Das Christkindl im Walde - Lukas Wolfgang Börner - E-Book

Das Christkindl im Walde E-Book

Lukas Wolfgang Börner

0,0

Beschreibung

Lass dir, lieber Leser, bitte nicht die Besinnlichkeit rauben. Weder von den Rentiergeweih tragenden X-Mas-Fans, noch weniger aber von den Weihnachtsmuffeln, die das Christfest in die Heuchler&Konsum-Schublade zu stecken versuchen – du weißt ja, wie ähnlich sich die beiden Parteien in ihrer Unfähigkeit, kindliche Glückseligkeit von Kitsch zu unterscheiden, sind. Begleite denn lieber die kleine Silvia und ihre sprechende Puppe in den Wald, um noch kurz vor der Bescherung das Christkind aufzuspüren, stehe dem armen Richard angesichts des entsetzlichen Wilden Heeres während der Kriegsweihnacht 42 bei, verfalle der bezaubernden Nixe Juveline am Reschensee – und nutze die freie Zeit zwischen den Jahren, um tief in die gleichermaßen befremdlichen wie anarchischen Gesetzmäßigkeiten des kindlichen Spiels vorzudringen. In zahlreichen liebevoll illustrierten Geschichten wirst du viele alte Bekannte, wie das Christkind, St. Nikolaus, die wilden Perchten sowie den Weihnachtsmann und Knecht Ruprecht, wiedertreffen, aber auch den schwedischen Wichtel Tomte und Italiens wohl berühmteste Gabenbringerin – die Hexe Befana.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 208

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



© 2023 Lukas Wolfgang Börner

Coverdesign und Illustrationen von: Sabrina Börner (https://www.boerner-kunst.de/)

ISBN Hardcover: 978-3-384-05511-8

ISBN E-Book: 978-3-384-05512-5

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Lukas Wolfgang Börner

Das Christkindl im Walde

Inhalt

Cover

Urheberrechte

Titelblatt

Nikolausspruch.

Das Christkindl im Walde

Sankt Nikolaus & die Spukgesellen.

Der Wichtel.

Das Räuchermännchen

Horch zu, gib acht!

Das Schlaraffenschweinderl

Juveline Das Nixele vom Reschensee

Weihnachtssonett.

Zwischen den Jahren

Das Christkindl im Walde

Cover

Urheberrechte

Titelblatt

Nikolausspruch.

Zwischen den Jahren

Das Christkindl im Walde

Cover

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

128

129

130

131

132

133

134

135

136

137

138

139

140

141

142

143

144

145

146

147

148

149

150

151

152

153

154

155

156

157

158

159

160

161

162

163

164

165

166

167

168

169

170

171

172

173

174

175

Nikolausspruch.

Wenn lange Schatten wie Gespenster

diese Ortschaft schwarz bemalen,

wenn durch eisbeblümte Fenster

warme Kerzen nachtwärts strahlen,

wenn die Stille wie ein Schleier

heimelig auf Erden lastet,

wenn im Tann wie im Gemäuer

alles döst, was sonsten hastet,

dann macht sich der Winter breit.

Was unsre wirkliche Gestalt ist,

zeigt die graue Jahreszeit,

denn Wärme spürt man, wenn es kalt ist.

In der Wiege kalten Schnees,

hoch oben in der Wolkenklüften

bat das Christkind mich indes

zu prüfen, was wir immer prüften:

Ob die Kinder hier auf Erden

artig oder boshaft seien,

würdig, reich beschenkt zu werden,

oder nach der Rute schreien.

„Steige,“ sprach das Heilge Kind,

„hinab zur Erde in den Tann,

dort, wo die rauhen Perchten sind,

und gehe zu den Kindern dann.“

Und ich stieg hinab vom Himmel,

und auf eine Waldeslichtung.

Das Spektakel, das Gebimmel

drang wie sonst aus jeder Richtung.

Finstre Schemen, grimme Schatten

huschten, hetzten immerfort,

wo Flocken braunes Moos bestatten:

Spukgestalten hier wie dort!

Ich sah sie jäh die Nüstern weiten,

„Kinder, Kinder“, schnurrten sie.

„Nur einer darf mich heut begleiten!“,

schimpfte ich – da murrten sie.

Der größte Krampus unter ihnen

trabte mit mir durch Gesträuch,

erstarrten Schlamm, durch weiße Dünen

stetig nach der Stadt: Zu euch.

Ich bin in Persien geboren

und ich kenne Prunk und Pracht,

Paläste, blau, mit goldnen Toren

wie in Tausendeiner Nacht.

Ich weiß, wie appetitlich südlich,

wie man köstlich östlich thront.

Ach, aber nochmal so gemütlich

scheint das Heim, das ihr bewohnt.

Rote Kerzen glühen heilig,

duftend glänzt das Tannengrün,

die Weihrauchschwaden träumen bläulich

sich zum fernen Frühling hin.

Am Tisch der Keks das Kipferl küsst,

der süße Punsch tanzt durch die Wohnung –

horcht nur, liebe Leut: Das ist

für rechtes Leben die Belohnung.

Also bleibt mir nur zu hören:

Habt ihr Kinder euch benommen?

Darf ich Naschwerk euch bescheren

oder muss der Krampus kommen?

***

Das Christkindl im Walde

 

Stadtkinder sind so blöd, dachte Silvia, während sie verlegen in ihrem Griffelkasten kramte. Ihre Mitschüler lachten. Frau Haberfelder stand vor der Tafel und bemühte sich, die Klasse ruhig zu kriegen. Doch der Umstand, dass sie selber sich das Lachen kaum verkneifen konnte, machte jeden ihrer Versuche überflüssig.

„Schschsch!“, feixte die Musiklehrerin hinter einem erhobenen Zeigefinger hervor.

Silvia war ein kleines Mädchen mit runden Bäckchen und schulterlangem dunkelblonden Haar. Sie schaute zu ihrem Schulranzen hinunter. Polly schaute ihr entgegen. Früher hatte sie ihre Puppe nicht mit in den Unterricht genommen. Ja, selbst in den Kindergarten war sie stets allein gegangen. Da hatte sie auch genug Freunde gehabt. Doch Irmi, Dani, Heidi und Ingi waren in ihrem Dorf geblieben und besuchten dort die zweite Klasse bei Frau Gschwendtner. Und auf dem Platz neben der Irmi, wo sie einst gesessen war, saß nun vermutlich die Dani.

Ihre Klassenkameraden lachten noch immer und Frau Haberfelder hatte noch immer nicht zum nötigen Ernst gefunden. Polly, die in einer Seitentasche des Schulranzens saß, rümpfte die Nase über die Lehrerin.

„Wenn ich so eine buschige Blödfrisur hätte wie die, würde ich mal ganz still sein!“, sagte Polly und strich sich mit ihrer Plastikhand durch das glänzend blonde Haar. Silvias Laune besserte sich ein wenig. Wenigstens Polly hielt zu ihr. Sie war zwar nur eine Puppe, ganz aus Plastik und ein bisschen arrogant, aber sie war hier in der Stadt ihre beste und treuste Freundin. Auch wenn Silvia vom Charakter ganz anders war, fühlte sie sich doch von ihr verstanden.

Hier in Tupfing war sie hingegen nur angeeckt.

Es war Dezember. Das heißt, sie besuchte die zweite Klasse erst seit gut drei Monaten. Und bereits im September hatte sie sich einen Mahnbrief an ihre Eltern eingehandelt. Die Anklage lautete: „Vulgärstes Vokabular gegenüber einer Mitschülerin“. Aber Silvia hatte gar nicht vorgehabt, ihre Mitschülerin Saskia so zu beleidigen. Sie hatte nur gesehen, dass Saskia keine Lust hatte, ihr Federmäppchen zu benützen. Stattdessen warf sie all ihre Buntstifte, den Radiergummi und den Füller einfach so in den Ranzen. Und wenn sie mit dem Spitzer ihre Stifte spitzte, warf sie die Späne nicht in den Papierkorb, sondern grad wieder in den Ranzen. Daraufhin hatte sie zu Saskia gesagt, dass sie eine alte Schlampe wäre. Im Dorf war das kein schlimmer Ausdruck gewesen, aber hier hatten sich gleich vier Schüler gemeldet und sie bei der Lehrerin verpetzt. Gott sei Dank hatten Mama und Papa nur gelacht und den Wisch unterschrieben. Wenigstens sie waren die gleichen geblieben.

Ihre neuen Mitschüler waren ganz anders als ihre alten. Sie petzten ständig, ja, selbst, wenn man ihnen nur die Zunge raustreckte, verpetzten sie einen. Außerdem redeten sie alle wie Nachrichtensprecher, ganz aufgesetzt und geschwollen. Man durfte hier nicht „Was?“ oder „Ha?“ sagen, wenn man etwas nicht verstanden hatte. Nein, man bekam immer die gleiche blöde Antwort zu hören: „Das heißt: Wie bitte?“ Silvia hatte in ihrem achtjährigen Leben noch niemals jemanden „Wie bitte?“ sagen hören. Kein normaler Mensch redete so!

Der Grund, warum die ganze Klasse lachte, war folgender: Frau Haberfelder hatte eine Auswahl an Musikinstrumenten mitgebracht und wollte diese von ihren Schülern richtig benannt kriegen. Da waren einige seltsame Gebilde dabei mit noch seltsameren Namen wie Dreh-Angel oder Kastanietten. Deshalb verstand es Silvia gleich dreimal nicht, warum es so schrecklich witzig oder furchtbar war, dass sie auf eine Mundharmonika gezeigt und dazu „Fotznhobl“ gesagt hatte.

In der darauffolgenden Stunde schrieben sie eine Arbeit. Die Schüler sollten sich alle ein Stück voneinander wegsetzen, damit sie nicht vom Nachbarn abschreiben konnten. Silvia fand solche Maßnahmen lächerlich. Denn warum sollte man in Deutsch oder Rechnen abschreiben? Wo war denn da die Schwierigkeit? Sie hatte nur ein einziges Mal in einer dieser Arbeiten nicht die volle Punktzahl erhalten. Das war, als verschiedene Namenwörter auf dem Papier standen und man die richtigen Artikel davor schreiben musste. Da hatte sie vor das Wort „Radio“ „der“ geschrieben, also „der Radio“. Richtig wäre aber „das Radio“ gewesen. Aber von diesem Fehler abgesehen, hatte sie immer alle Aufgaben richtig gelöst.

Diesmal hatten sie kleine Bilder auf dem Blatt und sollten die richtige Bezeichnung dafür hinschreiben. Die Arbeit bezog sich offensichtlich auf die letzte Stunde, in der sie über Milch- und Eiweißprodukte geredet hatten. Abgebildet waren eine Kuh, ein Gockel, eine Geiß, ein Ei, eine Portion Schlagrahm, ein Käs und ein Topfen im Becher. Gähnend schrieb Silvia die Worte „Kuh, Hahn, Ziege, Ei, Sahne, Käse, Quark“ hinter die Abbildungen und drehte das Blatt um. Sie ließ ihren Blick durch die Reihen schweifen. Die meisten Kinder schrieben fleißig. Zwei, drei andere waren auch schon fertig und hatten ihr Blatt umgedreht. Silvia wechselte einen Blick mit Polly, die ihre schmalen Augenbrauen lupfte.

„So was ist doch kinderleicht!“, sagte sie und Silvia nickte. „Schau nur, wie der neben dir sich abrackert!“, fügte Polly mit einem gehässigen Grinsen hinzu und deutete auf Silvias Banknachbarn.

Basti saß vor dem Blatt Papier und kaute an seinem Lamy herum. Obwohl Silvia ihre Puppe gewöhnlich tadelte, wenn sie andere Leute derart ausrichtete, konnte sie sich diesmal das Grinsen nicht verbeißen. Vor einer Stunde hatte Basti genau wie die anderen über sie gelacht. Dass er nun selbst so hilflos war wie sie vorhin, fand sie irgendwie gerecht.

Basti saß da und wirkte, als wäre er gerade auf dem Wege zum Schafott. Er tat sich in der Schule enorm schwer, obwohl er sich bemühte wie kein anderer. Er hatte rehbraune Haare, einen runden Kopf und dunkle Augen, die nun zusehends verzweifelter dreinschauten. Je länger Silvia ihn so beobachtete, desto mehr stieg Mitleid in ihr auf. Denn Basti hatte im Grunde einen guten Charakter, aber Silvia wusste, dass er auch ein bisschen dumm war. Er war der einzige aus der Klasse, der selbst seinen eigenen Namen falsch schrieb.

Während sie ihn so beobachtete, bemerkte sie, dass Basti begonnen hatte, unter seiner Bank herumzukruschen. Dann schaute er zu Frau Amsler, ihrer Deutschlehrerin, auf, die vorn am Pult saß und selbst irgendetwas schrieb, zog vorsichtig ein Heft unter seiner Bank hervor und blätterte mit einer Hand darin. Silvias Augen weiteten sich, als sie sah, dass es das Deutsch-Schulheft war. Basti spickte!

„Verpetz ihn!“, zischte Polly aus dem Ranzen heraus, die den Vorgang ihrerseits beobachtet hatte. „Verpetz ihn! Er würde dich auch verpetzen!“

Doch Silvia rührte sich nicht. Gebannt schaute sie zu, wie Basti ein Wort nach dem andern nachschlug und in seine Arbeit eintrug. Noch einmal vergewisserte er sich, dass Frau Amsler nichts bemerkte, dann erst schaute er sich um, ob er vielleicht von Mitschülern beobachtet wurde, und blickte direkt in Silvias gebanntes Gesicht. Basti versteinerte. Sein Mund klappte auf und seine Haut wurde leichenblass. Er begann, den Kopf zu schütteln, als wollte er sagen: Du verpetzt mich doch nicht, oder?! Bitte verpetz mich nicht!?

Silvia betrachtete ihn und grinste. Dann hob sie ihren rechten Arm. Nun schüttelte Basti noch energischer den Kopf. Sein Gesicht hatte einen flehenden Ausdruck, seine Haut einen ungesund gräulichen Farbton angenommen. Er war ohnehin schlecht in der Schule. Null Punkte wegen Spicken konnte er sich auf gar keinen Fall leisten. Während sich Frau Amsler erhob und auf sie zukam, kramte Basti aus seinem Ranzen eine Wurstsemmel. Er deutete auf die Semmel und dann auf Silvia. Doch sie grinste nur und ließ ihren Arm oben. Immer heftiger und verzweifelter gestikulierte er, doch seine Banknachbarin ging nicht darauf ein. Als die Deutschlehrerin vor ihr stand, war Basti in sich zusammengesackt.

„Ja? Was ist?“, flüsterte Frau Amsler Silvia zu.

„Ich bin fertig“, entgegnete sie so laut, dass Basti es hören konnte, und gab ihre Arbeit ab.

Während die Lehrerin mit ihrer Arbeit zum Pult zurückging, lächelte Silvia ihrem schweißgebadeten, aber vollkommen erleichterten Banknachbarn zu.

*

 

Die Schulglocke läutete. Die sechste Stunde war endlich vorbei.

„Ferien!“, rief Silvia und Basti nickte.

„Gehen wir jetzt zusammen heim?“, fragte er zögernd. Er wohnte nur ein paar Straßen von Silvias Familie entfernt. Trotzdem waren die beiden bisher nie zusammen gegangen.

„Ach, wie süß,“ lästerte Polly vom Schulranzen herauf, „ich glaube, da ist jemand verknallt.“

„Psst!“, zischte Silvia mit unterdrücktem Kichern und zog den Reißverschluss ihres Ranzens zu. Dann wandte sie sich an Basti und schüttelte den Kopf.

„Geht nicht. Heute ist Freitag und da holt mich meine Schwester immer ab, weißt du. Da gehen wir shopping!“

In Wirklichkeit gingen Anna und sie gewöhnlich nur etwas zu Mittag essen und danach Kleider und Schaufenster anschauen. Nur ein einziges Mal hatte sich ihre große Schwester einen Jeansrock gekauft. Aber Silvia liebte es trotzdem, vom Shopping-Tag statt vom Freitag zu reden. Erstens, weil sie gerne durch die Innenstadt mit all ihren Geschäften schlenderte, was sie als einzigen Vorteil der Stadt gegenüber dem Dorf betrachtete. Zweitens verbrachte sie gern Zeit mit ihrer Schwester. Die Tage, an denen sie etwas gemeinsam unternahmen, waren nämlich rar geworden. Anna war dreizehn und hatte sich hier viel besser eingelebt als Silvia. Sie besuchte die siebte Klasse des benachbarten Gymnasiums und war die letzten zwei Jahre jeden Tag zwischen Tupfing und ihrer Heimat hin- und hergependelt, weil es auf dem Dorf kein Gymnasium gab. Und sie war fast jeden Tag mit ihrer Freundin Marie zusammen, die in einem großen Haus am Waldrand wohnte. Silvia mochte auch Marie und wäre schon manches Mal gerne mit den beiden herumgezogen oder hätte ihnen in ihrer geheimen Waldhütte Gesellschaft geleistet. Doch Anna ließ sie nur ganz selten dabei sein. Doch der gemeinsame Shopping-Freitag war auch ihr immer heilig gewesen. Das war ein halber Tag, der nur den beiden Schwestern gehörte.

„Oh“, sagte Basti und zog sich seine orangene Straßenverkehrsmütze über die Ohren. „Sagst du’s der Frau Amsler auch wirklich nicht?“, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu.

Silvia, die sich gerade den Schal um den Hals wickelte, schüttelte den Kopf und Basti bedankte sich. Dann verließen die beiden das Schulgebäude.

Anna wartete wie immer an der Kreuzung. Die Autos mussten langsam fahren, weil der Schnee in dicken Flocken auf die Erde fiel. Silvia kam ihr entgegengelaufen. Sie hatte ein so dickes Daunen-Jopperl an, dass sie fast wie eine Kugel aussah. Auf dem Kopf trug sie ihre rote Lieblingsmütze. Anna hingegen war vom Kopf bis zu den Stiefeln in Creme, Beige, Greige und Braun gekleidet. Silvia fand, dass ihre Schwester von weitem ein bisschen wie der Latte Macchiato aussah, den ihre Mama so gerne trank.

„Und? Was essen wir heute?“, fragte Silvia. Ein wenig flehend fügte sie hinzu: „Aber bitte nicht schon wieder Germknödel!“

Die letzten fünf Wochen hatten sie immer Germknödel oder Dampfnudeln essen müssen. Anna hatte darauf bestanden. Das machte Silvia eigentlich nichts aus, gerade Dampfnudeln mit warmer Vanille-Soße aß sie gern. Aber sechs Wochen in Folge? Nein! Das ging nicht. Sie würde den Germknödel genauso, wie er wäre, wieder hinausspeiben.

„Können wir nicht lieber eine Leberkässemmel essen?“, fragte sie.

Anna verzog das Gesicht: „Auf keinen Fall! Ich kann das Zeug nimmer sehen!“

Ihr Papa liebte Leberkäs. Und weil er auch seine zwei Töchter über alles liebte und es gut meinte, machte er den beiden jeden Morgen insgesamt drei Leberkässemmeln für die Schule. Zwei mit süßem Senf für Anna und eine mit Ketchup für Silvia. Und weil er es gar so gut meinte, schnitt er Tag für Tag auch noch eine Essiggurke in Scheiben, mit denen er die Semmeln behutsam belegte. Dass seine Töchter jeden Schultag in der Pause als erstes diese Gurkenscheiben wieder entfernten, wusste er nicht. Und keine der beiden wagte es, den Papa, der es immer so gut meinte, aufzuklären. Auch die Tatsache, dass die Leberkässcheiben immer dicker waren als die gesamte Semmel und Silvia oft Probleme hatte, dies alles überhaupt in den Mund zu kriegen, sprachen die Schwestern nicht an.

„Wir gehen zu unserem Türken und holen uns einen Kebab!“, beschloss Anna und lenkte ihre Schritte Richtung Innenstadt.

„Aber Anna,“ erwiderte Silvia neben ihrer Schwester hergehend, „Papa will doch nicht, dass wir diesen türkischen Fraß essen!“

„Dann soll er erstmal aufhören, dieses türkische G’wasch zu trinken!“, entgegnete Anna. „Kaffee kommt nämlich auch von den Türken!“

„Ja, aber …“, begann Silvia keuchend, weil Anna einen Zahn zugelegt hatte. Im Schnee tat man sich viel schwerer, wenn man kleiner war. „Mama und Papa wollen bestimmt nicht, dass wir mitten im Advent so’n Zeug essen!“

In Wirklichkeit grauste es Silvia nur vor dem vielen Gemüse auf dem Kebab. Sie hatte noch nie einen gegessen, obwohl der Dönermann nett war und im selben Haus in einer Wohnung unter ihnen lebte.

„Der Advent ist der schlechteste Grund, den du dir ausdenken konntest!“, antwortete ihre Schwester. „Weißt du, wo der Nikolaus geboren wurde?“

Silvia, die immer noch Mühe hatte, mit Anna Schritt zu halten, schüttelte den Kopf. „Na, in der Türkei!“

Da verstummte Silvia und Anna, die merkte, dass sie ihre Schwester überzeugt hatte, ging etwas langsamer. Als sie schließlich vor dem eingeschneiten türkischen Imbiss standen, fragte sich Silvia, ob Sankt Nikolaus wohl auch am liebsten Kebab aß.

*

 

„Ah, Anna und Lydia! Habe die Ehre! Grüß Gott!“, rief Seçkin, der Dönermann. Er war ein lustiger Mann von etwa dreißig Jahren. Bei der Arbeit trug er unter seiner Schürze nur ein weißes Unterhemd, aus dem seine behaarten Arme, seine behaarten Schultern und der obere Teil seines behaarten Rückens herausschauten.

„Ich heiße Silvia“, begann Silvia, doch Seçkin fiel ihr ins Wort.

„Na, wo hast du dein kleine Puppe? Die Popopolly!“, rief er und kratzte sich unter der rechten Achsel.

„Dir geb ich gleich Popopolly, du Gorilla!“, rief eine gedämpfte, grantige Stimme hinter Silvia.

„Die ist im Schulranzen!“, kicherte sie.

„Ah, sehr gut! Popopolly muss auch lernen!“, sagte Seçkin. Er steckte zwei Kebab-Fladenbrote in den Toaster und sagte: „Einmal Börek für Anna und einmal Dürüm für Lydia. Und ein Flasche Efes für Popopolly!“

„Lieber zweimal Kebab für Schüler“, entgegnete Anna und legte fünf Euro in Seçkins Hand.

„Ist zu wenig! Zweimal Kebab ist fuchzehn Euro!“, sagte der Dönermann, ohne eine Miene zu verziehen.

„Heute müssen fünf Euro langen“, gab Anna ebenso trocken zurück. Silvia schaute verdattert von einem zum anderen. Während Seçkin das Geld in seine Kasse warf, jammerte er: „So wenig Geld! Ich habe sieben Kinder! Alle wollen Weihnachtsgeschenke!“ Dann stopfte er das Fleisch in die Fladenbrote.

„Alles Sweinefleisch! Ihr lieben Sweinefleisch!“, brabbelte er dabei und schaute die beiden Schwestern erwartungsvoll an. Die zwangen ihr Gesicht in ein Lächeln. Anna hielt den Daumen hoch.

Als Seçkin den Salat und das Kraut in den Kebab stopfte, wollte ihn Silvia daran hindern. Vor allem Blaukraut konnte sie nicht essen! Doch der Dönermann hörte ihre Einwände nicht. Er hatte damit begonnen, „Alle Jahre wieder“ zu singen. Dann wickelte er die zwei Kebabs in Alufolie, steckte sie in eine Tüte und legte noch einen ockerfarbenen Zuckerkringel obendrauf.

Als die beiden Mädchen den Imbiss verließen, wiederholte er: „Ist alles Sweinefleisch! Servus! Habe die Ehre! Schönen Gruß an Popopolly!“

„Blödmann!“, fauchte es aus Silvias Ranzen.

Silvia hatte schon lange nicht mehr so etwas Gutes gegessen. Der Kebab war saftig, das Fleisch war zart, ja, sogar das Blaukraut schmeckte! Ganz im Gegensatz zu dem Kringel, der nach Butter roch und auch nur nach Butter schmeckte. Die Schwestern saßen auf der Bank einer Bushaltestelle – der einzige Ort, wo man noch sitzen konnte. Alle anderen Sitzgelegenheiten waren von dickem Schnee bedeckt.

Die Innenstadt leuchtete, obwohl es ja noch hell war. Aber die vielen von Haus zu Haus gespannten Lichterketten hatte irgendwer bereits eingeschaltet. Und weil der Schnee auch auf den Wegen so dick lag, dass der Schneepflug mit Pflügen kaum hinterherkam, bewegten sich auch die Passanten ruhiger durch die Straßen. Es war nicht das hektische, geschäftige Treiben, was sonst beim Einkaufsbummel herrschte. Nein, es wirkte alles sehr friedlich. Vom Christkindlmarkt stahl sich ein Duft nach gebrannten Mandeln und Waffeln herüber. Silvia fühlte sich auf einmal ganz seltsam. Und ganz plötzlich stieg die Vorfreude auf Heiligabend in ihr auf und ihr Ärger über die Stadtkinder und das Getrenntsein von ihren Freundinnen ertrank darin. Am Sonntag war vierter Advent und am Montag würde das Christkindl kommen!

In diesem Moment lief ein Bub in Annas Alter auf der anderen Straßenseite stadtauswärts.

„Luki!“, rief Anna und der Bub schaute herüber. „Wo gehst du hin?“

Silvia vermutete, dass es sich um einen Klassenkameraden ihrer Schwester handelte.

„Zu meinen Großeltern!“, rief der Bub zurück. Er blieb stehen und wusste offensichtlich nicht, ob er weitergehen oder herüberkommen sollte. Doch Anna nahm ihm die Entscheidung ab.

„Warte, ich begleite dich ein Stück! Ich muss sowieso in die Richtung!“, log sie in voller Lautstärke über die Straße hinweg. Der Bub lächelte.

„Was?!“ – Silvia machte ein bitterböses Gesicht. „Wir wollten doch in die Stadt gehen!“

„Wir waren doch jetzt schon in der Stadt“, wisperte Anna, die aufgestanden war. Sie drückte ihrer Schwester zwei Euro in die kleine Hand und fügte hinzu, während sie über die Straße lief: „Kauf dir eine Waffel davon! Bis später!“

Dann war sie drüben und schlenderte mit dem Buben gemeinsam Richtung Vorstadtwald. Silvias Mund war trocken geworden. Sie blickte den beiden hinterher, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Dann steckte sie das Zwei-Euro-Stück in ihre Joppentasche und ging mit gesenktem Kopf allein in die Innenstadt.

*

 

„HEIẞE WAFFELN MIT PUDERZUCKER NUR 1,50 €“, versprach eine Tafel vor dem Waffel-Stand. Da hätte Silvia sich eine Waffel kaufen können und zudem noch 50 Cent für Seifenblasen oder einen Knackfrosch übriggehabt. Doch sie hatte keine Lust, das Geld auszugeben.

Es war ihr schwer ums Herz. Der Shopping-Tag war noch nie ausgefallen und schon gar nicht wegen eines dummen Klassenkameraden. Hatte sie denn überhaupt keine Freunde mehr? Trennte sich jetzt sogar schon ihre Schwester von ihr? Silvia holte ihre Puppe aus dem Ranzen und ließ sie in der Joppentasche sitzen.

„Sei nicht traurig,“ sagte Polly und zupfte ihrer Besitzerin am Ärmel, „große Schwestern sind nun mal boshaft.“

Eine einzelne Träne kullerte über Silvias von der Kälte gerötete Backe und landete in Pollys Gesicht.

„Brrrr“, machte die Puppe und schüttelte ihren Kopf, dass das Tränenwasser nach allen Seiten spritzte. Obwohl Silvia so traurig war, musste sie doch schmunzeln.

„Lass uns ins Spielzeuggeschäft gehen und schauen, wie hässlich die anderen Puppen sind“, sagte Polly, nachdem sie ihr Gesicht wieder getrocknet und die Frisur gerichtet hatte. Andere Puppen anzuschauen, liebte sie wie sonst nichts auf der Welt. Sie lachte dann laut über „die schiefen Nasen“ oder „die wässrigen Augen“ oder „die geschmacklosen Kleider“ der anderen Plastikmädchen. Silvia hatte daran früher nur wenig Gefallen gefunden, aber jetzt wollte sie auf andere Gedanken kommen. Darum ging sie an den Christkindlmarkt-Standln vorbei in Richtung Spielzeugladen.

Das Geschäft war voller Kinder. Silvia grüßte zwei Mädchen aus ihrer Klasse, die gerade vor einem Fernseher standen. Darin lief eine Werbung für Puppenzubehör.

„Wow!“, sagte Steffi.

„Krass!“, sagte Mia-Francesca.

„Was ist das?“, fragte Silvia.

„Das ist der neue Fashion-Deluxe-Styling-Hairsalon!“, antworteten ihre Mitschülerinnen mit verträumtem Blick.

In dem Werbespot wurden gerade einer Puppe wie Polly die Haare geflochten und Glitzersteine aufgetragen. Der Frisiersalon war mit riesigen Spiegeln auf allen Seiten, motorisiertem Drehstuhl und den verschiedensten Anwendungen zum Feschmachen der Puppen ausgestattet. „Ooooh“, machten Silvia und Polly gleichzeitig. Beiden blieb der Mund offen stehen.

„Den muss ich haben“, ächzte Steffi und begann, ihr Taschengeld zu zählen. Doch es langte vorn und hinten nicht.

„Ich krieg den bestimmt zu Weihnachten …“, entgegnete Mia-Francesca und grinste die anderen herablassend an.

Als beide Mitschülerinnen gegangen waren, sagte Polly: „Vielleicht kriegen wir den ja auch zu Weihnachten.“

„Meinst du?“, fragte Silvia, die den Werbespot nun schon zum achten Mal anschaute. „Meinst du, das Christkindl weiß, wie dringend wir diesen Hairsalon brauchen?“

„Bestimmt!“, antwortete Polly. „Wer sollte das besser wissen als das Christkind? Dass du mich brauchst, hatte es ja auch gewusst.“

Sie hatte Recht. Schlagartig war Silvias gute Laune wieder da. Ab Montag würde alles wieder gut sein. Dann würde sie den Fashion-Deluxe-Styling-Hairsalon haben. Und dann würden sie alle anderen gernhaben können. Sie würde ihrer Puppe die großartigsten Frisuren machen und sie in allen Farben schminken und tätowieren und überhaupt nur noch Spaß haben. Wer brauchte schon Freunde oder große Schwestern!

*

 

„Mapa!“, rief Silvia am Abend vom Badezimmer aus ihren Eltern zu. „Soll ich das Wasser drin lassen?“