Das Depressionsbuch - Tobias Teismann - E-Book

Das Depressionsbuch E-Book

Tobias Teismann

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Beschreibung

Licht ins Dunkel bringen »Ziel des Buches ist es, Informationen zum Verständnis depressiver Störungen und deren Behandlung zu geben. Wir hoffen, dass die Informationen und Anregungen in diesem Buch Ihnen dabei helfen, sich selbst oder einen depressiven Angehörigen besser zu verstehen und – in dieser schweren Zeit – liebevoll zu begleiten.« Geschätzt leiden weltweit etwa 350 Millionen Menschen an depressiven Störungen. Für ihre Entstehung und Aufrechterhaltung ist weder ein »Depressions-Gen« noch ein Mangel an Botenstoffen im Gehirn verantwortlich – die Wahrheit ist komplexer: Depressionen entstehen, wenn vielfältige biologische, psychologische und soziale Problemkonstellationen zusammenkommen. Vor diesem Hintergrund informiert das vorliegende Buch über den aktuellen Wissensstand zum Erscheinungsbild, zum Verlauf und zur Häufigkeit depressiver Störungen. Diagnosestellung, Erklärungsansätze sowie Behandlungsmethoden und Therapieformen werden vorgestellt und erläutert.

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Licht ins Dunkel bringen

»Ziel des Buches ist es, Informationen zum Verständnis depressiver Störungen und deren Behandlung zu geben. Wir hoffen, dass die Informationen und Anregungen in diesem Buch Ihnen dabei helfen, sich selbst oder einen depressiven Angehörigen besser zu verstehen und – in dieser schweren Zeit – liebevoll zu begleiten.«

Tobias Teismann, Sven Hanning

Das Depressionsbuch

Informationen für Betroffene, Angehörige und Interessierte

B A L A N C E ratgeber

Tobias Teismann, Sven Hanning

Das Depressionsbuch

Informationen für Betroffene, Angehörige und Interessierte

1. Auflage 2021

ISBN: 978-3-86739-181-8

ISBN E-Book (PDF): 978-3-86739-228-0

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-86739-231-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Weitere Ratgeber, Selbsthilfebücher und Erfahrungsberichte unter

www.balance-verlag.de

© BALANCE buch + medien verlag, Köln 2021

Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

Lektorat: Katrin Klünter, Köln

Umschlagkonzeption und Umschlaggestaltung: GRAFIKSCHMITZ, Köln, unter Verwendung eines Fotos von João Jesus / pexels.com

Typografiekonzeption und Satz: Iga Bielejec, Nierstein

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2020

Inhalt

Einleitung

Wann spricht man von einer Depression?

Erscheinungsbild

Unterschiedliche Formen der Depression

Wie wird eine Depression diagnostiziert?

Verlauf depressiver Störungen

Wie verbreitet sind depressive Störungen?

Zusammengefasst

Warum wird und bleibt man depressiv?

Stress

Verhalten und dessen Folgen

Denkinhalte und Denkarten

Beziehungen und Beziehungsgestaltung

Neurobiologie und Genetik

Zusammengefasst

Welche Behandlungsarten gibt es?

Psychotherapie

Medikamentöse Behandlung

Andere somatische Therapien depressiver Störungen

Zusammengefasst

Zum Schluss

Buchtipps und Internetseiten zum Weiterlesen

Literatur

Einleitung

Was ist eigentlich eine Depression? Bin ich schon depressiv, wenn ich mich niedergeschlagen und antriebslos fühle? Wann übertritt man die Schwelle? Was hilft und wie kann ich betroffene Angehörige oder Freunde unterstützen? Depressiv zu sein, kann mit dem Bild umschrieben werden, dass sich um das Leben ein grauer Schleier legt. Selbst geliebte Hobbys fühlen sich auf einmal schwer und überfordernd an. Wie genau man sich das vorstellen kann, ist aber nur schwer in Worte zu fassen.

Depressionen sind häufige und sehr belastende Störungen. Sie können in jedem Alter auftreten, betreffen Frauen gleichermaßen wie Männer und kommen in allen Ländern vor. Tatsächlich wird geschätzt, dass weltweit etwa 350 Millionen Menschen an einer Depression leiden. Auch wenn sehr viele Menschen von Depressionen betroffen sind, ist das Wissen um depressive Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung vielfach rückständig: In einer aktuellen deutschen Bevölkerungsstudie, dem Deutschland-Barometer Depression, gaben beispielsweise 30 Prozent der Befragten an, dass eine Depression ein Zeichen von Charakterschwäche sei, und mehr als 50 Prozent begriffen die Depression als Folge falscher Lebensführung (Stiftung Deutsche Depressionshilfe, Deutsche Bahn Stiftung 2017). Entsprechende Vorstellungen verweisen darauf, wie schwer es ist, das Wesen der Depression zu verstehen. Dies mag auch daran liegen, dass sich jeder von Zeit zu Zeit mal »depressiv« fühlt und viele Leute daher den eigenen Umgang mit Niedergeschlagenheit oder Antriebslosigkeit zum Behandlungsmaßstab machen: »Man darf sich halt nicht so hängen lassen.« So wie viele Menschen sich für den besseren Fußballnationaltrainer halten, glauben auch viele, besser als die Betroffenen über den richtigen Umgang mit Depression Bescheid zu wissen. Die wirkliche Schwere einer klinischen Depression wird dabei verkannt. Sich gelegentlich »depressiv und antriebslos« zu fühlen ist mitnichten das Gleiche, wie an einer Depression zu leiden!

Die Häufigkeit depressiver Störungen bringt es mit sich, dass für die Erforschung der Störung und ihrer Behandlung sehr viele Ressourcen bereitgestellt werden. Entsprechend ist viel über Wesen, Verlauf und Behandlung depressiver Störungen bekannt. Trotz des großen Wissens können wir die Störung jedoch nicht als »entschlüsselt« betrachten. Für die Entstehung und Aufrechterhaltung depressiver Störungen gibt es keine einfache Erklärung. Es existiert kein »Depressions-Gen« und Depressionen sind nicht einfach auf einen Mangel an Botenstoffen im Gehirn zurückzuführen. Die Wahrheit ist komplexer: Depressionen entstehen, wenn vielfältige biologische, psychologische und soziale Problemkonstellationen zusammenkommen. In der Konsequenz gibt es viele Wege, die in eine Depression münden, und Betroffene mit ganz unterschiedlichen Geschichten und Hintergründen.

Glücklicherweise stehen wirksame Mittel zur Behandlung und Prävention depressiver Störungen zur Verfügung. In einer Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten konnte der Nutzen von Psychotherapie und Pharmakotherapie gut belegt werden. Dieses Wissen scheint in der Bevölkerung angekommen zu sein: Mehr als 90 Prozent der Befragten in der eben genannten Studie gaben an, dass die Behandlung durch Psychotherapeutinnen und Ärzte das geeignete Mittel im Umgang mit Depressionen sei. Gleichzeitig bestehen alte Mythen zur Behandlung: Fast 80 Prozent der Bevölkerung sehen einen Urlaub als geeignetes Mittel gegen Depressionen an und jeweils 20 Prozent halten Süßigkeiten oder Sich-Zusammenreißen für Möglichkeiten zur Bewältigung von Depressionen. Hier besteht offenkundig Informationsbedarf.

Das vorliegende Buch knüpft an dieser Stelle an. Es informiert zunächst über den aktuellen Wissensstand zum Erscheinungsbild, zum Verlauf und zur Häufigkeit depressiver Störungen. Darüber hinaus wird erläutert, wie die Diagnose einer Depression gestellt wird. Im zweiten Kapitel werden Erklärungsansätze depressiver Störungen beschrieben und anhand von Beispielen veranschaulicht. Im dritten Kapitel werden Behandlungsansätze und Behandlungsmöglichkeiten depressiver Störungen vorgestellt. Wir gehen auf Psychotherapieformen aus dem Bereich der kognitiven Verhaltenstherapie, Onlinetherapie und Möglichkeiten der Selbsthilfe genauso ein wie auf Pharmakotherapie und andere somatische Behandlungsmethoden.

Sicherlich sind nicht alle Informationen, die in diesem Buch beschrieben werden, für Sie persönlich relevant. Lesen Sie einfach nur die Teile, die für Sie von Interesse sind. Die Darstellung baut nicht aufeinander auf, sodass es nicht notwendig ist, alles zu lesen. Das vorliegende Buch ist kein Selbsthilfeprogramm. Ziel des Buches ist es, Informationen zum Verständnis depressiver Störungen und deren Behandlung zu geben. Wir hoffen, dass die Informationen und Anregungen in diesem Buch Ihnen dabei helfen, sich selbst oder einen depressiven Angehörigen besser zu verstehen und – in dieser schweren Zeit – liebevoll zu begleiten.

Tobias Teismann und Sven Hanning

Wann spricht man von einer Depression?

Die 25-jährige Annakommt kaum noch aus dem Bett. Sie schläft oft 16 Stunden am Tag und fühlt sich danach immer noch erschöpft und energielos. Die wachen Stunden verbringt sie zurückgezogen in ihrer Wohnung und kann sich nicht dazu aufraffen, etwas anzufangen – es macht ihr alles keine Freude und sie sieht in nichts mehr einen Sinn.

Der 51-jährige Bennoist ununterbrochen in Aktion. Er kann nie abschalten, fühlt sich ständig gehetzt, denkt bei der Erledigung der einen Aufgabe schon an die nächste. Nachts kann er nicht schlafen, tagsüber kann er nicht ausruhen. Er fühlt sich überfordert. Die vielen Aufgaben und auch der Kontakt mit anderen Menschen strengen ihn an. Er fühlt sich nur noch ausgelaugt.

Depressive Störungen können sich wie bei Anna und Benno sehr unterschiedlich ausdrücken, sodass es nicht immer leicht ist, eine Depression zu erkennen oder von anderen Störungsbildern zu unterscheiden. Im Folgenden werden zunächst die Symptome einer Depression beschrieben, bevor wir ausführlicher auf verschiedene depressive Störungsbilder und ihr Erscheinungsbild eingehen und erläutern, wie man eine Depression diagnostiziert. Anschließend stellen wir verschiedene Verlaufsformen vor und gehen auf die Häufigkeit depressiver Störungen ein.

Erscheinungsbild

Anhaltende Niedergeschlagenheit und Traurigkeit sind die wesentlichen Anzeichen depressiver Störungen. Unter Depressionen zu leiden, bedeutet aber noch viel mehr, als sich niedergeschlagen zu fühlen. Tatsächlich wirkt sich eine Depression nicht nur darauf aus, wie man sich fühlt, sondern auch darauf, wie man über Dinge denkt, wie man sich verhält, wie man schläft, wie viel Energie man zur Verfügung hat oder wie gut man sich konzentrieren kann.

Gefühle Durch eine Depression verändert sich das Gefühlsleben auf zwei charakteristische Arten. Negative Emotionen nehmen zu, wohingegen positive Emotionen weniger werden. Auf der einen Seite dominieren somit negative Gefühle wie Niedergeschlagenheit und Traurigkeit, Angst, Wut und Gereiztheit das tägliche Erleben. Auf der anderen Seite treten positive Gefühle wie Freude, Zufriedenheit und Entspannung in den Hintergrund oder fehlen gänzlich: Dinge, die früher Freude und Glücksempfinden auslösten, wie Freunde treffen, einen Film ansehen oder Sport machen, fühlen sich auf einmal »fade«, »hohl« oder »leer« an. Diese fehlende emotionale Beteiligung kann sich steigern bis hin zu einem »Gefühl der Gefühllosigkeit«: Die Betroffenen fühlen sich emotional erstarrt, taub, wie »eingemauert«. Oft beschreiben Betroffene ihr Gefühl als »mehr als Traurigkeit« oder »trauriger als traurig« und geben an, dass niemand dieses Gefühl nachvollziehen kann, der es nicht selbst erlebt hat.

Die 31-jährige Denise ist seit Jahren depressiv. In Zeiten, in denen es ihr besonders schlecht geht, fühlt sie sich wie eine leere Hülle, jede Emotion ist wie aus ihr herausgesaugt, sie steht sich selbst und der Welt völlig gleichgültig gegenüber. Ein Zustand, der sie massiv quält. Insbesondere, wenn sie mit anderen zusammen ist, erschrickt sie und fühlt sich »absolut abartig«, wenn sie merkt, wie egal ihr selbst engste Freunde und Familienangehörige sind.

Verhalten Depressiven Menschen fehlt es an Energie und Antrieb – selbst Routinehandlungen wie Duschen, Anziehen oder Zähneputzen erscheinen auf einmal schwer, anstrengend und überfordernd. Manche Betroffene beschreiben ein Gefühl, als ob sie ein schweres Gewicht auf den Schultern tragen oder als ob sie durch Sirup waten müssten – jeder Schritt ist kräftezehrend. In der Konsequenz reduzieren viele Betroffene ihre täglichen Aktivitäten und ziehen sich immer mehr zurück. Andere leiden unter starker Unruhe bis hin zu zielloser Hektik, die es gleichermaßen erschweren, alltäglichen Tätigkeiten nachzukommen.

Die 52-jährige Sabine ist nach dem plötzlichen Tod ihres Sohnes in eine Depression gerutscht. Nach einer Phase tiefer Trauer hat sie jeglichen Halt verloren. Sie ist enttäuscht von Freunden und Arbeitskollegen, die ihren Schmerz nicht nachvollziehen könnten. Ihre Arbeit erledigt sie noch, unternimmt zu Hause aber nichts mehr. Sie liegt ganze Tage nur auf dem Sofa und schaut unbeteiligt fern. Zu jedem einzelnen Schritt einer Handlung muss sie sich mühsam aufraffen. Beim Einräumen der Spülmaschine muss sie sich zu jedem Handgriff durchringen: »Jetzt räum die Tasse ein …, jetzt räum den Löffel ein …, jetzt räum den Topf noch ein …« Alles erscheint ihr wie eine riesige Aufgabe, alles kostet sehr viel Kraft. Am Ende des Tages ist sie völlig erschöpft.

Gedanken Der depressive Zustand verzerrt das eigene Denken. Es dominiert ein selbstkritischer Blick auf die eigene Person, ein misstrauischer Blick auf andere Personen und ein pessimistischer Blick auf die eigene Zukunft. In extremer Ausprägung erscheinen die eigene Person und das eigene Leben als wertlos und jedes Streben nach Veränderung als hoffnungslos und sinnentleert. Negative Gedanken, Bewertungen und Erinnerungen quälen Betroffene in anhaltenden Grübelschleifen. Viele Betroffene klagen über Konzentrationsprobleme, sie fühlen sich zu zerstreut, um ein Buch zu lesen, und können nicht bei der Sache bleiben. Es treten Schwierigkeiten auf, sich Sachen zu merken oder sich an Dinge zu erinnern. In schweren Fällen kommt es zur Verlangsamung des Gedankengangs, dann fällt es schwer, Gesprächen zu folgen. Die gedankliche Leistungsfähigkeit ist im depressiven Zustand zum Teil so erheblich beeinträchtigt, dass Betroffene fürchten, sie würden an einer Demenz leiden oder »in geistiger Umnachtung« enden (siehe S. 40 f.).

Der 61-jährige Norbert fühlt sich seit mehreren Jahren bei der Arbeit überfordert. Er war immer gut und engagiert im Beruf, aber jetzt wird er seinen eigenen Ansprüchen überhaupt nicht mehr gerecht. Insbesondere im Vergleich mit jüngeren Kollegen sieht er seine Leistungen als absolut minderwertig. Er braucht länger, um die arbeitsbezogene Computersoftware zu bedienen, hat große Schwierigkeiten, mehrere Arbeitsaufträge gleichzeitig im Blick zu behalten, und macht zunehmend mehr Fehler. Er hält sich für völlig wertlos für den Arbeitgeber, »überflüssig und wie ein Klotz am Bein«. Ständig hat er Angst davor, als »Mogelpackung« enttarnt zu werden. Immer öfter geht es ihm auch im privaten Bereich so; dann fragt er sich in anhaltenden Grübeleien immer wieder, wie seine Frau und Tochter es mit ihm nur aushalten können.

Körper Neben psychischen Symptomen besteht bei Depressionen auch eine Vielzahl an körperlichen Beschwerden. Viele Betroffene berichten von Einschlafproblemen, Durchschlafproblemen oder frühmorgendlichem Erwachen. Andere schlafen deutlich länger und mehr als gewöhnlich, ohne sich danach erholt zu fühlen. Häufig fehlt der Appetit und es kommt zu einem markanten Gewichtsverlust. Gelegentlich tritt auch das Gegenteil auf: Betroffene erleben Heißhungerattacken und nehmen deutlich an Körpergewicht zu. Bei vielen lässt das Interesse an Sex nach, sie erleben im depressiven Zustand Schmerzen in Kopf, Brust, Rücken und Gliedern sowie Magen- und Darmprobleme. Nicht selten stehen die körperlichen Beschwerden so stark im Vordergrund, dass die depressiven Symptome zunächst übersehen werden.

Der 44-jährige Markus fühlt sich nach einer längeren beruflichen Stressphase völlig energielos. Morgens wacht er immer sehr früh auf, lange vor dem Weckerklingeln, und kann nicht mehr einschlafen. Er vermutet, an einem Infekt zu leiden, und lässt sich vom Hausarzt gründlich durchchecken; körperlich werden aber keine Auffälligkeiten gefunden. Der Arzt stellt die Verdachtsdiagnose einer Depression. Markus ist völlig überrascht: Die tatsächlich bestehende Freud- und Appetitlosigkeit hat er als Folge des Energiemangels und der Schlafprobleme gesehen und ist daher überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass er depressiv sein könnte.

Schon diese kurze Auflistung macht deutlich: Depressionen belasten Menschen in vielen verschiedenen Bereichen sowohl körperlich als auch psychisch. Die Krankheitsanzeichen können in der Erscheinung ganz unterschiedlich und sogar gegensätzlich sein: zu viel Schlaf oder zu wenig Schlaf, getrieben oder verlangsamt, Appetitlosigkeit oder Heißhunger. Die einzelnen Symptome einer Depression sind zudem eher unspezifischer Natur: Niedergeschlagenheit, Schlafprobleme, Schmerzen und Energielosigkeit können alle auch ohne Depression und bei anderen Erkrankungen auftreten. So werden die meisten Menschen entsprechende Gefühlszustände und Beschwerden schon erlebt haben – ohne jemals an einer Depression gelitten zu haben. Die Kriterien für die Diagnose einer klinischen Depression müssen deshalb klar definiert werden, um zu verhindern, dass ein normaler, vorübergehender Zustand von Niedergeschlagenheit für eine behandlungsbedürftige, klinische Depression gehalten wird. Der »Volksmund« ist im Alltag mit den Begriffen »depressiv« und »Depression« schneller bei der Hand als Ärzte und Therapeutinnen. Zur Diagnose einer Depression wurden daher international gültige Konventionen vereinbart, die im nächsten Kapitel beschrieben werden.

Unterschiedliche Formen der Depression

Um psychische Störungen diagnostizieren zu können, sind sogenannte Klassifizierungssysteme notwendig, die Störungen nach ihrem Erscheinungsbild ordnen. International gibt es zwei Kriterienkataloge zur Diagnose von Depressionen. Das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM) wurde von der American Psychiatric Association (APA) entwickelt und veröffentlicht. Aktuell gültig ist die fünfte Fassung, das DSM-5 aus dem Jahr 2013. Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben und ist ein weltweit anerkanntes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Die aktuell gültige Ausgabe ist die ICD-10, im Jahr 2022 soll jedoch eine aktualisierte Fassung in Kraft treten. Depressive Störungen werden bei beiden Diagnosesystemen auf sehr ähnliche Art und Weise definiert, sodass sich die Darstellung im vorliegenden Buch auf die Kriterien nach DSM-5 beschränkt.

Die Diagnosesysteme unterscheiden unterschiedliche Arten depressiver Störungen. Die Folgenden wollen wir Ihnen ausführlicher darstellen:

• Major Depression,

• chronische Depression,

• depressive Störungen infolge einer körperlichen Erkrankung und

• depressive Störungen infolge des Konsums von Alkohol, Drogen oder Medikamenten.

Auf weitere Störungsbilder, bei denen depressive Symptome eine zentrale Rolle spielen, werden wir in Exkursen eingehen.

Major Depression

Der Begriff Major Depression beschreibt die bekannteste Form von Depression. Wer hierunter leidet, erlebt niedergedrückte Stimmung und / oder den Verlust von Interesse und Freude an Dingen, die sonst Spaß gemacht haben. Dieser Zustand muss mindestens zwei Wochen lang anhalten, damit eine Depression diagnostiziert werden kann. Darüber hinaus müssen mindestens vier weitere Symptome auftreten, damit die Diagnose gestellt werden kann:

• veränderter Appetit (mehr oder weniger),

• verändertes Schlafverhalten (mehr oder weniger),

• Erschöpfung / Verlangsamung,

• Unruhe,

• Wertlosigkeitserleben,

• Schuldgefühle,

• Konzentrationsschwierigkeiten,

• wiederkehrende Gedanken an den Tod bzw. Suizidabsichten, Suizidpläne oder Suizidversuche (siehe Kasten).

Für eine Episode einer Major Depression muss ein Symptom neu hinzukommen oder sich zumindest deutlich verschlechtert haben. Treten bei einer Person beispielsweise schon lange Schlafstörungen auf – ohne dass eine Depression bestanden hat –, dann zählt die Schlafproblematik nicht als Symptom der Depression.

Außerdem müssen die Symptome bei der betroffenen Person Leiden hervorrufen oder sie in der Lebensführung beeinträchtigen. Beeinträchtigung meint, dass die Person ihren beruflichen oder familiären Aufgaben und Verpflichtungen nur unter erheblichem Kraftaufwand oder gar nicht mehr nachkommen kann.

DSM-5-Kriterien einer Major Depression (nach APA 2015)

Mindestens fünf der folgenden Symptome müssen über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen hinweg zeitgleich vorliegen.

• Depressive Verstimmung für die meiste Zeit des Tages

• Deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Freude an fast allen Aktivitäten

Eines dieser beiden Symptome muss vorliegen, um eine Diagnose stellen zu können.

• Deutlicher Gewichtsverlust (ohne Diät) oder Gewichtszunahme (5 Prozent des Körpergewichts in einem Monat) oder verminderter oder gesteigerter Appetit

• Schlafstörungen (Einschlafstörung, Durchschlafstörung, frühmorgendliches Erwachen, vermehrter Schlaf)

• Psychomotorische Unruhe oder Verlangsamung

• Müdigkeit oder Energieverlust

• Gefühl von Wertlosigkeit oder übermäßige / unangemessene Schuldgefühle

• Verminderte Fähigkeit, zu denken oder sich zu konzentrieren, oder verringerte Entscheidungsfähigkeit

• Wiederkehrende Gedanken an den Tod, Suizidplan, Suizidversuch

Je mehr Symptome vorliegen, desto schwerer ist eine Depression einzustufen: Sind fünf der oben genannten Kriterien erfüllt, spricht man von einer »leichten Episode«, bei sechs oder sieben Kriterien spricht man von einer »mittelgradigen Episode«. Liegen alle Symptome vor, handelt es sich um eine »schwere Episode«. Die Einteilung des Schweregrades ist wichtig, weil unterschiedliche Behandlungsempfehlungen gelten: Bei leichten und mittelgradigen depressiven Episoden empfiehlt sich eine Psychotherapie oder eine Behandlung mit Medikamenten (Pharmakotherapie). Bei schweren depressiven Episoden wird eine Kombination aus Psychotherapie und Medikamenten angeraten (siehe Kapitel »Welche Behandlungsarten gibt es?«, ab S. 136).

Zu Recht wenden Sie nun vielleicht ein, dass das doch sehr willkürlich ist: Warum müssen mindestens fünf Symptome vorliegen? Was ist, wenn man nur unter vier Symptomen leidet? Was, wenn die Symptome nur über zehn Tage anhalten? Was, wenn man weniger mit Schuldgedanken zu kämpfen hat, sich stattdessen aber unglaublich hoffnungslos fühlt? All diese Einwände sind absolut berechtigt und werden auch in Forschung und Praxis sehr kontrovers diskutiert. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass es sich bei der Definition einer depressiven Störung um eine – wissenschaftlich begründete – Konvention handelt. Die Diagnose fußt nicht auf dem Wissen um die Verursachung der Störung, sondern auf der Beschreibung häufig gemeinsam auftretender Symptome. Die Grenzen sind somit wesentlich fließender als bei körperlichen Erkrankungen, bei denen die Verursachung, d. h. die Fehlfunktion oder die Anomalie wie auch die hierdurch bedingten Symptome und die Krankheitsverläufe (oft) bekannt sind. Ein gebrochener Arm ist leichter klar und unmissverständlich zu definieren als ein depressiver Zustand.

Und trotzdem bringt eine einheitliche Klassifizierung depressiver Störungen – bei allen hiermit verbundenen Schwierigkeiten – den absoluten Vorteil mit sich, dass überall auf der Welt das Gleiche gemeint ist, wenn von einer Major Depression gesprochen wird. Ohne diesen Umstand wären Forschung und damit verbunden die Weiterentwicklung von Behandlungsangeboten nicht möglich. Und Hilfe wird Ihnen auch dann niemand vorenthalten, wenn die von Ihnen erlebten Symptome in etwas anderer Form auftreten, als es die Diagnose einer depressiven Episode eigentlich verlangt!

Subtypen einer Major Depression

Zählt man die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten der Depressionssymptome durch, so ergeben sich 227 unterschiedliche Möglichkeiten, die Symptomkriterien für eine Major Depression zu erfüllen. Man könnte also für 227 Menschen, die alle unter etwas unterschiedlichen Symptomen leiden, die Diagnose einer Major Depression vergeben. Es ist sogar möglich, dass zwei Menschen, die beide an einer Depression leiden, kein einziges Symptom gemeinsam haben (Zimmermann u. a. 2015). Depressionen sind somit keinesfalls Störungen, die bei jedem Menschen auf die gleiche Art und Weise zum Ausdruck kommen: Wenn nun bestimmte Symptome besonders auffällig ausgeprägt sind, kann dies bei der Diagnosestellung daher zusätzlich vermerkt werden. Wenn in einer depressiven Episode beispielsweise Halluzinationen erlebt werden, spricht man von einer »Depression mit psychotischen Merkmalen«. Wenn sich in einer Depression hingegen eine völlige Bewegungslosigkeit einstellt, spricht man von einer »Depression mit katatonen Merkmalen«. Besondere Symptomkonstellationen – die bei der Diagnose mitberücksichtigt werden können –, werden im Folgenden beschrieben.

Depression mit melancholischen Merkmalen Die Beschreibung »mit melancholischen Merkmalen« wird dann vergeben, wenn die Fähigkeit zur Freude nicht nur herabgesetzt, sondern nahezu vollständig aufgehoben ist. Die Betroffenen zeigen selbst dann keine spürbare Aufhellung der Stimmung mehr, wenn wirklich schöne und erfreuliche Ereignisse eintreten.

Typischerweise ist die depressive Stimmung zudem am Morgen am stärksten ausgeprägt – man spricht vom sogenannten »Morgentief«. Weitere Symptome sind frühmorgendliches Erwachen, ein »Gefühl der Gefühllosigkeit« sowie das Erleben übermäßiger oder unangemessener Schuldgefühle. Die Depression mit melancholischen Merkmalen entspricht sicher am stärksten der allgemeinen Vorstellung von depressiven Menschen. Etwa 50 Prozent aller depressiven Episoden sind durch melancholische Merkmale gekennzeichnet (Angst u. a. 2007) – meist handelt es sich um schwere Episoden.

EXKURSEndogene Depression vs. reaktive Depression

Das Symptombild der Major Depression mit melancholischen Merkmalen wurde in früheren Jahren oftmals als »endogen« bezeichnet. Dem lag die Idee zugrunde, dass sich unterscheiden lässt zwischen biologisch verursachten depressiven Störungen, die in Abwesenheit von Lebensereignissen entstehen und deshalb als endogen, d. h. »von innen heraus« bezeichnet wurden, und reaktiven, exogenen oder »psychologischen« Depressionen, für die man deutliche äußere Auslöser finden kann – wie eine Trennung, den Verlust des Arbeitsplatzes oder andere belastende Lebensereignisse.

Unbestritten spielen sowohl psychologische als auch biologische Faktoren bei der Entstehung und Aufrechterhaltung depressiver Störungen eine bedeutsame Rolle. Es konnte jedoch nie nachgewiesen werden, dass es tatsächlich rein biologisch oder rein psychologisch verursachte Depressionen mit einem jeweils spezifischen Symptommuster gibt. Vor diesem Hintergrund sind die Begriffe endogene und reaktive Depression heute nicht mehr gebräuchlich.

Depression mit atypischen Merkmalen Eine Depression »mit atypischen Merkmalen« liegt vor, wenn Betroffene auf erfreuliche Ereignisse und Erlebnisse (z. B. Komplimente) weiterhin mit einer Aufhellung der Stimmung reagieren. Zudem finden sich Symptome wie vermehrter Appetit, vermehrter Schlaf, ein Gefühl bleierner Schwere in Armen und Beinen und / oder eine ausgeprägte Empfindlichkeit gegenüber Zurückweisungen, Kränkungen und Kritik. »Atypisch« klingt nun nach einem seltenen und ungewöhnlichen Störungsbild – tatsächlich weisen aber 15 bis 30 Prozent der Betroffenen ein solches »atypisches Symptommuster« auf (PAE u. a. 2009). Betroffene mit diesem Symptommuster zeigen einen vergleichbaren Störungsverlauf und profitieren in gleicher Weise von Psychotherapie wie Menschen, die an einer Major Depression mit melancholischen Merkmalen leiden.

Depression mit psychotischen Merkmalen  Bei einer Depression »mit psychotischen Merkmalen« erleben Betroffene im depressiven Zustand Halluzinationen oder Wahnsymptome. Halluzination meint, dass sie Dinge hören, sehen, schmecken oder riechen, die andere (anwesende) Personen nicht wahrnehmen können. Es handelt sich um Trugwahrnehmungen, die der Person jedoch als absolut real erscheinen. Bei akustischen Halluzinationen hören Betroffene eine oder mehrere Stimmen, die miteinander reden oder die die Handlungen und Gedanken der betroffenen Person kommentieren. Es können auch Stimmen auftreten, die Befehle und Handlungsanweisungen geben. Grundsätzlich spricht man nur dann von Halluzinationen, wenn sich diese bei klarem Bewusstsein einstellen; Halluzinationen beim Einschlafen oder beim Aufwachen gelten hingegen als Teil des normalen Erlebens.

Der 43-jährigen Christiane fällt es schon immer schwer, sich um sich selbst zu kümmern – stattdessen kümmert sie sich nur um alle anderen. Seit einer Weile ist ihre Stimmung noch schlechter geworden und sie hört jetzt ständig eine Stimme, die ihr sagt: »Tu Gutes! Tu Gutes!«

Wahn bezeichnet eine feste Überzeugung, die trotz gegenteiliger Beweise nicht verändert werden kann. Vielmehr werden zufällige oder belanglose Ereignisse als untrügliche Beweise für die Richtigkeit der eigenen Überzeugung verstanden. Beispielsweise können Betroffene sicher sein, dass sie in ihrer Wohnung gefilmt werden, obwohl niemand Kameras entdecken kann. Solche Wahnvorstellungen verbindet man eher mit anderen psychischen Störungen wie der Schizophrenie, sie können jedoch auch bei depressiven Störungen auftreten. Stark ausgeprägte oder bizarre Wahnvorstellungen sind durch Außenstehende in der Regel problemlos als solche zu erkennen, in leichteren Fällen ist es hingegen oft schwer, zu entscheiden, ob jemand einfach einer fixen Idee anhängt oder unter einem Wahn leidet. Wenn die Symptomatik noch kein extremes Maß angenommen hat, können sich die Betroffenen oft noch distanzieren – sie können sich sagen, dass die Stimmen nur in ihrem Kopf sind oder dass sie sich gelegentlich in Gedanken an ihren finanziellen Ruin hineinsteigern, dass es eigentlich aber nicht so brenzlig ist, wie es ihnen dann vorkommt. Wenn sich die Symptomatik jedoch zuspitzt, kommt es in vielen Fällen zu einem völligen Schwinden von Krankheitseinsicht – der Wahn erscheint dann unumstößlich als Realität.

Halluzinationen und Wahnvorstellungen im Rahmen depressiver Störungen passen typischerweise zu der depressiven Stimmung. Betroffene sind sich z. B. sicher, dass sie Schuld auf sich geladen haben, dass sie ein schreckliches Unglück verursacht haben oder dass sie verarmen werden und dem finanziellen Ruin gegenüberstehen. Es können auch nihilistische Überzeugungen auftreten, z. B. die Überzeugung, dass das Ende der Welt bevorsteht oder dass man getötet werden wird oder sogar bereits tot wäre. Seltener können depressive Personen Wahnvorstellungen und Halluzinationen entwickeln, die nichts mit depressiven Themen zu tun haben (z. B. der Glaube, dass die eigenen Gedanken im Radio übertragen werden).

In einer groß angelegten europäischen Studie litten knapp 11 Prozent derjenigen, die an einer Major Depression erkrankt waren, unter Wahnsymptomen, 7 Prozent unter Halluzinationen und ein Prozent litt sowohl unter Wahnvorstellungen als auch Halluzinationen (OHAYON u. a. 2002).

Depression oder schizoaffektive Störung?

Eine Major Depression mit psychotischen Merkmalen wird diagnostiziert, wenn Halluzination und / oder Wahn ausschließlich in depressiven Episoden auftreten. Falls psychotische Symptome auch außerhalb depressiver Phasen vorkommen, muss der Behandelnde prüfen, ob möglicherweise eine schizoaffektive Störung vorliegt.

In vielen Fällen ist diese Differenzierung nicht trivial. Daher erstaunt es nicht, dass Kliniker sich bei der Diagnose einer schizoaffektiven Störung häufiger uneinig als einig sind. Es kann also passieren, dass während der gleichen Krankheitsphase ein Arzt von einer affektiven Störung mit psychotischen Merkmalen spricht und eine andere Ärztin von einer schizoaffektiven Störung. Für den Verlauf und für die Behandlung macht der verwendete Name gegenwärtig jedoch keinen Unterschied!

Depression mit katatonen Merkmalen Von einer »Major Depression mit Katatonie« wird gesprochen, wenn Beeinträchtigungen des Bewegungsablaufs im Vordergrund stehen. Der Begriff Katatonie lässt sich aus dem Griechischen in etwa übersetzen als »Anspannung von Kopf bis Fuß«. Das Symptombild kann völlig gegensätzlich ausgeprägt sein: Oftmals verharren Betroffene in unnatürlichen und bizarren Körperstellungen, die sie willentlich nicht selbst verändern können. Hinzu kommt ein (nahezu) völliges Versiegen der Sprache. Andere Betroffene können aber auch in einen Zustand körperlicher Erregung geraten, immer wieder die gleichen Bewegungsabläufe vollführen, Grimassen schneiden und die Bewegungen von anderen nachahmen. Unabhängig von der Ausprägung der katatonen Symptome ist es für Außenstehende weitgehend unmöglich, Kontakt zu den Betroffenen aufzunehmen. Das Fehlen angemessener Reaktionen auf äußere Reize heißt allerdings nicht, dass Betroffene nicht mitbekommen, was mit ihnen und was in ihrer Umgebung passiert. Tatsächlich berichten viele Patientinnen und Patienten, dass sie sich ihres katatonen Zustands bewusst waren und unter massiver Angst gelitten hätten.

Katatone Zustände können im Rahmen depressiver Störungen genauso auftreten wie im Kontext schizophrener oder anderer medizinischer Erkrankungen. Sie benötigen eine sehr sorgfältige Beaufsichtigung und müssen daher stationär behandelt werden. Es muss sichergestellt werden, dass die Betroffenen weiterhin Flüssigkeit zu sich nehmen. Zudem muss beobachtet werden, ob es zu Bluthochdruck und Fieber kommt – beide Symptome können eine sogenannte maligne Katatonie, einen potenziell lebensbedrohlichen Zustand, anzeigen. Katatone Symptome sprechen in der Regel schnell und gut auf eine Behandlung mit spezifischen Beruhigungsmitteln, den Benzodiazepinen an (RASMUSSEN u. a. 2016). Bleiben Benzodiazepine wirkungslos, stellt die Elektrokrampftherapie eine alternative Behandlungsmöglichkeit dar (siehe ab S. 232).

Der 65-jährigen Martina ist vor sieben Jahren betriebsbedingt gekündigt worden und sie konnte danach keine feste Anstellung mehr finden. Das war ein schwerer Schlag für sie, weil ihr immer extrem wichtig war, zu arbeiten und ihr eigenes Geld zu verdienen. Tagsüber ist sie jetzt allein zu Hause, während ihr Mann im Büro ist. Obwohl sie sich viele verschiedene Projekte vornimmt, verbringt sie die Tage auf der Couch vor dem Fernseher, weil sie sich zu nichts aufraffen kann. Das führt zu Streit mit Ehemann und Sohn. Nach einer dieser Streitigkeiten legt sie sich aus Protest ins Bett und sagt kein Wort mehr. Zu ihrem großen Schrecken kann sie damit nicht mehr aufhören – auch, als sie wieder will, gelingt es ihr weder, etwas zu sagen, noch, sich zu bewegen. Ihr Mann macht sich große Sorgen, weil sie über Stunden wie erstarrt in der absolut gleichen Position liegt. Schließlich ruft er den Notarzt. Dieser gibt Martina eine Spritze und nimmt sie mit ins Krankenhaus. Nach wenigen Stunden geht es ihr besser, sie kann sich wieder bewegen und sprechen.

Die bis hierher beschriebenen Spezifizierungen werden alle am Vorliegen bestimmter Symptome festgemacht. Es gibt jedoch zwei weitere Subtypen, die nicht das Symptommuster in den Blick nehmen, sondern den Zeitpunkt, zu dem eine depressive Episode auftritt: rund um Schwangerschaft und Geburt oder zu bestimmten Jahreszeiten.

Depression in Schwangerschaft und Stillzeit  Eine Depression mit peripartalem Beginn wird diagnostiziert, wenn die depressive Episode während einer Schwangerschaft oder in den ersten vier Wochen nach der Entbindung einsetzt – das Wort »peripartal« bedeutet nichts anders als »um die Geburt herum«. Grundsätzlich sind depressive Symptome nach einer Entbindung sehr verbreitet: Bis zu 75 Prozent aller Frauen entwickeln in der ersten Woche nach der Entbindung leichte depressive Symptome wie Weinen, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit und Stimmungsschwankungen; diese Symptome werden als »Baby Blues« bezeichnet und gelten als normale Reaktionen auf die tiefgreifenden Veränderungen des Hormonhaushalts nach der Geburt. In den allermeisten Fällen bilden sich die Symptome innerhalb kurzer Zeit von selbst zurück. Eine depressive Episode entwickeln in etwa 8 Prozent der Frauen nach der Entbindung; bei nicht wenigen von ihnen stellen sich die Symptome bereits während der Schwangerschaft ein (SHOREY u. a. 2018).

Die Symptome einer Depression während der Schwangerschaft und nach der Entbindung unterscheiden sich nicht grundsätzlich von den Symptomen einer Depression zu anderen Zeitpunkten im Leben – oftmals spielen jedoch Angst und Sorge um das Kind oder fehlende Gefühle für das Kind eine besondere Rolle.

Die 33-jährige Saskia fühlt sich in der zweiten Schwangerschaftshälfte zunehmend niedergeschlagen, mutlos und angestrengt. Ständig muss sie grundlos weinen. Zunächst geht sie von einer normalen Schwangerschaftserscheinung aus; aber bei keiner ihrer Freundinnen sind vergleichbare Symptome so hartnäckig. Sie ist zunehmend genervt davon, dass ihre Mutter und ihre beste Freundin ständig fragen, ob sie sich denn gar nicht auf das Kind freue. Nach der Entbindung bricht dann alles über ihr zusammen: Sie ist von der Geburt erschöpft und fühlt sich überhaupt nicht in der Lage, sich um ihre neugeborene Tochter zu kümmern. Sie hat ständig Angst um ihre Tochter und vermisst gleichzeitig die Liebe, die »junge Eltern« für ihre Kinder empfinden sollten. Sie fühlt sich »total pervers«, weil sie das Kind schon nach wenigen Tagen nicht mehr haben will. Außerdem kommt es ihr so vor, als wenn es keiner anderen Mutter so geht wie ihr.

Das Risiko einer peripartalen Depression ist erhöht, wenn man zuvor im Leben bereits an einer Depression erkrankt war, wenn die Schwangerschaft ungewollt ist und wenn man keine gute Beziehung zu seinem Partner hat. In diesen Fällen sollte man also besonders gut auf sich achtgeben und Unterstützung durch Freunde, Familienmitglieder oder professionelle Stellen frühzeitig in Anspruch nehmen. Dies ist insbesondere bedeutsam, da sich eine elterliche Depression erheblich auf die Entwicklung des Kindes auswirken kann (GUTIERREZ-GALVE u. a. 2019). In dieser Lebensphase ist es daher wichtig, sich professionelle Hilfe zu suchen, um die potenziell ungünstigen Auswirkungen der Depression zu begrenzen. Man ist kein Monster, wenn man in Schwangerschaft und Stillzeit unglücklich und ungehalten ist, sondern leidet möglicherweise an einer Depression. Dafür kann man nichts!

Bei etwa 0,1 Prozent der Frauen mit peripartaler Depression kommt es zu Wahnvorstellungen und / oder Halluzinationen, die sich typischerweise auf das Neugeborene beziehen. Wahnvorstellungen können um die Idee kreisen, dass man den Teufel geboren habe oder dass man das Kind nie wird versorgen können. Die Symptomatik setzt in der Regel abrupt in den ersten Tagen nach der Entbindung ein und muss unbedingt stationär behandelt werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Mutter dem Säugling und / oder sich selbst nicht etwas antut. Auch hier gilt: Wahnvorstellungen machen keine Aussage über den »wahren Kern« oder die »geheimen Motive« einer Person, sondern sind lediglich Krankheitssymptome, für die niemand etwas kann.

EXKURSDepression und Menstruation

Jenseits von Depressionen in Schwangerschaft und Stillzeit berichten viele Frauen, unter depressionsartigen Beschwerden vor Beginn der Regelblutung zu leiden. Das typische Beschwerdebild beinhaltet eine Kombination von psychischen und körperlichen Symptomen, z. B. Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit, Aggressivität und Anspannung sowie Spannungsgefühle oder Schmerzen in der Brust, Wassereinlagerungen und Müdigkeit. Die Beschwerden beginnen zumeist in den letzten drei bis fünf Tagen vor Beginn der Blutung und erreichen am Tag vor oder am Tag der Regelblutung ihren Höhepunkt. Typischerweise verschwinden die Symptome ab dem zweiten oder dritten Tag der Blutung und es stellt sich wieder völliges Wohlbefinden ein.

In einer deutschen Repräsentativuntersuchung berichteten nahezu 80 Prozent aller Frauen, an mindestens einem der eben genannten Symptome in der Woche vor Beginn der Regelblutung zu leiden (WITTCHEN u. a. 2002). Im Vordergrund stehen dabei vor allem körperliche Beschwerden, Stimmungsschwankungen, leichte Ermüdbarkeit, depressive Verstimmung und vermehrter Appetit. Etwa 5 Prozent der Frauen haben so starke Beschwerden, dass sie ihren Alltag kaum oder gar nicht mehr bewältigen können. Seit der Einführung des DSM-5 im Jahr 2013 ist für die Diagnose solcher überdurchschnittlich stark ausgesprägter prämenstrueller Beschwerden die Störungskategorie »Prämenstruelle dysphorische Störung (PMDS)« geschaffen worden. Um eine PMDS diagnostizieren zu dürfen, müssen Symptome während der allermeisten Menstruationszyklen auftreten. Die Beschwerden müssen daher mindestens über zwei Zyklen hinweg mithilfe eines Symptomtagebuchs protokolliert werden, bevor die Diagnose gestellt wird.

Die 24-jährige Ronja leidet zyklusabhängig unter starken Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit und Anspannung. Sie hat Schmerzen in der Brust, Unterleibskrämpfe und fühlt sich »aufgedunsen«. Tagsüber kann sie sich schlecht konzentrieren und schafft es kaum, in dieser Zeit Seminare und Vorlesungen an der Uni zu besuchen. Ihr Freund scheint mittlerweile völlig genervt von ihrer »Menstruation Madness«. Sie glaubt, dass er berufliche Termine nach ihrem Zyklus plant, um »ihr zu entgehen«. Die Beschwerden verfolgen sie seit Einsetzen der Menstruation, sind aber seit zwei Jahren immer schlimmer geworden. Ihre Gynäkologin empfiehlt, regelmäßig Sport zu treiben, die Ernährung umzustellen und die »Pille« zu nehmen. Das alles hilft ein wenig – richtig gut geht es ihr aber immer noch nicht.

Es gibt Hinweise darauf, dass eine Behandlung mit Antidepressiva hilfreich sein könnte, um prämenstruelle dysphorische Symptome zu reduzieren. Es scheint sogar zu funktionieren, dass die Antidepressiva nur in der Lutealphase (der Zeit zwischen dem Eisprung und dem Einsetzen der Regelblutung) eingenommen werden (CUNNINGHAM u. a. 2009). Dies ist insofern erstaunlich, als dass Antidepressiva in der Regel über mehrere Wochen hinweg eingenommen werden müssen, bevor sie Wirkung zeigen (siehe Kapitel »Medikamentöse Behandlung«, ab S. 205). Insgesamt liegen derzeit allerdings noch zu wenige Studien sowohl zur Pharmako- als auch zur Psychotherapie vor, um eine klare Behandlungsempfehlung ausgeben zu können.

Bei den allermeisten Frauen in westlichen Nationen setzt im Alter von etwa fünfzig Jahren die Menstruation aus; man spricht von der Menopause. Die hiermit einhergehenden hormonellen Veränderungen können verschiedene Symptome wie Hitzewallungen, nächtliches Schwitzen und Schlafstörungen auslösen. Oftmals wird auch das vermehrte Erleben depressiver Symptome mit der Menopause in Verbindung gebracht. Tatsächlich finden sich in methodisch hochwertigen Langzeituntersuchungen jedoch keine Hinweise darauf, dass infolge der Menopause ein erhöhtes Depressionsrisiko besteht (RÖSSLER u. a. 2016). Das heißt nicht, dass es in dieser Phase nicht zu depressiven Störungen kommt, sondern nur, dass die Wahrscheinlichkeit, zu erkranken, in dieser Lebensphase nicht höher oder niedriger als zu anderen Zeiten im Leben ist.

Saisonale Depression Eine Depression mit saisonalem Muster liegt vor, wenn die Episoden einer Major Depression regelmäßig zu bestimmten Jahreszeiten – meistens im Herbst oder Winter – einsetzen und zu bestimmten Jahreszeiten – meist zum Frühling – wieder abklingen. Um von einem Muster zu sprechen, muss sich ein solcher Zusammenhang innerhalb von zwei aufeinanderfolgenden Jahren gezeigt haben. Die Zusatzbeschreibung wird nicht genutzt, wenn das jahreszeitliche Muster besser durch saisonal bedingte Belastungen erklärt werden kann, beispielsweise, weil man als Erntehelfer im Winter immer wieder arbeitslos ist. Gekennzeichnet sind solche depressiven Episoden durch Energiemangel, ein erhöhtes Schlafbedürfnis, gesteigerten Appetit und Gewichtszunahme sowie vermehrtes Verlangen nach kohlenhydratreichen Lebensmitteln (insbesondere Zucker). Viele Menschen leiden in der dunklen Jahreszeit unter solchen »Winterschlaf«-Symptomen – allerdings nicht in einem störungswertigen Ausmaß.

Es wird angenommen, dass saisonale Depressionen hauptsächlich durch Lichtmangel im Winter verursacht werden. Diese Vermutung stützt sich auf die positiven Effekte von Lichttherapie in der Behandlung von Winterdepressionen (siehe S. 238 ff.) und darauf, dass Personen, die im hohen Norden leben, vermehrt an saisonalen Depressionen leiden. Es wird geschätzt, dass 10 bis 20 Prozent aller Major Depressionen ein saisonales Muster aufweisen (Magnusson 2000).

Können Kinder bereits an Depressionen leiden?

Die Antwort auf diese Frage ist: Ja. Depressive Syndrome werden bereits ab dem dritten Lebensjahr beschrieben. Ein abrupter Anstieg der Depressionsraten findet sich, insbesondere bei Mädchen, ab dem 12. bis 13. Lebensjahr. Das Symptombild einer Depression im Kindes- und Jugendalter unterscheidet sich in der Kernsymptomatik nicht von den beschriebenen Symptomen im Erwachsenenalter. Entsprechend werden auch die gleichen Kriterien für die Diagnosestellung angelegt (siehe Kasten S. 15 f.).

Einige Merkmale können sich jedoch in Abhängigkeit von Alter und Entwicklungsphase sehr unterschiedlich darstellen. Ein zentraler Unterschied besteht darin, dass bei Kindern und Jugendlichen eine reizbare Stimmung statt einer depressiven Verstimmung vorliegen darf und vielfach vorliegt: Depressive Kinder und Jugendliche können durch episodisch auftretenden Jähzorn und aggressives Verhalten bereits in Reaktion auf minimale Auslöser auffallen. Auch können körperliche Schmerzen ohne organische Ursachen Krankheitszeichen sein.

Der neunjährige Fabian geht in die vierte Klasse einer Grundschule. Er ist häufig sauer auf seine Eltern und seine Schwester, die »ihn nerven«. Fabian hat dann immer eine starke Wut im Bauch, manchmal ist er auch traurig und verbringt viel Zeit in seinem Zimmer – da mache er meistens gar nichts! Nachts träumt er schlecht und wacht immer wieder auf. Fabians Eltern berichten, dass er sich schon seit längerer Zeit zurückziehe, keine Lust auf Treffen mit seinen Freunden mehr habe und auch zum Fußball nur noch mit sehr viel Zuspruch durch sie gehe. Sie geben weiter an, dass Fabian vermehrt morgens vor der Schule Bauchschmerzen habe. Von der Lehrerin hätten sie die Rückmeldung erhalten, dass er oft abwesend wirke.

Ganz unabhängig von der Ausgestaltung einer akuten Episode einer Major Depression muss für die Diagnosevergabe schließlich angegeben werden, ob die Person zum ersten Mal oder zum wiederholten Mal an einer Major Depression erkrankt ist. Wenn die Person erstmalig erkrankt ist, spricht man von einer »einzelnen Episode einer Major Depression«. Im Fall, dass die Person bereits eine oder mehrere Episoden in der Vergangenheit erlebt hat, spricht man von einer »rezidivierenden Major Depression«. Rezidivierend bedeutet »wiederkehrend« (siehe S. 49 f.).

EXKURSBurn-out

Im allgemeinen Sprachgebrauch werden Depressionen vielfach als Burnout bezeichnet und erlebt. Eine medizinische Diagnose mit dem Namen »Burn-out« gibt es jedoch nicht. Dies liegt vor allem daran, dass bislang kein Nachweis für ein einheitliches Störungsbild, das durch bestimmte Kernsymptome charakterisiert ist, erbracht wurde. Vielmehr werden je nach Betrachtungswinkel sehr unterschiedliche Symptome unter dem Oberbegriff Burn-out zusammengefasst: Neben Depressionssymptomen wie Erschöpfung, Energiemangel, Entscheidungsunfähigkeit und Schlafstörungen sind dies z. B. Symptome wie Desillusionierung, Zynismus, Verbitterung und ein Verlust an Empathie.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO 2019) beschreibt Burn-out als Syndrom aufgrund von »chronischem Stress am Arbeitsplatz, der nicht erfolgreich verarbeitet wird«. Drei Dimensionen werden als zentral erachtet:

• ein Gefühl von Erschöpfung,

• eine zunehmende geistige Distanz oder negative Haltung zum eigenen Job und

• ein verringertes berufliches Leistungsvermögen.

Entsprechend der Definition der WHO besteht auch im Alltagsverständnis die Überzeugung, dass beruflicher Stress ursächlich für die Symptome ist – man erlebt sich als »ausgebrannt« von beruflichen Anforderungen. In diesem Sinne wird die Bezeichnung Burn-out vielfach als schlüssige Beschreibung der persönlichen Situation erlebt.

Im Einzelfall muss jedoch genau geprüft werden, ob es sich bei der Burn-out-Symptomatik um eine Depression handelt, ob die Kriterien für eine andere psychische Störung erfüllt sind oder ob es eine normale, d. h. nicht-krankhafte Belastungsreaktion ist.

Chronische Depression

Der Begriff der »chronischen Depression« klingt schnell Angst einflößend, denn er wird oft missverstanden als »geht nie wieder weg«. Tatsächlich gelten Beschwerden im klinischen Sinne dann als »chronisch«, wenn sie mindestens zwei Jahre lang anhalten. Im DSM-5 nennt man eine Depression, die so lange andauert, »persistierende depressive Störung«. »Persistierend« bedeutet nichts anderes als »anhaltend«. Chronische Depressionen unterscheiden sich neben der zeitlichen Dauer nicht von einer Major Depression. Beide Störungsbilder sind durch die gleiche Symptomvielfalt gekennzeichnet.

DSM-5-Kriterien einer persistierenden depressiven Störung (nach APA 2015)

Depressive Verstimmung über die meiste Zeit des Tages an der Mehrzahl der Tage über einen mindestens zweijährigen Zeitraum. Bei Kindern und Jugendlichen kann die Stimmung auch reizbar sein und die Dauer muss ein Jahr betragen.

Während der depressiven Verstimmung bestehen mindestens zwei der folgenden Symptome:

• Schlechter Appetit oder Überessen

• Schlafstörungen (mehr oder weniger Schlaf)

• Geringe Energie oder Erschöpfungsgefühle

• Geringes Selbstbewusstsein

• Konzentrationsschwierigkeiten oder Schwierigkeiten beim Treffen von Entscheidungen

• Gefühl der Hoffnungslosigkeit

Während des Zweijahreszeitraums gab es keinen symptomfreien Zeitraum von mehr als zwei Monaten.

In Bezug auf den Schweregrad lassen sich zwei Formen der persistierenden depressiven Störung unterscheiden. Von einer chronischen Major Depression wird gesprochen, wenn Betroffene über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren an einer voll ausgeprägten Major Depression leiden. Diese verläuft somit nicht in Episoden, sondern hält dauerhaft an. Eine Dysthymie liegt vor, wenn die Symptome mindestens zwei Jahre anhalten, aber schwächer ausgeprägt sind: Hier sind nicht fünf Kriterien erforderlich – wie bei der Major Depression –, sondern es reichen drei bis vier Symptome (Symptome siehe S. 15 f.).

Der 44-jährige Dirk hat immer schon den Eindruck, ein Leben mit gezogener Handbremse zu führen. Es geht ihm nicht richtig schlecht und er kommt auch all seinen Aufgaben erfolgreich nach, gleichzeitig ist er aber nie richtig glücklich oder zufrieden; es kommt ihm so vor, dass ihm weniger Energie zur Verfügung steht als anderen Menschen, und er kämpft – seit er denken kann – mit einem geringen Selbstwertgefühl. Großgeworden ist er in einem eher lieblosen Haushalt: Materiell hat es an nichts gefehlt und er ist auch nie geschlagen worden; er kann sich aber auch nicht daran erinnern, von seinen Eltern jemals in den Arm genommen worden zu sein. Zum Glück habe er einen Bruder gehabt, sonst wäre er wahrscheinlich »verkümmert«. Manchmal denkt er, dass er eben »einfach so ist, wie er ist«, und dennoch wünscht er sich, den »Grauschleier über allem« zurückzudrängen.

Etwa 20 Prozent aller Depressionen verlaufen chronisch und drei Viertel aller chronischen Depressionen setzen bereits vor dem 21. Lebensjahr ein (BRAKEMEIER u. a. 2012). Dies scheint vor allem damit zusammenzuhängen, dass chronisch depressive Menschen sehr häufig traumatischen Erfahrungen wie Misshandlungen, Trennungen, Verlusten und Vernachlässigung in ihrer Kindheit ausgesetzt waren: Ihr Leben war von Anfang an massiv schwierig, sodass es nicht verwundert, dass sie deutlich stärker beeinträchtigt sind als Menschen, die unter depressiven Einzelepisoden leiden. In Bezug auf chronisch verlaufende depressive Störungen wird eine Kombinationsbehandlung bestehend aus Psychotherapie und Pharmakotherapie empfohlen – auch dann, wenn die Symptome weniger stark ausgeprägt sind, wie im Fall einer Dysthymie (siehe Kapitel »Welche Behandlungsarten gibt es?«, ab S. 136).

Chronische Depression vs. therapieresistente Depression