Das Buch Jesaja - Ulrich Berges - E-Book

Das Buch Jesaja E-Book

Ulrich Berges

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Beschreibung

Das Buch Jesaja gehört zu den bedeutendsten Schriften des Alten Testament und ist einem Zeitraum von 400 Jahren entstanden. Den Grundstock dafür legte der Prophet Jesaja ben Amoz im letzten Drittel des achten Jahrhunderts v. Chr. Nach einer Einleitung in die Forschungsgeschichte stellen die Autoren die gesamte Schrift in ihrer Endgestalt als literarisches Drama vor.

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Seitenzahl: 538

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UTB 4647

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Ulrich Berges / Willem A.M. Beuken

Das Buch Jesaja

Eine Einführung

Vandenhoeck & Ruprecht

Ulrich Berges, geb. 1958 in Münster/Westfalen studierte Theologie und Bibelwissenschaften in Eichstätt, Salzburg, Rom und Jerusalem. Nach Lehrstühlen in Lima/Peru, Nimwegen/Niederlande und Münster/Westf. ist er seit 2009 Professor für alttestamentliche Wissenschaften an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Bonn und u.a. Mitglied der NRW-Akademie der Wissenschaften und Künste in Düsseldorf

Willem Beuken, geb. 1931 in Helmond/Niederlande studierte in Amsterdam und Rom. Professuren in Nimwegen (1985–1989) und Leuven (1989–1996). Langjähriges Mitglied der Päpstlichen Bibelkommission und Gastprofessor in Pretoria/Südafrika

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, StuttgartSatz: Ruhrstadt Medien AG, Castrop-Rauxel EPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

UTB-Band-Nr. 4647

ISBN: 978-3-8463-4647-1

Vorwort

Wie man auch ohne Kunstführer eine mittelalterliche Kathedrale mit Gewinn besuchen kann, so kann man auch das Buch Jesaja, das über die Zeitspanne von fast einem halben Jahrtausend entstanden ist, ohne weitere Anleitung lesen. Aber mit Führung sieht man mehr, versteht Zusammenhänge und beginnt selbst, Neues im Alten zu entdecken. Schauen muss man aber immer persönlich, lesen auch! So möchte dieses Lehrbuch den Einstieg in eines der wichtigsten und schönsten Bücher des Alten Testaments erleichtern, die eigene Lektüre befördern, sie nicht ersetzen, sondern beleben und bereichern.

Die Autoren sind nun schon fast zwanzig Jahre in intensivem Austausch über das Jesajabuch eng verbunden und verantworten die Kommentierung in HThKAT. Hier wie dort hat der Altmeister den ersten Teil (Jes 1–39), sein Nachfolger aus Nimweger Zeiten den zweiten Teil bearbeitet (Jes 40–66), doch ist dies ein gemeinsames Buch. Es war eine große Freude, den Weg der Konzeption und Durchführung miteinander zu gehen und das Ergebnis der interessierten Leserschaft nun vorlegen zu können. Dem Ansatz der »diachron reflektierten Synchronie« folgend werden sowohl der literarische Endtext als auch seine möglichen Entwicklungsstufen beleuchtet, Geltung und Genese gleichermaßen mitbedacht.

Ein erster Dank gilt Frau Prof. Dr. Karin Finsterbusch, welche uns mit dieser ehrenvolle Aufgabe betraute, danach dem Verlag in der Person von Herrn Reissing.

Eine besondere Anerkennung zollen wir Herrn Dr. theol. Bernd Obermayer für alle Mühen, mit denen er die Manuskriptvorlagen bis zur Drucklegung begleitete. Herrn Mag. theol. Sebastian Kirschner danken wir für die Durchsicht der Bibelstellen und die übrigen Korrekturarbeiten.

Das Jesajabuch und der Psalter sind Geschwisterbücher und so dürfen wir in stiller Trauer und aufrichtiger Freundschaft dieses Lehrbuch dem Gedenken an Frank-Lothar Hossfeld widmen.

Zusammen mit Erich Zenger hat er nicht nur die Psalterexegese zu neuen Ufern geführt, sondern der alttestamentlichen Wissenschaft insgesamt Gewicht und Stimme verliehen.

Ulrich BergesBonn

Neujahr 2016

Willem BeukenLeuven

in memoriamFrank-Lothar Hossfeld(* 19. 6. 1942 † 2. 11. 2015)

Inhalt

I.Einleitung

1.Zum Neuansatz der Schriftprophetie im Jesajabuch

2.Zentrale Eckpunkte der Forschungsgeschichte

3.Die Kernphasen der Verschriftung des Jesajabuches

4.Die Texttraditionen des Jesajabuches

5.Aktuelle entstehungsgeschichtliche Modelle

6.Aktuelle Modelle der Endtextlesung

7.Theologie im Buch Jesaja

7.1Die buchübergreifenden Gottesnamen

7.2Spezifische Gottesnamen und Metaphern für einzelne Teile des Jesajabuches

7.3Rückblick und Fazit

II.Auslegung von Jesaja 1–66Synchrone Textbetrachtungen, diachron reflektiert

I. TeilJes 1–12 Zion zwischen Anspruch und Wirklichkeit

I. AktJes 1–4 Zweifache Ouvertüre: Aussicht auf Zions Verwandlung

II. AktJes 5,1–10,4 Die Immanuelschrift in einem mehrfachen Rahmen

III. AktJes 10,5–11,16 Doppelbild konträrer Herrscherprofile

Jes 12 Loblied der in Hoffnung Erlösten

II. TeilJes 13–27 Untergang aller Tyranneien gegenüber JHWH, dem König auf Zion

I. AktJes 13–23 Zehn Völkersprüche: das Gericht über irdische Mächte

II. AktJes 24–27 JHWHs Gerechtigkeit schafft Ordnung im Chaos der Völker

III. TeilJes 28–35 Die Durchsetzung der Königsherrschaft JHWHs auf Zion

I. AktJes 28–33 Sechs Weherufe gegen die Übeltäter in Zion

II. AktJes 34–35 Diptychon: Gericht über Edom und Heil für die Heimkehrenden

IV. TeilJes 36–39 Drei Erzählungen von der Errettung der Gottesstadt und des Davidssohnes

V. TeilJes 40–48 Aus Babel zurück in die Heimat

I. AktJes 40 Zion-Jakob-Ouvertüre

II. AktJes 41,1–42,12 Ohnmacht der Götter und JHWHs Zusage für Jakob/Israel

III. AktJes 42,13–44,23 JHWH und sein blinder und tauber Knecht

IV. AktJes 44,24–48,22 JHWHs Sieg durch Kyrus und der Fall Babels und der Götter

VI. TeilJes 49–54 Der Knecht und Mutter Zion

I. AktJes 49,1–26 Selbstvorstellung des Knechts und Zions Zweifel

II. AktJes 50,1–51,8 Überzeugungsarbeit an Zions Kindern

III. AktJes 51,9–52,12 JHWHs Rückkehr zu Zion und die Heimkehr der Zerstreuten

IV. AktJes 52,13–54,17 Leiden und Erhöhung von Knecht und Zion

VII. TeilJes 55–66 Die Knechte JHWHs und ihre Gegner auf dem Zion

I. AktJes 55,1–56,8 Umfang der Gemeinde und Zulassung

II. AktJes 56,9–57,21 Prophetische Anklagen und Heilsworte

III. AktJes 58–59 Gründe der Heilsverzögerung

IV. AktJes 60–62 Jerusalems und Zions zukünftige Herrlichkeit

V. AktJes 63–64 Rückblick auf die Geschichte und Bittgebet

VI. AktJes 65–66 JHWHs Antwort und die Spaltung der Gemeinde

Literatur

I.Einleitung

1.Zum Neuansatz der Schriftprophetie im Jesajabuch

Die letzten Jahrzehnte der alttestamentlichen Prophetenforschung im Allgemeinen und des Jesajabuches im Besonderen1 zeichnen sich durch eine grundlegende Neuorientierung aus. Galt zuvor die ganze Aufmerksamkeit möglichen Entwicklungsstufen mit ihren unterschiedlichen Redaktionen, Erweiterungen und Glossierungen (diachrone Analyse), so rückte die Frage nach Aufbau und Struktur der prophetischen Bücher immer mehr in den Mittelpunkt (synchrone Analyse). Richtete sich früher das Hauptinteresse auf die vermeintlich ältesten prophetischen Worte (Einzellogien), die wie Schätze aus dem Geröll der sie überlagernden Schichten herausgelöst werden mussten, um so die Stimme der inspirierten Gottesmänner vernehmen zu können, hat sich das Bild gänzlich gewandelt. Die Erkenntnis brach sich Bahn, dass das prophetische Gotteswort nur innerhalb der prophetischen Schriften zu hören ist – und nicht losgelöst oder unabhängig von diesen. Als Leitspruch gilt nun: Wer die Propheten hören will, kommt an den prophetischen Büchern nicht vorbei! In ihnen ist das Gotteswort für die jeweilige Zeit verfasst, überliefert, ergänzt und immer wieder aktualisiert worden. So sind die jüngeren und jüngsten Worte der Prophetie nicht das Ergebnis theologisch unbedeutender Epigonen, sondern die Frucht einer jahrhundertelangen Traditionspflege mit intensiver Durchdringung des Gotteswillens für Israel und die Völker. Die einstige Vorstellung, Schriftprophetie basiere ausschließlich oder zu großen Teilen auf charismatischen Einzelgestalten, die das an sie ergangene Gotteswort nach der Verkündigung für die Nachwelt aufzeichneten oder durch Schülerkreise aufschreiben ließen, ist nicht mehr haltbar. Insgesamt kann die literarische Entwicklung, die zu den großen Prophetenschriften führte, mit dem jahrhundertelangen Prozess verglichen werden, in dem die großen mittelalterlichen Kathedralen entstanden. An ihrer komplexen Struktur haben unzählige Baumeister mitgearbeitet, jeder auf seine Art und Weise. Sie dienten der gemeinsamen Sache, ohne dass von Anfang an ein allumfassender Masterplan vorgelegen hätte. Wie jeder Stein seine eigene Geschichte hat, aber nur im Ganzen des Bauwerkes seine eigentliche Funktion erfüllt, so auch jeder Spruch im Gesamtkunstwerk der prophetischen Schrift.2

Die Frage nach der Endkomposition des Jesajabuches kam mit Ausnahme der wichtigen Kommentierung durch James Muilenburg und einer Studie von Joachim Becker3 erst ab den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts auf.4 Dabei war die englischsprachige5 Exegese dieser neuen Fragestellung gegenüber aufgeschlossener als die deutschsprachige, die überwiegend diachron ausgerichtet blieb. So musste Rolf Rendtorff noch im Jahre 1984 mit Bedauern feststellen: »Die Frage nach der Komposition des Jesajabuches in seiner jetzt vorliegenden Form gehört nicht zu den allgemein anerkannten Themen der alttestamentlichen Wissenschaft«.6 Eine solche negative Einschätzung ist heute nicht mehr zu hören. Nun heißt es: »Wer zum Propheten will, ist zuerst an das Buch gewiesen. Gegenüber der lange alles dominierenden Rückfrage nach den prophetischen Personen ist deshalb die klärende Nachfrage nach den prophetischen Büchern jetzt die vordringliche Aufgabe«.7 Die einst so hitzig geführte Debatte um die Vorherrschaft synchroner oder diachroner Methoden ist der Einsicht gewichen, dass beide Ansätze ihre Berechtigung in den biblischen Büchern selbst haben. Deren Endgestalt ist das Resultat eines oft jahrhundertelangen Entstehungsprozesses, der nur noch in den großen Linien nachgezeichnet werden kann.

Zudem sieht man jetzt die Grenzen beider Ansätze klarer als zuvor: Einerseits kann keine der synchronen Endtextlesungen alle Einzelaspekte auf ein Schema reduzieren, andererseits kann keines der diachronen Modelle alle Entwicklungsstufen des Buches einholen! Wenn beide Zugangsweisen legitim sind, sollten auch beide zur Anwendung kommen. Genau dafür steht die »diachron reflektierte Synchronie«. Sie setzt beim Endtext ein, lässt aber die Rückfrage nach den geschichtlichen Entstehungsprozessen nicht außer Acht.8 Beide Aspekte sind in der Auslegung gleichermaßen zu berücksichtigen. So kann die Leserschaft einen Eindruck davon gewinnen, wie die Endgestalt des Textes immer auch das Resultat seiner Geschichte ist. Als Vergleich mag hilfreich sein, dass wir unsere Mitmenschen in ihrem jeweiligen Sosein auch besser verstehen, wenn wir ihre Lebensgeschichte kennen!

2.Zentrale Eckpunkte der Forschungsgeschichte

Die Forschungsgeschichte des Jesajabuches kann unter dem Motto zusammengefasst werden: Vom Propheten über drei Bücher zum einen Buch. In der vormodernen Zeit galt Jesaja ben Amoz als Autor der gesamten Schrift, die seinen Namenträgt. Gleiches ist auch heute noch in konservativen Kreisen der Fall.9 Die Ansicht stützt sich besonders auf die Überschrift in 1,1, wonach der Prophet den Inhalt der Schriftrolle in den Tagen der Könige Usija, Jotam, Ahas und Hiskija schaute, die alle Nachfolger auf dem Thron Davids in Jerusalem in der zweiten Hälfte des 8. Jh. waren. Dass Jesaja zwischen 734 und 701 während der neuassyrischen Expansionsbewegungen von Tiglatpileser III., Salmanassar V., Sargon II. und Sanherib aufgetreten ist, kann als gesichert gelten. Er erlebte den Untergang des Nordreiches im Jahr 722 und auch den Feldzug Sanheribs in den Jahren 703–701, der Juda völlig desolat zurückließ. Dabei hatte sich die Hauptstadt Jerusalem nur mit knapper Not dem Untergang entziehen können. Von daher ist es kein Zufall, dass Jesaja als einziger der Schriftpropheten auch im deuteronomistischen Geschichtswerk (Jos–2 Kön) genannt ist, und zwar in der Erzählung über die Belagerung Jerusalems durch die Assyrer (2 Kön 18–20; Jes 36–39). Dieser Prophet war mit dem Schicksal Jerusalems und des Zion zutiefst verbunden. Der Legende nach, wie sie im »Martyrium Jesaiae« aus dem letzten Drittel des 1. Jh. n.Chr. wiedergegeben ist, hat er unter dem judäischen König Manasse (697–642) das Martyrium erlitten, indem er zersägt worden sein soll (vgl. Hebr 11,37).

Dass das Jesajabuch seit frühester Zeit als eine einheitliche Schrift rezipiert und überliefert wurde (LXX; Qumran; NT; Patristik), kann nicht verwundern. Schon der Sirazide preist Jesaja im Lob der Väter als großen und zuverlässigen Seher (Sir 48,22–25), der dem todkranken König Hiskija das Leben verlängerte (Jes 39) und die Trauernden Zions tröstete (Jes 40): »Für fernste Zeit verkündete er das Kommende und das Verborgene, bevor es geschah« (Sir 48,25). Dass Jesaja in Jes 1,1 als derjenige vorgestellt wird, der die »Schauung schaut«, ist ein wichtiges Indiz für die Rezeption dieses Propheten in der Schriftrolle selbst. Dabei zielt die Überschrift nicht auf die Verfasserschaft Jesajas im eigentlichen Sinne ab, sondern auf seine Autorität, die dieser Schrift zugrunde liegt. Interessanterweise hält der babylonische Talmud Jesaja gar nicht für den Verfasser der Rolle, sondern Hiskija und sein Kollegium, die zudem das Buch der Sprüche, das Hohelied und Kohelet verfasst haben sollen (Baba bathra 14b–15a). Damit scheint bereits eine editorische Tätigkeit durch, für die keine Einzelperson, sondern ein Kollektiv verantwortlich zeichnet. Einer der Faktoren für die Annahme einer kollektiven Verfasserschaft lag sicherlich in der Zeitspanne, die sich von der assyrischen bis in die Zeit der Perser erstreckte. Wahrscheinlich war schon der frühjüdischen Tradition aufgegangen, dass der historische Jesaja den Perserkönig Kyrus kaum namentlich angekündigt haben konnte (Jes 44,28; 45,1). Darauf deutet auch der rabbinische Homilien-Midrasch Pesiqta de Rav Kahana 16,10 aus dem 5. Jh. n.Chr. hin, wo die Frage gestellt wird, warum es in Jes 40,1 nicht wie sonst Gott »hat gesagt« (), sondern Gott »sagt« () heiße. Damit wird betont, dass Gott weiter redet, obschon der Prophet von der Bühne abgetreten ist. Noch expliziter geht der jüdische Gelehrte Abraham Ibn Ezra auf dieses besondere Phänomen des Jesajabuches ein, das darin besteht, dass der Prophet ab der Mitte (ab 39) gar nicht mehr vorkommt und auch gar nicht mehr auftreten kann. Denn er hätte ja über 200 Jahre alt werden müssen, um die Zeit der Befreiung aus Babel durch die Perser mitzuerleben! In seinem 1145 im italienischen Lucca verfassten Jesaja-Kommentar meint Ibn Ezra, man solle sich in dieser Frage am Buch Samuel orientieren, denn auch dieser habe sein Buch nur bis 1 Sam 25,1 geschrieben, wo von seinem Tod berichtet wird. Wohl aus Rücksicht auf die jüdische Orthodoxie hatte der mittelalterliche Exeget nicht noch deutlicher gesagt, dass Jesaja nicht der Verfasser der ganzen Schrift gewesen sein könne.

Der geschichtliche Graben, der zwischen dem historischen Jesaja und der in Jes 40ff. vorausgesetzten Zeit des Exils und des Nachexils liegt, ließ sich mit dem Aufkommen der historisch-kritischen Bibelauslegung nicht mehr mit dem Hinweis auf die Überschrift »Vision Jesajas« überbrücken. Hätte Jesaja ben Amoz nur mit vagen Andeutungen auf die Zukunft verwiesen, wäre das vielleicht noch zu tolerieren gewesen, aber mit »Kyrus« (559–530) war der Begründer des persischen Großreiches namentlich genannt worden. Zum Vergleich: was sollten heutige Adressaten mit der Information anfangen, im Jahre 2150 werde eine wichtige Persönlichkeit die Weltgeschichte beeinflussen? Dass der historische Jesaja die assyrische Bedrohung mit Scharfblick wahrgenommen hat und theologisch interpretierte, bedarf keiner Begründung. Dass er darüber hinaus das Ende des babylonischen Exils durch die Perser ankündigte, ist historisch unhaltbar. Der garstige Graben der Geschichte lässt sich auch nicht mit dem Verweis auf die besondere Qualität der Schrift überspringen, wie dies mancherorts noch versucht wird: »Isaiah of Jerusalem did indeed predict the Babylonian exile, and in so doing showed how the towering theology that he applied to events in his own lifetime would become even more towering in relation to those new situations that he could see in outline, but not in detail«.10 Der geschichtliche Graben zwischen dem Propheten vom Ende des achten Jahrhunderts und der exilisch-nachexilischen Zeit lässt sich auch nicht durch die Vorstellung einer Verbalinspiration zuschütten, nach dem Motto: wenn Gott durch seine Propheten Vorhersagen machen will, kann ihm das keiner verbieten!

So ist es nicht verwunderlich, dass die historische Bibelkritik gerade bei dieser Problematik ansetzte.11 Hier trafen traditionelle Schriftauslegung und historischkritische Rückfrage ganz unversöhnlich aufeinander. So schreibt Johann Christoph Döderlein (1746–1792), Professor an der fränkischen Universität zu Altdorf: »Die Dogmatik der Christen kann nicht die Dogmatik der Zeitgenossen des Esaias seyn, und wo Cyrus beschrieben ist, da denke ich nicht an den Meßias.«12 Danach stellt er die entscheidende Frage, »ob es nicht glaublich sey, daß dieser ganze Abschnitt erst während des Babylonischen Exils sey niedergeschrieben worden«. Erst in der dritten Auflage seines Jesaja-Kommentars formuliert Döderlein explizit die These, dass die Buchrede (»oratio«) ab Kap. 40 nicht von Jesaja stamme, sondern am Ende des Exils von einem anonymen bzw. homonymen, also gleichnamigen Propheten geschrieben worden sei. Auch betont er, dass die Namenlosigkeit des Verfassers dem Ansehen von Jes 40–66 keinen Abbruch tue, denn die Autorität hänge ja nicht vom Verfasser ab, sondern vom Inhalt der Schrift und ihrem Nutzen für das Gottesvolk in einer konkreten geschichtlichen Situation. Dies ist in Exegese, Theologie und Kirche allzu oft überhört worden, denn nicht die Boten stehen im Zentrum der alttestamentlichen Schriften, sondern die Botschaft selbst ist entscheidend.

Zu wirklicher Popularität gelangte die These von Döderlein erst durch den großen Jesaja-Kommentar von Bernhard Duhm aus dem Jahre 1892. Darin spricht dieser zum einen die vier Gottesknechtslieder und die Götzenpolemiken dem exilischen Anonymus ab und weist zum anderen die Kapitel 56–66 einem dritten, noch späteren Propheten zu, den er der Einfachheit halber »Tritojesaja« nennt. Damit hat sich Duhm nicht nur als Erfinder von »Tritojesaja« in der Forschungsgeschichte verewigt, sondern auch als der Exeget, der dem Anonymus von Döderlein einen Namen gab, nämlich »Deuterojesaja«. Die alternative Ansicht, Jes 40–66 stelle eine Anthologie vieler anonym gebliebener Autoren dar, war damit auf lange Zeit marginalisiert.13 Vor dem Hintergrund einer romantischen Idee des wahren Propheten entwirft Duhm ein lebendiges Bild von »Deuterojesaja«, den er aber wegen der Vorliebe für Baumsorten und Küstenstreifen weder in Babylonien noch in Juda, sondern im Libanon lokalisiert.

Die alttestamentliche Wissenschaft der letzten 100 Jahre ist von der Hypothese eines anonymen Propheten »Deuterojesaja« zutiefst geprägt worden. Aus dem exegetischen Kunstnamen wurde der Eigenname eines Verfassers, der die Summe der Prophetie und den Höhepunkt des AT verkörpern sollte.14 Es war aber gerade die Anonymität, an der die Kritik ansetzte. Mit beißender Ironie hält z.B. Wilhelm Caspari den Duhmschen Deuterojesaja für »eine Zimmerpflanze auf dem Gelehrten-Schreibtische.«15 Zur Diskussion stand und steht nicht die Besonderheit der Kapitel 40ff., sondern ihre vermeintliche biographische Verankerung. Hinter »Deuterojesaja« eine historische Prophetengestalt zu vermuten, ist in der Exegese immer noch sehr verbreitet16, doch nehmen die Stimmen zu, die für eine alternative Sichtweise plädieren.17 Dass die Lieder vom Gottesknecht dieses biographische Vakuum nicht füllen können, wird ebenfalls immer deutlicher wahrgenommen.18 Auch weisen redaktionskritische Studien einer möglichen deuterojesajanischen Grundschicht immer weniger Texte zu.19

Gegenüber der breiten Akzeptanz des Duhmschen »Deuterojesaja« hat sich dessen Ansicht über »Tritojesaja« nie flächendeckend durchsetzen können. Hier dachte man schon sehr früh an Kreise von Schriftgelehrten. Doch im Sog der alles beherrschenden Deuterojesaja-Hypothese wurden diese als Schüler des exilischen Anonymus missverstanden.20 Dass »Deuterojesaja« in Theologie und Kirchen so populär werden konnte, hing nicht zuletzt vom christlich geprägten Prophetenbild ab. Man wollte so wichtige Texte nicht einfach namenlosen Schreibergruppen zuweisen. Von daher ist die vorsichtige Anfrage von Diethelm Michel zum Rätsel Deuterojesajas in der Theologischen Realenzyklopädie aus dem Jahre 1981 mit einem klaren Ja zu beantworten: »Es ist also zu fragen, ob bei der Postulierung eines Propheten Deuterojesaja nicht die Ansicht Pate gestanden hat, eine so überzeugende theologische Leistung könne nur von einem großen Individuum stammen.«21 Zu den kritischen, viele Jahrzehnte überhörten Stimmen von Caspari, Vincent und dem frühen Michel mit seiner Antrittsrede von 196722 gehört auch die kleine Monographie von Joachim Becker »Isaias – der Prophet und sein Buch« aus dem Jahre 1968. Seine damalige Einschätzung hat nichts an Wert eingebüßt: »Die verbreitete Vorstellung von einer kurz vor 539 wirkenden – aus Verlegenheit ›Deuteroisaias‹ genannten – Prophetengestalt entspringt unbewußt dem Bestreben, einen angesehenen und bedeutsamen Text wie Is 40–55 vor dem Schicksal der redaktionellen Anonymität, die ihn exegetisch zur Bedeutungslosigkeit verurteilt hätte, zu bewahren. Oder umgekehrt: Man kann den Text nicht als redaktionell gelten lassen, weil er bedeutend ist, und schafft daher künstlich die Prophetengestalt des ›Deuteroisaias‹.«23 Dieses Festhalten an der individuellen Gestalt des Propheten wurde sicherlich auch durch den Druck der kirchlichen Dogmatik befördert, die für ihre Inspirationslehre biographisch fassbare Personen als erforderlich erachtete.24

Die Annahme kollektiver Verfasserschaften ist nur auf den ersten Blick ungewöhnlich, und zwar dann, wenn es prophetische Texte betrifft. Bei der Erforschung des Pentateuchs sind die priesterlichen, nicht-priesterlichen und deuteronomischen Traditionen nie als das Ergebnis individueller Autoren verstanden worden. Hinter den Deuteronomisten und den Verfassern des Chronistischen Geschichtswerkes stehen gleichermaßen theologische Gruppen und keine Einzelpersonen. Bei den Psalmen werden die Sängergilden, die für einzelne Lieder und Liedsammlungen verantwortlich waren, zum Teil namentlich genannt (Korachiter: Ps 42–49; 84–85; Asafiten: Ps 50; 73–83; vgl. Jeduthun: Ps 39; 62; 77; Heman: Ps 88; 1 Chr 16,41–42; 25,1–6). Das Wissen um kollektive Verfasserschaften hat sich in der jüdischen Tradition erstaunlicherweise erhalten, wie der babylonische Talmudtraktat Baba bathra 14b–15a deutlich zeigt. Dort heißt es unter anderem, Hiskija und sein Kollegium hätten Jesaja, Sprüche, das Hohelied und Kohelet geschrieben.25

Die Ansicht, hinter den Autoren des Jesajabuches stünden Kollektive, hatte sich zunächst an der Vorstellung einer Jesaja-Schule26 festgemacht, sowie an der einer Deuterojesaja-Schule.27 Für erstere ist es durchaus plausibel und für die Überlieferungsbildung wohl unerlässlich, von einer Tradentengruppe am Ende des 7. Jh. auszugehen, die besonders für eine erste Abfassung der sogenannten Immanuelschrift in Jes 6–8 verantwortlich zeichnete. In Bezug auf Kap. 40–66 hätten die Schüler des großen exilischen Anonymus seine Worte bewahrt, fortgeschrieben und in die jetzige Endfassung gebracht. Demnach wäre Deuterojesaja nicht die Einzelfigur im Sinne von Duhm gewesen, sondern als »chef du groupe« aufgetreten28, dessen Botschaft nach seinem Tod von seinen Schülern gesammelt und herausgegeben worden sei.29 Diese Hypothese hat aber mit der Rückfrage zu kämpfen, warum dessen Name so konsequent verschwiegen worden wäre. Zudem lässt sich in 40ff. keine Auftrittsszene eines Propheten entdecken, ganz im Gegensatz zum ebenfalls exilischen Ezechiel (vgl. Ez 1,1; 24,1; 26,1; 29,1). Konträr zum Ezechielbuch, wo viele Texteinheiten mit »das Wort JHWHs erging an mich« (u.a. 6,1; 7,1; 12,1.8) eingeleitet werden, fehlt dies in 40ff. völlig (zu 40,6; 48,16, siehe die Auslegung). Die 1. Person Singular im zweiten und dritten Gottesknechtslied (49,1ff.; 50,4ff.) kann diese Lücke nicht füllen, denn hier dominiert eine formgebundene Sprache, die keine Rückschlüsse auf eine historische Einzelperson zulässt.30 Dass das Leiden des Knechts im vierten Gottesknechtslied (52,13ff.) nicht auf das Martyrium eines anonymen Propheten auszulegen ist31, hatte bereits Julius Wellhausen unterstrichen: »Die Annahme ist abenteuerlich, daß im Exil ein unvergleichlicher Prophet, womöglich von seinen eigenen Landsleuten, zum Märtyrer gemacht, dann aber verschollen wäre. Die Aussagen passen auch nicht auf einen wirklichen Propheten. Der hat nicht die Aufgabe und noch weniger den Erfolg, alle Heiden zu bekehren.«32

So gewinnt in den letzten Jahren die Ansicht immer mehr an Boden, dass sich aus Jes 40–66 keine prophetischen Einzelgestalten ableiten lassen.33 Im Mittelpunkt steht der Text selbst, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er mehr als andere prophetische Schriften eine dramatisch fortschreitende Entwicklung aufweist. Vom Anfang bis zum Ende geht es um Jerusalem und Zion als Zentrum und Ziel der Gottesherrschaft über Israel und die Völker. Dieses Drama der Reinigung und Bedrohung, der Gerichtsansagen und Heilsankündigungen kreist in immer neuen Anläufen um die Zukunft der Gottesstadt, dem Ziel der Geschichte JHWHs mit seinem Volk und den Völkern.

Wie immer man die Gesamtanlage des Jesajabuches bewertet und welche Entwicklungsstufen auch vorgeschlagen werden, auf die Annahme professioneller Schriftgelehrter kann heutzutage kein Erklärungsversuch mehr verzichten. Odil Hannes Steck, der sich wie kaum ein anderer um das Phänomen der schriftgelehrten Prophetie verdient gemacht hat, charakterisiert diese Literaten folgendermaßen: »Fachleute, geschulte und sich schulende Insider, die ihre Schriften im Dienste fließender Relecture aufs genaueste in Abfolge und Aussage kennen – professioneller Autoren- und Leserkreis in einem. Erst nach der Kanonisierung, als der Fluß produktiver Relecture zum Stehen gekommen war, wird dies anders und kann exegetisch vereinzelndem Gebrauch bis hin zu atomistischer Auslegung weichen. Zuvor jedoch sind es Fachleute, die ganze Bücher und Bücherfolgen betreuen.«34 Sie waren keine Autoren im modernen Sinne, sondern Begründer theologischer Diskurse und Diskursgemeinschaften, die miteinander in Kontakt und mitunter auch in Konkurrenz zueinander treten konnten: »Nebeneinander, aber nicht unabhängig voneinander existierten schulmäßig funktionierende Diskurse der Fortschreibung als Auslegung autoritativer Worte, die dem jeweiligen Diskursgründer zugeschrieben wurden. Während für die priesterliche Schriftgelehrsamkeit Mose als Diskursgründer galt, dem auch die nachexilischen fortschreibenden Auslegungen seiner Worte aus vorexilischer und exilischer Zeit in Deuteronomium und Priesterschrift in den Mund gelegt und damit autorisiert wurden, wurden in Kreisen der Tradentenprophetie Worte der prophetischen Diskursgründer eines Jesaja, Jeremia oder Ezechiel fortschreibend ausgelegt und diesen Diskursgründern in den Mund gelegt und erhielten so ihre Legitimation durch die prophetische Autorität in Konkurrenz zu Mose Funktion, Offenbarungsmittler göttlicher Worte zu sein.«35

Für Kap. 40–66 bietet sich das Paradigma schriftgelehrter Prophetie auch deshalb so sehr an, weil gerade diese Kapitel eine Vielzahl von alttestamentlichen Überlieferungen und Motiven aufnehmen und aktualisieren. Dazu gehören die Väter- und Exodustradition, die prophetische Gerichtsverkündigung, jesajanische Ausdrücke wie der »Heilige Israels«, Anleihen aus Jeremia und Ezechiel sowie die deuteronomische Worttheologie. Dazu kommen noch Jerusalemer Topoi wie Zion und David, sowie die priesterschriftliche Verknüpfung von Schöpfung und Geschichte und die Tradition der Psalmen mit ihrer starken Fokussierung auf den Gottesberg und die Gottesstadt.36 Die Vernetzung und kreative Ausgestaltung all dieser Traditionen kann nicht das Werk einer einzelnen prophetischen Person sein, sondern ist das Ergebnis intensiver Traditionspflege durch literarisch geschulte Kreise, die auf babylonischem Boden beginnend im Aufkommen der persischen Weltmacht das Heilszeichen JHWHs für einen Neubeginn und die Rückkehr zum Zion erblickten.

3.Die Kernphasen der Verschriftung des Jesajabuches

Für die ca. 400 Jahre andauernde Entstehungsgeschichte des Jesajabuches (700–300) lassen sich mit aller gebotenen Vorsicht einige Kernphasen der Verschriftung bestimmen. Das Fundament legten Jesaja ben Amoz und sein Schülerkreis, den dieser während der syrisch-efraimitischen Krise (734–732) um sich sammelte. Die jüdische Tradition hält seinen Vater »Amoz« (nicht zu verwechseln mit »Amos«) für einen Bruder des Königs Amazja (796–781), dem Vater Usijas, so dass Jesaja ein Neffe des judäischen Königs gewesen wäre, in dessen Todesjahr er seine Sendung zum Propheten empfangen hätte (bMegilla 10b). Wenn diese Tradition auch nicht zu beweisen ist, so spricht sie doch für eine große Nähe Jesajas zum Königshaus und zur Sphäre der Innen- und Außenpolitik.

Nach Jes 6,1 fällt die Vision der Herrlichkeit JHWHs im Jerusalemer Heiligtum, die Reinigung und Sendung des Propheten in das Todesjahr Usijas, so dass damit – bei aller Unsicherheit der unterschiedlichen Chronologien – ungefähr das Jahr 734 erreicht ist. Für die Auslegung der ersten Kapitel ist dies nicht nur ein geschichtliches Datum, sondern auch ein strukturell wichtiges Element, denn die Sendung des Propheten findet – anders als z.B. bei Jeremia und Ezechiel – nicht bereits zu Beginn des Buches, sondern erst nach dem Vorspann der Kapitel 1–5 statt. Somit folgt der Verstockungsauftrag (6,9ff.) in der Textchronologie den ersten Kapiteln nach, in denen der Prophet seinen Zuhörern die Alternative »Gericht oder Heil« in aller Deutlichkeit vor Augen geführt hat. Der Auftrag an den Gottesmann, das Herz des Volkes zu verhärten, trifft die Adressaten weder unschuldig noch unvorbereitet!

In den Anfangsjahren der Verkündigung hat sich Jesaja vor allem innenpolitisch geäußert. Dabei stellt er durchaus eine heilvolle Zukunft in Aussicht, aber nur unter der Bedingung einer wirklichen Verhaltensänderung (vgl. 1,19f.). Die Konditionierung der Heilsbotschaft bedeutet kein diplomatisches »sowohl als auch«, sondern das Ernstnehmen der individuellen und gesellschaftlichen Verantwortung, die sich aus dem personalen Verhältnis JHWHs zu seinem Volk ergibt. Dem Propheten, der selbst aus der Oberschicht stammt, ist jegliche Arroganz zutiefst zuwider: »Ja, ein Tag für JHWH Zebaot kommt über alles Stolze und Hohe, über alles Erhobene – es wird erniedrigt!« (2,12). Diese Thematik durchzieht die Kap. 1–39 und gehört zu den Grundpfeilern seiner Verkündigung und ihrer Fortschreibung (vgl. 2,12–17; 3,16–24; 5,15; 9,8; 10,12.33; 13,11.19; 14,11.13; 16,6; 23,9; 25,11; 28,1.3; 37,23).

Zumindest die Selbstberichte in der sogenannten Immanuelschrift (6,1–8,18) werden von der Mehrzahl der Ausleger dem Propheten belassen. Dass der Text nach der Überschrift (1,1) mit 6,1 zum ersten Mal eine weitere chronologische Notiz bietet, markiert eine deutliche Zäsur. Die Geschichtlichkeit des sogenannten syrisch-efraimitischen Krieges (734–732) wird in der jüngeren Forschung immer mehr bezweifelt. Dies tut aber der Tatsache keinen Abbruch, dass die Überlieferung dem Propheten Jesaja für die Zeit der zunehmenden Bedrohung durch das assyrische Reich eine besondere Rolle zuweist. Nicht um Geschichte geht es den Verfassern der Immanuelschrift, sondern um die theologische Aussage, dass wahre Sicherheit nicht auf politischen Bündnissen, sondern auf dem Vertrauen auf JHWH gründet. Genau diese Weisung (»Tora«) versiegelt der Prophet in seinen Schülern (8,16), zu denen auch die aufmerksamen Leserinnen und Leser des Jesajabuches gehören!

Wie politisch engagiert Jesaja seine prophetische Sendung verstanden hat, lässt sich gut an der Zeichenhandlung ablesen, die er während der Aufstände der philistäischen Städte unter Leitung Aschdods in den Jahren 713–711 ausführte (Jes 20,1–6). Erneut versuchten die Nachbarn, den kleinen judäischen Staat mit der Hauptstadt Jerusalem in einen Aufstand gegen Assur zu verwickeln. Dagegen protestierte der allseits bekannte Jesaja in höchst provokanter Weise: Drei Jahre lang lief er »nackt« und »barfuß«, d.h. wie ein Kriegsgefangener in Jerusalem als »Zeichen und Mahnmal« umher. Seine Botschaft war klar: Wer sich auf einen anti-assyrischen Aufstand einlässt und dabei auf militärische Unterstützung durch Ägypten hofft, wird als Kriegsgefangener enden! Diese werden in altorientalischen Reliefs – falls es sich um männliche Gefangene handelt – meist nackt dargestellt.

Ein weiteres biographisierendes Textelement stellt Jes 22 dar, wo Jesaja den völlig deplatzierten Jubel der Jerusalemer Bevölkerung scharf verurteilt. Die Szene lässt sich am besten auf das Ende der Aufstandsbewegungen im Jahre 711 beziehen. Der judäische König Hiskija, der sich noch rechtzeitig von der Rebellion seiner Nachbarn distanziert hatte, rettete sich und Jerusalem in allerletzter Minute.

Im Hintergrund der Kapitel 28–39 steht die politische Lage der Jahre 705–701, in denen Juda erneut versucht war, seine Loyalitätspflicht gegenüber Assur durch eine Allianz mit Ägypten aufzukündigen (vgl. 31,1ff.). Die Notizen über die öffentliche Tätigkeit Jesajas kulminieren in den Berichten über sein Auftreten während der Belagerung Jerusalems durch die Truppen Sanheribs im Jahre 701. Die biblische Überlieferung spricht davon, dass der Äthiopier Tirhaka in Richtung Jerusalem gezogen, woraufhin Sanherib zeitweilig von Jerusalem abgerückt sei (37,9; 2 Kön 19,9). Damit liegt jedoch eine Mischung von geschichtlichem Faktum, Halbwahrheit und Unwahrheit vor: Wahr ist, dass es zu einer Schlacht zwischen assyrischen Kräften und dem Hilfskontingent aus Ägypten bei Elteke gekommen ist. Unwahr ist, dass Tirhaka damals bereits den Königstitel trug, denn im Jahre 701 war noch sein Bruder Schebitku (Schabataka) an der Macht. Doch könnte Tirhaka als Zwanzigjähriger am Kampf mit den Assyrern teilgenommen haben. Nach der Schlacht von Elteke schlug Sanherib sein Hauptlager in Lachisch auf und belagerte damit die wichtigste Stadt auf dem Weg nach Jerusalem. Die Situation von Jerusalem und ihrem König Hiskija war daraufhin hoffnungslos. Die assyrischen Annalen sprechen davon, dass 46 Städte in Juda erobert und 205.105 Gefangene weggeführt worden seien37, während Hiskija wie ein Vogel im Käfig eingeschlossen sei. Hiskija blieb nichts anderes übrig, als sich dem Großkönig Sanherib zu beugen und die exorbitante Tributlast von 810 kg Gold und 8.100 kg Silber auf sich zu nehmen. Sowohl die assyrischen Annalen als auch die biblischen Texte stimmen darin überein, dass es in Jerusalem, im Gegensatz zu Lachisch, nicht zu einer regulären Belagerung, sondern nur zu einer Blockade der Stadt gekommen war. Dass Sanherib weder einen Pfeil in die Stadt schoss, noch einen Wall gegen sie aufschüttete, machen die biblischen Verfasser in 2 Kön 19,32; par. Jes 37,33 post factum zum Beweis für den göttlichen Schutz in allergrößter Not. Obwohl es in den assyrischen Quellen heißt, Hiskija habe den Tribut Sanherib nach Ninive hinterhergeschickt, hat das nicht etwa mit einem überstürzten Abzug des Assyrers aus Juda zu tun, sondern damit, dass er Wichtigeres zu tun hatte, als darauf zu warten, bis Hiskija die ihm auferlegte Menge an Gold und Silber unter größten Mühen zusammengebracht hatte. Nach 2 Kön 18,16 musste Hiskija die Türen des Tempels und die mit Gold und Silber überzogenen Pfosten zerschlagen lassen, um die Edelmetalle nach Assur abliefern zu können. Von dieser Tributzahlung will die Jesaja-Überlieferung nichts wissen und lässt die Notiz von 2 Kön 18,14–16 einfach aus. Im Jesajabuch rettet Hiskija sich und Jerusalem nicht durch eine Tributzahlung, sondern durch die Fürsprache des Propheten und das Gebet des frommen Königs!

Die Tatsache, dass Sanherib auch nach 701 sehr aktiv blieb und keineswegs an militärischer Kraft eingebüßt hatte, verweist den Tod von 185.000 Assyrern vor den Toren Jerusalems durch JHWHs Boten ins Reich der Legenden (2 Kön 19,35–37; Jes 37,36–38; 2 Chr 32,21–22).38 Dass noch Flavius Josephus ein Gebiet im Nordwesten Jerusalems als »Heerlager der Assyrer« bezeichnet, in dem dann auch Titus im Jahre 70 n.Chr. sein Lager aufgeschlagen habe, spricht für die Langlebigkeit der biblischen Fiktion bezüglich der Niederlage Assurs vor den Toren der Gottesstadt (vgl. 1 Makk 7,41; 2 Makk 8,19; 15,22; Sir 48,21).

Der Abzug Sanheribs wurde von den Tradenten des Jesajabuches zum historischen Beweis für den unverbrüchlichen Schutz JHWHs für Zion und Jerusalem stilisiert. Dazu passte natürlich keine Tributzahlung des frommen Königs! Allzu gern hätten die biblischen Autoren wohl auch Sanherib unter die toten Assyrer gerechnet, der es gewagt hatte, Jerusalem und JHWHs Tempel, den irdischen Wohnort des himmlischen Weltenkönigs anzugreifen. So stark ließ sich die Weltgeschichte dann aber doch nicht umschreiben! Zumindest reichte es, ihn im eigenen Tempel von seinen Söhnen ermorden zu lassen (Jes 37,38; par. 2 Kön 19,37). Dass Sanherib durch die Hand seiner Söhne getötet wurde, ist zwar historisch korrekt. Dies geschah jedoch nicht schon kurz nach 701, sondern erst im Jahre 681.

Die Jerusalemer Jesaja-Tradition muss in der langen Regierungszeit Manasses (697–642) bewahrt und gepflegt worden sein. Die Legende vom Martyrium des Propheten unter diesem König gibt davon zumindest ein indirektes Zeugnis ab. Jesajas Mahnung, Juda solle sich anti-assyrischer Koalitionen enthalten, fiel bei Manasse sicherlich auf fruchtbaren Boden, nicht aber sein ebenso grundsätzlicher Appell, sich allein auf JHWH zu verlassen. Hiskijas Sohn steuerte einen realpolitischen Kurs und unterwarf sich voll und ganz der assyrischen Großmacht. Zum Zeichen seiner Vasallentreue ließ er in beiden Tempelvorhöfen »Altäre für das ganze Heer des Himmels« bauen (2 Kön 21,5).

Nach dem Tod Assurbanipals (669–627) ging das assyrische Großreich nicht zuletzt wegen des Erstarkens der Meder (Kyaxares, 625–585) und der Neubabylonier (Nabopolassar, 626–605) sehr schnell dem Ende entgegen. Im Jahre 614 fällt die Stadt Assur und 612 die assyrische Hauptstadt Ninive durch eine Koalition der beiden aufstrebenden Mächte. In dieser Endphase des assyrischen Reiches gelang es dem judäischen König Joschija (639–609), die staatliche und kultische Unabhängigkeit Judas und Jerusalems wiederherzustellen. Er machte die Assimilationspolitik seines Großvaters Manasse rückgängig, führte eine tief greifende Kultreform durch und entfernte alle Symbole assyrischer Gottheiten aus dem Jerusalemer Tempel (2 Kön 22–23). In der modernen Forschung gehen viele Ausleger davon aus, dass in den Jahrzehnten unter Joschija die Jerusalemer Jesaja-Tradition, die unter Manasse nur unterschwellig tätig sein konnte, einen großen Wachstumsschub erhielt, und zwar unter dem Eindruck der sich erfüllenden Gerichtsansage gegen das assyrische Weltreich. In seiner einflussreichen Monographie »Die Jesaja-Worte in der Josiazeit« spricht Hermann Barth von einer »Assur-Redaktion«, die u.a. 8,23b–9,6; 10,16–19; 14,20b–27; 17,12–14; 28,23–29; 30,27–33; 31,5.8b–9; 32,1–5.15–20 umfasst. Auch Jacques Vermeylen nimmt eine redaktionelle Überarbeitung in der Zeit des Joschija an (u.a. 2,2–4; 7,15; 8,23b–9,6a; 11,1–5; 22,19–23). In der englischsprachigen Exegese wurde dieser Ansatz besonders von Martin Sweeney aufgenommen39 und auf weitere Texte ausgedehnt (Jes 7; 11; 27; 32; 36–39), so auch auf die Heimkehrtexte in 11,11–16; 19,18–25; 27,6–13. Letztere hätten dazu gedient, eine Repatriierung von Exilierten des Nordreiches zu propagieren, die 722 von Assur deportiert worden waren.

Die dramatischste Zeit begann mit dem plötzlichen Tod Joschijas im Jahre 609, der sich dem ägyptischen Pharao Necho II. (609–594) bei Megiddo entgegengestellt hatte. Möglicherweise war Joschija durch hochfliegende davidische Restaurationsvorstellungen dazu verleitet worden, die direkte Auseinandersetzung mit dem Ägypter zu suchen, um so die erst kürzlich gewonnene Unabhängigkeit von Assur zu verteidigen. Gegen das übermächtige ägyptische Heer hatte Joschija in der Ebene von Megiddo keine Chance. Doch die ägyptische Präsenz sollte nur von kurzer Dauer sein, denn die Truppenkontingente des Pharao konnten sich zwar bis zur Schlacht bei Karkemisch im Jahre 605 im Norden halten, wurden dann aber vom neubabylonischen Kronprinzen Nebukadnezzar am Nordlauf des Euphrat vernichtend geschlagen. So gerieten das Haus David, Jerusalem und Juda in den Strudel der Ereignisse, die im Jahre 597 zur ersten Deportation der Königsfamilie und zehn Jahre später zur Zerstörung des Tempels, der judäischen Hauptstadt und zur Exilierung der gesamten Oberschicht führen sollten. Möglicherweise sind die Hiskija-Jesaja-Erzählungen, wie sie in 2 Kön 18–20; par. Jes 36–39 vorliegen, zu dem Zweck überarbeitet worden, die Widerstandskraft des Königshauses und der Jerusalemer Bevölkerung während der Jahre zwischen der ersten Wegführung (597) und der zweiten Deportation (586) zu festigen.40

Insgesamt ist für die Kapitel 1–39 mit jesajanischen Grundbeständen zu rechnen, auch wenn diese nicht mehr versgenau zu rekonstruieren sind. Ein kritisches Minimum ist geradezu gefordert, denn jede Tradition braucht einen Kern, den sie weiterentwickelt. Dass Jesaja einen Schülerkreis um sich sammelte, der nach dessen Tod seine Predigt in schriftlicher Form weiterführte, sollte also nicht in Abrede gestellt werden. Daraus ergibt sich aber nicht ipso facto eine Jesaja-Schule, die für Kap. 40–66 verantwortlich gewesen wäre.41

Dass der historische Jesaja ursprünglich nur ein Unheilsprophet gegen die Fremdvölker und damit ein reiner Heilsprophet für das eigene Volk gewesen sei42, ist sehr unwahrscheinlich. Dieser Theorie folgend wären alle Unheilsorakel exilisch-nachexilischen Ursprungs, weil man post eventum den großen Propheten zum Warner vor der Katastrophe habe machen wollen. Hätte der historische Jesaja aber nie vor dem Ungehorsam gewarnt, wäre er doch vielmehr der Falschprophetie überführt worden! Auf den ersten Blick scheint die Dissertation von Matthijs de Jong »Isaiah among the Ancient Near Eastern Prophets« denen Recht zu geben, die den historischen Jesaja nur als Heilspropheten sehen wollen. Demnach sei der Grundbestand in Jes 6–9; 10–11; 28–32 »basically pro-state« ausgerichtet.43 Eine solche Staatsräson sei auch das Merkmal der neuassyrischen Prophetie des siebten Jahrhunderts unter Asarhaddon (681–669) und Assurbanipal (669–627) gewesen. Doch verschweigt de Jong auch nicht die Differenzen zur Prophetie Mesopotamiens: Zum einen sind dort z.B. Wehesprüche unbekannt, zum andern scheint auch Jesaja eine sehr viel größere öffentliche Rolle gespielt zu haben, als das bei den neuassyrischen Propheten der Fall war. Zudem ist die jesajanische Verkündigung, die durch das Gericht hindurch zur Heilsansage kommt, ebenfalls auf die Erhaltung des Staates ausgerichtet. Wenn Jesaja vor politischen Allianzen mit Ägypten gegen Assur warnt, dann tut er das aus tiefster Sorge um Juda und Jerusalem!

Eine weitere Kernphase der Buchentstehung liegt in exilischer Zeit, die textweltlich mit dem Trostaufruf in 40,1ff. beginnt. Schon häufig ist gesehen worden, dass Kap. 40–48 und Kap. 49–54 zwei zu unterscheidende Entitäten sind. Erstere handelt vom Geschick Israels in Babel, letztere stellt Jerusalem und Zion in den Mittelpunkt. Mit Jes 48 kommen wichtige Themen an ihr Ende, so »Babel und Kyrus« (41,1–5.25; 43,14; 44,24–45,7; 45,13; 46,11; 48,12–16a), die »früheren und späteren/neuen Dinge« (41,21–29; 42,6–9; 43,8–13; 44,6–8; 45,21; 46,8–11; 48,3–8.14–16), die »Fremdgötterpolemik« (40,19–20; 41,6–7; 42,17; 44,9–20; 45,20; 46,1–7; 47,9b–15) und die Aussagen über die »Unvergleichbarkeit JHWHs« (40,12–18.21–31; 41,21–28; 42,14–17; 45,9–13; 46,3–5; 48,1–11). Nach Jes 48 ist von all dem nichts mehr zu hören, was deutlich dafür spricht, dass sich der geschichtliche Kontext vom babylonischen Exil zum nachexilischen Jerusalem verschoben hat. Dafür spricht auch der Befehl in 48,20ff., aus Babel und Chaldäa auszuziehen und sich auf den Weg in die Heimat zu machen. Ein Spezifikum der Kapitel 49–54 (nicht 55 einschließend) betrifft den regelmäßigen Wechsel von Passagen über den Knecht (49,1–13; 50,4–11; 52,13–53,12) und Zion/Jerusalem (49,14–50,3; 51,1–52,12; 54,1–17a). Einen wichtigen Einschnitt markiert 54,17b, wo erstmalig nicht vom Knecht, sondern von den Knechten die Rede ist, was von da an bis zum Ende des Buches durchgehalten wird (56,6; 63,17; 65,8.9.13.14.15; 66,14). Diese Knechte sind die Nachkommen des Knechts (53,10) und zugleich die kostbaren Kinder Zions (54,13).

Die opinio communis, zumindest ein Teil der Kap. 40ff. seien im babylonischen Exil verfasst worden, wurde besonders von Hans Barstad und seiner Schülerin Lena-Sophia Tiemeyer in Frage gestellt.44 Beide votieren für eine Gesamtabfassung im nachexilischen Jerusalem. Aus den akkadischen Lehnworten (u.a. in 40,20; 41,25) könnten keine Schlüsse für eine Verschriftung in Babylon gezogen werden, denn wir Heutigen besäßen mit dem AT nur einen sehr kleinen Teil der einst lebendigen Sprache. Zudem beinhalte das Biblische Hebräisch insgesamt sehr viele Hapaxlegomena. Darüber hinaus seien die meisten, wenn nicht gar alle Texte in 40ff., die von einem Weg durch die Wüste sprechen, metaphorisch zu verstehen. Diese meinten also gar keinen Zug durch die terra intermedia zwischen Babel und Jerusalem.45 Mit Recht betonen beide, dass von einer totalen Verwüstung Judas keine Rede sein könne. So habe es u.a. in Mizpa, Gibea, Bethel und Gibeon Enklaven gegeben, die eine literarische Tätigkeit in Juda durchaus zugelassen hätten. Trotz dieser wichtigen Hinweise ist doch sehr auffällig, dass zentrale Themen wie Babel, Kyrus oder die Fremdgötterpolemik auf Kap. 40–48 beschränkt bleiben und die Perspektive nach 49 eindeutig zu Zion/Jerusalem wechselt. Dass ein Kern von Kap. 40–48 im babylonischen Exil entstanden ist, von exilierten Schreibern (Leviten?) in die Heimat mitgebracht und in Jerusalem fortgeschrieben wurde, bleibt die wahrscheinlichste Annahme, die auch in diesem Lehrbuch vertreten wird.

Die letzte Kernphase liegt in der Zeit der nachexilischen Restauration in der zweiten Hälfte des 5. Jh., in die der Wiederaufbau und die Wiedereinweihung des Tempels (520–515) sowie die national-religiösen Bemühungen unter Esra und Nehemia fallen. Hierzu passt die redaktionsgeschichtliche Mehrheitsmeinung, dass Jes 60–62 den ältesten Kern des letzten Großteils des Jesajabuches bilden. Die Schlagworte »Opfer« (60,7), »Mauern und Tore« (60,10f.18; 62,6), »mein heiliger Ort« ([=Tempel] 60,13; 62,9), »Priester« (61,6) weisen auf eine Zeit hin, in der der Jerusalemer Opferkult wieder in Gang gekommen ist und man erwartet, dass sich die Völkerwelt am Aufbauprojekt mit reichen Gaben beteiligen werde. Zugleich ist die Zukunftsvision des göttlichen Lichts über Zion/Jerusalem eng verbunden mit der Hoffnung auf eine gerechte Ordnung (60,17b.21; 61,1–3.8.10f.; 62,1f.). Um dieses Zentrum legen sich drei sukzessiv entstandene Rahmen, die mit der Ausweitung der Tempel-Bürgergemeinde auf Fremde und Völker (56,1–8; 66,18–24), mit der Trennung zwischen Gerechten und Frevlern (56,9–58,14; 65,1–66,17) und kollektiven Klagen über das bisherige Ausbleiben des göttlichen Heils (59; 63,1–64,11) zu tun haben. Die Inklusion von Gerechten aus den Völkern und die Exklusion von Frevlern aus dem eigenen Volk sind zwei Seiten einer Medaille! Nach Paul Hanson geht diese Spaltung im nachexilischen Israel zwischen Frommen und Frevlern auf prophetisch-eschatologische Gruppen zurück, die einen erbitterten Kampf gegen die priesterliche Tempelaristokratie führten und im Zuge dessen immer stärker an den Rand gedrängt wurden.46 Diese radikale Kontrastierung ist zu schematisch, denn die Trägerkreise im Jesajabuch lehnen Tempel, Opfer und Priesterschaft keineswegs grundsätzlich ab. So stellt Bruce Schramm die entscheidende Frage, wie denn eine tritojesajanische Redaktion so erfolgreich am Gesamtbuch Jesaja mitgearbeitet haben könne, wenn es sich dabei nur um eine marginalisierte Gruppe gehandelt hätte!47

Mit dem Ende der persischen Periode wird auch das Jesajabuch in seinen tragenden Teilkompositionen zum Abschluss gekommen sein, denn vom Aufkommen Alexanders des Großen sind keine eindeutigen Spuren zu entdecken.48 Diese Schlussphase der Genese des Jesajabuches liegt bereits nahe am Ende des Traditionsprozesses der Prophetenbücher überhaupt.49 Da im Lob der Väter (Sir 48f.) neben Jesaja (48,23–25), Jeremia (49,7) und Ezechiel (49,8) auch das Dodekapropheton (49,1050) genannt wird, muss der Kanon der Schriftpropheten um die Mitte bzw. am Ende des 3. Jh. festgestanden haben.

4.Die Texttraditionen des Jesajabuches51

Der massoretische Text, auf den sich die Kommentierung in diesem Lehrbuch bezieht, stützt sich auf den Codex Leningradensis aus dem Jahre 1008/1009 n.Chr.52 Zudem liegt mit dem Aleppo-Codex aus dem Jahre 895 n.Chr. ein ebenfalls äußerst wichtiger hebräischer Textzeuge vor.53 Beide Texte stammen aus dem Hause des Gelehrtengeschlechts Ben Ascher aus Tiberias am See von Genezareth und unterscheiden sich vor allem in Bezug auf die Vokalisierung.

Demgegenüber bieten die beiden Jesajarollen aus Qumran natürlich noch den unvokalisierten Text. Die erste Rolle (1QJesa) aus der Mitte des 2. Jh. v.Chr. hat den gesamten Jesajatext in ausgesprochen hoher Qualität bewahrt. Die zweite Rolle (1QJesb) vom Anfang des 1. Jh. v.Chr. ist dagegen fragmentarischer erhalten geblieben: Sie beginnt mit Jes 7,22, es fehlen aber u.a. Jes 9 und 11 und erst für die zweite Hälfte des Jesajabuches ist sie vollständiger. Obschon sie jünger ist als die erste Rolle, bietet sie einen archaisierenden hebräischen Text, hat schwierige Lesarten bewahrt und steht insgesamt dem massoretischen Text näher.54 Neben diesen beiden Jesajarollen aus der ersten Höhle sind besonders in der vierten (4Q) eine große Anzahl von Jesajafragmenten gefunden worden, die etwa von 100 v.Chr. bis 50 n.Chr. datieren.55 Sie bestätigen das Bild einer reichen Überlieferung, die am Beginn der Zeitenwende noch keinen einheitlichen hebräischen Text des Jesajabuches kannte. Der Konsonantenbestand des späteren mittelalterlichen massoretischen Textes ist in der Gruppe der proto-massoretischen Qumrantexte am stärksten vertreten (so auch 1QJesb). Eine viel kleinere Gruppe bietet eine zum Teil abweichende Orthographie und Morphologie, die anscheinend im Schreibermilieu von Qumran gepflegt wurden (dazu gehört 1 QJesa). Die Jesajafragmente aus 4Q nehmen hier eine Zwischenstellung ein. Es handelt sich aber bei keinem dieser Textzeugen um eine separate, eigenständige Rezension, denn dazu ist der überlieferte Textbestand – trotz aller Differenzen – viel zu einheitlich.

Von den alten Versionen des Jesajabuches ist die der Septuaginta (LXX)56, der griechischen Übersetzung, von besonderer Bedeutung, nicht zuletzt wegen ihrer Rezeption im Neuen Testament. Die hebräische Vorlage der JesLXX wird nicht wesentlich anders gelautet haben als jene des JesMT. Doch die griechische Übersetzung hatte nicht nur das Ziel, gutes Koine-Griechisch zu schreiben und unklare Passagen zu verdeutlichen (was nicht immer gelang, denn manchmal verschlimmbesserte sie den Text), sondern verfolgte auch ein aktualisierendes Interesse, was geschichtliche Umstände, Rechtsbräuche und theologische Ansichten angeht.57 Diese Freiheit der Übersetzung kann Worte, Satzteile und auch ganze Sätze betreffen, was bei manchen Passagen auf ein ganz neues Textverständnis hinausläuft, wie es danach in den Targumim der Fall sein wird. Anders als im hebräischen Text, wo dem Gottesknecht ein Grab bei den frevlerischen Reichen zugeteilt wird, verspricht JHWH in der LXX-Version, die Bösen anstelle des Gerechten dem Tod preiszugeben: »Und ich werde die Bösen anstelle seines Grabes und die Reichen anstelle seines Todes geben« (53,9aLXX). Der griechische Übersetzer präsentiert Gott nicht als gewalttätig gegenüber seinem Knecht, wie dies im hebräischen Text der Fall ist: »JHWH aber hatte es gefallen, ihn zu zermalmen, ließ erkranken« (53,10aMT). Die LXX stellt ihn vielmehr in positivem Licht dar: »Aber der Herr will ihn reinigen von dem Unglücksschlag« (53,10aLXX). In textkritischer Hinsicht kommt JesLXX besonders dann ein großes Gewicht zu, wenn die griechische Lesart mit Bezeugungen aus Qumran gegen JesMT übereinstimmt.58

Der Targum Jonathan stellt die aramäische Wiedergabe der Prophetenbücher dar (gegenüber Targum Onkelos für den Pentateuch). Targumim wurden im Synagogengottesdienst gebraucht, um den vorgetragenen hebräischen Bibeltext dem gewöhnlichen Volk verständlich zu machen. Der Targum Jonathan ist in Palästina entstanden, wurde aber während des vierten oder fünften Jahrhunderts n.Chr. in Babylon einer stark vereinheitlichenden Redaktion unterzogen. Die Datierung des Targums bleibt sehr schwierig. Man kann das Material zwar bis zu einem gewissen Grad der tannaitischen oder amoräischen Periode (vor bzw. nach dem Abschluss der Mischna ca. 200 n.Chr.) zurechnen – was die erste Periode betrifft, sogar einer Zeit vor oder nach dem Bar Kochba Aufstand (135 n.Chr.) – doch lassen sich keine literarhistorischen Schichten abheben. Der Targum stellt eher ein jahrhundertelang gepflegtes jüdisches Ethos dar, als dass es das Schriftprodukt einer historischen Epoche wäre.59 Er vergegenwärtigt die Wirkungsgeschichte Jesajas im frührabbinischen Judentum nach der Verwüstung Jerusalems im Jahre 70 n.Chr. Jesajanische Themen wie Gericht und Heil, Tempelkult und der Gesalbte werden auf ganz eigene Weise interpretiert, um die erlebte und erlittene Geschichte im Lichte des weiterhin gültigen Gotteswortes zu deuten. So stellt z.B. Jes 53Tg eine explizite Identifikation des Knechts mit dem »Messias« her, dem fast alle Leidensaspekte fehlen, auf dem dafür aber die Hoffnung ruht, er werde Israel aus der Unterdrückung der Völker erretten und für die Wiedererrichtung des zerstörten Heiligtums sorgen.

Die syrische Übersetzung, die Peschitta, stammt aus der frühchristlichen syrischen Kirche und wird um rund 300 n.Chr. datiert. Ihre Bedeutung liegt in der Tatsache, dass sie auf einer proto-massoretischen Textform basiert, allerlei Beziehungen zum Targum aufweist und zum Teil rabbinische Erklärungen verarbeitet. Besonders dort, wo sie zusammen mit einer oder mehreren der alten Übersetzungen vom MT abweicht, ist sie textkritisch beachtenswert.

In der lateinischen Übersetzung, der Vulgata (zwischen 391 und 405 in Bethlehem verfasst), folgt Hieronymus grundsätzlich dem MT gegen LXX, weicht aber auch in vielen Fällen davon ab. Das hat mehrere Gründe: die teilweise größere Deutlichkeit der LXX, rabbinische Erklärungen, christliche Interpretationen und alte Handschriften, zu denen er Zugang hatte. Man konsultiert diese Übersetzung des Buches Jesaja (392–393) am besten zusammen mit dem Jesaja-Kommentar des Hieronymus, den er im Jahre 410 vollendete.60

Schlussendlich hat Origenes in seiner Hexapla (ca. 245 n.Chr.) Fragmente aus drei griechischen Übersetzungen aus dem dritten Jahrhundert n.Chr. bewahrt, die für die Textanalyse des Jesajabuches von Bedeutung sind.61 Sie stammen von Theodotion (ca. 100 n.Chr. aus der Schule Hillels), Aquila (ca. 125 n.Chr. aus der Schule Aqibas) und Symmachus (ca. 200 n.Chr. aus der Schule von Jehuda ha-Nasi). Alle drei Übersetzer gehörten also dem Milieu jüdischer Gelehrter an, wobei bei Symmachus auch ein jüdisch-christlicher Einfluss (Ebioniten) spürbar ist. Sie stellten sich auf unterschiedliche Weise die Aufgabe, JesLXX besser an JesMT anzupassen. So versucht Theodotion, der hebräischen Wortfolge möglichst nahe zu kommen, Aquila arbeitet stark ideolektisch (konkordanter Wortschatz), während Symmachus darauf aus ist, die Treue gegenüber dem MT mit gutem Koine-Griechisch zu kombinieren.

5.Aktuelle entstehungsgeschichtliche Modelle

Die Hypothesen, welche die Entstehung des Gesamtbuches zu fassen suchen, lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe vertritt ein Kontinuitätsmodell: Demzufolge habe Deuterojesaja bewusst auf Protojesaja aufgebaut, den ersten Teil redigiert und als Einleitung seinen eigenen Kapiteln vorangestellt. Dies könne man u.a. daran erkennen, wie stark Jes 6 auf 40,1–8 eingewirkt habe. Aus den engen Querbezügen müsse man folgern, dass Deuterojesaja sein eigenes Werk als kongeniale Fortsetzung der jesajanischen Verkündigung angesehen habe bzw. dass er dessen Jerusalemer Worttradition seiner eigenen Predigt vom Ende des babylonischen Exils als Prolegomenon voranstellte.62 Diesen Ansatz von Hugh Williamson führt sein Schüler Jacob Stromberg noch einen Schritt weiter: Tritojesaja habe diese Art der Rezeption und Redaktion von Deuterojesaja fortgesetzt und könne somit als Leser und Redaktor des ganzen Jesajabuches gelten.63 Dies sucht er an Passagen wie 1,27–31; 6,13; 4,2–6; 11,10; 36–39; 48,22; 54,17b nachzuweisen. Da ergänzende Fortschreibungen in der Antike nicht in eine bestehende Schriftrolle eingetragen wurden, habe Tritojesaja seine eigenen Kapitel zusammen mit den Überarbeitungen von Kap. 1–55 bei einer notwendig gewordenen Neuanfertigung der Jesajarolle angefügt.64

Die zweite Gruppe von Forschern favorisiert ein Kombinationsmodell: Danach wäre das Buch durch die redaktionelle Zusammenfügung ehemals relativ unabhängiger Großteile entstanden. Zu den Hauptvertretern dieser Richtung gehören Odil Hannes Steck und Jacques Vermeylen. Letzterer geht von einer protojesajanischen Sammlung aus, die um das Jahr 480 eine vergleichbare Struktur aufwies wie das Ezechiel- und das Jeremiabuch (in der LXX-Fassung): Prophetische Orakel gegen Juda und Jerusalem (Kap. 1–12), Gerichtsworte gegen die Völker (Kap. 13–27) und Verheißungen für das Gottesvolk (Kap. 28–35). Die Kapitel 36–39 seien ein historisches Supplement (vgl. 2 Kön 18–20), das die Sammlung beschlossen habe.65 Für Jes 40–55 geht Vermeylen von einer relativen Geschlossenheit dieser exilisch-nachexilischen Komposition aus, die nach 480 mit der protojesajanischen Sammlung verbunden worden sei. Für den letzten Teil des Jesajabuches verzichtet er auf das Postulat eines Einzelpropheten »Tritojesaja«, sondern geht für diese Kapitel gänzlich von schriftgelehrter Prophetie aus. Der Kern der Aussage von Kap. 60–62 beziehe sich nicht auf den Tempelwiederaufbau, sondern auf die Errichtung der Jerusalemer Stadtmauern (60,10; 62,6), was gut in die Zeit Nehemias passe. Die Bezüge zielten nicht nur auf 40ff. ab, sondern beträfen schon die vorderen Kapitel. So wäre 56,9–62,12 Schritt für Schritt mit Blick auf 1,2–2,5 verfasst worden. Eine großjesajanische Redaktion sei nach der Zeit Nehemias für die jetzt vorliegende Endgestalt des gesamten Buches verantwortlich. In vielzähligen Detailstudien kommt Steck zu analogen Ergebnissen. Auch er hält die tritojesajanischen Kapitel für reine Fortschreibungsprophetie, was bei Kap. 60–62 mit den Rückverweisen auf Jes 40ff. besonders deutlich zu Tage trete. Den Zusammenschluss mit der protojesajanischen Sammlung setzt Steck aber deutlich später als Vermeylen an. Dieser sei erst im Zuge einer sogenannten »Heimkehr-Redaktion« erfolgt (vgl. 11,11–16; 27,[12].13; 62,10–12), in einer frühen Phase der Diadochenkämpfe nach dem Tod Alexanders des Großen (323). Als Brückentext zwischen den beiden Großteilen sei Jes 35 eigens für die Gesamtrolle verfasst worden.66 In der Zeit der Konsolidierung unter den Ptolemäern (ca. 270) seien noch kleinere Ergänzungen eingefügt worden, die jedoch nicht mehr strukturbildend gewirkt hätten (vgl. 19,18–25; 25,6–8).

Die diachrone Gesamthypothese von Ulrich Berges67 zielt in die gleiche Richtung, doch versteht er bereits Jes 33 als ersten Brückentext. Dabei kann er auf die Untersuchung von Willem Beuken zurückgreifen, der dieses Kapitel als »Spiegeltext« bezeichnet, in dem sich das ganze Buch wie in einem Prisma spiegelt. Einschränkend ist zu sagen, dass die Verweise zu den nachfolgenden Kapiteln deutlich geringer ausfallen als die zu den vorangegangenen.68 Für Steck ist Jes 35 der Text schlechthin, der die Brücke zwischen den beiden Großteilen des Buches schlägt.69 Das Kapitel erfülle zweierlei Aufgaben: Zum einen stelle es mit der hellen Zukunft für Zion ein Gegenbild zur dunklen Vernichtungsszene gegen Edom in Jes 34 dar, zum anderen verweise es deutlich auf die Heilsverkündigung ab Jes 40ff.

Die Brückentexte in Jes 33 und 35 sind kompositionstechnisch aber nur dann sinnvoll, wenn die Hiskija-Sanherib-Erzählungen in Jes 36–39 – wie auch immer ihr Verhältnis zu 2 Kön 18–20 zu bestimmen ist – noch nicht in die Mitte der Jesajarolle eingestellt worden waren. Wäre es anders gewesen, hätte man die Brückentexte doch eher hinter Jes 36–39 platziert!

Das Interesse an Jes 36–39 für die Gesamtanlage des Jesajabuches geht besonders auf Peter Ackroyd zurück. Demnach weist die Erzählung der babylonischen Delegation am Ende der Berichte über Krankheit und Heilung von König Hiskija auf die Exilsgeschehnisse voraus, die den Hintergrund von 40ff. bilden.70 Die Auslassung der Notiz über die Tributzahlung, durch die der König sich, seine Familie und ganz Jerusalem vor den Truppen Sanheribs rettete (2 Kön 18,14–16), und die Einfügung des Hiskija-Psalms (Jes 38,9–20) werden auf das Konto derer gehen, die diese Kapitel in die Mitte der Jesajarolle einstellten. Offenbar wollte man alle Traditionen, die Jesaja betrafen, in einer Rolle zusammenfassen. Dies war der letzte Schritt, durch den Jesaja zum Mahner, Heiler und Visionär wurde, dem nichts mehr am Herzen lag als das Heil und die Rettung der Frommen auf dem Zion.

6.Aktuelle Modelle der Endtextlesung

Die ersten Versuche einer Gesamtbetrachtung kamen aus der englischsprachigen Exegese. So setzte William Brownlee in Weiterführung der Arbeit von Leon Liebreich bei der Beobachtung an, dass es in der großen Jesajarolle von Qumran (1QJesa) eine deutliche Zäsur zwischen Jes 33 und 34 gibt. Die Plene-Schreibung nimmt ab Kapitel 34 zu, wobei der Schreiber identisch geblieben ist, was sich aus dem homogen bleibenden Schriftbild ergibt.71 Daraus zieht Brownlee die Schlussfolgerung einer zweiteiligen Komposition der Kapitel 1–33 und 34–66, die aus jeweils sieben Sektionen bestehe. Das Generalthema sei die Dialektik zwischen »ruin and future blessedness«72, die schon im Kontrast von 1,24–25 und 1,26–27 präfiguriert sei. Dagegen bleibt kritisch anzumerken, dass wichtige Themen des Buches hier noch nicht angesprochen sind, wie z.B. die Fremdgötterpolemik der Kapitel 40–48. Auch sieht Brownlee selbst, dass der »Knecht« in der zweiten Hälfte kein Pendant in der ersten habe.73 Eine zweiteilige Gesamtstruktur nimmt auch Marvin Sweeney in seinem Kommentar zu Jes 1–39 an. Danach kündige die erste Hälfte das Gericht und die nachfolgende Restauration an, während die zweite betone, das Gericht sei beendet und der Wiederaufbau könne beginnen.74

Trotz aller Divergenzen in Bezug auf die entstehungsgeschichtlichen Stufen besteht Einigkeit darüber, dass das Großjesajabuch nicht einfach die Summe disparater Einzelteile ist, sondern eine dynamische Komposition darstellt. Dabei ist mit Jes 39 ein deutlicher Einschnitt gegeben, denn danach tritt der Prophet als Akteur nicht mehr in Erscheinung. Doch greift ein einfaches Blocksystem in der Form von Kap. 1–39//40–66 (oder alternativ Kap. 1–33//34–66) zu kurz. Beide Hälften umfassen allzu unterschiedliches Material, als dass sie jeweils als eine Auslegungseinheit gelten könnten. Beide Hälften bestehen aus Teilkompositionen, die zusammengenommen ein literarisches Drama bilden.75 Dieses lässt sich in Akte und Szenen einteilen, was keinem modernen Rezeptionsempfinden geschuldet ist, sondern durch Textsignale gestützt wird. So fällt etwa die Abschlussfunktion von Jes 12 für die ersten zwölf Kapitel ins Auge.76 Dieser hymnische Text beschließt die erste Teilkomposition, in der viele zentrale Themen des Jesajabuches bereits anklingen. Die Verfasser des vorliegenden Studienbuches vertreten die Ansicht, dass die unterschiedlichen Teilkompositionen einerseits aufeinander aufbauen, andererseits aber eigene Entwicklungen durchlaufen haben. Für großflächige endredaktionelle Bearbeitungen, die den gesamten Textbestand vereinheitlicht hätten, gibt es keine Anzeichen, wohl aber für punktuelle Verknüpfungen über die Grenzen der einzelnen Teilkompositionen hinweg (so u.a. 1,31 und 66,24). Für die nachfolgende Auslegung bedeutet dies, dass die jeweiligen Akte zuerst für sich als selbstständige Einheiten analysiert werden. Darüber hinaus werden die intratextuellen Verbindungen ins Jesajabuch und die intertextuellen Bezüge zu anderen alttestamentlichen Schriften mitbedacht. Eine Aufarbeitung und Gewichtung aller schriftgelehrten Bezüge des Jesajabuches steht noch aus und könnte nur durch mehrere Monographien geleistet werden. Das Problem besteht nicht etwa in einer zu geringen Zahl an Querverbindungen, sondern an ihrer unübersichtlichen Fülle. Dies bringt Gerald T. Sheppard so auf den Punkt: »Our problem is no longer that there are so few obvious connections between parts of the book, but there are so many and they seem so independent and disparately related«.77

Insofern im Folgenden von »Akten« und »Szenen« die Rede ist, will diese Begrifflichkeit das voranschreitende Geschehen andeuten, das dem Jesajabuch zu eigen ist. Es geht also nicht um ein Theaterdrama, das in Jerusalem im fünften oder vierten Jahrhundert zur Aufführung gekommen wäre.78 Für eine solche Praxis fehlt im Antiken Israel jeder Beleg. Es geht im Jesajabuch um ein literarisches Drama. Wer die Schrift zur Gänze liest bzw. hört, der wird Zeuge eines dramatischen Geschehens, in welchem Zion/Jerusalem vom Ort des Gerichts zum Ort des Heils für alle Gerechten in Israel und aus den Völkern wird. Dies ist die »story«, der »plot«, den der Handlungsablauf in Szene setzt und der sich nicht auf einer Bühne, sondern in der Vorstellung, der Imagination der Leser und Hörer ereignet. Was Helmut Utzschneider für das Michabuch aufgezeigt hat, gilt auch für das Jesajabuch: »In Anlehnung an die Theatersprache bezeichnen wir solche durch einen Plot bedingte Großeinheiten als Akte, wenn und insofern sie erkennbar Teile eines noch größeren Ganzen, eben des dramatischen Textes eines bestimmten Prophetenbuches oder eines Teiles desselben sind«.79 Für das Jesajabuch gehen die Verfasser dieses Lehrbuches von sieben Teilen, d.h. Teilkompositionen aus, die sich ihrerseits in »Akte« und »Szenen« einteilen lassen.80 Dem Ansatz einer »diachron reflektierten Synchronie« folgend und gemäß den obigen Ausführungen zu einigen Modellen der Entstehungsgeschichte ist es selbstredend, dass die Einteilung in Akte und Szenen keine einheitliche Genese unterstellt. Die Einschätzung von Helmut Utzschneider trifft erneut auch für das Jesajabuch zu: »Wir wollen durch unsere am Endtext orientierte Auslegung auch nicht unterstellen, dass das Michabuch keine literarische Vorgeschichte gehabt hat […] Gewiss hat es – wie in allen anderen prophetischen Büchern des AT – auch hier Fortschreibungen und Redaktionen gegeben. Wir aber sind der Meinung, dass sich die Autoren und Redaktoren, die mutmaßlich zu verschiedenen Zeiten zur Entstehung des vorliegenden Michabuches beigetragen haben, des dramatischen Charakters und Stils ihrer jeweiligen Textvorlage (also der literarischen Vorstufen des Michabuches) stets bewusst waren und diese unter der gleichen Stilvorgabe fortgeschrieben haben.«81

Für das Jesajabuch wird nun die folgende Einteilung vorgeschlagen. Die Einzelauslegungen werden sich an diesem Aufbau orientieren und ihn weiter erläutern.

I. Teil 1–12

Zion zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Überschrift 1,1

Vision und Königszeit

I. Akt 1–4

Zweifache Ouvertüre: Aussicht auf Zions Verwandlung

I. Szene 1,2–2,5

Vom Gericht über Israels Bluttaten zu JHWHS Tora für die Völker

II. Szene 2,6–4,6

Vom Gericht gegen jeden Hochmut zu JHWHS Schutz auf Zion

II. Akt 5,1–10,4

Die Immanuelschrift in einem mehrfachen Rahmen

Prolog mit Anh. 5

Der Weinberg des Freundes / Wehe und Zorn gegen die Gottlosen

I. Szene 6

Jesaja berufen von JHWH als König und Israels Verstockung

II. Szene 7

Das nicht erbetene Zeichen: »Gott mit uns«

III. Szene 8,1–18

Die Weisung versiegelt unter Jesajas Jüngern

Epilog mit Anh. 8,19–10,4

Geburt des gerechten Davidssohnes / Zorn gegen Efraim und Wehe den Frevlern

III. Akt 10,5–11,16

Doppelbild konträrer Herrscherprofile

I. Szene 10,5–34

Wehe dem Hochmut Assurs

II. Szene 11,1–16

JHWHS Geist für das Reis Isais

Loblied 12

Loblied der in Hoffnung Erlösten

II. Teil 13–27

Untergang aller Tyranneien gegenüber JHWH, dem König auf Zion

I. Akt 13–23

Zehn Völkersprüche: das Gericht über irdische Mächte

I. Szene 13–19

Erste Reihe Völkersprüche

II. Szene 20,1–6

Prophetische Zeichenhandlung

III. Szene 21–23

Zweite Reihe Völkersprüche

II. Akt 24–27

JHWHS Gerechtigkeit schafft Ordnung im Chaos der Völker

I. Szene 24–25

Weltgericht und JHWHS Königsherrschaft auf Zion

II. Szene 26

Das Lied vom Vertrauen der gerechten Nation in JHWHS Stadt

III. Szene 27

Die Sammlung der Vertriebenen zur Anbetung JHWHS auf dem heiligen Berg

III. Teil 28–35

Die Durchsetzung der Königsherrschaft Jhwhs auf Zion

I. Akt 28–33

Sechs Weherufe gegen die Übeltäter in Zion

I. Szene 28

Wehe den Betrunkenen Efraims und den Herrschern Jerusalems

II. Szene 29,1–14

Wehe Ariel, Ortschaft, wo David lagerte

III. Szene 29,15–24

Wehe denen, die einen Plan vor JHWH verbergen

IV. Szene 30

Wehe den widerspenstigen Kindern

V. Szene 31

Wehe denen, die Hilfe suchend nach Ägypten ziehen

VI. Szene 32