Die Storis der Stori vom Goggolori - Lukas Wolfgang Börner - E-Book

Die Storis der Stori vom Goggolori E-Book

Lukas Wolfgang Börner

0,0

Beschreibung

Und wenn ein Kobold in deiner Bibliothek erscheint? Und wenn er droht, sämtliche Märchen darin zu entwenden? Wenn seine diebischen Finger auch vor den märchenhaften Zügen deines Lebens - den schönsten Zügen! - nicht Halt machen, um dich als Philister par excellence zurückzulassen? Wenn nicht weniger auf dem Spiel steht als die vollendete Verblödung durch Vernunft? Doch ruhig - die Retter sind schon unterwegs: Sir Coharz aus Groharz, der die Prinzessin mit dem Kopf eines schottischen Wasserdrachen zu gewinnen sucht, Helgi, der Haddinge-Held, mit seiner geliebten Schwanen-Walküre, der Seefahrer Seçkin, der den Jungfernpalast der widerspenstigen Ayşe zu zerstören sucht, und Prinzessin Fantaghirò werden dir beistehen. Und schon siehst du dich von Faunen und Nixen, Trollen und Labyrinth-Bestien umringt und verschließt die Augen beim Anblick des Neuntöters, der sichelschwingenden Luz und des Leibhaftigen persönlich, um zuletzt in den trüben Blicken des Meisters Lebensfroh neuen Halt zu finden. Zahlreiche liebevolle Illustrationen lassen dich zwischen alpenländischen Rauhnächten und den Ufern des Rheines taumeln, zwischen morgenländischen Palästen und nördlichen Fjorden, zwischen den Tiefen des Meeres und dem Himmelreich, zwischen Vergangenheit und Zukunft, Prosa und Lyrik. Es ist ein erster Schritt gegen die Kleptomanie des Goggolori. Wohlgemerkt: ein erster.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 173

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



© 2021 Lukas Wolfgang Börner

3. Auflage

Autor: Lukas Wolfgang Börner

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Sabrina Börner

[email protected]

www.boerner-literatur.de

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg

ISBN:

978-3-347-24067-4 (Hardcover)

 

978-3-347-24068-1 (e-Book)

Lukas Wolfgang Börner

Die Storis der Stori vom Goggolori

Die Storis der Stori vom Goggolori. Inhalt:

Vorsatz

Die Bestie im Berg

Jasmin & die Lyra

Treu-Ingvild und der Inseltroll

Der Sandpalast

Fernab des rechten Pfades

Die blutige Sichel der Luz

Des Menschen arme Seele

Schlaflos

Meister Lebensfroh unter seinem Kuckuck

Betthupferl: Fantaghirò wohlgestalt

Vorsatz

Es sollte eigentlich nur ein kleiner Scherz sein.

„Hahaha, dieser Lukas,“ sollten meine Freunde sagen, „der ist schon ein rechter Spaßvogel!“ Jeder meiner Beiträge im sozialen Netzwerk – das hatte ich mir vorgenommen – sollte witzig sein. Wann immer ich einen Beitrag schickte, sollten die Freunde denken: Oh, Mann, jetzt kommt wieder etwas irre Komisches!

Aber mit meiner kurzen Märchenparodie bin ich wohl zu weit gegangen. Manchmal wünschte ich, ich könnte das alles rückgängig machen, denn die Arbeit und die Verantwortung, die nun auf meinen Schultern lasten, sind übergroß.

Ich bin ein Germanistikstudent im letzten Semester. Meine Leidenschaft ist das Schreiben von Geschichten. Eines Tages – so hatte ich bis neulich noch gedacht – würde ich einen Roman schreiben, dick wie ein Baumstamm. Vielleicht einen Kriminalroman. Denn diese Romane sind am beliebtesten – warum sollte man seine Zeit also mit anderen Genres vergeuden?

Dieser Traum ist nun geplatzt. Warum? Wegen der Märchenparodie. Ich hatte in einem Anflug von Geltungssucht folgende Zeilen ins Internet gestellt:

Es war einmal eine Witwe, die hatte zwei Söhne. Der ältere Sohn war fleißig und rechtschaffen, der jüngere Sohn aber war ein Arschloch. Viele Tage und Jahre überlegte der große Bruder, wie er diesen ungebührlichen Bruder wohl loswerden könnte. Schließlich lieh er sich von einem reichen Edelmanne allerlei Gold und Silber. Damit trat er an seinen jüngeren Bruder heran und sagte, er habe es am Grunde des nahen Brünnleins gefunden, wo eine versteckte Schatzkammer sei. Da packte den unfeinen Bruder die Gier. Sogleich sprang er in das Brünnlein – und ertrank darin. Da lachte der rechtschaffene Bruder und lebte fortan glücklich und zufrieden.

Mann, Mann, Mann, das ist die perfekte Satire, dachte ich mit meinem Gipskopf. Weil es so wunderbar die Schwarzweißmalerei und die Doppelmoral der Grimm’schen Märchen aufs Korn nimmt.

Wie ich aber so vor meinem Rechner saß und auf die Daumen-hochs meiner Freunde wartete, war mir, als hörte ich ein leises Geraschel. Ich drehte den Kopf und starrte das Bücherregal an, denn von dorther war das Geräusch gekommen. Plötzlich kroch aus dem hintersten Winkel meiner Bibliothek eine vielleicht faustgroße Gestalt hervor. Mit kleinen Händen und Füßen, einem großen Kopf mit langem Kinn und einer Nase, die das Kinn beinahe berührte, stand sie dort auf dem Regal und funkelte mich böse an. Sie war vom Kopf bis zu den Füßen eisgrau wie … nun ja … graues Eis.

„Äh …“, sagte ich.

„Ääähh!“, äffte mich das kleine Geschöpf nach.

„Was … ähm … wer bist du?“, drang es aus meiner Kehle.

„Wer bist du! Wer bist du!“, ätzte der Wicht, indem er sich alle Haare raufte. „Ich bin ein Hutzelmann. Das sieht man doch: Ich habe ja schließlich zwei Beine!“

„Wieso? Ich hab doch auch …“, begann ich.

„Halt den Mund!“, herrschte mich der Kobold an.

Dann sprang er eine Etage tiefer, zog das Grimm’sche Märchenbuch aus der Bücherreihe, tappte weiter, zog Andersens Märchen heraus und bahnte sich einen Weg zu Claudia Otts herrlicher Ausgabe von Tausendundeiner Nacht.

„Was tust du da?“, fragte ich. Doch es war nur ein Hauchen über meine Lippen gekommen und ich musste die Frage wiederholen. Etwas lauter.

Der Kobold schaute stirnrunzelnd auf. Er hatte nicht damit gerechnet, bei seiner Arbeit gestört zu werden.

„Ich nehme deine Märchen mit!“, pfiff er, packte mit enormer Kraft Basiles Pentameron und warf es auf die anderen Bücher, die er auf seinem kleinen Rücken balancierte. Dann blickte er sich um, erspähte eine Reihe weiterer Kunstmärchen und sprang leichten Fußes – als trüge er gar keine Last mit sich – in jene Regal-Etage, um weiter aufzuladen. Mein Wilde! Mein Hesse! Mein Ende!

„Wieso nimmst du meine Märchen mit?“, rief ich, obwohl ich die Antwort schon wusste. Und tatsächlich erhielt ich folgende Aufklärung: „Du bist ihrer j a nicht würdig! “

Da löste ich mich aus meiner Erstarrung, sprang vom Stuhl auf und wollte den Kobold packen. Doch – „AUA!!“ – der Wicht war kälter als Eis. Ich riss mir einige Hautfetzen von der Hand, die am Kobold festgefroren waren.

Der sah das erste Mal heiter aus.

„Jaha,“ kicherte er, „die Schattenwelt steckt mir noch immer in allen Gliedern!“ Sprach’s und zupfte Hauffs Karawane aus dem Regal.

Ich leckte mir die blutende Hand. Eine derartige Kälte war im Reich der Lebenden gewiss kein zweites Mal zu finden – abgesehen natürlich von den Händen meiner Frau. „Darf man denn nicht einmal eine klitzekleine Märchenparodie schreiben? Ist das wirklich so schlimm?“

Der Kobold, der sich eben den Dschinnistan aufladen wollte, versteinerte. Dann drehte er sich mir so langsam und grimmig zu, dass ich trotz seiner geringen Größe vor ihm zurückwich. Sein Kopf mit dem langen Kinn vibrierte.

„Einmal?“, schrie er. „EINMAL??“ Und er sprang durch die Wohnung wie ein eisgrauer Blitz. „Einmal!! Einmal!!“

Dann aber beruhigte er sich ein wenig, hupfte auf den Tisch und zog eine Grimasse. „Hör zu,“ sagte er, während ich noch schlotternd vor ihm stand, „alle, alle Schriftsteller machen heutzutage Märchenparodien. Immer wieder und wieder. Sie sind unfähig, selber schöne, geistreiche Märchen niederzuschreiben, aber sich darüber lustig machen – das geht immer! Sie sind zu blöd, um die Tiefsinnigkeit, das Wunderbare, das Zeitlose dieser Werke zu begreifen, zu begreifen, dass das Märchen der Beginn und Kern der Literatur an sich ist! Stattdessen schreiben sie belanglose Fortsetzungsromane und halten sich, sobald sie einen Bestseller landen, für Goethes Wiedergeburt. Es regt mich auf! Es macht mich krank! In hundert Jahren wird niemand auch nur noch einen dieser Autoren kennen!“

Er machte eine Pause, um Luft zu schnappen.

„Und ebenso empören mich die heutigen sogenannten Märchenautoren. Da kenne ich Frauen, die schreiben über Jahrzehnte hinweg äußerst mittelmäßige, natürlich aber erfolgreiche Romane. Dann glauben sie, es wäre witzig, auch noch innerhalb weniger Monate ein Märchenbücherl nachzuschieben. Sie investieren Jahrzehnte in ihre Romane und für ihr Märchenbücherl nehmen sie sich gerade einmal ein paar Monate Zeit!? Sie schreiben die Märchen,“ – seine Stimme war zu einem Jaulen geworden – „als wären es keine ernstzunehmenden Geschichten. Es sind ja nur Märchen! Nur ein kleiner blödsinniger Spaß für Kinder! Ja, jawohl: Auch sie werden in der Versenkung verschwinden, versickern, genauso wie diese Sintflut an Romanen! Aber die echten Märchen werden lebendig bleiben. Und weißt du, warum?“

Ich öffnete den Mund, doch die Frage war offenbar rhetorisch gemeint.

„Weil die Märchenwelt ein Bestandteil der menschlichen Seele ist.

Märchen sind mehr als nur Geschichten. Wenn einem Menschen das Märchen fehlt, wird er trübsinnig. Er verkümmert an den Grenzen seines Schrebergärtchens und weiß nicht einmal, dass er diese Grenzen selber gezogen hat!“

Einen Moment herrschte Stille.

Ich hatte nicht alles verstanden, was der Kobold geschimpft hatte. Aber mir wurde allmählich klar, dass er nicht nur die Märchenbücher entwenden würde. Er würde mir alles Märchenhafte in meinem Leben wegnehmen! Ich brach zusammen. Der Kobold betrachtete mich mit Genugtuung.

„Aber ich bin nicht so wie die anderen Autoren!“, wimmerte ich endlich unter Tränen. „Ich liebe Märchen!“

„Warum vergeudest du dann deine Zeit mit Parodien? Mit Kriminalromanen? Warum schreibst du keine wirklichen, schönen Märchen nieder?“ Und er drehte sich um, sprang zu der Stelle des Regals, wo die romantischen Dichter standen, und zupfte deren Kunstmärchen heraus. Meinen Mörike und meinen Tieck, meinen Eichendorff und meinen Chamisso, meinen Storm und … ach! meinen lieben, lieben Hoffmann!

„Bitte!“, plärrte ich. „Meine Frau ist schwanger. Bald werden wir ein Kind haben! Wie soll ich es denn in die Märchenwelt einführen, wenn du sie mir wegnimmst? Wie sollen wir je mit ihm spielen, wie Ostern oder Weihnachten feiern?“

„Das hättest du dir früher überlegen müssen, bevor du diese platte Parodie verbreitet hast!“, entgegnete der Kobold. Trotzdem klang seine Stimme milder.

Ich aber fiel auf den Teppich, versenkte die Nase in den grünen Stoff und weinte. „Gibt es denn gar keinen Ausweg?“

Da – endlich – unterbrach der Kobold seine Arbeit. Es schien, als hätte er, wie ich so weinte, doch etwas Mitleid mit mir bekommen. Nach einer Weile räusperte er sich und sagte: „Nun ja … doch. Es gibt eine Möglichkeit. Sie ist zugegebenermaßen absurd … aber du hast ja zumindest den Hauch eines Dichter-Talents. Höre mich also an: Wer so gegen die guten Sitten des Märchenhaften verstoßen hat wie du, der kann nur auf eine einzige Weise die Märchenwelt zurückgewinnen.“

„Wie denn?“, schluchzte ich und schnäuzte mich in den Teppich.

„Er muss Märchen schreiben, die an Fantasie und Tiefe den großen Märchen, die ich dort gestapelt habe, in nichts nachstehen. Er muss beweisen, dass er ihre Großartigkeit begriffen hat, und zugleich die Märchenwelt erweitern. Und dies alles muss er in drei Büchern tun, wovon ein jedes drei mal drei Märchen enthalten muss!“

„Drei Bücher? Drei mal drei Märchen?“, wiederholte ich.

„Drei Bücher. Drei mal drei Märchen“, bestätigte der Kobold.

„Das sind ja siebenundzwanzig Märchen!“

„Du bist ein mathematisches Wunderkind.“

Ich ignorierte des Gefrotzel des Kobolds. „Und wenn ich das nicht schaffe?“

„Dann werde ich kommen und sämtliche Märchen deiner Familie tilgen und zwar bis in die dritte Generation hinein!“, antwortete der Kobold drohend.

Ich erhob mich vom Teppich und starrte den eisgrauen – wie hatte er noch gesagt? – Hutzelmann an. „Da bin ich ja mein ganzes Leben damit beschäftigt!“

„Das ist ja nicht mein Problem.“

„Wenn ich aber davor sterben sollte?“

„Dann hoffe ich auf deine Nachkommen!“, meckerte der Kobold, machte eine Verbeugung, sprang davon und verschwand in den Untiefen der Bibliothek.

Tja.

Ich denke, alles Weitere erklärt sich irgendwie von selber.

Drecks-Märchenparodie! Keiner meiner Freunde fand sie lustig!

Lukas Wolfgang Börner

Die Bestie im Berg

ein Rheinmärchen

Traum

Wände zittern!

Jäh erschüttern

dich die Schreie,

es zu füttern.

Nimmermehr!

Du möchtest fliehn!

Ohne rasten

wirst du hasten,

panisch nach dem

Ausgang tasten –

du indes

vermauerst ihn.

*

Ein Hoffnungsstreif

ls es bereits unerträglich war und die Wände hoch in den Himmel hinaufragten und allein das Rauschen des Rheines noch von seiner Existenz zeugte, fiel ein Schatten in dein Felsengefängnis und jäh zeichnet sich ein Gesicht gegen den grellblauen Himmel ab. Du stutzt und streichst dir hastig den Schmutz vom Hemde.

„Huch? Was tust du denn da unten – in jenem grausigen Labyrinthe?“, ertönt eine Stimme und ist die Stimme eines blutjungen Mädchens.

„Und was tust du dort oben?“, rufst du zurück und erbebst beim Klange deiner eigenen Stimme, die du doch so lange nicht mehr hörtest.

„Ich wollte mir die Burg auf dem Gipfel des Berges besehen“, erwidert es. „Sie scheint mir ja gänzlich verlassen zu sein.“

Du zauderst.

„Die … Burg steht noch?“, rufst du, aber nur, um das Mädchen zu halten. Mit zusammengekniffenen Augen musterst du es. Ein schwarzer Regen ist sein Haar, sein Gesicht ein Hoffnungsstreif. „Gewiss ist es eine bloße Ruine.“

Das Mädchen schüttelt heftig den Kopf. „Es sieht keineswegs einer Ruine gleich – die Türme stehen ja fest in ihrem Sockel und die Zinnen sind vollständig.“

Nachdenkliches Schweigen.

Erst nach einer Weile fügt es hinzu: „Ist es deine Burg?“

Du nickst und weißt nicht, ob es das Mädchen gesehen hat. „Durchaus ist es meine Burg.“

„Was tust du dann dort unten?“

Was tust du dann dort unten?

Solltest du dem lieblichen Geschöpf die Wahrheit sagen? Dass du in den Spalten und Furchen deines Berges so lange nach Schätzen grubst, dass du zuletzt ein Gefangener deiner Selbstsucht wurdest? Das aber würde das Ende der Unterhaltung bedeuten.

„Ich bin in die Tiefen des Labyrinths gestürzt und werde letztlich hier verschmachten. Es gibt zwar Pilze und durchaus schmackhafte Moose und das Rheinwasser plätschert weiter unten über die Felswände …“

„Ich kann dir helfen heraufzukommen“, unterbricht dich das Mädchen. „Ich hole ein Seil. Und dann können wir gemeinsam zu deiner Burg hinaufsteigen.“

Das Blut pocht dir in den Schläfen.

„Das … das würdest du tun?“

„Ich bin gleich wieder da!“

„Aber du kennst mich doch gar nicht!“

„Adieu!“

„Aber du kennst mich doch gar nicht!“

Stille.

*

Der letzte Ausweg ist das Seil

Ein Seil weckt dich aus dem Schlummer. Das Rot des Abends hat dem Nachtblau indes platzgemacht, drei Sterne blicken auf dich hernieder. Höhnisch. Unwillkürlich knotest du eine Schlaufe in das Seil.

„Was tust du da?“

Die Mädchenstimme durchfliegt wieder die Gänge. Du siehst auf, siehst in sein pausbäckiges Antlitz, schämst dich.

„Darin kann ich mich besser festhalten“, lügst du. „Aber du wirst das Seil kaum halten können.“

„Ich habe es um einen Eschenbaum gebunden“, erwidert es nicht ohne Stolz. Du hörst es kichern. Du … liebst dieses Mädchen.

„Komm schon!“, ruft es.

Hat es denn keine Angst? So allein im Gebirge bei Einbruch der Nacht? Weiß es denn nicht, wie gefährlich das ist?

Du kannst den Blick nicht von ihm lösen. Wie alt wird es sein? Sechzehn? Siebzehn? In jedem Fall muss es eine wohlbehütete Kindheit hinter sich haben.

„Nun komm schon!“

Du ergreifst das Seil, rührst dich aber nicht.

„Wieso hilfst du mir?“

„Wieso? Du bist in Not. Wieso sollte ich dir nicht helfen? Zumal du mich zum Dank durch die Gemächer der Burg führen kannst.“

Du ziehst dich am Seil hinauf, die Schuhe auf der Felswand. Bisweilen rutschst du an den schlüpfrigen Moosen ab, taumelst – und kommst der Kante doch Schritt für Schritt näher. Das Seil aber reibt sich an den äußeren Steinzacken, über die es gespannt ist, auf. Du hörst, wie Faden um Faden dem Strange untreu wird.

„Es ist nimmer weit“, ruft das Mädchen.

Du weißt, dass es noch weit ist – und dennoch tut es wohl, eine liebevolle Stimme zu hören.

„Nur mehr ein paar Schritte.“

In der Mitte verzagst du schier, gehst ins Hohlkreuz, forderst den Herrgott heraus. Aber das Mädchen streckt sein Händchen nach dir aus und du fasst neuen Mut.

Was wäre es wohl für ein Gefühl, wieder oben zu sein? Auf dem Berge zu stehen, den hehren Rhein dahinfließen zu sehen, deine Burg und deine Kammern wieder zu betreten – frei zu sein?

Das Seil will reißen. Nicht jetzt! Bitte nicht jetzt!

„Nimm meine Hand!“, hörst du die Stimme. Sie ist ganz nah.

Das Seil reißt, du aber tust einen Satz und bekommst die ausgestreckte Hand zu fassen.

„Ich hab dich! Ich hab dich!“, rufst du.

Du lachst, das Mädchen aber kreischt. „Herrje! Du bist zu schwer! Du bist zu schwer!“

Es versucht, sich am oberen Seilstück festgehalten, aber zu spät – schon stürzt es mit dir in die Tiefe.

*

Die Bestie erwacht

Das Mädchen liegt in deinen Armen. Nicht kosend, sondern angstgelähmt. Denn eben dröhnt es in den Untiefen des Labyrinths, dass die Felsen beben.

„Was ist das?“, wimmert es.

Seine Brüste drücken sich fest gegen deinen Bauch, du versenkst bestürzt die Nase in seinem Haar. Nach der Sonne duftet es, nach der Sonne und dem Abendwind. Und der süßesten, vollkommensten Weiblichkeit.

„Das ist die Bestie“, erwiderst du.

„Die B-Bestie?!“

„Ein Untier ist es, ein Scheusal. Eine zottige, grimme Kreatur.“

„Aber was … was will sie?“

„Jungfernblut will sie. Immerzu will sie Jungfernblut.“

„Jungfernblut?“

Das arme Mädchen dauert dich, wie es so weint und sich festkrallt, derweil das ferne Brüllen sich verstärkt.

„Es muss dich gewittert haben.“

Das Mädchen löst sich von dir, sucht die Felswand emporzuklettern. Du hilfst ihm – aber nur um ihm die Ausweglosigkeit der Lage vor Augen zu führen.

„Oh Gott, oh Gott, oh Gott!“

Eben entfernt sich das Gebrüll, doch du weißt, dass die Bestie bloß einen Umweg im Labyrinth nimmt, sich in wenigen Augenblicken aber umso schneller nähern wird.

„Gibt es denn keinen Ausweg?“, jammert das Mädchen. Sein rundes Gesicht ist blasser als der Mond des Nachthimmels. Du blickst auf. Alle Sterne sind zusammengekommen, sich am Unglück des Mädchens zu laben.

„Ich habe schon unzählige Male nach einem Ausweg gesucht. Allein – es war stets vergebens.“

„Frisst das Biest denn wirklich jedes Mädchen, das es in die Krallen kriegt?“

„Jede Jungfer“, verbesserst du es, ohne ein Zucken deines Mundwinkels unterdrücken zu können. Das Mädchen starrt dich an. Hellwach ist sein Blick.

„Er frisst nur Jungfern?“, fragt es. „Keine …“ – es zögert und fährt mit gedämpfter Stimme fort – „… keine Frauen?“

Dein Nicken geht im tosenden Gebrüll unter. Steinsplitter prasseln von den Wänden, mit weit aufgerissenen Augen sucht das Mädchen deinen Blick.

„Dann lass uns um Himmels willen keine Zeit verlieren!“, schreit es, unwillkürlich seinen Rock hochreißend. Mit einer Hand deutet es dir an, die Hose auszuziehen.

Der Gestank des nahenden Raubtiers treibt dir die Tränen in die Augen. Nichtsdestotrotz erregt dich die jähe Nacktheit des Mädchens.

Als die Bestie um eine Ecke stürmt, sitzt die Liebliche bereits auf dir. Ein Suchen, ein Ruck, ein spitzer Schrei!

Und die Bestie entfernt sich so schnell, wie sie gekommen ist.

*

Deine Frau und du

Und was seid ihr nicht schon durch die Gänge des Labyrinths gewandelt! Und habt doch all die Tage und Monate keinen Überblick über die vielfach verschlungenen, nach oben und unten führenden Wege gewinnen können. Allein an den Ort des Stelldicheins kamt ihr immer wieder zurück. Von der Bestie indes fehlte jede Spur.

„Wo gibt es Wasser?“, waren die ersten Worte deiner Frau gewesen, sowie sie ihr neues Zuhause nicht wenig beklommen begutachtet hatte.

Und du hattest dir das Blut mit feuchten Moosen vom Leibe gewischt, sie an der Hand gefasst und in die tiefsten Schlüfte des Berges geführt. Und überall hatte sie innegehalten und auf die Bestie gelauscht, doch allein das Tröpfeln der jungen Stalaktiten war an ihr Ohr gedrungen. Du aber führtest sie weiter hinab und den einzigen Weg entlang, den du gleich deiner Westentasche kanntest – denn ein unscheinbar bunter Glanz geht von seinem Ziele aus. Bald bliebst du in dem gewaltigen Höhlengewölbe stehen, das von fluoreszierenden Quarzen in maigrüne und violette Farben getaucht wird, und lachtest angesichts des offenen Mundes deiner Geliebten. Und beobachtetest mit Ergötzen, wie sie an das Wasser herantrat, das glatt wie ein Spiegel die gegenüberliegende Höhlenwand hinabregnete und im porösen Gestein verschwand, und wie sie die Verdopplung der bunten Pracht und Größe des Gewölbes bestaunte.

„Es ist ja wunderschön“, flüsterte sie endlich und ihre Lippen zogen die letzte Silbe tonlos in die Länge.

„Es ist nicht viel, was ich dir bieten kann“, erwidertest du. „Mit den Bergen und Tälern, den Burgen und dem hehren Rheine kann es durchaus nicht mithalten, gleichwohl … “

Gleichwohl standet ihr lange, fest umschlungen vor dem glatten Wasserfall und betrachtetet eure farbenfroh tanzenden Gesichter.

Und ihr aßt die Pilze und Moose des Labyrinths und zähltet des Nachts die Sterne am fernen Himmel und suchtet, nicht an die Gefangenschaft oder die grimme Bestie zu denken, derer ihr ausgeliefert wart.

Erst, als sich dein Liebling über den gleich einem Felsvorsprung gerundeten Bauch strich und sprach, dass sie ein Kind erwartete, tat dein Herz einen schmerzvollen Sprung.

„Was meinst du“, frugst du beklommen, nicht imstande, auch nur für einen Augenblick den freudig Überraschten zu mimen, „welches Geschlecht mag das Kind wohl haben.“

Da aber lachte sie: „Ein Mädchen wird es ohne allen Zweifel! In unserer Familie gab es immer nur Mädchen. Neun Schwestern waren wir daheim und selbst meine Urahne …“

Aber du hörtest nicht mehr zu. Es gellte dir in den Ohren bei dem Gedanken, wie lange es wohl dauern mochte, bis die Bestie wieder erwachen würde.

Es gab ja keine Möglichkeit, das Kind zu schützen, keine Möglichkeit zu fliehen, kein Schwert und keine Waffe, die Bestie zu bekämpfen.

Allein die Hoffnung, doch einen Knaben zu bekommen, bleibt dir indes.

*

Die Flucht

Doch wann immer das Kind im Bauche deiner Liebsten strampelt, wann immer es gegen die streichenden Hände tritt, so schält sich ein dämonisches Brummen aus der Stille des Labyrinths, so tief und dröhnend, dass die Steinsplitter auf dem Boden tanzen – und deine Hoffnungen auf einen Knaben liegen brach.

Du wirst still, wirst schwermütig, kannst die Freude deiner Frau auf ihren Nachwuchs nicht erwidern, denn immer häufiger hörst du die Bestie. Des Nachts, wenn du mit ihr – deiner Liebe, deinem Leben – umschlungen unter den Sternen liegst und sie zufrieden neben dir schlummert, hörst du das Ungeheuer die entsetzlichen Nüstern weiten und Witterung aufnehmen – und möchtest schier vergehen vor Angst.

Dann spürst du die kleinen Fäuste, wie sie gegen die Wand des Bauches ankämpfen. Wie tapfer du bist, meine Kleine, denkst du. Wie oft habe ich nicht das Nämliche probiert.

Aber, denkst du weiter, habe ich es wirklich probiert? Habe ich wirklich alles versucht? Oder waren die Versuche zuletzt nicht doch recht halbherzig gewesen?