Das Café in Roscarbury Hall - Ann O'Loughlin - E-Book

Das Café in Roscarbury Hall E-Book

Ann O'Loughlin

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Beschreibung

Die Schwestern Ella und Roberta O'Callaghan wohnen bereits ihr ganzes Leben in dem irischen Herrenhaus Roscarbury Hall. Allerdings haben die zwei alten Damen seit einem Streit vor vielen Jahren kein Wort mehr gewechselt und kommunizieren nur mit Hilfe kleiner Zettel miteinander. So erfährt Roberta auch von Ellas Plan, im Ballsaal ihres maroden Anwesens ein Café zu eröffnen. Denn ohne Einnahmequelle droht die Bank, den beiden ihr Zuhause wegzunehmen. Als Aushilfe engagiert Ella die junge Debbie, eine Amerikanerin, die in Irland nach Spuren ihrer leiblichen Mutter sucht und dabei auf ein dunkles Kapitel irischer Geschichte stößt. Auch Ella und Roberta müssen sich ihrer Vergangenheit stellen – und vielleicht verbindet sie ja mehr mit Debbie als eine reine Zufallsbekanntschaft ...

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Buch

Die Schwestern Ella und Roberta O’Callaghan leben in getrennten Flügeln ihres langsam verfallenden irischen Herrenhauses Roscarbury Hall. Seit Jahren haben die beiden alten Damen kein Wort mehr miteinander gewechselt und kommunizieren nur über kleine Zettel, die sie auf einem Tisch in der Diele ablegen. Als die Bank aufgrund ihrer Schulden droht, ihnen ihr Zuhause wegzunehmen, beschließt Ella zu handeln: Sie eröffnet im einstigen Ballsaal von Roscarbury Hall ein Café. Roberta ist entsetzt, doch Ella bleibt eisern. Spontan engagiert sie Debbie, eine junge Amerikanerin, die gerade in den Ort gekommen ist, als Aushilfe. Debbie sucht in Irland nach Hinweisen auf ihre leibliche Mutter, da sie kürzlich erfahren hatte, dass sie adoptiert wurde. Ihre Nachforschungen führen sie zu einem Kloster, wo man sie zunächst durch eisiges Schweigen, dann durch Lügen loswerden will. Während Debbie weiter nach ihren Wurzeln forscht, müssen sich auch Ella und Roberta ihrer Vergangenheit stellen – und vielleicht verbindet sie ja mehr mit Debbie als eine reine Zufallsbekanntschaft …

Autorin

Die Irin Ann O’Loughlin hat fast dreißig Jahre als Journalistin gearbeitet, in dieser Zeit berichtete sie über alle wichtigen Ereignisse und war zudem während der Unruhen in Irland als Sicherheitskorrespondentin tätig. Sie schrieb unter anderem für den Irish Independent sowie den Evening Herald und arbeitet derzeit für den Irish Examiner. Ann O’Loughlin hat für einige Zeit in Indien gelebt und gearbeitet, stammt aber aus dem Westen Irlands und wohnt heute mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern an der Ostküste der Insel.

Weitere Informationen zur Autorin finden Sie unter http://annoloughlin.blogspot.com

ANN O’LOUGHLIN

Das Caféin Roscarbury Hall

Roman

Aus dem Englischenvon Sarah Fuhrmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel»The Ballroom Café«bei Black & White Publishing Ltd, Edinburgh.
Copyright © der Originalausgabe2015 by Ann O’LoughlinCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenCovermotiv: © Jitka Saniova / Trevillion ImagesSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-18719-4V003www.goldmann-verlag.de
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Für John, Roshan und Zia … mein Universum

- 1 -

Rathsorney, County Wicklow, März 2008

»Ihnen bleiben noch vier Wochen, Miss O’Callaghan. So, wie die Dinge nun liegen, wollen die Chefs in Dublin sehen, dass Sie sich bemühen, den Kredit zurückzuzahlen. Andernfalls müssen wir Maßnahmen ergreifen, um unser Geld zurückzubekommen.«

Bankdirektor Peter O’Doherty lehnte sich auf seinem Drehstuhl zurück. Ella O’Callaghan hob den Kopf gerade weit genug, um ihm direkt in die Augen schauen zu können, und sprach langsam und bestimmt.

»Was schlagen Sie vor, Mr O’Doherty: dass ich mich prostituiere?«

»Miss O’Callaghan, es gibt keinen Grund, sich so aufzuführen.«

»Es gibt keinen Grund, mir anzudrohen, mich aus meinem Haus zu drängen. Das werde ich nicht zulassen. Roscarbury Hall ist mein Leben. Ich werde es mir von Ihnen nicht wegnehmen lassen.«

»Vielleicht gibt es etwas, das Sie verkaufen können, um Geld aufzutreiben?«

»So etwas wie meine umfangreiche Juwelensammlung, meinen Sie wohl.«

Peter O’Doherty, der ungeduldig mit seinem Schlüsselbund gespielt hatte, sprang auf. »Gehen Sie nach Hause, denken Sie darüber nach. Und kommen Sie nächste Woche mit irgendeinem Plan zur Rückzahlung wieder.«

Er streckte Ella die Hand hin, aber sie ignorierte es. »In meinem gesamten gottesfürchtigen Leben habe ich mich nie so gedemütigt gefühlt. Eher sterbe ich, als aus Roscarbury Hall auszuziehen.«

Falls O’Doherty vorgehabt hatte zu antworten, ließ sie ihm keine Gelegenheit dazu. Sie stürmte aus seinem Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Was wusste er schon von Roscarbury Hall? Er hatte keine Ahnung davon, wie das alte Haus ihnen in schlechten Zeiten Zuflucht bot, dass es der einzige Ort war, an dem sie sich sicher fühlte. Im Winter war es in den Wohnräumen so kalt, dass man seinen Atem sehen konnte, die Treppe zum Dachboden knarrte schrecklich, und der Wind rüttelte ständig an den Fensterläden. Die Landschaft in Richtung See war hügelig, weshalb es für den Bauern Sheehy unmöglich war, richtig mit seiner Mähmaschine darüberzufahren. Die Bächlein, die sich überall durch die Wiesen schlängelten, verschlammten jedes Jahr, wenn im Frühling die Kirschblüten hineingeweht wurden und im Herbst das Laub der alten Eichen und Kastanienbäume.

Roscarbury lebte für träge Sommertage, wenn die warme Luft im Haus hing und man vor der offenen Hintertür die Hühner verjagen musste. Dann wurde Ella jeden Morgen von Staren geweckt, die sich zwitschernd auf der schiefen Fernsehantenne am vorderen Schornstein versammelten. Die Krähen und Tauben in den Tannen verschmutzten immer die Steinplatten rund um den Springbrunnen, und sie musste sie einmal im Monat abschrubben. Der verwilderte Garten lieferte während der Sommermonate Obst für jede Menge Torten, und in Hitzeperioden gab es saftige Birnen. Ella würde Roscarbury niemals verlassen können: Der Hauch der Vergangenheit, der über dem alten Haus lag, beruhigte sie.

Peter O’Doherty wäre das alles egal, wenn sie es ihm erzählte. Für ihn waren Ella O’Callaghan und ihr baufälliges Haus nur ein kleines, unbedeutendes Ärgernis an einem arbeitsreichen Tag.

*

Roberta O’Callaghan nippte an einem trockenen Sherry und sah aus dem Fenster, als sie Ella auf das Haus zukommen sah. Dass ihre Schwester aufgewühlt war, erkannte sie schon an ihrem Gang. Ellas Schritte waren ein kleines bisschen länger als sonst, schwerer und entschlossener. Außerdem hielt sie sich nicht damit auf, am Springbrunnen zu verweilen, wie sie es normalerweise tat, um sich an bessere Zeiten zu erinnern, als hier noch Wasser gesprudelt hatte und weiter in die Bächlein im Garten geströmt war.

Die Hintertür wurde eilig aufgestoßen, man hörte Geschirr klappern und das Rauschen von Leitungswasser, das in den Teekessel gefüllt wurde. All das wies auf Ellas große Unruhe hin. Roberta schob den Flachmann mit Sherry in ihre dunkelbraune Lederhandtasche und ließ den Verschluss zuschnappen. Mit einem tiefen Seufzen erhob sie sich aus dem Samtsessel und versteckte ihr Glas hinter dem alten Atlas im dritten Fach des Bücherregals aus Mahagoni. Ella lärmte in der Küche herum, Schranktüren schlugen zu, Kochtöpfe wurden auf den Herd geknallt. Sie zog sich immer in die Küche zurück, wenn sie aufgewühlt war, und lenkte sich mit Backen von ihren Sorgen ab. Oft holte sie einen Kuchen aus dem Ofen und warf ihn direkt in den Mülleimer.

Das erste Mal hatte sie in der Nacht, als ihre Eltern gestorben waren, in der Küche Trost gesucht. Auf dem Heimweg von einem Chorkonzert hatte John O’Callaghan in seinem Wagen keine Chance gehabt zu reagieren, als ihm Sean McCarthy entgegenkam, der mit dem Traktor ohne jede Beleuchtung vom Pub nach Hause fuhr. Alle drei starben bei diesem tragischen Unfall, von dem in Rathsorney alle sprachen.

In der ersten Zeit waren Ella und Roberta von vielen Menschen umgeben, aber nach drei Wochen waren die Mädchen allein in dem großen leeren Haus zurückgeblieben. Ohne ihren Vater fehlte nun auch sein Einkommen als Rechtsanwalt. John O’Callaghan hatte für seine Töchter nicht vorgesorgt. Er war viel zu beschäftigt damit gewesen, sich um Roscarbury Hall zu kümmern und samstagnachmittags sein Geld bei Pferdewetten zu verschleudern.

Ella hatte keine Zeit darauf verschwendet, sich über die unverantwortliche Haltung ihres Vaters zu ärgern, sondern hatte sich mit ihrer neuen Lage und den geringen finanziellen Mitteln arrangiert. Sie machte sich daran, so viel Geld wie möglich hereinzubringen, um Roscarbury Hall zu halten. Sie backte Kuchen für die Geschäfte in Rathsorney und nahm Bügelarbeiten an, um die Rechnungen bezahlen zu können. Roberta kümmerte sich weiterhin, so gut sie konnte, um die Arbeiten draußen. Sie entwickelten eine tägliche Routine, erledigten ihre Aufgaben und zogen regelmäßig mit zwei großen Taschen los, um Brot und Kuchen zu verteilen und die nötigen Einkäufe zu erledigen. Sie bewegten sich nicht weit von Rathsorney weg, aber manchmal halfen sie im Kaufhaus von Arklow aus oder im örtlichen Eisenwarenladen, wenn an Wochenenden viel los war.

Als die Pumpe des Springbrunnens kaputt ging, war kein Geld da, um sie zu reparieren. Als der Garten gepflegt und die Pflanzen beschnitten werden mussten, kümmerten sie sich erst darum, als es unausweichlich wurde. Als Regenwasser in die Zimmer unter dem Dach tropfte, weil Ziegel herabgerutscht waren, holten sie Hegarty, einen Bauern im Ort, der seine Ausziehleiter mitbrachte und vorsichtig auf das Dach kletterte, um die Ziegel wieder zu befestigen. Als diese Aufgabe für den Heimwerker zu groß wurde, hatte Ella es geschafft, bei einem mitfühlenden Bankdirektor einen Kredit zu organisieren.

Roberta hatte den Lärm aus der Küche satt und ging Richtung Schlafzimmer. Bevor sie die Treppe hinaufstieg, blieb sie im Flur stehen und las die Nachricht, die Ella ihr hingelegt hatte.

Gerry sagt, dass er uns etwas früher zum Gottesdienst um 10 abholt. Sei bereit, damit wir nicht wegen dir zu spät dran sind. E.

Unten in der Küche wartete Ella, bis sie das Klappern von Robertas Gehstock auf dem oberen Treppenabsatz hörte, dann rief sie ihre Cousine Iris an.

»Ich brauche deine Hilfe. Ich glaube, ich habe einen guten Plan. Es geht darum, Geld für Roscarbury aufzubringen. Ich glaube, du wirst ihn gut finden.«

»Spuck’s aus, Mädchen, Herrgott noch mal.«

»Nein, jetzt habe ich keine Zeit. Beim Gottesdienst um zehn Uhr morgen früh.«

Sie legte auf, bevor Iris protestieren konnte.

*

Am nächsten Morgen wählte Ella den blauen ausgestellten Mantel für den Gottesdienst, der einen passenden Hintergrund für ihre Lieblingsbrosche abgab. Neun blaue Kristallperlen in einer einfachen kreisförmigen Fassung. Ihre Mutter hatte dieses Schmuckstück nur zu besonderen Gelegenheiten getragen. Es war einzigartig, hatte sie ihrer Tochter erzählt, und Ella hatte ihr geglaubt. Vorsichtig befestigte sie die Brosche am linken Aufschlag, stellte sich vor den Spiegel und strich den Mantel glatt. Als ob sich heute noch irgendjemand für sie interessierte, dachte sie.

Gerry O’Hare rumpelte mit seinem Mercedes die Zufahrt hinauf. Sie sah zu, wie er seinen riesigen Körper aus dem Fahrersitz manövrierte, eine Zigarette im Mundwinkel. Er lehnte sich an den Springbrunnen, rauchte in Ruhe und wartete auf die O’Callaghan-Schwestern.

Roberta stand schon im hinteren Hausflur. Sie trug ihren schwarzen Mantel mit Pelzbesatz an Ärmeln und Kragen. Ihre große graue Handtasche und ihre Handschuhe hatten dieselbe Patina wie ihre Schuhe. Die Schwestern musterten einander wortlos.

»Guten Morgen, Mädels. Wie geht’s uns heute Morgen?« Gerry O’Hare holte die Schwestern jeden Sonntag ab, um sie zum Gottesdienst zu bringen und wieder zurück. Er tat das aus Freundlichkeit, auch wenn das Weihnachtspaket von den O’Callaghans stets überaus großzügig war. Ella und Roberta nahmen sein albernes Getue hin und freuten sich manchmal sogar auf seine unbeholfenen Flirtversuche.

In der Kirche drängte sich Iris auf den Platz neben ihnen.

»Du hast mich zum Gottesdienst bestellt«, raunte sie. »Was willst du?«

Ella schaute weiter geradeaus.

»Komm nachher mit zu uns nach Hause, dann reden wir darüber.«

»Kannst du nicht jetzt mit der Sprache rausrücken?«

Ella saß stocksteif auf ihrem Platz. »Zuerst der Gottesdienst, dann reden.«

Iris stöhnte. Sie weigerte sich aufzustehen, als der Priester zum Altar trat, und zappelte während des Gottesdienstes so herum, dass Ella ihr den Ellbogen in die Rippen stieß.

»Also, fährst du in unserem Taxi mit zu uns?«, fragte Ella am Ende der Messe.

»Ich werde keinen Fuß in ein Fahrzeug setzen, das Gerry O’Hare gehört. Dieser Mensch ist kein Freund, wenn er meinem Ehemann bei einem Pint seine Lebensweisheiten aufdrängt. Schließlich war er es, der meinem wunderbaren Gatten geraten hat, mit Zähnen und Klauen um mein gesamtes Hab und Gut zu kämpfen. Das ist kein Taxifahrer, sondern ein selbst ernannter Scheidungsexperte.«

»Dann musst du wohl zu Fuß gehen.«

»Kein Problem. Ich werde kaum langsamer als diese Schnarchnase sein. Ist das eigentlich ein Traktor, mit dem er da fährt?«

Nachdem der Mercedes bei der Hintertür von Roscarbury Hall angehalten hatte, marschierte Roberta geradewegs zu dem kleinen Tisch im Flur und klatschte geräuschvoll einen Zettel darauf.

Ich weiß, dass du etwas im Schilde führst. Ich werde keinem deiner dummen Pläne zustimmen. R.

Iris war schnell und traf nur zehn Minuten später ein. Sie war etwas außer Atem, als sie an der Hintertür ankam.

»Komm rüber zu mir«, rief Ella ihr aus dem Garten zu.

Der Garten war von einer Mauer umgeben und über den Hof zu erreichen. Ella hatte sich grobe Schuhe angezogen und einen alten Hut aufgesetzt. Ihr Haar quoll in losen Locken unter dem Samthut hervor und verlieh ihrem Gesicht ein fast jugendliches Aussehen. Die Gartenwege waren überwuchert und nur an wenigen Stellen noch zu erkennen. Wo einmal Beete mit Karotten und Zwiebeln gewesen waren, wuchs jetzt Unkraut. Gestrüpp und Nesseln wetteiferten darum, das Beste aus dem Boden herauszuholen, der einst preisgekröntes Gemüse hervorgebracht hatte.

»Ich werde ein Café eröffnen«, erklärte Ella, als Iris bei ihr angelangt war. »Diese Stelle liegt den ganzen Tag in der Sonne. Meinst du, wir könnten hier Ordnung schaffen und ein paar Tische aufstellen?«

Iris schüttelte den Kopf. »Zu viel Arbeit. Es wäre besser, auf der anderen Seite den Springbrunnen zu reparieren und die Tische vor dem Haus aufzustellen. Wir müssen nur den Rasen mähen und die Hecken schneiden. Die Rhododendren und Azaleen dort werden bald blühen. Lässt das alte Haus viel hübscher aussehen.«

Sie gingen Seite an Seite an den halb verfallenen Gebäuden vorbei und an der Scheune, die leer und verlassen dastand.

Als sie in die Küche traten, nickte Roberta Iris zu. Sie ließ sich Zeit dabei, ihren Tee aufzubrühen, damit sie lauschen konnte, bevor sie die Küche verließ. Auf dem Weg durch den Flur ließ sie einen weiteren Zettel auf den Tisch fallen.

Nicht dass ich glaube, aus deinen wirren Plänen könnte jemals etwas werden, jedenfalls bekommst du meine Erlaubnis, die Leute durch ganz Roscarbury Hall trampeln zu lassen, bestimmt nicht. Iris verbringt zu viel Zeit hier. R.

»Warum fängst du nicht klein an?«, sagte Iris. »Nur ein paar Tische. Es gibt einfache Klapptische, die man aus dem Katalog bestellen kann. Mit einem schicken Tischtuch darüber wird das niemand merken.« Iris lehnte sich mit verschränkten Armen an die Spüle.

»Aber wo soll ich sie hinstellen? Vor dem Haus ist es morgens ein bisschen kalt.«

Iris verließ die Küche und ging durch den Flur. Ella folgte ihr, schnappte sich den Zettel vom Flurtisch und warf im Gehen einen Blick darauf. Iris öffnete die Tür zum Salon und stürmte hinein.

»Ist das nicht erst einmal perfekt? Wir stellen einfach ein paar Tische in die Mitte.«

»Und wo ist dann unser Wohnzimmer?«

»Ella O’Callaghan, du hast nicht viel Zeit, und wir haben keine bessere Idee. Ihr benutzt das Zimmer noch nicht einmal. Wir müssen nur die Möbel umstellen. Lass es uns ausprobieren.«

»Aber wer wird schon kommen? Es ist eine blöde Idee.« Ella knüllte den Zettel zu einer festen Kugel zusammen und schob sie tief in die Hosentasche.

Iris legte ihrer Cousine einen Arm um die Schultern. »Glaub mir, all die Idioten, die morgens zum Gottesdienst gehen, werden sich vor Begeisterung überschlagen, wenn sie dein bestes Porzellan begutachten dürfen.«

Ella ging zum Fenster und blickte hinaus. »Ich glaube nicht, dass ich das tun kann, Iris. Roberta wird einen Wutanfall bekommen.«

»Wen interessiert es schon, was Roberta denkt? Du bist diejenige, die alle zwei Wochen einen Termin beim Bankdirektor hat.«

Ella antwortete nicht. Reif lag auf den Sträuchern, ein Rotkehlchen flog tief auf der Suche nach Raupen, irgendwo in der Ferne hörte man ein Kind rufen. Eine Ratte huschte am Springbrunnen vorbei. Ella musste nicht draußen sein, um zu wissen, dass das Sonnenlicht des späten Vormittags auf die oberen Fenster fiel, sodass sie golden glänzten.

»Bestimmt wird niemand kommen«, sagte sie und sah sich in dem ungemütlichen, muffigen Zimmer um. Die Stühle hatten hohe Rückenlehnen, der Kronleuchter war zu groß für den Raum und wirkte deplaziert. Der Schreibtisch am Fenster war unaufgeräumt und staubig. Jemand hatte einen Stapel Briefe auf das Fensterbrett gelegt, wo sie mit der Zeit vergilbt waren. »Das Haus sieht von außen schrecklich aus, und drinnen ist es nicht besser.«

»Und deshalb werden wir es ›Das alte Café‹ nennen?«

Ella lachte laut auf. »Du meinst wohl ›Das alte und staubige Café‹.«

»Genau das macht doch seinen Charme aus«, sagte Iris und schob den großen grünen Samtsessel näher zum Kamin.

»Hier ist alles voller Spinnweben, und den Kronleuchter muss man gründlich abstauben. Und wie machen wir das mit der Eingangstür?«

Iris stemmte die Hände in die Hüften. »Du suchst nach Ausreden, Ella. Wir werden die seitlichen Glastüren benutzen.«

»Ich könnte es einfach nicht ertragen, mich wieder zum Gespött der Leute zu machen. Das ist in der Vergangenheit zu oft passiert.« Eine Träne lief über Ellas Wange.

»Ella, die Leute haben immer viel Anteilnahme gezeigt, aber die O’Callaghans waren nie Zielscheibe des Gespötts.«

»Ich werde einfach nicht gern unter die Lupe genommen.«

»Dann finde etwas, was du verkaufen kannst, Ella.«

Ella ließ sich schwer auf das Sofa sinken, und das alte Leder krachte.

»Das hier ist nur ein Wohnhaus, Iris, und niemand interessiert sich dafür. Es ist das Zuhause von zwei alten Schachteln, die einander nichts zu sagen haben, in einem Haus, das vielleicht zu viel Geschichte hat. Ich bin es leid, mich gegen Türen zu stemmen, die niemals aufgehen. Roberta trinkt immer mehr, ich finde überall versteckte Flaschen. Wenn sie das Geld, das sie für ihren Sherry ausgibt, sparen würde, dann könnten wir diese Krise vielleicht durchstehen.«

Iris setzte sich neben sie. »Wann hat Roberta je an jemand anderen als sich selbst gedacht? Zusammen können wir es schaffen.«

Ella nahm ihre Hand und drückte sie fest. »Ich hoffe, du hast recht, Iris, denn so wie es aussieht, gibt es kaum einen Markt für all diese Antiquitäten hier, und wenn etwas verkauft werden muss, dann ist es das ganze Haus.«

»Lass uns darüber nicht nachdenken. Wir tun, was wir können. Ich werde Muriel bitten, allen von dem Café zu erzählen und von der großen Eröffnung am Mittwoch um Viertel nach neun. Wir werden allerdings mehr als vier Tische brauchen, wenn Muriel beteiligt ist.«

»Vier Tische reichen, um erst einmal die Lage zu sondieren«, sagte Ella und ging zur Anrichte, wo sie ihr gutes Porzellan aufbewahrte.

- 2 -

Es war ein kalter, feuchter Morgen. Ein Bus rutschte die Main Street entlang und schlingerte in den Kurven, das Brummen des Motors hing in der Luft. Der Milchmann stellte klirrend Flaschen auf die Türschwellen, und der streunende Hund, der sich in einem Hauseingang verkrochen hatte, streckte genüsslich die Vorderpfoten, bevor er sich ausführlich zu kratzen begann.

Pat McCarthy nahm eine verpackte Zeitung von dem Stapel vor seiner Eingangstür und nickte der Fremden, die in diesem Moment vorbeiging, freundlich zu. Sie hatte den Kopf gesenkt und die Hände tief in den Taschen vergraben. Während er die Plastikfolie von seiner Irish Times löste, sah er zu, wie sie über die Straße huschte, rasch in beide Richtungen schaute und dann vor Rahillys Eisenwarenladen stehen blieb. Sie zog ihren Mantel enger und schien soeben eine Entscheidung getroffen zu haben. Nun straffte sie die Schultern und setzte ihren Weg schnelleren Schrittes fort, ging die Arklow Road entlang, die aus Rathsorney herausführte. McCarthy murmelte etwas vor sich hin und warf zwei leere Chipstüten und eine Bierdose auf die Straße. Dann machte er sich an einem Vorhängeschloss auf Bodenhöhe zu schaffen und schob schließlich die Rollläden hoch. Das kreischende Geräusch kündigte den Beginn eines neuen Tages in der Stadt an.

Debbie zog die Schultern hoch gegen den kalten Wind, der vom Meer heranwehte, und ging an einer Gruppe von Häusern mit roten Dächern und an einem Friedhof vorbei, der auf einem Hügel hinter Feldern lag. An einer Brücke blieb sie stehen, lehnte sich ans Geländer und sah dem treibenden Wasser zu. In seinem Rauschen hörte sie Robs Namen und einen Rhythmus, der ihr nicht aus dem Kopf ging: das leise Murmeln der Trauergäste, die ihres Vaters gedachten.

Nach der Bestattung, als alle genug getrunken, genug über Rob geredet und ihn damit ein zweites Mal begraben hatten, und als niemand mehr Worte fand, war sie auf dem Dachboden gelandet. Sie hatte nach nichts Bestimmtem gesucht, hatte einfach nur die Zeit totgeschlagen, Kartons hin- und hergeschoben, als sie die kleine, schmutzige Schachtel entdeckte, die unter Wasserrohren eingeklemmt stand. Sie war mit braunem Klebeband verschlossen. Ein rosafarbenes fleckiges Etikett hatte sich an einer Seite abgelöst, wahrscheinlich dort, wo die Hitze des Heißwasserrohrs es ausgetrocknet hatte. Sie konnte gerade noch die ordentliche Handschrift darauf lesen: »Babysachen«.

Sie hob die Schachtel auf, schüttelte den Mäusedreck ab und trug sie vorsichtig ins Gästezimmer. Abgenutzte ausrangierte Koffer lagen geöffnet auf dem roten Bettsofa. Ein paar vergilbte Zeitungen waren von einem Stapel gerutscht.

»Debs, bist du da oben schon fertig?«

Tante Nancy kam die Treppe heraufgestampft, wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete schwer. »Mach dir keine Mühe mit dem ganzen Plunder, Liebes. Wir können jemanden kommen lassen, der ihn abholt.«

»Ich will nur ein paar Sachen aussuchen.«

Nancy packte Debbie fest an den Schultern. »Tu, was du tun musst, aber Erinnerung setzt keinen Staub an.«

Nancy trat gegen den Zeitungsstapel, machte dann einen Schritt zurück und sah sich im Zimmer um.

»Deine Mutter würde Zustände bekommen, wenn sie wüsste, was aus dem Haus geworden ist. Schau dir den Schmutz an den Vorhängen an: feinste geprägte cremefarbene Seide, sie hat sie extra in diesem Laden in Cleveland bestellt. Übrigens hat Bert gesagt, dass er um fünf kommt, um den Transporter zu beladen. War das im Wohnzimmer alles? Es ist nicht viel.«

»Ja, aber der Schaukelstuhl auf der Veranda kommt auch mit.«

»Er ist wertlos, aber wie du meinst. Lass uns Tee trinken. Was ist mit der Schachtel mit Babysachen?«

»Sie passt noch auf den Vordersitz.«

»Deine Mutter war so gut im Aufbewahren. Sieh dir das ordentliche Etikett an. Sie war wirklich etwas Besonderes.«

»Ich weiß.«

»Es ist lange her. Dieses Haus wird neue Besitzer haben, und die Traurigkeit wird nachlassen.«

»Außer in unseren Herzen«, sagte Debbie.

In New York waren mehrere Tage vergangen, bis sie dazu kam, die Schachtel zu öffnen. Eine Staubwolke wirbelte auf, als sie das Klebeband abriss und den schmutzigen Pappdeckel abhob.

Mehrere Lagen dünnen Seidenpapiers, mit Lavendel bestäubt, waren übereinandergeschichtet. Debbie nahm die fünf ordentlich gefalteten Vierecke heraus, die wie ein Kissen auf den Inhalt der Schachtel gedrückt worden waren, und fuhr mit der Hand über ein spitzenbesetztes Taufkleid, das sie noch nie gesehen hatte. Während ihre Finger die cremefarbene Seide berührten, vernahm sie Geflüster, Worte, die wie Schmetterlinge an ihr Ohr flatterten und die Tränen fortwischten, zugleich aber eine neue, hartnäckige Angst auslösten.

Zwei gehäkelte Babyschuhe mit schmalen rosa Bändern waren an dem Kleid befestigt. Behutsam schüttelte sie den Stoff aus, sodass der dumpfe Geruch von altem Lavendel durch das Zimmer wehte. Der Anflug einer Erinnerung überkam sie, verbunden mit einem Gefühl schmerzlichen Verlusts. Ein abgewetztes rosa Häschen und ein Briefumschlag, klein und weiß, lagen auf dem Boden der Schachtel. Als sie den Brief zunächst überflog, verstand sie ihn nicht ganz, und an manchen Stellen konnte sie die enge, kleine Schrift kaum entziffern. Agnes’ süßer Duft umgab sie und schnürte ihr die Kehle zu.

Bis zu diesem Moment, da sie an diesen Ort und zu dieser Brücke gekommen war, hatte der Inhalt des Briefs sie unablässig verfolgt. Hätte sie den Umschlag doch als Teil einer längst vergessenen Familiengeschichte betrachtet und ihn einfach liegen gelassen!

Das Geräusch eines Motors holte sie wieder in die Realität zurück. Sie strich mit der Hand über das kalte steinerne Brückengeländer. Ihre Handfläche war rot vor Kälte, als sie zu dem schweren Eisentor schlenderte, das zurückgesetzt an der Straße stand. Ein altes Haus lag halb verdeckt hinter den Bäumen. Die Auffahrt war von Unkraut und Gräsern überwachsen, das Vorhängeschloss am Tor war verrostet. Ein Jeep holperte über die Brücke und hielt neben ihr.

»Sie sind früh unterwegs. Suchen Sie etwas?« Ein Mann stieg aus dem Wagen. Er rüttelte an dem Vorhängeschloss und nahm einen Schlüssel aus seiner Gesäßtasche. Dann öffnete er das Tor und sah zu, wie es zitternd aufschwang.

»Ich war neugierig auf das Haus und das Café«, sagte Debbie.

»Es ist wirklich ein besonderes altes Haus. Die alten Damen, die hier wohnen, haben nichts dagegen, wenn Sie den Pfad entlanglaufen. Ich bin nur der Gärtner«, sagte er und setzte sich wieder ans Steuer. Als er losfuhr, flitzte ein Hund hinter dem Jeep her, folgte ihm in wenigen Metern Entfernung.

- 3 -

Ella O’Callaghan sah zu, wie der kleine Hund im Garten herumrannte, schnüffelte und das Bein hob, als wäre es ein öffentlicher Park. Sie blieb hinter dem Vorhang stehen, schob den großen Ledersessel aus dem Weg und beugte sich zur Seite, um besser sehen zu können. Es war ein kalter, klarer Morgen. Der Frost hing in den dunklen, dichten Zweigen der Rhododendren. Eine Bachstelze, die nach Brotkrumen suchte, flog heran und pickte auf dem Boden in der Nähe des Hauses herum. Die Frau, die dem Hund durch das eiserne Tor gefolgt war, stand jetzt auf dem Kiesweg und rauchte eine Zigarette. »Das ist eine schlechte Angewohnheit«, schnaubte Ella, während sie die Fremde beobachtete, die sich an den kaputten Springbrunnen lehnte und Rauchringe in Richtung Haus blies.

Roscarbury Hall bot sicherlich einen unvergesslichen Anblick: ein armseliger Haufen, drei Stockwerke hoch. Es war lange vernachlässigt worden und sah verlassen aus. Die Fenster waren von einer dicken Schmutzschicht bedeckt. Die Wistarie war außer Kontrolle geraten, ihre knorrigen Zweige verholzt und kahl. Die Haustür mit dem matten Messingring war bedeckt von über Jahrzehnte herangewehtem Staub, vermischt mit mehreren Schichten abblätternder Farbe. Trockenes Laub hing in den Ecken der Türschwelle und war verklebt mit Spinnweben. Es war nicht wichtig, denn die Eingangstür von Roscarbury war schon lange nicht mehr geöffnet worden.

Ella wandte sich kurz um, als Roberta ins Zimmer kam und den Heizlüfter eine Stufe höher stellte. Er gab ein tiefes Brummen von sich, und die trockene Hitze machte ihr das Atmen schwer. Sie seufzte laut vor Entrüstung, weil der Heizlüfter jetzt die Luft im Zimmer verpesten würde. Ins Hinterzimmer konnte sie auch nicht gehen, weil es dort so kalt war, dass eine dünne Eisschicht die hintere Wand bedeckte. Jetzt sah sie die Frau, der die Haare ins Gesicht fielen, wenig elegant über das Gras in Richtung See stapfen. Ella trat vom Fenster zurück. Auf dem Weg hinaus stellte sie den Heizlüfter wieder eine Stufe herunter. Im Flur blieb sie stehen und hob einen roten Zettel auf.

Bestell einen Rindsbraten beim Metzger. Wir brauchen auch Zwiebeln, und Sahne für den Apfelkuchen. Sag Iris, sie soll aufhören, das Haus mit ihrem dreckigen Rauch zu verpesten. R.

Ella war in der Küche, und ihr Teewasser kochte bereits, als ihre Schwester ebenfalls aus dem Salon schlurfte. Im Flur verstummte das Klappern ihres Gehstocks für einen Moment, was bedeutete, dass Roberta prüfte, ob ihr Zettel weg war, und dann Ellas Zettel zusammenknüllte und in den Papierkorb warf.

Ella nahm ihre Rosenblüten-Teekanne und eine passende Tasse mit Untertasse aus dem Schrank und stellte alles auf ein Tablett. Sie schwenkte kochendes Wasser in der Kanne, um sie zu erwärmen, füllte sie dann ganz auf und nahm die Dose, auf der ›Ellas Tee‹ stand.

Roberta kam herein, stellte sich neben sie und setzte mit langsamen Bewegungen ihren Teekessel auf den Gasring. Dann hielt sie inne, befühlte den festen Dutt an ihrem Hinterkopf und summte dabei eine Melodie vor sich hin.

Mit ihrem Teegeschirr, einem kleinen Kännchen Milch, einem Löffel und drei Zuckerwürfeln auf dem Tablett ging Ella an ihrer Schwester vorbei aus der Küche.

Es wurde kein Wort zwischen den beiden gewechselt, aber das war nichts Neues: Schon seit Jahrzehnten sprachen sie nicht mehr miteinander. Wer die Schwestern gut kannte, wusste um die tiefe Kluft zwischen ihnen. Einst war sie die Quelle vieler Spekulationen gewesen, aber mit den Jahren war das Interesse an den Problemen der O’Callaghan-Schwestern abgeebbt.

Auf dem Weg zurück durch den Flur knallte Ella eine Antwort auf den Tisch.

Wenn du die Sauferei aufgibst, werde ich Iris sagen, sie soll die Zigaretten aufgeben. Wenn Schweine fliegen … E.

Sie ließ sich wieder im Salon nieder und trank ihren Tee. Das heiße Getränk wärmte sie, und sie stellte den Heizstrahler ganz ab. Sie hörte ihre Schwester in der Küche rumoren und ihre Sachen aufräumen: Jede Tasse und jeder Teller musste am richtigen Platz sein, und ihre Lebensmittel, mit einem »R« gekennzeichnet, wurden ordentlich und in einem separaten Schrank verstaut. Ella blieb im Salon, weil das an diesem Morgen das wärmste Zimmer im Haus war.

Auf einem Tisch aus Walnussholz standen gerahmte Fotos der Schwestern. Glückliche Tage, an denen sie auf dem Rasen vor dem Haus Tennis gespielt und ganze Tage lang am See Picknick gemacht hatten. Das Glas war fettig verschmiert. Nur zwei Rahmen wurden regelmäßig poliert: das Hochzeitsfoto ihrer Eltern und das Foto von Ella O’Callaghan und Michael Hannigan an ihrem Hochzeitstag.

Ella berührte das Bild und dachte an den warmen Sommertag, an dem sie einander das Jawort gegeben hatten. Als sie sich zur Gemeinde umdrehte, hatte ihre Weiss-Brosche gefunkelt, und die Leute in der ersten Reihe hatten ihnen eine glückliche und lange Ehe prophezeit. Die Brosche war klein, aber erlesen. Leuchtend weiße Cabochon-Steine bildeten Blumen mit großen Blütenblättern, und dazwischen blitzten kleinere, zart gefärbte Polarlicht-Steine. Sie hatte die Brosche an diesem Tag ausgewählt, weil es die erste war, die ihr Vater ihrer Mutter geschenkt hatte.

»Törichte Jugend«, murmelte Ella, wischte ungeduldig das Glas mit einem Rockzipfel ab und stellte den schweren Silberrahmen wieder an seinen Platz. Jetzt bemerkte sie, dass die Fremde vor der Haustür herumstand. Sie seufzte ungeduldig, stand auf und streckte den Kopf aus der Glastür des Salons.

»Sind Sie wegen der Stelle hier?«

»Welcher Stelle?«

»Kommen Sie herein. Wenn die Tür offen steht, zieht es durchs ganze Haus. Ich könnte weiß Gott eine Helferin für das Café gebrauchen. Sind Sie interessiert?«

Ella trat einen Schritt zurück, um ihre Besucherin von Kopf bis Fuß zu mustern. Hübsch. Ihre wilde Zeit lag definitiv hinter ihr, und sie war vielleicht ganz vernünftig. Ihre Jeans waren ausgeblichen, zu oft gewaschen, und ihre Haare zu lang für eine Frau ihres Alters. Sie würde sie zusammenbinden müssen.

»Gnädige Frau, ich suche keine Stelle. Ich mache hier Urlaub. Ist das Café offen? Die Frau bei der Post hat gesagt, es sei sehr gut.«

»Man braucht keine Reklametafeln, wenn man Muriel Hearty hat«, murmelte Ella. »Sie kommen zu früh. Ich habe gerade erst die Brötchen und Kuchen aus dem Ofen geholt, und die Tische müssen noch gedeckt werden. Ein Mädchen aus der Stadt hat versprochen, diese Woche zu helfen, aber sie hat sich aus dem Staub gemacht. Fürs Zimmerputzen in dem schicken Hotel an der N11 gibt es mehr Geld.«

»Ich kann aushelfen.« Nervosität ließ Debbies Stimme schrill klingen.

Ella spielte mit den Bändern ihrer Schürze, ihre Wangen röteten sich vor Verlegenheit. »Nicht nötig. Es ist schnell erledigt, nur ein paar Tische. Geben Sie mir eine Stunde, vielleicht weniger.«

»Wie Sie meinen. Ich habe einmal in den Ferien in einem Lokal gekellnert. Ist zwar schon eine Weile her, aber das ist ja wie Fahrradfahren, oder?«

Ella verzog das Gesicht, als hätte sie Sodbrennen. »Das ist ein sehr freundliches Angebot. Aber wirklich nur heute Morgen. Mein Name ist Ella. Ella O’Callaghan.« Sie streckte die Hand aus und umfasste die der anderen Frau fest. »Aus Amerika?«

»Ja, ich heiße Deborah Kading. Nennen Sie mich Debbie.«

»Roscarbury Café hat erst vor ein paar Wochen eröffnet. Es besteht nur aus ein paar Tischen im Salon, aber es läuft gut. Wenn ich nur eine richtige Aushilfe finden würde, könnte es wunderbar sein.«

Sie ging zu der schweren cremefarbenen Tür und stieß sie auf. Die Wände waren matt goldfarben, und ein Kronleuchter hing tief über vier kleinen Tischen mit spitzenbesetzten Tischtüchern. Ein rissiges altes Ledersofa stand unter dem Erkerfenster. Wuchtige Sessel verdeckten den Kamin.

»Es ist einfach, aber unser Kuchen ist gut und wir servieren immer eine zusätzliche Tasse Kaffee aufs Haus. Das kommt bei den Damen nach dem Gottesdienst gut an.«

Deborah ging hinüber zum seitlichen Fenster, das von schweren goldenen Brokatvorhängen umrahmt wurde. Von hier aus blickte man auf den Rhododendron-Hain.

»Das ist ein sehr hübscher Ort.«

»Danke«, sagte Ella leise und ging rasch zur Anrichte. »Hier findest du alles, was du brauchst. Wir servieren Tee und Kaffee nur in den besten Porzellantassen. Sie haben einmal meiner Mutter gehört. Ich bin mir nicht sicher, ob sie erfreut darüber wäre, dass die Frauen von Rathsorney sie jeden Tag in die Hand nehmen, aber Not kennt kein Gebot. Drei Gedecke pro Tisch. Ich bin in der Küche. Ruf mich, wenn du Hilfe brauchst«, sagte Ella. Dann ging sie schnell aus dem Zimmer und band dabei ihre Schürze fester.

Die Tür der Anrichte klemmte, also zog Debbie fest daran. Als sie endlich aufging, schlug ihr der süßliche Duft von Mahagoni entgegen. Tassen und Untertassen waren ordentlich gestapelt, die Teller standen daneben. Das Service hatte ein Muster von fliederfarbenen und blauen Disteln, deren raue Stiele in Kontrast zu dem zarten Porzellan standen. Debbie ging zwischen den Tischen hin und her und legte jedes Gedeck sorgfältig auf, stellte die Tassen vorsichtig auf die Untertassen. Als sie auf der Suche nach Besteck eine Schublade aufzog, kam Ella zurück und trug nacheinander zwei silberne Tabletts mit noch warmen Kuchen, ordentlich aufgereiht, und Scones, mit Butter bestrichen, herein. Dann stellte sie zwei große Thermoskannen mit Kaffee und Tee neben die Tabletts auf die Anrichte.

»Sie werden in den nächsten zehn Minuten eintreffen. Der alte Priester beeilt sich immer mit seiner Predigt, damit er wieder zurück in sein Bett kommt. Wir haben Zeit für eine Tasse Kaffee, bevor sie hereinschneien.«

Ella fragte nicht lang, sondern nahm zwei Porzellantassen und schenkte ein. Kaffeeduft stieg auf und verschwand dann in der staubigen Luft des Zimmers.

»Kann man das einfach so machen – ein Café eröffnen?«

»Ich weiß es nicht, ich habe es einfach gemacht. Wenn kein Geld hereinkommt, wird das Haus um uns herum zusammenfallen.«

»Es ist sehr mutig, Leute so einfach in sein Haus zu lassen.«

Ella schnaubte laut. »Es ist eher dumm, aber ich habe keine andere Wahl.«

»Ich würde mich das nicht trauen. Ich bin mein Leben lang Lehrerin gewesen, und mich vor eine Klasse Teenager zu stellen, ist kein Problem für mich, aber das hier könnte ich nie.«

»Not bringt alle möglichen versteckten Eigenschaften zum Vorschein.«

Ella sprang auf, als sie draußen den Kies unter schweren, aber zügigen Schritten knirschen hörte. Es waren die zwölf Damen, die sich jeden Morgen die Mühe machten, früh aufzustehen, um Pater Hurley dabei zuzuhören, wie er zu schnell durch seinen Text stolperte, mit zerzausten Haaren, die Lider noch schwer vom Schlaf.

»Nimm den Platz beim Fenster, das ist der beste«, sagte Ella zu Debbie und schob sie sanft dorthin, während das Gemurmel der plaudernden Frauen lauter wurde.

Ella öffnete die Glastüren und begrüßte jede Frau mit Namen. Frische Morgenluft erfüllte den Raum und fuhr in die Faltenvorhänge am Fenster.

Jede nahm eine Tasse und Untertasse und stellte sich an der Anrichte an, um sich ein Getränk zu holen. Sie nickten höflich, als sie an Debbie vorbeikamen, und quetschten sich dann mit zu vielen Frauen an einen Tisch, damit sie nicht mit einer Fremden zusammensitzen mussten. Debbie fühlte sich wie ein Eindringling und schlüpfte nach draußen, sobald sich das Stimmengewirr im Raum auf ein zufriedenes Level eingependelt hatte. Sie schlenderte einen Pfad entlang, blieb bei dem steinernen Springbrunnen stehen und zündete sich eine Zigarette an.

Es lag eine zeitlose Ruhe über dem Ort, die ihr gefiel. Es erinnerte sie an ihr Zuhause in Bowling Green in Ohio, ein Haus, das von außen verloren wirkte, aber voller Erinnerungen steckte. Was bin ich doch für eine Schwindlerin, dachte sie. Rob Kading hätte sie nie in einem Lokal arbeiten lassen. Die Röcke der Kellnerinnen waren zu kurz, die Schichten zu spät. Und Männer vom Land fassten den Kellnerinnen immer an den Po.

Die Damen aus Rathsorney waren eine laute Truppe. Debbie konnte sie immer noch hören, der Tonfall ihrer Unterhaltung veränderte sich je nach der Bedeutung, die dem jeweiligen Thema beigemessen wurde. Muriel Heartys grelle Stimme war immer herauszuhören.

»Da bist du ja. Ich dachte schon, du wärst gegangen.« Ella schien außer Atem zu sein.

»Ich habe vor mich hin geträumt.« Debbie drückte rasch ihre Zigarette aus und wedelte mit der Hand den Rauch fort.

»Möchtest du nicht wieder ins Haus kommen? Die Mädels brechen auf, und wir können in Ruhe Tee trinken und Kuchen essen.«

»Das ist nett, aber ich sollte mich jetzt auf den Weg machen.«

»Vielleicht an einem anderen Tag? Ich hoffe, du kommst noch mal ins Café, auch wenn wir im Moment nur bis elf Uhr geöffnet haben. Bis ich eine feste Aushilfe habe.«

»Ich hoffe, du findest bald jemanden.«

»Ja. Genieß deinen Urlaub.«

Ella sah ihr eine Weile nach, wie sie die Zufahrt hinunterging, dann wandte sie sich wieder Richtung Haus. Wenn ich eine nette Frau wie diese als Aushilfe fände, könnte ich die Bank vielleicht hinhalten, dachte sie. Als Ella ihre Schwester entdeckte, die hinter einem Fenster lauerte, ging sie schnell zur hinteren Treppe, damit sie nicht hören musste, wie Roberta ihr eine weitere Nachricht hinklatschte. Schon am Morgen hatte sie den Tisch im Flur erzittern lassen, als sie in schneller Abfolge zwei rote Zettel dort platziert hatte.

Nehmen wir jetzt schon Streunerinnen auf? Unsere Eltern würden sich für dich schämen. R.

Muriel Hearty sagt, dass man bis Gorey über dich und deine hochtrabenden Ideen für ein Café lacht. R.

Ella schmerzte der Kopf vom wortlosen Wüten ihrer Schwester, und sie ging rasch in ihr Zimmer und setzte sich an ihren Frisiertisch. Draußen zankten sich die Krähen in den hohen Bäumen. Sie schloss die Augen und stellte sich, wie schon so oft, jedes Detail vor: das Stimmengewirr, das Klirren der Porzellantassen, das Knirschen von Kies, wenn die Leute zu ihrem Café kamen und gingen, das alte Haus, das vor lauter Leben summte.

Sie nahm die grüne Brosche aus der silbernen Schmuckschatulle. Sie hatte die Form einer Stiefmütterchenblüte, war jedoch schwarz und grün. Ihre Mutter hatte darüber gemurrt, weil sie fand, sie hätte violett, gelb oder wenigstens ganz schwarz sein sollen. Bernie O’Callaghan hatte die Brosche nur ein einziges Mal an ihrem dunklen Mantel getragen, ein weiterer Auftritt war ihr nie gewährt worden.

»Ich mag es, wenn eine Blume wie eine Blume aussieht«, hatte sie gesagt und ärgerlich den Kopf geschüttelt, weil ihr Mann sein Geld für etwas verschwendet hatte, das ihr gar nicht gefallen konnte.

Ella liebte das Weiss-Stiefmütterchen mit den grünen, glänzenden Steinen und den dunkel schimmernden Kristallen, die die geschwungenen Blätter der Blume perfekt umrahmten. Die Mitte war schwarz, abgesehen von einem einzelnen grünen Kristall in Form einer Träne.

Als John O’Callaghan mit dem Juwelier Albert Weiss in New York City wegen dieser Brosche in Kontakt getreten war, hatte er sich ein Stiefmütterchen in verschiedenen Grün-Schattierungen wunderschön und andersartig vorgestellt. Mr O’Callaghan bestellte pro Jahr zwei Broschen bei Weiss in New York. Das kleine familiengeführte Unternehmen schickte das Päckchen freundlicherweise an die Adresse des Postamtes von Rathsorney, sodass Bernie O’Callaghan nie ganz mitbekam, welche Mühen ihr Mann in Kauf nahm, um ihr zu zeigen, dass er sie liebte.

In all den Jahren hatte Ella die Brosche nur ein einziges Mal getragen. Sie war entschlossen gewesen, sie für eine besondere Gelegenheit aufzubewahren, und dieser Moment war nie gekommen. Und schließlich war das einzige bedeutsame Ereignis, das ihr in ihrem Leben noch blieb, die Beerdigung ihres Mannes gewesen. Kurz bevor sein Sarg aus dem Haus getragen wurde, hatte sie die Brosche an den breiten Kragen ihres schwarzen Mantels geheftet. Alle, die Ella an diesem Tag sahen, sagten, dass sie nie zuvor so elegant, aber auch noch nie so blass, verzweifelt und einsam ausgesehen habe.

Sogar nach dem Tod ihrer Eltern war noch eine Sendung aus New York eingetroffen, als wäre die Liebe John O’Callaghans zu seiner Frau unzerstörbar. Ella bewahrte diese beiden Broschen in der kleinen Pappschachtel auf, in der sie angekommen waren. Sie erinnerte sich noch daran, wie Muriel Hearty mit aufgeregter Miene die Auffahrt hinaufgerannt war und stammelte: »Das ist gestern angekommen, und da habe ich Mr O’Callaghan die Straße entlanggehen sehen. Ich war kurz abgelenkt, sodass ich nicht nach ihm gerufen habe. Das werde ich mir nie verzeihen.«

Ella hatte das braune Papier geöffnet und die Schachtel aufgeklappt, in der die beiden Broschen lagen, sorgfältig in weißes Seidenpapier eingeschlagen. Sie hatte die Brosche mit dem Topas und den orangefarbenen Glitzersteinen herausgenommen. Sie hätte perfekt zu dem neuen orangefarbenen Mantel ihrer Mutter gepasst, den sie in Gorey gekauft und für ihren Geburtstag aufbewahrt hatte. Von einem Kreis aus rauchfarbenen Topasen und matten gelben Steinen hoben sich Glitzersteine in tiefem Orange deutlich ab, die wie Sonnenstrahlen um einen einzelnen Topas in der Mitte angeordnet waren. Wenn man die Brosche gegen das Licht hielt, funkelten die orangefarbenen Kristalle.

Doch es war die andere Brosche, die Ella über alles liebte: ein einfaches Quadrat aus durchsichtigen Steinen, die in allen Farben des Regenbogens leuchteten, wenn Licht darauf fiel. Sie hätte so perfekt zu dem fließend geschnittenen Kleid gepasst, das sich ihre Mutter für den Abend des Chorkonzerts geschneidert hatte.

Während sie dort vor dem Haus gestanden und die Broschen betrachtet hatte, war Wut in ihr aufgestiegen, weil Muriel Hearty ihr verdammtes Getratsche nicht einmal unterbrach, wenn sie glaubte, ihren Vater auf der Straße gesehen zu haben.

Ella hatte einen Scheck über den Kaufpreis der Broschen ausgestellt und Mr Weiss von dem tragischen Unfall geschrieben, der bedeutete, dass die O’Callaghans in Roscarbury Hall keine weiteren Broschen bestellen würden.

Einen Monat später war Muriel Hearty wieder die Auffahrt von Roscarbury hinaufgestürmt, auch diesmal in großer Aufregung. »Es ist noch ein Päckchen gekommen!«, hatte sie gerufen.

Sogar Muriel Hearty war verstummt, als Ella das Päckchen aufgerissen hatte und nicht nur eine, sondern zwei erlesene schwarze Broschen zum Vorschein gekommen waren. Die anliegende Beileidsbekundung war elegant und würdevoll gewesen. Ella hatte die braune Schachtel herausgenommen und die beiden Broschen betrachtet. Roberta hatte sich damals geweigert, die ihre anzunehmen, aber Ella fühlte sich im ersten Jahr nach dem Tod ihrer Eltern durch ihre Brosche, die die Form einer einfachen schwarzen Blume hatte, getröstet.

Ella schob die Schachtel ganz nach hinten in die Schublade und zog ihren schweren Mantel an. Im Eingangsflur blieb sie noch einmal stehen, nahm eine Puderdose aus ihrer Handtasche und bemühte sich, in dem winzigen Spiegel ihr Gesicht zu sehen. Sorgfältig puderte sie sich die Wangen, drückte die Quaste in die Furchen unter ihren Augen und zog kurz die Falten glatt, sodass sie für einen Augenblick aussah wie früher. Wie die junge Ella mit den großen Augen – manche Leute würden sagen, es seien traurige Augen.

Sie knallte die Hintertür hinter sich zu, winkte im Vorbeigehen Iris zu und lief schnell durch den Garten bis zu dem ausgetretenen Pfad, der über zwei Felder und durch ein kleines Wäldchen zum Friedhof führte.

Schnell lief sie zu den Grabstellen auf der rechten Seite. Sie schüttelte den Kopf, damit die Tränen sich nicht festsetzen konnten und ihr Gesicht anschwellen ließen, und wandte sich zu dem kleinen Grab unter einer einzelnen Zypresse. Einst hatte Carries Grab allein am hinteren Ende des Friedhofs gelegen, aber jetzt führten die ausgetretenen Wege noch zu weiteren Gräbern auf einer riesigen Fläche.

GELIEBTE TOCHTERCarrie Hannigan, auf tragische Weise gestorben am 23. Juni 1959. Schmerzlich vermisst von ihrer Mutter Ella und ihrem Vater MichaelGeliebt und unvergessenEin weiterer Engel im Himmel

Eine Welle der Ungeduld erfasste sie, wie jedes Mal. Sie ging schnell davon und wurde erst langsamer, als sie zu einem schmalen, überwucherten Pfad kam, der an der Friedhofsmauer entlangführte. Langsam ging sie den Pfad entlang und stand dann an einem anderen Grab, beugte sich hinab, um den Staub von der schlichten hölzernen Tafel zu wischen.

GEFREITER MICHAEL HANNIGANSoldat der Irischen ArmeeGestorben am 4. September 1959Schmerzlich vermisst von seiner liebenden Frau Ella

Zwei Jahre waren sie verheiratet gewesen. Ella richtete sich auf und sah den Hund mit erhobenem Bein auf dem Grab von McDonald, dem Lebensmittelhändler. Iris ließ diesen Köter immer frei herumlaufen, sie musste ihr sagen, dass sie ihn in Zukunft anleinen sollte.

- 4 -

Bowling Green, USA, März 1968

Als Rob Kading in die Auffahrt einbog, sah er, dass die Verandatür offen stand. Er stieg aus dem Wagen, bückte sich, um eine Stange an den Himbeersträuchern geradezurücken, und winkte dem alten Mr Haussman über die Straße zu. Er stellte seine Aktentasche ab und rief auf dem Weg in die Küche leise nach Agnes. Überrascht, dass der Tisch nicht für das Abendessen gedeckt war, rief er noch einmal nach ihr und ging weiter zum Esszimmer.

Er nahm seine Armbanduhr ab, um ihr Zifferblatt mit dem der Uhr im Esszimmer zu vergleichen. Dann legte er sie vorsichtig auf den Kaminsims. Als er leise Schritte auf der Veranda draußen hörte, war er sich sicher, dass es seine Frau war. »Aggie!«, rief er laut.

»Mr Kading, ich bin es, Moira Rochdale. Es ist dumm von mir, aber ich habe mich gefragt, ob mit Agnes alles in Ordnung ist. Sie ist nicht gekommen, um ihren Kurs im Blumenstecken zu geben.«

»Moira, ich glaube, sie ist ausgegangen. Ich komme gerade von der Arbeit. Vielleicht ist sie überraschend weggerufen worden.«

Moira Rochdale kam durch die Verandatür. »Die Frauen waren so enttäuscht. Das sieht Agnes gar nicht ähnlich. Sonst ist sie so zuverlässig«, zwitscherte sie.

Rob Kading hörte nicht zu. Ihm fiel auf, dass Agnes’ Regenmantel und ihre Handtasche nicht an der Garderobe hingen.

»Mr Kading, ist alles in Ordnung?«

»Meine Frau muss einen dringenden Termin gehabt haben. Ich werde Ihr Anliegen ausrichten«, sagte er und bugsierte Moira Rochdales üppige Gestalt wieder auf die Veranda hinaus. Er wusste nicht genau, warum, aber Rob Kading fühlte sich sehr seltsam. Eine Übelkeit erregende Unruhe kroch in ihn hinein und breitete sich aus. »Kann ich Sie nach Hause fahren, Moira?«

Moira Rochdale klimperte mit den Augen wie ein Mädchen, das gerade zu seiner ersten Verabredung eingeladen worden ist. »Keinesfalls, der Spaziergang wird mir guttun. Sie haben sicher viel zu tun.«

Sie trippelte davon über die Straße, während Rob ins Auto sprang und den Hang hinunter zu Nancys Haus brauste.

Nancy Slowcum trank Tee und war gerade auf Seite zwei ihres Ladies’ Home Journal, als Rob hereinplatzte.

»Ist sie hier?«

»Wer?«

»Agnes – ihre Tasche und ihr Mantel sind weg, weißt du, wo sie ist?«

»Vielleicht ist sie mit dem Bus irgendwo hingefahren, kein Grund zur Panik.«

Rob ließ sich auf den Stuhl neben dem Küchentisch sinken. »Sie hat sich in letzter Zeit so seltsam benommen. Nancy, was ist los mit ihr?«

»Sie ist müde, Rob, ist dir das nie in den Sinn gekommen?«

»Sie wirkt unglücklich, reagiert ständig gereizt auf Debbie.«

»Das wird vorbeigehen.«

»Sie hat nichts davon gesagt, dass sie heute irgendwo hinwollte.«

»Lass ihr ein bisschen Zeit. Kann eine Frau nicht ein einziges Mal von ihrer Routine abweichen, ohne dass man gleich die Polizei ruft?«

Rob sprang auf. »Wo ist Debbie? War sie heute nicht bei dir?«

»Nein, dienstags kommt sie nie. Vielleicht haben sie und Agnes spontan beschlossen, etwas zu unternehmen.«

Rob lachte auf. »Weißt du, Nance, Agnes ist nicht fähig, irgendetwas spontan zu tun. Zuerst muss ich Debbie finden.« Ohne auf eine Antwort zu warten, lief er zur Tür.

»Wahrscheinlich spielt sie zu Hause allein in ihrem Zimmer. Das macht sie in letzter Zeit oft.«

»Kommst du mit, Nance?«

Sie berührte seinen Arm. »Es wird sicher alles gut, Rob, vielleicht braucht sie nur etwas Freiraum.«

»Sie hat mit dir geredet, oder?«

Nancy ging mit ihm hinaus und schloss dann die Küchentür hinter ihnen. Sie antwortete Rob nicht, und als sie neben ihm auf den Beifahrersitz saß, hob sie die Hand, um weitere Fragen abzuwehren. »Lass uns Debs suchen«, sagte sie.

Debbie saß auf dem Gartentor und ließ sich vor- und zurückschwingen, während sie darauf wartete, dass entweder ihre Mutter oder ihr Vater nach Hause käme. Als sie gesehen hatte, dass der Vater von der Arbeit kam, hatte sie angenommen, auch ihre Mutter sei schon zurück. Als Rob dann plötzlich wieder davongefahren war, hatte sie sich Sorgen gemacht.

»Mama ist nicht da.«

Rob nahm Debbie in den Arm, und sie konnte an seinem Jackenaufschlag den Geruch von Tabak wahrnehmen. »Schätzchen, machen wir uns keine Sorgen. Ich bin sicher, Mama wird bald nach Hause kommen.«

»Lass uns doch die Küche aufräumen und das Essen vorbereiten, bis Mama nach Hause kommt«, sagte Nancy. Ihre Stimme klang schrill vor Sorge.

Debbie bemerkte den gehetzten Gesichtsausdruck ihres Vaters und rückte näher zu ihrer Tante. Rob zog Nancy zur Seite. »Ich werde herumfahren und bei ein paar von ihren Freundinnen vorbeischauen. Ich melde mich in einer Stunde wieder. Dann kommt auch der Bus aus Cleveland an, und wenn sie da nicht drin ist, gehe ich zur Polizei.«

»Warte bis um zehn, dann kommt der letzte Bus.«

»Bringt Mama mir ein Geschenk mit, wenn sie mit dem Bus nach Hause kommt?«, fragte Debbie.

»Na, für den Fall, dass sie das tut, sorgen wir besser dafür, dass es hier schön aussieht«, sagte Nancy sanft. Sie schob Debbie in die Küche.

*

Orden der Himmlischen Schwestern, Rathnew, County Wicklow, März 2008

»Es gab damals viele reiche Amerikanerinnen, die helfen wollten. Es ist wirklich nichts Ungewöhnliches an diesem Brief. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen.«

Mutter Assumpta reichte das Blatt über den Tisch. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als hätte sie gerade eine Kinderzeichnung angeschaut. Nun konzentrierte sie sich darauf, die Bleistiftschachtel vor sich gerade zu rücken. Ihr Blick wanderte kurz zu der Uhr an der Wand, dann zog sie ihren Kalender heran. Sie schüttelte sich kurz, als wäre ihr kalt, während sie innerlich vor Wut bebte: nicht auf diese Frau, sondern darauf, dass sie wieder einmal alles vertuschen musste. Wie viele derartige Briefe hatte sie schon gesehen? Sie schätzte, dass es eine zweistellige Zahl war. Und immer stammten sie aus einer Zeit, zu der sie noch gar nicht hier gewesen war.

Sie hatte Schwester Consuelo immer für ihren gesunden Menschenverstand bewundert, aber offensichtlich hatte ihr der in ihren Anfangsjahren im Kloster gefehlt, wenn sie zur Feder gegriffen hatte. Assumpta ärgerte sich über die schwülstige Dankbarkeit, die in dem Brief zum Ausdruck kam.

Orden der Himmlischen Schwestern Ballygally, Rathnew,County Wicklow15. Mai 1959

Sehr geehrte Mrs Kading, sehr geehrter Mr Kading,

in der Anlage finden Sie eine Empfangsbestätigung über die 300 Pfund, die Sie uns im April für unsere Leistungen gezahlt haben. Ohne die Hilfe guter katholischer Familien in den USA wären wir nicht in der Lage, so vielen Frauen und Kindern zu helfen. Ich danke Gott für Menschen wie Sie, die bereit sind, diesen bedauernswerten Kindern ein gutes Zuhause zu bieten.

Wir werden weiterhin für Sie und Ihre Familie beten. Wir wünschen Ihnen Freude mit Ihrem kleinen Mädchen. Ich bin sicher, dass sie unter Ihrer Führung eine gute und loyale Tochter wird.

HochachtungsvollSchwester Consuelo

»Ich muss von hier adoptiert worden sein, wie wären meine Eltern sonst zu diesem Brief gekommen?«, fragte Debbie nachdrücklich.

Mutter Assumpta blätterte in ihrem Kalender auf dem Schreibtisch und schaute ungeduldig über den Rand ihrer schwarzen Brille.

»Ich habe die Akten selbst überprüft. Leider muss ich Ihnen sagen, dass Sie falsche Schlüsse ziehen. Eine Adoption durch Agnes und Robert Kading aus den USA wird hier nicht erwähnt. Es war eine sehr großzügige Spende, aber das ist alles.«

»Warum sollten sie an ein Kloster in einem fremden Land spenden? Ist diese Schwester Consuelo noch hier?«

»Schwester Consuelo ist jetzt eine alte Frau und wird sich an so etwas nicht erinnern können. Es sind die schriftlichen Dokumente, die zählen.«

»Aber Sie haben Kinder zur Adoption nach Amerika vermittelt?«

»Natürlich. Wir haben für viele Waisen ein gutes katholisches Zuhause gefunden.«

»Aber kein Baby für meine Mutter und meinen Vater?«

Mutter Assumpta schnalzte ärgerlich mit der Zunge. »Mir ist klar, dass Sie eine lange Reise auf sich genommen haben, Miss Kading, aber sie war wirklich vergeblich. Es gibt nichts …«

»Aber da muss etwas sein. Kann ich die Akten einsehen?«

»Um die heilige Privatsphäre vieler unglücklicher Frauen zu verletzen …«

»So habe ich das nicht gemeint.«

Mutter Assumpta, eine wuchtige Frau, quetschte sich hinter dem Schreibtisch hervor. »Es tut mir leid, Miss Kading. Leider ist uns diese Situation recht vertraut. Im Laufe langer Jahre verblasst so manche Information oder verschwindet ganz. Niemand ist schuld daran.«

»Sie können doch sicher noch einmal nachsehen, ob Sie einen Fehler gemacht haben.«

Ein Schatten flog über Mutter Assumptas Gesicht. »Ich habe die Unterlagen überprüft, Miss Kading, und sogar die Aufzeichnungen der vorhergehenden und nachfolgenden beiden Tage. Ich kann nichts weiter für Sie tun, als Ihnen Glück bei Ihrer Suche zu wünschen.«

Sie stand auf und ging zur Tür. »Vielleicht sollte man diese Angelegenheit besser ruhen lassen. Verlieren Sie sich nicht in den Einzelheiten der Vergangenheit, das bringt nur Bitterkeit mit sich. Sie haben ein gutes Leben gehabt, schauen Sie nach vorn, nicht zurück.«

Debbie blieb sitzen. Sie sah Mutter Assumpta an, die einen losen Faden von ihrem Rock zupfte. »Gibt es etwas, was ich tun kann, um Zugang zu den Aufzeichnungen zu bekommen?«

»Was meinen Sie zum Beispiel, Miss Kading?«

Debbie schluckte. »Eine Spende.«

Mutter Assumpta öffnete mit einer fahrigen Bewegung die Tür. »Die Zeiten haben sich geändert, Miss Kading. Glücklicherweise ist dieser Orden nicht mehr auf die Almosen reicher Amerikaner angewiesen. Akzeptieren Sie meine Antworten auf Ihre Fragen. Wir werden Sie in unsere Gebete einschließen.«