte sein Leben aus einem einzigen Tag bestehen können, der sich wiederholte, solange es eben dauerte. Unter normalen Umständen konnte man darauf vertrauen, dass Viktor morgen und in einer Woche und in einem Monat im Großen und Ganzen dasselbe tun und lassen würde wie heute.

Wenn er allerdings seine Phase hatte, wie sie es nannten, war nichts mehr sicher. Das wussten alle hier am Tisch. Sie kannten das. Schon manches Mal hatte er sich so wie eben zurückgezogen in eine Art Verpuppung. Wie bei seinen Faltern, konnte man auch bei ihm kaum vorhersagen, was aus dem Kokon kriechen würde. Bei Viktor waren es immer absurde Projekte gewesen, die er in Angriff genommen hatte, um auf peinlich lächerliche Weise zu scheitern. Mit abenteuerlichen Nebenwirkungen.

Böse Erinnerungen hatten sie an das Minikraftwerk im Korridor der Drei-Zimmer-Wohnung, die sie damals noch bewohnten. Ein anderes Mal plante er einen Hochseilgarten zwischen den Neubaublöcken, in dem er der aufwachsenden Generation mehr Selbstbewusstsein vermitteln wollte. Eines Abends brannten die aufgestapelten Holzmasten lichterloh. Drei Feuerwehren rückten an. Von Löschen konnte keine Rede sein, sie schützten nur die benachbarten Häuser. Der Wind drückte den beißenden Qualm in die Wohnungen. Der kroch in die Tapete, setzte sich in den Polstern und Teppichböden fest. Selbst in Büchern hielt sich der bittere Gestank für Monate. Kein Nachbar wollte noch etwas von seinen Plänen hören. Viktors Mission als Retter der Jugend war vorbei.

War es Ungeschick? War es schlechtes Karma? War es Schicksal? Wer sollte das sagen?

Und jetzt: Das Buch des Schweigens. Ein seltsamer Titel, fanden sie. Was hatte Viktor vor?

»Wenigstens wird es diesmal nur ein Buch«, meldete sich Hedwig verhalten hoffnungsvoll.

Sie schaukelte mit ihrem schmalen Oberkörper vor und zurück wie ein frommer Jude an der Klagemauer.

»Ein Buch ist harmlos. Da kommt mal niemand zu Schaden.«

Es klang wie ein Gebet. Sie sah weder Daniel an noch ihre Mutter, sie hielt immer noch die Tür im Blick, hinter der Viktor vor fünf Minuten verschwunden war. Im Geiste sah sie Schwierigkeiten auf sich zukommen, die im Augenblick noch namenlos waren, die aber kommen würden, da war sie sicher. Ein Kamikaze-Großvater und eine aufgescheuchte Familie am Rande des Zusammenbruchs waren nichts, was sie vor dem Abitur gebrauchen konnte. So gut war sie nicht in der Schule und sie würde Mitschüler und Freundinnen von zuhause fernhalten müssen, wenn es mit Viktor wieder so schlimm würde wie vor zwei Jahren. Damals hatte Jan sich von ihr getrennt. Nicht ohne ihr auf offener Straße ins Gesicht zu schreien, sie seien doch alle bescheuert!

Hedwig wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht. Dann stützte sie ihre Ellenbogen auf den Tisch und steckte den Kopf zwischen die Schultern.

»Hoffentlich hast du Recht«, sagte Rosi, die Hedwig gegenüber saß. Und wie zu sich selbst: »Die Leute reden sowieso schon. Ich will das nicht mehr.«

»Wieso, was willst du machen?« blaffte Michael sie an. »Ihn einsperren? – Dich scheiden lassen? In deinem Alter?«

»Wie du wieder redest«, versuchte Rosi, sich zu wehren. Aber sofort bereute sie ihre Verwegenheit und lächelte bittend in die Runde, um ihren Ausrutscher vergessen zu machen. Die Harmonie in der Familie war ihr heilig. Die Kinder sollten doch am Abend mit einem guten Gefühl nach Hause fahren. Und jetzt, wo Viktor die Runde so brüsk verlassen hatte, war es ja wohl Zeit für den Aufbruch.

Unausgesprochenes lag in der Luft, das spürten alle und sie spürten auch, dass es besser unausgesprochen blieb, sollten nicht unbedachte Worte Tatsachen schaffen. Rasch waren die Sachen in Andreas kleinen Honda gepackt. Michael, Andrea und die Kinder stiegen ein und rollten die kurze Ausfahrt hinunter. An der Gartentür winkte Rosi zum Abschied. Die vier winkten aufmunternd zurück. »Wird schon werden«, sollte das heißen, und es blieb offen, ob sie damit Rosi trösten wollten oder sich selbst Mut zusprachen. Dann gab Andrea Gas. Im Rückspiegel verschwand das Haus ihrer Schwiegereltern aus dem roten Rücklicht in die Dämmerung.

»Was hältst du davon?« wollte sie von Michael wissen, der neben ihr saß. Da hatten sie die Autobahn schon erreicht. Die beiden Kinder auf den Rücksitzen tippten auf ihren Handys herum und interessierten sich nicht für das Gespräch ihrer Eltern. Trotzdem antwortete Michael: »Nicht jetzt.« Den Rest der Fahrt hing jeder seinen eigenen Gedanken nach.

Derweil saß Viktor im Arbeitszimmer inmitten von Spannbrettern und Schaukästen mit aufgenadelten Faltern. Auf den Spannbrettern waren Schmetterlinge säuberlich zum Trocknen festgesteckt. In den Regalen und Schränken, sogar auf dem Fußboden stapelten sich die Schaukästen. Darin reihten sich dutzende Bläulinge, Tagpfauenaugen, Distelfalter und Kleine Füchse, seltener Kohlweißlinge und Admirale, nur ein Schwärmer: ein Schwalbenschwanz. Die exakten Reihen der auf Nadeln gespießten Schmetterlinge ließen das Durcheinander aufgeräumt erscheinen und ein System erahnen, das der Eingeweihte vermutlich sofort erkannte. Neben jedem Schmetterling steckte eine zweite Nadel mit einem briefmarkengroßen Schildchen. Darauf stand in Viktors gerader Archivarschrift das Datum, an dem ihm der Falter ins Netz gegangen war. Der Großteil der Präparate war jedoch nicht zu sehen, sie steckten in den flachen Schüben eines großen Zeichnungsschrankes neben dem Schreibtisch. An der Wand hingen, leicht als Zugaben zu erkennen, drei Schaukästen mit exotischen Faltern. Die Exemplare der eigentlichen Sammlung waren nicht so spektakulär. Sie begeisterten nur Kenner. Unkundige Besucher würdigten meist die schiere Zahl der Falter und Viktors Akribie, konnten ihre Enttäuschung über die immer gleichen Reihen Kleiner Füchse aber nur schlecht überspielen.

Der Schreibtisch, an dem Viktor sonst seine Fänge aufspannte, auf Nadeln spießte und dokumentierte, war freigeräumt. Auf dem Monitor vor ihm blinkte der Cursor. Ihm war ein wenig feierlich zumute. Etwas großes, etwas Wichtiges nahm seinen Anfang. Noch einmal rückte er sich auf seinem Stuhl zurecht, dann begann er zu tippen. Auf dem Bildschirm erschienen die Wörter: Das Buch des Schweigens.

Ein Roman sollte es werden. Ein Roman über das Schweigen. Viktor wollte ihn mit einer leeren Seite beginnen. Er glaubte seit langem, nur das Unaussprechliche lohne sich noch. Und das weiße Blatt hielt er für dessen gültigsten Ausdruck. Er wollte wagen, was dieser Spanier verlangt hatte. Der hatte geschrieben – Viktor schlug, um sicher zu gehen, sogar jetzt noch einmal nach – es solle jeder zum Denken Berufene außer seinen fachlichen Büchern auch eines schreiben, das von seinem Lebenswissen handelt. Er hatte diesen Satz so oft gelesen, dass er schließlich glaubte, er hätte ihn selbst schreiben können. Viktor klappte das Buch wieder zu und lauschte dem Gelesenen nach. Vergewisserte sich. Ja, ein weißes Blatt war ein guter Anfang für einen Roman über das Schweigen. Von heute an würde er sich jeden Tag seiner Aufgabe widmen. Er würde schreiben und prüfen. Verwerfen und wieder prüfen, wieder verwerfen und erneut prüfen. Nur wirklich Gültiges würde er stehen lassen. Auf das Notwendige konzentriert. Bedingungslos ehrlich, ohne Zugeständnisse an irgendwas oder irgendwen. Er würde das Unbeschreibliche beschreiben. Vor allem würde er Ordnung hineinbringen. Ja, das weiße Blatt war ein guter Anfang. Er schrieb 9 an das Ende der Seite.

Dann drückte er Strg und Enter und auf dem Bildschirm erschien eine neue Seite. Es war so weit: Er musste das Schweigen zum Klingen bringen, es zwingen, sich auszudrücken. Zuerst in sich, dann auf dem Papier. Er setzte sich aufrecht. Horchte in sich hinein. Nichts. Nichts, außer dem unsortierten Krakeelen abgenützter Gedanken, denen der blinkende Strich des Cursors den Takt vorgab. Etwas in der Art hatte er erwartet. Darauf war er vorbereitet. Der Umweg über die Handschrift ließ sich also doch nicht vermeiden. Viktor schaltete den Rechner aus und legte einen Stapel Papier vor sich auf den Schreibtisch. Stumm gab er sich den Befehl: Denk an den Kamm! Damit wollte er anfangen. Es lag Jahrzehnte zurück, bewegte ihn aber immer noch.

Versunken wartete er ab, welche Form, welchen Klang das Schweigen annehmen würde. Sein Plan war, sich treiben zu lassen und auf sein Unbewusstes zu vertrauen. Das kannte sich seiner Meinung nach aus mit dem Schweigen. Er würde schon merken, wenn es etwas zu notieren gab. Wirklich griff er nach einiger Zeit zum Stift und schrieb: Die Wörter machen, dass wir reden.

Es blieb nicht bei diesem Satz. Wörter und Satzfetzen trieben an die Oberfläche. Bilder mischten sich darunter. Selten ganze Sätze. Manchmal so langsam, dass sie die Grenze zur Klarheit nicht durchstießen und Viktor sie aus ihren trüben Schemen erraten musste. Manchmal stürmten sie so auf ihn ein, dass er kaum nachkam, sie aufzuschreiben. Er hatte sich vorgenommen, jeden Tag eine Seite zu schreiben, dann wäre nach seinem Überschlag das Werk zu Ostern vollendet. Nach Ostern blieben noch vier bis sechs Wochen bis zur Faltersaison und die wollte er als Reserve nutzen zum Schreiben und für die technische Produktion des Buches.

Nach einer knappen Stunde versiegte der geschwätzige Zufluss aus dem Unbewussten. Es wurde Zeit für die Arbeit des Sichtens, Bewertens, Auswählens und Anordnens. Er schrieb die Texte mit dem Rechner ab. Immer eine Gruppe zusammengehörender Wörter, Sätze und Bruchstücke auf ein Blatt DIN A4.

Spät am Abend legte er sich zufrieden in seinen Teil des Doppelbettes. Rosi neben ihm schlief schon.

Andrea fuhr den Honda in die Garage. Sie verstaute die Lebensmittel im Kühlschrank, Michael trug die Bierkästen in den Keller. Daniel entledigte sich seiner Jacke und verschwand in sein Zimmer. Hedwig zog sich für den Abend um und ging aus dem Haus. Zu einer Freundin, wie sie sagte.

Allein gelassen setzten sich Andrea und Michael an den Küchentisch.

»Wie hast du das vorhin verstanden?«, begann Michael, »Das kann gefährlich werden.«

»Wieso? Er ist ein alter Mann. Wahrscheinlich schreibt er einfach seine Erinnerungen. Das machen doch viele«, versetzte Andrea.

»Aber ›Buch des Schweigens‹, das klingt für mich nach ›das Schweigen brechen‹ und so weiter.«

»Wenn schon. Ist doch nichts dabei. Der weiß doch nichts.«

»Bist du sicher?« vergewisserte sich Michael.

»Ja. Doch«, antwortete Andrea, bemüht, ihre Zweifel zu überspielen.

»Bist du ganz sicher?« wiederholte Michael eindringlicher.

»Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass er uns gefährden würde.«

»Wirklich nicht? Bei seinem Korrektheitswahn?! Er wäre nicht der erste, der Freunde und Verwandte seinen Ambitionen opfert. Ich sehe ihn richtig vor mir: Sitzt da wie Moses auf dem Berge und wartet auf das endgültige Wort, das er in Stein meißeln kann«, redete Michael sich in Rage.

»Jetzt übertreibst du aber«, beschwichtigte Andrea.

»Ich werde jedenfalls nicht dasitzen und warten, bis Moses vom Berge steigt und uns die Gesetzestafeln zeigt.«

Michael wollte sich nicht beruhigen.

»Vielleicht hast du recht«, lenkte Andrea ein. »Vielleicht sollten wir wirklich wachsam sein.«

Und sie setzte hinzu: »Lass uns die Augen offenhalten. Aber heute nicht mehr. Gehen wir schlafen.«

Am nächsten Morgen war es Hedwig, die beim Frühstück wieder davon anfing:

»Das kann ja heiter werden, wenn Opa wiedermal loslegt. So schnell komme ich jedenfalls nicht mehr mit zu den beiden. Ihr wisst, wie es damals war. Das tue ich mir nicht an. Ich muss mich auf die Schule konzentrieren und nicht Oma trösten.«

»Mach, wie du denkst, Hedi. Aber bestimmt wird es diesmal nicht so schlimm. Oder, was denkst du, Michael?« antwortete Andrea.

Ein kurzer Blick genügte, um sich auf diese Sprachregelung zu einigen und erst einmal abzuwarten. Möglicherweise würde es ja wirklich nicht so übel kommen, wie sie befürchteten.

Daniel verstand die Aufregung der anderen nicht.

»Was habt ihr bloß alle?« meinte er. » Ist doch cool: Opa schreibt ein Buch.«.

In den nächsten Wochen fuhr Michael nacheinander mit drei Klassen ins Landheim. Das halbe Kollegium war krank und er musste einspringen. Andrea begleitete eine Gruppe Franzosen durch die Gewerbegebiete des Landes, Hedwig lernte in der Woche, an den Wochenenden ging sie aus und Daniel trainierte jeden zweiten Nachmittag im Judoverein für den grünen Gürtel. Aber nicht nur deshalb verschoben sie den nächsten Besuch bei Rosi und Viktor einums andere Mal. Weshalb sie es wirklich das taten, darüber sprachen sie nicht. Gemeinschaftlich zogen sie die Köpfe ein als könnten sie den Lauf der Dinge aufhalten, wenn sie nur gründlich genug davon schwiegen.

Mitte Oktober, sechs Wochen nach Viktors spektakulärem Abgang, rief spät am Abend Rosi bei ihnen an. Mit bebender Stimme erzählte sie, Viktor verließe kaum noch sein Zimmer, käme nur zum Essen ins Erdgeschoss herunter, sei mit seinen Gedanken wer weiß wo, äße stumm, was sie ihm hinstelle, murmele irgendwann geistesabwesend Danke und steige wieder die Treppe hinauf, ohne sie noch einmal anzusehen.

»Der würde auch Schuhcreme essen, wenn ich ihm welche hinstellen würde«, fügte sie hart hinzu.

Oben in seinem Zimmer schließe er sich ein. Sie habe keine Ahnung, was er da tue, höre nur, dass er laut vor sich hin rede. Sie verstehe aber nicht, was er sage. Manchmal scheine er auch einfach nur Geräusche zu machen, so ein Blubbern oder Schnarren oder Husten, unartikuliertes Zeug eben. Das sei schon ziemlich unheimlich.

Und sie schloss:

»Kommt bloß mal wieder her! Dann gibt er sich bestimmt Mühe. Vielleicht sagt er euch, was los ist. Mit mir redet er ja nicht.«

Das klang verzweifelt. Andrea, hatte das Telefon laut gestellt und die anderen mithören lassen. Sie tröstete Rosi und versprach ihr, sie würden am Wochenende zu ihr kommen und ihr Bestes versuchen. Michael und die Kinder pflichteten ihr aus dem Hintergrund bei. Schließlich legte sie auf und sah ohne Hoffnung auf Trost die anderen an. Am deutlichsten las sie in Michaels Gesicht: Ihm war klar, was ihr klar war: Ignorieren war doch keine Lösung.

»Ich hab’s gewusst! So ein Mist! So ein Mist!« kreischte Hedwig gleich darauf los.

»Hör auf, herum zu schreien!« herrschte Michael sie an, »Lasst uns lieber nachdenken, was wir jetzt tun können.«

»Ich mache da gar nichts. Ich fahre auch nicht mit hin. Damit will ich nichts zu tun haben.«

Hedwig beruhigte sich nicht.

»Musst du ja auch nicht. Aber geh uns nicht auf die Nerven.«

»Gut, dann verschwinde ich eben.«

Trotzig wandte sich Hedwig zum Gehen.

Michael konnte noch »Tu das!« sagen und schon war sie durch die Tür verschwunden. Die fiel lauter ins Schloss als nötig.

»Ich finde, wir sollten versuchen herauszukriegen, was er da in seinem Zimmer eigentlich macht. Beim Schreiben entstehen doch keine lauten Geräusche.«

Andrea hatte sich wieder gefangen.

»Aber wie willst du das anstellen?« fragte Michael.

»Ich könnte doch als Detektiv zu Oma fahren und mal hören, ob ich mehr verstehe als Oma. Ich höre doch besser als sie. Ihr kommt am Wochenende nach und ich erzähle euch alles«, meldete sich Daniel zu Wort, der ungerührt zugesehen hatte, wie seine große Schwester ausgerastet war.

Verblüfft drehten sich seine Eltern zu ihm um.

»Kein schlechter Gedanke«, meinte Michael schließlich.

Das fand auch Andrea.

Beflügelt von dieser Reaktion, spann Daniel seinen Plan gleich weiter:

»Morgen ist Donnerstag. Ich fahre gleich nach der Schule los. Ihr schreibt mir für Freitag eine Entschuldigung, und ich bleibe über Nacht bei Oma. Dann habe ich genug Zeit, herauszukriegen, was da läuft.«

Nach einer kurzen Diskussion über die Zulässigkeit von Kinderarbeit in dieser Sache und die moralischen Implikationen des Ausspionierens von Großvätern durch deren Enkel, geduldet von den Erwachsenen, wurde Daniels Vorschlag angenommen. Die Aktion startete unter dem Deckmantel, der Oma helfen zu wollen.

Andrea rief noch einmal Rosi an, um ihr mitzuteilen, Daniel käme sie morgen Nachmittag besuchen und bliebe bis zum Wochenende. Die zeigte sich erleichtert.

Daniel lief spornstreichs in sein Zimmer, um seinen Rucksack zu packen.

Seit Tagen haderte er mit sich und seinem naiven Hochmut. Das Schreiben ging ihm weit mühsamer von der Hand als er gedacht hatte. Schuld daran war die eine Frage, die sich hartnäckig jeden Tag wieder stellte: Wie schrieb man einen Roman des Schweigens? Für ihn, Viktor, änderte das Schweigen seine Farbe und seinen Rhythmus, je nachdem, ob über eine Untat geschwiegen wurde oder über eine heimliche Liebe. Er empfand die Unterschiede körperlich. Aber wie sollte er sie den Lesern mitteilen? Wie sollte er das Schweigen beschreiben, ohne es zugleich durch Wortgeklingel zu zerstören? Eine Seite oder wenige Seiten hinzukriegen, war das eine. Aber ein Roman, das war etwas vollkommen anderes. Am Anfang hatte ihm ein Plan vorgeschwebt; ein Plot, der schon fix und fertig in ihm steckte. Jedenfalls hatte er es so empfunden. Ein schattenhafter Gedanke, ein Gedankenkeim, den er ans Licht der Sprache bringen wollte, damit er wachsen würde. Viktor hatte geglaubt, dazu fähig zu sein. Mehr noch: Er war überzeugt gewesen, als Einziger diese Fähigkeit zu besitzen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Bedürfnis verspürt, etwas anderes zu schreiben als Aktenvermerke und Briefe. Er hatte sein Thema gefunden, das hatte alles verändert. Er hatte geglaubt, dieses eine besondere Buch schreiben zu müssen. Und er fühlte sich immer noch dazu berufen, auch wenn er das Wort Berufung niemals in den Mund genommen hätte.

Aber aus dem Elan des Anfangs war Ernüchterung geworden. Die Einfälle tröpfelten nur dünn. Das Terrain des Schweigens verbarg sich hinter einem Wall aus Wörtern, Bedeutungen und Zeichen. Seine Methode, die Einfälle ungesteuert aufeinander und auseinander folgen zu lassen, diese Methode allein, war offenbar zu schwach, den Wall zu überwinden. Zwar produzierte sie Text. Sie erzeugte sogar eine Art lautes Schweigen. Sinnfreies Geplapper. Lärmendes Nichtssagen. Sie war jedoch völlig nutzlos, wenn es darum ging, das Schweigen selbst zu Papier zu bringen, statt darüber zu schwatzen. Wie schweigt man schriftlich? Seine Antwort auf diese Frage war die leere Seite gewesen. Aber wie missverständlich war eine leere Seite! Enthielt sie das erhabene Schweigen des Weltalls oder das drucksige Verstummen des Dummkopfes, der die Frage des Lehrers nicht beantworten kann? Dabei schweigen Schüler und Weltall grundverschieden. Unvergleichbar. Das Weltall scharrt nicht mit den Füßen.

In Viktors sturem Kopf dröhnte die Leere.

Das Schweigen ist ein grausamer Gegner. Lange Tage brütete Viktor über dieser Grundfrage seines Buches und in den durchschwitzten Nächten wälzte er sie im Traum wie Sisyphos den Stein. Je vergeblicher die Mühe schien, umso bedingungsloser tauchte er in sein Projekt ein. Was nichts mit dem Buch zu tun hatte, existierte für ihn nicht. Für Wochen kam er nicht aus dem Haus. Seine Haut wurde grau. Viktor wurde zum Gespenst. Rosi bekam es als erste zu spüren und am härtesten. Rief sie zum Essen, kam er grübelnd die Treppe herabgestiegen. Gedankenverloren saß er ihr am Tisch gegenüber. Ihre fragenden Blicke, ihr banges Gesicht berührten ihn nicht. Er nahm sie kaum wahr. Er wusste, er hätte gegenüber Rosi ein schlechtes Gewissen haben sollen wie gegenüber den anderen auch. Doch es blieb kaltes Wissen. Keine Schuldgefühle, keine Skrupel. Die selbst gewählte Herkulesaufgabe verlangte ihm alles ab. Für Rücksichten blieb da nichts übrig.

Natürlich merkte er es, wenn Rosi die Treppe heraufgeschlichen kam. Zuerst lauschte sie. Dann klopfte sie zaghaft an. Fragte durch die Tür, was los sei. Eine Antwort wusste er nicht zu geben. Hätte er sie gewusst, Rosi hätte sie nicht verstanden, dessen war er sicher. Deshalb hatte er sich die Vertröstung zurechtgelegt:

»Frag mich bitte nicht, ich erkläre dir alles später, wenn ich es selbst verstehe.«

Über eine Woche kam er nicht vom Fleck. Dann, der Tag war zäh und fruchtlos gewesen wie die vorangegangenen, lag Viktor abends im Bett auf dem Rücken. Die Hände auf dem Bauch gefaltet dämmerte er gottergeben vor sich hin, als seine Gedanken von selbst auf Wanderschaft gingen. Sie durchstreiften die Wüsten seines Verstandes als wüssten sie, wo sie suchen mussten. Dazu brauchten sie Viktor so wenig wie ein alter Gaul den Kutscher für den Heimweg. Irgendwann im Halbschlaf drang, ohne dass Viktor dazu beitrug, aus einer unbekannten Gegend seines Gehirns die Eingebung in sein Bewusstsein: Er würde Wörter brauchen, um das Buch zum Schweigen zu bringen. Die Wörter sind der Rand des Schweigens. Wie ein Loch nicht ohne Rand existieren kann, braucht das Schweigen Ränder aus Wörtern. Stille und Schweigen können beide nicht gehört werden, wenn es nichts gibt, wovon sie sich abheben. So wie wir Schwarz nicht sehen können, wenn es allein vor unseren Augen steht. Schwarz entsteht nur als Kontrast zu Weiß.

Dann sind da noch die anderen Wörter; die ungesagten, die in der Luft liegen, erwartet werden. Durch sie unterscheidet sich die Stille ohne Worte, das Schweigen, von der Stille ohne Laut oder Geräusch, bei der man – streng genommen – nicht von Schweigen sprechen kann. Ohne erwartete Wörter gäbe es nur Stille.

Viktor begriff: Er musste Wörter schreiben, um das Schweigen hörbar zu machen. Sie bildeten die Ränder der Stille und riefen die Wörter herbei, die unausgesprochen blieben. Die aus Stille Schweigen machen.

Kaum hatte Viktor diesen Gedanken gefunden, spürte er wieder Energie. Die Mattigkeit der letzten Tage verflog. Vor seinem geistigen Auge leuchtete hell und drängend ein einzelnes Wort auf: Befragung. Im Schlafanzug tappte er hinüber in sein Arbeitszimmer und begann zu notieren.

Wenig später lief er mit einem kleinen Stapel Papier in der Hand im Zimmer auf und ab, laut lesend, was er geschrieben hatte. Er krächzte, flüsterte, wisperte, sang und summte es sogar, um herauszufinden, welcher Zettel das richtige Schweigen am besten erfasste. Um das Material zu bestimmen, das weiter zu bearbeiten, einzudampfen und zu konzentrieren sich lohnte. Er suchte Wörter, die mit ihrem Nachhall die Stille füllten. Er sprach sparsamer als bisher, oft nur ein einzelnes Wort; hielt die Pausen danach länger aus; nahm ihre Schwingungen in sich auf. Sorgsam registrierte er, was sich vor seinen Augen oder in seinen Augen abspielte, so genau konnte er das nicht trennen. Er nutzte, was die Physiologen Synästhesien nennen. Lauschte er dem Nachhall der Wörter, sah er, ob das Schweigen hell war oder dunkel, rund oder eckig, rau oder glatt. Manchmal sah er Farben. Manchmal hörte er einen Rhythmus. Und er suchte nach einer Schrift, die dieses Klingen sichtbar machte. Die Zeichen, die er dafür erfand, skizzierte er grob auf dieselbe Seite neben den Wörtern, deren stilles Echo sie waren. Morgen wollte er sie ins Reine zeichnen.

Als Michael und Andrea – Hedwig war tatsächlich nicht mitgekommen – das Auto am späten Freitagnachmittag in der Einfahrt zum Garten abstellten, kam Daniel schon aus dem Haus gerannt. Unter der Haustür besann er sich und blieb abrupt stehen. Er mühte sich, so cool zu sein wie ein vierzehnjähriger Detektiv sein musste, der verdeckt ermittelt. Michael achtete nicht auf seinen Sohn. Noch im Aussteigen sah er nach oben zum ersten Stock. Am Fenster des Arbeitszimmers war Viktors Silhouette zu sehen, verschwand jedoch gleich wieder in der Tiefe des Zimmers. Andrea lief zum Haus und nahm ihren Jungen in den Arm als hätte sie ihn eine Ewigkeit nicht gesehen. Peinlich berührt entzog sich Daniel ihrer Mütterlichkeit. Rosi neben ihm deutete mit einem Lächeln auf ihren Enkel, konnte aber ihre Aufregung genauso wenig verbergen wie er. Ganz offensichtlich hatten die beiden Neuigkeiten.

»Kommt rein! Kommt rein!« riefen sie und steckten die Ankömmlinge mit ihrer Aufregung an.

Endlich saßen alle in der Küche. Immer noch hielten sie sich zurück, um dem bevorstehenden Gespräch den Anschein von Normalität zu geben. Daniel rutschte auf seinem Stuhl vor und zurück. Rosi lief planlos in der Küche hin und her. Die Spannung wurde immer greifbarer. Endlich stand der Kaffee auf dem Tisch. Aufreibend gründlich rührte Michael Zucker in seine extra große Tasse. Fast beiläufig fragte er, worauf alle warteten:

»Und, wie sieht es aus? Wisst ihr etwas Neues?«

Das war das Stichwort. Daniel sprudelte los. Rosi nickte zur Bestätigung. Hin und wieder warf sie etwas ein.

Die beiden hatten gestern gemeinsam vor der Tür des Arbeitszimmers auf der Treppe gesessen und Viktor belauscht. Aus den Fetzen und Bruchstücken, die durch die Türe drangen, konnte man sich allerdings keinen Reim machen. Wie es schien, sagte Viktor kurze Sätze und Wörter vor sich hin. Manchmal auch nur Ausrufe wie Oh! oder Bha!. Er wechselte die Tonhöhe, schmetterte und schnarrte die Silben heraus. Um einen Sinn schien es ihm nicht zu gehen. Um den Klang vielleicht. Oder Inspiration. Nach langem Horchen hatten Rosi und Daniel ein Muster erkannt. Meistens steigerte er seine Lautstärke, manchmal wurde er immer leiser. Ob so oder so, das wechselte ganz unregelmäßig und man konnte es nicht vorhersehen. Aber jedes Mal trat plötzlich Ruhe ein. Sie hörten noch, wie ein Stuhl gerückt wurde, dann nichts mehr. Sie vermuteten, Viktor saß in diesen Pausen am Schreibtisch und tippte etwas in den Computer.

Das war wenig mehr als sie schon von Rosi am Telefon gehört hatten.

»Konntest du denn gar nichts verstehen?« drang Michael in Daniel.

»Nur ein paar Wörter.«

»Und? - - Welche Wörter? – - Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!« Michael verlor die Geduld.