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Ein wegweisendes und dringend erforderliches Buch für alle Demokraten Platz 1 Sachbuchbestenliste Deutschlandfunk Kultur SPIEGEL-Bestseller In seinem hochaktuellen Buch bietet Volker Weiß eine tiefgehende und historisch fundierte Zeitdiagnose zur AfD und der extremen Rechten. Scharfsinnig enthüllt er, wie die extreme Rechte von dem Ziel getrieben ist, den westlichen Liberalismus zu überwinden und eine alternative Geschichtsdeutung durchzusetzen. Mit neuen beeindruckenden Details und einer Analyse der rechten Gegenerzählungen seziert der Autor die neurechte Szene. Die extreme Rechte spricht von einem geistigen Bürgerkrieg, der in Deutschland tobe – und den sie gleichzeitig anheizt. In diesem Kampf geht es um nichts weniger als um die Deutungshoheit über Geschichte und Gegenwart, um Deutschland aus dem Westen herauszulösen. Die widersprüchlichen, verklärenden und oft schrillen Geschichtskonstruktionen der extremen Rechten weisen auf ein Ziel: ein »Deutsches Demokratisches Reich« als Synthese aus den autoritären Systemen der deutschen Vergangenheit. Mit seinem Buch knüpft Volker Weiß an seinen Bestseller »Die autoritäre Revolte« an und analysiert diese neuen Methoden der kulturellen Kriegsführung vor allem in den Feldern der Geschichts- und Geopolitik. Rechtzeitig zur anstehenden Bundestagswahl zeigt der Historiker die aktuelle Entwicklung des neuen rechten Denkens auf. Die wichtigsten Strömungen und Akteure werden hierbei untersucht, und immer wieder weitet der Autor den Blick hin auf vergleichbare Aktionen der rechten Milieus in Russland und den USA. Eine kluge wie schonungslose Darstellung der strategischen Umdeutung unserer Geschichte und der gezielten Zerstörung demokratischer Werte durch die extreme Rechte.
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Volker Weiß
Das Deutsche Demokratische Reich
Wie die extreme Rechte Geschichte und Demokratie zerstört
Klett-Cotta
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Klett-Cotta
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Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-96667-1
E-Book ISBN 978-3-608-12389-0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
»Great again!«
Brücken im Ukraine-Krieg
Der Märtyrer
Der Präsident
Das Außenministerium
Der Berater
Der Katechon
Der »russische Taliban«
Dugin im Westen
»Goldgrund Eurasien«
Der europäische Nationalismus und Moskau
Die deutsche Rechte im Ost-Dilemma
Das Erwachen des ukrainischen Nationalismus
Verwirrende Frontverläufe
Abendland im Osten
Ratlos in Schnellroda
Jungeuropa zwischen den Fronten
Tumult im Volkskrieg
Alte Landkarten
Ostpreußens Wiedergeburt?
Grenz-Revisionismus
Deutsch-russische Traditionen
Bis 1989: Aufstand der Völker
»Klasse« statt »Rasse«? Versuche zur Umdeutung des Nationalsozialismus
Die Legende von den »linken Nazis«
Goebbels in Dresden und Magdeburg – Karriere eines Zitats
Goebbels’ Angriff auf die Linke
Propaganda und Realität
Die Volksgemeinschaft als Arbeitsregime
Das Scheitern der »nationalsozialistischen Linken«
Die Genese des »Deutschen Sozialismus«
Das »Deutsche Demokratische Reich« als antikommunistische DDR-Nostalgie
»Volk«
Der Osten der Rechten
Das Land verlorener Tugenden
Deutschland – ohne »’68«
»Vollende die Wende!«
»Frieden«
Vorwärts in die Vergangenheit!
Sammlung im Osten
Die späte rechte Liebe zur Sowjetunion
Nachwort
Zerbrochene Bilder
Subversion der Subversion
Nachweise
»Great again!«
Brücken im Ukraine-Krieg
Die deutsche Rechte im Ost-Dilemma
Alte Landkarten
»Klasse« statt »Rasse«? Versuche zur Umdeutung des Nationalsozialismus
Das »Deutsche Demokratische Reich« als antikommunistische
DDR
-Nostalgie
Nachwort
Literaturverzeichnis
Gedruckte Quellen
Zeitschriften / Webseiten (Auswahl)
Parlamentsdrucksachen
Sekundärliteratur
Dank
Das Bild Donald Trumps nach dem gescheiterten Attentat während des US-Wahlkampfes 2024 ging um die Welt: die Faust gereckt, das Gesicht verzerrt ruft er seinen Anhängern zu: »Kämpft!« Es bedient die Formsprache eines Arbeiterführers oder schwarzen Bürgerrechtlers aus früheren Zeiten, ohne dass der US-Präsidentschaftskandidat damit etwas zu tun gehabt hätte. Der weiße Milliardär Trump stand für das Gegenteil dieser Geschichte – und verkaufte sich den Wählerinnen und Wählern dennoch erfolgreich als Kandidat gegen »die Elite«.
Wladimir Putin wiederum bestellte unmittelbar nach seiner Einführung ins Präsidentenamt im Jahr 2000 die »mächtigsten Geschäftsmänner Russlands« in den Kreml, um ihnen vor laufenden Kameras des russischen Fernsehens die Leviten zu lesen. Im Anschluss an diesen »Schauprozess« lud er die versammelten Oligarchen zum Grillen jenseits der russischen Öffentlichkeit ein. »Tief im Wald am Rand von Moskau«, schreibt die britische Russland-Korrespondentin Catherine Belton, empfing er seine Gäste – in der ehemaligen Datscha Joseph Stalins.[1] Diese sowjetischen Referenzen des postsowjetischen Machthabers reichten aus, um die Verhältnisse zu klären, und künftig dominierte in Russland wieder die staatliche Mafia.
All diese Symbole sind der Geschichte entlehnt, sie wurden aus ihren Kontexten gerissen und doch verstanden, denn auf Zeichen gibt es kein ewiges Copyright. Ihre Bedeutung ist an gesellschaftliche Verabredungen gebunden. Wiederholungen rufen Vergangenheit auf und ändern diese zugleich. Trump und Putin konnten bekannte Elemente der Geschichte aufgreifen und auf sich ummünzen. Ein Vorgang, der auch als »Resignifikation« beschrieben wird, als Aneignung und Umdeutung bekannter Symbole und Begriffe.
Die Liste solcher Operationen ist lang. Verschiebungen, Umdeutungen, zerbrochene Bilder sind die Mittel, mit denen der historische Diskurs als Abrissunternehmen geführt wird. Haupakteure in diesem Prozess sind die neuen autoritären und nationalistischen Bewegungen, seien sie wie in Deutschland in der Opposition oder wie in Russland an der Regierung. Es soll kein Stein auf dem anderen bleiben. Um die Gegenwart politisch umzudekorieren wird tief in den Fundus der Nationalgeschichte gegriffen. »Nazis«, das weiß die russische Propaganda, sind heute vor allem in der Ukraine zu finden, während Lenin längst im Westen zu Hause ist. Eingefleischte Antikommunisten deuten heute die DDR zum preußischen Ordnungsstaat und die Sowjetunion zur modernisierten Form des russischen Reiches positiv um, die sie gestern noch als »Reich des Bösen« mit allen Mitteln bekämpfen wollten. Mit der gegenläufigen Behauptung, der Nationalsozialismus sei eine »linke« Bewegung gewesen, lässt sich nicht nur die Geschichte des 20. Jahrhunderts völlig neu schreiben, mit ihr wird auch die politische Gegenwart auf den Kopf gestellt. Das Projekt der »historisch-fiktionalen Gegenerzählung«, mit der die extreme Rechte seit Langem ihren Zugriff auf die Geschichte gestaltet, hat durch die erweiterten Resonanzräume der Strömung erheblich an Lautstärke hinzugewonnen.[2]
Diese Geschichtspolitik konstruiert eine Vergangenheit, die es nie gegeben hat, um darauf eine Zukunft zu bauen: »Make … great again!« Doch solange die Trümmer der Realgeschichte noch in das Bewusstsein der Gegenwart ragen, stören sie die Vorstellungskraft des Publikums. Zur Vorbereitung der verheißenen glorreichen Zukunft muss zunächst das historische Geschehen neu überschrieben werden, um die Vergangenheit wieder attraktiver erscheinen zu lassen. Das darin wirksame Verfahren einer strategischen Resignifikation des Historischen soll in diesem Buch beschrieben werden.
Mit diesem Mittel führt die extreme Rechte ihren systematischen Angriff auf die moderne Geschichtsschreibung aus, seit sich diese nicht mehr der identitätsstiftenden Reproduktion nationaler Heldenmythen verschrieben hat, sondern einen hinterfragenden Blick auf die Akteure, Ideologien und Prozesse wirft. Die kritische Perspektive wird von allen als Hemmnis gesehen, die sich in den Dienst der nationalen »Wiedergeburt« gestellt haben. Sie können in der Aufarbeitung nur eine »Vergiftung der Vergangenheit« entdecken, wie es einer ihrer Netzwerker, Götz Kubitschek, in einer geschichtspolitischen Grundsatzrede ausdrückte, mit der er einer reflexiven Geschichtsschreibung den »Krieg« erklärt.[3]
Solche Angriffe sind lange bekannt, sie zielen auf eine vollkommene Zerstörung des historischen Sinns durch die kontinuierliche Erschütterung von grundlegendem Wissen. Schon zwischen den Weltkriegen, merkt Hannah Arendt an, seien »die Methoden des Bürgerkrieges in die normale politische Propaganda [ge]tragen« worden.[4] Nach dem Vorbild dieser Zeit finden sich Begriffe gekapert, Geschehenes verdreht und »alternative Fakten« geschöpft. Die Empfehlung, die Donald Trumps damaliger Berater Steve Bannon für den Umgang mit kritischen Medien aussprach, ist längst sprichwörtlich geworden: »flood the zone with shit«.[5] Dank neuester Technologien ist dafür mittlerweile die ganze Welt empfänglich, und vom Einfluss und der Reichweite eines Elon Musk konnte Alfred Hugenberg nur träumen, als er sein Medienimperium gegen die Weimarer Republik in Anschlag brachte.
Ironischerweise kommen dabei jedoch verstärkt Methoden zur Anwendung, die einst als progressiv erachtet wurden. Die »Subversion durch Resignifikation«, ein Schlachtruf, mit dem einst »Macht« revolutionär dekonstruiert werden sollte, ist längst zum gefügigen Mittel der Gegenrevolution geworden. Es ist nicht das erste Mal, dass eine Praxis, deren eigentlicher Zweck hätte sein sollen, erstarrte Verhältnisse aufzubrechen, um dem Fortschritt Raum zu verschaffen, ihr Gegenteil bewirkt. Hannah Arendt schildert diesen Verfall von Urteilsfähigkeit am Beispiel der stalinistischen Propaganda. Da die Linke sowieso »überzeugt« gewesen sei, »daß alle traditionelle Geschichtsschreibung, die ja notwendigerweise die Benachteiligten und Unterdrückten aus dem Gedächtnis der Menschheit ausschließt, ohnehin eine Fälschung sei, sahen sie in den faustdicken Lügen totalitärer Propaganda nur den faustdicken Spaß, der die Gültigkeit der überlieferten Geschichte überhaupt in Frage zog.«[6] Das vermag zu erklären, weshalb die Strategie der Subversion von Bedeutungssystemen sich langfristig gegen die Subversiven selbst wenden konnte. Während der Corona-Pandemie zeigte sich besonders ausgeprägt, wie die Überzeugung, dass nichts geglaubt werden kann, darin umschlägt, alles zu glauben. Das bleibt langfristig nicht ohne Folgen, die gestiftete Verwirrung gestaltet einen Übergang in ein »prätotalitäre[s] Meinungschaos«, von dem Arendt feststellt, dass es den Zeitgenossen in Deutschland und der Sowjetunion vor dem Zweiten Weltkrieg erleichtert habe, »offenkundig absurde Behauptungen zu akzeptieren«.[7] Insofern ist die mit viel Hingabe betriebene Zerstörung der öffentlichen Meinung und des historischen Sinns für den Populismus eine lohnende Investition. Wenn die rationalen Systeme erst einmal dekonstruiert sind, können andere danach ganz im Sinne der neuen Autoritäten rekonstruiert werden. Damit wird der Angriff auf die Geschichte zum Angriff auf die Gesellschaft.
Dieses Buch widmet sich den Überschreibungen und Umdeutungen des Historischen, mit denen in der Gegenwart massiv Politik gemacht wird. Die Kapitel bauen aufeinander auf, sind jedoch auch einzeln als für sich lesbar, der Schlussteil soll das Beobachtete im Ganzen theoretisch reflektieren. Als konkrete Beispiele für die Operationen untersuchen die ersten drei Kapitel die neue russisch-deutsche Allianz am rechten Rand sowie ihre aktuellen und historischen Stichwortgeber. Ein Vergleich der offiziellen russischen Geschichtspolitik mit den Positionen der deutschen Rechten vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges fördert einige mitunter erstaunliche Gemeinsamkeiten zutage. Die anschließende Betrachtung der Versuche des AfD-Milieus, den Nationalsozialismus zu etwas gänzlich anderem zu machen, gehen den Spuren eines Zitats nach, das Joseph Goebbels zugeschrieben wird und dem in dieser Umdeutung eine zentrale Rolle zukommt. Sie gibt zugleich Einblick in die historische Recherche, um den Aufwand zu verdeutlichen, der für die Gegenwehr mitunter nötig ist und veranschaulicht, über wie lange Zeiträume Umdeutungen und Aneignungen ihre Wirkungen entfalten können. Abschließend wird das verstörende Phänomen der antikommunistischen DDR-Nostalgie in Augenschein genommen, die sich seit einiger Zeit am rechten Rand bemerkbar macht. Ihr gelingt das Kunststück, an Elemente der repressiven DDR-Gesellschaft positiv anzuknüpfen und zugleich mit der Parole »Wir sind das Volk!« das Erbe der Bewegung für sich in Anspruch zu nehmen, die sich gegen dieses System gestellt hatte. Wie sich zeigen wird, sind diese Phänomene kaum auf Deutschland beschränkt, sie lassen sich in ähnlicher Form auch in anderen Ländern beobachten. Als erster Schritt kommen dabei zumeist jene »Verkehrungen ins Gegenteil« der politischen Propaganda zur Geltung, die von der Literaturwissenschaftlerin Sylvia Sasse jüngst präzise analysiert wurden,[8] und werden mit Elementen der Geschichte verknüpft politisch dienstbar gemacht.
Bei den Betrachtungen fallen immer wieder die zentrale Rolle von Begriffen und deren Wandelbarkeit in der Zeit auf, denn viele Umdeutungen schließen an ähnliche Operationen in der Vergangenheit an. Die Rekonstruktion solcher Prozesse kann daher helfen, die politische Rhetorik in Geschichte und Gegenwart zu entschlüsseln und ist zum Verständnis zeitgenössischer wie auch historischer Politik unverzichtbar. »Die Begriffe und deren sprachliche Geschichte zu untersuchen«, schreibt der Begriffshistoriker Reinhard Koselleck, »gehört so sehr zur Minimalbedingung, um Geschichte zu erkennen, wie deren Definition, es mit menschlicher Gesellschaft zu tun zu haben.«[9] Mit Blick auf aktuelles Geschehen soll dieses Buch den Versuch einer solchen Untersuchung unternehmen. Nur so lassen sich die hier analysierten destruktiven Strategien der Umdeutung durchschauen und kann ihrer politischen Ausbeutung entgegengewirkt werden.
Gegen Ende seiner Rede war der Politiker vollkommen in Rage. Nachdem Hans-Thomas Tillschneider erst den Verfall des gesamten Westens am Beispiel der »dekadenten« und »blasphemischen« Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris gegeißelt hatte, erklärte er sich schließlich bereit zum Martyrium. Vor Erregung bebend rief er in das Mikrophon des Rednerpultes: »Ich fürchte die Verfolgung nicht, denn ich weiß, Gott ist mit uns, Gott ist mit der AfD!«
Eigentlich hatte der AfD-Abgeordnete im Landtag von Sachsen-Anhalt nur den Antrag seiner Fraktion gegen »queere Propaganda« begründen wollen, die ihrer Meinung nach in Paris gezeigt worden war, doch dann brach sich heiliger Zorn Bahn. Bei den pompösen Feierlichkeiten an der Seine waren Darsteller aufgetreten, deren Geschlechterzugehörigkeit sich dem habilitierten Islamwissenschaftler Tillschneider nicht auf den ersten Blick erschlossen hatte. Andere Darsteller hatten schlicht nicht den ästhetischen Vorlieben des glatzköpfigen Endvierzigers mit dem rauschenden Vollbart entsprochen, der sich nun in Magdeburg, weitab von der Weltstadt Paris, über solche Zumutungen echauffierte. Eine Referenz an Leonardo da Vincis berühmtes Wandgemälde Das Abendmahl schimmerte bei der Performance ebenfalls durch – in den Augen des Parlamentariers »Blasphemie« und »Perversion«. Mit drastischer Sprache konnte er, ungehindert vom Präsidium des ehrwürdigen Hauses, seine kulturpessimistischen Ressentiments in ganzer Breite entfesseln. In einschlägig bekanntem Jargon tobte er, zur Eröffnungsfeier in Frankreich habe man »kranke Vorstellungen, geboren aus höchster Dekadenz«, zu sehen bekommen.
Doch wo das Hässliche angeprangert wird, darf das Lob des Schönen nicht fehlen. Daher begann der verhinderte Gotteskrieger seinen Wutausbruch zunächst mit einem Rückblick auf die Olympischen Winterspiele 2014 im russischen Sotschi. Das sei »eine wundervolle Feier« gewesen, die »alles, was wir davor an Olympiaeröffnungsfeiern kannten, in den Schatten gestellt« habe. »Operngleiche Darbietungen« ästhetischer Körper hätten die Höhepunkte aus der »Geschichte des Gastlandes« präsentiert. »Hunderte schlanke Tänzerinnen und Tänzer, schöne Männer und Frauen, die sich voller Kraft und Leichtigkeit harmonisch bewegten.« Was für ein Kontrast zu Paris und »eine Eröffnungsfeier, wie sie sein soll.« Der Westen, klagte er mit Blick auf Frankreich, kenne solch heroische Formen gar nicht mehr und sei in den gotteslästerlichen Abgründen der Hässlichkeit versunken. Doch die AfD, schwor er schließlich, werde alles daransetzen, die Nation zurück auf den richtigen Weg zu führen. Sie habe eine historische Mission als »Drachentöter unserer Zeit«, die »in dem Weltkampf zwischen den Mächten des Lebens und des Todes, des Lichtes und der Dunkelheit auf der Seite des Lebens und des Lichts stehen!«[1]
Tillschneiders Lobgesang auf die Präsentation der in harter Selbstzucht disziplinierten Körper von Sotschi 2014 bediente im Gegenschnitt mit den Motiven des westlichen Verfalls 2024 in Paris nicht nur ganz klassische Bildwelten des Faschismus, diese wurden auch von einer Reihe subtiler Russland-Referenzen getragen. Er berief sich auf die Kritik der russisch-orthodoxen Kirche an der Pariser Show, und sein Idol, der Drachentöter Sankt Georg, ist kein Geringerer als der Nationalheilige Russlands. Manche Bezüge waren historisch doppelt aufgeladen, das von Tillschneider bemühte Motto »Gott mit uns« zierte nicht nur die Koppelschlösser deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen, sondern war auch ein Wappenspruch der russischen Zaren. Bei seinen Ausfällen gegen die »Dekadenz« der queeren Pariser Kultur im Kontrast zur »sauberen« Show von Sotschi schien stets die Repression gegen nicht-heterosexuelle Lebensformen im heutigen Russland durch. Die teils drastische Wortwahl der Landtagsrede ließ kaum Zweifel daran, dass er eine ähnliche Verfolgung auch hier wünscht. Bereits der Titel des Antrags gegen »queere Propaganda« war ganz auf der Linie der russischen Politik, die 2013 ein Gesetz gegen »Propaganda für Homosexualität« verabschiedet hatte. Die Definition des Strafbaren war dabei stets im Vagen geblieben, was der Willkür Tür und Tor öffnete.[2]
Tatsächliche Propaganda hingegen war Tillschneiders Darstellung der russischen Winterspiele, denn Sotschi 2014 taugte wenig als Ausweis von Lauterkeit und good gouvernance in Russland. Im Gegenteil, die Winterspiele sind in erster Linie als ein Fest der Macht und Korruption und ein Zeugnis russischer Autokratie in die Geschichte eingegangen. Russische Oppositionelle schätzten, dass die Hälfte der 50 Milliarden Euro Kosten in privaten Kanälen des Kreml-Umfelds versackte, Kritik des Auslands am desolaten Zustand der russischen Demokratie und Doping-Skandale trübten die heroische Selbstdarstellung zusätzlich.[3] Nach innen war die Wirkung jedoch immens, und das Spektakel zeigte die erwünschte Wirkung. Vor allem für den russischen Präsidenten hatte sich der Aufwand gelohnt, im Zuge der Olympiade erreichten Putins Beliebtheitswerte in der Bevölkerung neue Höhen. Putin wusste die Gunst der Stunde zu nutzen, kurz nach dem Ende der Spiele in Sotschi tauchten Soldaten ohne Hoheitszeichen an den Uniformen, die berühmten »grünen Männchen«, auf der ukrainischen Krim auf und leiteten die russische Annexion der Halbinsel ein. Der erste Schritt zum russisch-ukrainischen Krieg war getan.
Für den US-amerikanischen Russland-Historiker Ian Garner gehörten das Spektakel von Sotschi und der anschließende Einmarsch auf die Krim unmittelbar zusammen. Nach seiner Beobachtung zeugte die Feier bei der Winterolympiade besonders von den Anstrengungen, mit denen sich das Regime eine neue, unbedingt loyale Generation erschaffen habe. Garner beschrieb die Show, die in dem AfD-Politiker Tillschneider solche Sehnsucht weckte, als gigantische nationale Propagandaleistung, die formal wie inhaltlich vor allem den Anspruch des Staates an die russische Jugend zelebrierte, bedingungslos mit der russischen Nation zu verschmelzen: »Ein neues Modell russischer Kindheit – imperial, märchenhaft, kriegerisch, unverschämt – wurde auf größtmöglicher Bühne geformt. Wochen später setzten sich die Truppen auf die Krim in Marsch.«[4]
Der Fall des AfD-Politikers zeigt exemplarisch, wie sehr Russland für die extreme Rechte zum positiven Bezugspunkt geworden ist. Tillschneider, Vertreter des völkischen »Flügels« der Partei, war Gründer der »Patriotischen Plattform« in der AfD und ist mit dem Netzwerk des Antaios-Verlags in Schnellroda verbunden. Damit steht er am äußerst rechten Rand der ohnehin schon extrem rechten AfD. Auf dem von ihm organisierten »Preußenfest« 2024 ließ er sich in Schnellroda vor einer preußischen Fahne fotografieren, die erst in der NS-Zeit eingeführt worden war, lediglich das Hakenkreuz fehlte.[5] Die prorussischen Neigungen des Politikers traten nicht zum ersten Mal zutage, 2022 schlug eine Russlandreise in der Heimat hohe Wellen, die ihn mit anderen AfD-Abgeordneten auch in den Donbas führen sollte. Der geplante Abstecher ins Kriegsgebiet musste schließlich mit Rücksicht auf das Image der Partei abgesagt werden.[6] Ende März 2023 fuhr Tillschneider zu einer Wiener »Sicherheitskonferenz«, einer kleinen, deutlich rechtslastigen und Putin-freundlichen Zusammenkunft, die aus den Reihen der AfD-Schwester FPÖ in Zusammenarbeit mit dem russischen Zentrum für geostrategische Studien durchgeführt wurde.[7] Er agitiert, wie seine gesamte Partei, vehement gegen die Russland-Sanktionen und für ein Ende der Unterstützung der Ukraine. Dabei ist er nicht nur in Deutschland präsent, sondern auch in russischen Medien wie dem staatlichen Sender RT. Seit Januar 2023 ist er, wie er gegenüber der Mitteldeutschen Zeitung bestätigte, regelmäßiger Autor der Moskauer Tageszeitung Wedomosti. In seiner dortigen Kolumne, wird berichtet, stütze er die politischen Lesarten des Kremls und plädiere für die Aufteilung der Ukraine – im Namen des Friedens.[8] Immer wieder stellt er unter Beweis, wie sehr er das Kreml-Narrativ teilt, dass der Westen den Konflikt durch antirussische Politik vom Zaun gebrochen habe.
Der Nachhall der russischen Propaganda im Landtag von Sachsen-Anhalt ist kein Einzelfall. Tillschneider ist nur ein besonders auffälliges Beispiel für eine ausgeprägt pro-russische Haltung in der AfD, andere Namen, die im Kontext mit einer ähnlichen Orientierung regelmäßig genannt werden, sind der baden-württembergische Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier und dessen 2021 in Moskau verstorbener ehemaliger Mitarbeiter Manuel Ochsenreiter oder die AfD-Europaabgeordneten Maximilian Krah und Petr Bystron. Doch auch viele weniger bekannte Vertreter der Partei teilen diese Neigungen und kamen in der Vergangenheit Einladungen nach Russland nach. Parteichef Tino Chrupalla absolvierte als Gast in Moskau Termine mit Außenminister Lawrow, Beobachter sprechen von einer gut ausgebauten »Russland-Connection« der AfD.[9]
Die AfD zeigte sich von Beginn an als eine Partei, die dem von Wladimir Putin mit harter Hand geführten Imperium im Osten ausgesprochen zugetan ist. Dort weiß man diese Zuneigung zu schätzen, Ende April 2024 machte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel mit einer Titelstory auf, der zufolge Moskau der AfD mit einem eigenen Strategiekonzept zu weiterem Erfolg verhelfen wollte. Offensichtlich gehen die Interessen des Putin-Regimes und der deutschen Nationalisten gut zusammen, weshalb man sich in Russland von einer starken AfD immense Vorteile verspricht und entsprechend auf deutsche Debatten einwirkt. Dasselbe gilt für die antieuropäischen und populistischen Kräfte anderer Länder, von Ungarn, Österreich, Italien, Frankreich, Großbritannien etc. Seit dem zunehmendem Bedeutungsverlust einer sowjetnostalgischen Linken ist die radikale Rechte europaweit das Schoßkind der russischen Außenpolitik, die ihre Interessen wiederum durch den östlichen Nachbarn gut vertreten sieht.
Die intensiven Kontakte Rechtsextremer aus verschiedenen Strukturen nach Russland sind längst bekannt, sie sollen hier später nochmals thematisiert werden. Zunächst machen sie aber aus geschichtspolitischen Gründen stutzig, schließlich war das deutsch-russische Verhältnis gerade in den Zeiten, an denen sich die deutsche Rechte orientiert, ausgesprochen feindlich. Das Wilhelminische Kaiserreich focht im Ersten Weltkrieg an der Seite der Habsburger-Monarchie einen tödlichen Kampf mit dem russischen Zarenreich, das nationalsozialistische »Dritte Reich« verwüstete die Sowjetunion mit einem Vernichtungskrieg und plante die Expansion seiner Grenzen in einen zuvor gewaltsam entvölkerten Raum weit nach Osten. Schon der Erste Weltkrieg war mit von antirussischen Ressentiments getragen, die im Zweiten Weltkrieg noch zum Feindbild vom »slawischen Untermenschen« und »jüdischen Bolschewiken« gesteigert werden sollten. Viele Feindbilder konnten sich danach in den Frieden retten und waren politisch weiter nützlich, nach dem Krieg hielt der antikommunistische Konsens den Großteil der äußersten Rechten in Europa auf strikten Kurs gegen »den Osten«.
Auf russischer Seite zählt der »Große Vaterländische Krieg« der Sowjetunion mit dem Deutschen Reich, gerade weil er als erbitterter Überlebenskampf geführt wurde, bis heute fest zu den identitätsstiftenden Elementen der Gesellschaft. »Deutsche Nazis« waren daher aus gutem Grund sowohl in der sowjetischen als auch der russischen Propaganda stets die Chiffre für das absolut Böse. Doch offensichtlich war das nie alles, denn es hat sich etwas in den historischen Erzählungen deutscher, europäischer und auch russischer Nationalisten geändert und eine Annäherung über diese Kluft ermöglicht. Diese geschichtspolitische Verschiebung soll zunächst nachgezeichnet werden. Zu ihren erstaunlichsten Volten gehörte das Auftauchen von »Nazis« außerhalb von Deutschland, in der Ukraine, mit dem 2022 der russische Einmarsch in das Nachbarland legitimiert wurde.
Am Morgen des 24. Februar 2022 wandte sich Präsident Putin mit einer Rede an die russische Bevölkerung, um den Einmarsch seiner Armee in die benachbarte Ukraine als »militärische Spezialoperation« zu begründen. Die von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde herausgegebene Zeitschrift Osteuropa hat die Ansprache zur Dokumentation ins Deutsche übersetzt publiziert.
Die Rede enthielt eine ganze Reihe von inhaltlichen Angeboten an die deutsche und europäische Rechte, die allerdings wohl kaum allein taktisch motiviert waren, sondern vielmehr von ähnlichen Welt- und Geschichtsbildern zeugten. So beklagte Putin den stetigen Vormarsch des Westens nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und sprach dabei identitätspolitische Aspekte an, die auch die Rechte weltweit umtreiben: »Alles, was dem Hegemon, den Mächtigen, nicht passt, wird für archaisch, ausgedient, nutzlos erklärt«, hieß es, die westliche »Wahrheit« hingegen werde »um jeden Preis durchgedrückt, dreist und mit allen Mitteln. Wer anderer Meinung ist, wird mit Gewalt in die Knie gezwungen.« Daneben sprach er von der »Massenmigration aus Nordafrika und dem Nahen Osten nach Europa«, ausgelöst durch US-amerikanische Interventionen. Der »kollektive Westen«, eine Sprachschöpfung, die sich durchsetzen sollte, habe ein um die USA geschartes »Reich der Lüge« geschaffen und versuche seit den 1990er Jahren, »uns fertigzumachen, zu erledigen, uns endgültig zu vernichten.« Der Westen ziele besonders auf die »traditionellen Werte« Russlands, die man »zerstören« wolle. Putins Beschreibung der westlichen »Pseudowerte« macht bereits plausibel, warum sich Politiker vom Schlage Tillschneiders nach Moskau hingezogen fühlen. Das Denken beider ist von denselben Motiven des Verfalls und der Auflösung geprägt und zeigt eine wahre Untergangs-Besessenheit. Die Kultur des Westens, lamentierte der Präsident, solle »uns, unser Volk, von innen zerfressen«, ihre Ideen führten »auf direktem Weg zu Verfall und Entartung […], denn sie widersprechen der Natur des Menschen.« Diese Semantiken sollte auch Tillschneider in Magdeburg aufgreifen, denn von beiden wird der neue Ost-West-Konflikt mit grundsätzlichen Neuinterpretationen von Kultur und Geschichte befeuert.
Insofern blieb es nicht bei dieser kulturpessimistischen Diagnose, die in diesem Ton auch in Teheran, Riad, Pjöngjang, Peking oder Budapest hätte getroffen werde können – also all den Orten, an denen man sich von den »westlichen« Produkten des Individualismus wie Populärkultur, moderner Kunst, Gleichberechtigung, Minderheitenschutz, sexueller Devianz etc. existentiell bedroht fühlt. Derartig »dekadente« Impulse, so die Furcht, könnten ja Alternativen zu den gegebenen Verhältnissen aufzeigen und die eigenen Machtstrukturen erschüttern. Der Präsident ging einen Schritt weiter und rückte die Geschichte ins Blickfeld, um dem beschworenen Szenario den Charakter eines ewigen Kampfes zu verleihen. Zur Rechtfertigung des massiven militärischen Vorgehens, das nicht Krieg genannt werden durfte, berief er sich explizit auf die sowjetische Erfahrung. Wie Russland in der Gegenwart so habe auch »die Sowjetunion im Jahr 1940 und noch Anfang 1941 auf jede erdenkliche Weise versucht, einen Krieg abzuwenden oder wenigstens hinauszuzögern.« Daher habe sie sich nicht von Beginn an dem deutschen Angreifer »mit ganzer Kraft« entgegenstellen können. Für die zuvor proklamierte Verteidigung von Traditionen war das eine ungewöhnliche Referenz. Der Umstand, dass die Sowjetunion selbst mit allen Mitteln die Modernisierung des Landes forciert hatte und in diesem Fortschrittsprozess, wie überall auf der Welt, Traditionen zerstört wurden, die nicht mehr »nützlich« schienen, blieb unerwähnt.
Heute, so entwickelte Putin das Argument gewagt weiter, sei Russland in einer ähnlichen Lage gegenüber den USA und der Nato wie die Sowjetunion gegenüber Hitler, aber man werde »einen solchen Fehler« sicher nicht wiederholen. Es folgte ein Hinweis auf die avancierte Waffentechnologie seines Landes inklusive der nuklearen Schlagkraft und die Mahnung, welcher Einsatz gerade für Russland auf dem Spiel stehe: »Für unser Land aber ist es letztlich eine Frage von Leben oder Tod. Es geht darum, ob unser Volk in der Geschichte eine Zukunft hat. […] Um eine reale Gefahr nicht nur für unsere Interessen, sondern für die schiere Existenz unseres Staates, für seine Souveränität. Genau das ist die rote Linie, von der ich mehrfach gesprochen habe.« Der Westen habe sie »überschritten«, nun sei es für Russland an der Zeit zu handeln, jedoch nicht aus Eigeninteresse, sondern zum Schutz anderer, etwa der russischen Bevölkerung auf der Krim und im Donbas, die sich zur »Wiedervereinigung mit Russland entschieden« habe. Im umkämpften Donbas drohe ein »Genozid an Millionen Menschen […], deren einzige Hoffnung Russland« bleibe. An diesem Punkt schwenkte der Präsident wieder zurück in die Geschichte und führte aus, dass die Nato die »extremen Nationalisten und Neonazis in der Ukraine« unterstütze. Was von diesen zu erwarten sei, so eine erneute historische Referenz, wisse man ja: »sie werden morden, so wie seinerzeit auch die nationalistischen ukrainischen Banden und ihre Strafkommandos, Hitlers Handlanger im Großen Vaterländischen Krieg, unschuldige Menschen ermordet haben. Und sie erheben ganz offen Anspruch auf eine ganze Reihe weiterer russländischer Gebiete.« Andere Evokationen des »Großen Vaterländischen Krieges« und der darin gebrachten Opfer folgten, verbunden mit der Versicherung, die »Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs und die Opfer, die unser Volk für den Sieg über den Nazismus gebracht hat«, seien Russland »heilig.« Selbst das Militär der Ukraine wurde in diesem Sinne adressiert: »Kameraden! Eure Väter und Großväter haben nicht dafür gegen die Nationalsozialisten gekämpft und unsere gemeinsame Heimat verteidigt, damit die heutigen Neonazis in der Ukraine die Macht an sich reißen.«[10] Die Rede ist eines von vielen Beispielen von Umkehrungen und Vertauschungen, die in der russischen Propaganda traditionell eingesetzte werden und hier besonders geschichtspolitische Wirkung entfalten.[11]
Im Moment des Krieges war die Identifikation mit dem sowjetischen Imperium als Sieger von 1945 also wieder gefragt. Um zu verdeutlichen, wie ernst die Lage sei, sprach der Präsident in seiner Kriegsrede nun eine Warnung an alle aus, »die versucht sein könnten, sich von außen in den Gang der Ereignisse einzumischen.« Russland werde darauf augenblicklich eine Antwort haben, »wie sie sie in ihrer Geschichte noch nicht erlebt haben.« Man sei, betonte Putin, auf alles vorbereitet und habe die nötigen Maßnahmen getroffen. Die Worte waren stark gesetzt, es fiel schwer, darunter keine Drohung mit Atomwaffen zu verstehen.
Die Dokumentation der Rede in Osteuropa war nicht umsonst mit einem Hinweis auf den »demagogische[n] Charakter« der Rede versehen, die eigentlich die Kommentierung jedes Satzes nötig mache, doch die Redaktion hoffe, mit ihrer bisherigen Arbeit bereits den notwendigen Verständnisrahmen geliefert zu haben.[12] Tatsächlich kam für die Beobachter der russischen Politik Putins Inanspruchnahme des historischen Feldes nicht überraschend. Schon 2021 hatte der Kreml einen Aufsatz »Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer« publiziert und sogar an ausländische Wissenschaftler verteilen lassen, als dessen Autor Präsident Putin gezeichnet hatte. Wie der Osteuropa-Historiker Andreas Kappeler ebenfalls in der Zeitschrift Osteuropa festgehalten hat, sorgte die beigefügte Empfehlung des Kremls an die internationale akademische Welt, »den Artikel von Wladimir Putin künftig bei der Vorbereitung von historischen Beiträgen zu nutzen«, für einige Irritationen. Verständlich, denn es ist grundsätzlich ein schlechtes Zeichen, wenn sich politische Führer an eigenen Geschichtsdeutungen versuchen, bei einer derartigen Aufdrängung der quasi amtlichen Sicht droht ein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. Das Vorgehen lasse ungute Rückschlüsse auf den Wissenschaftsbetrieb in Russland zu: »Wenn ein Aufsatz des Präsidenten sogar ausländischen Historikern empfohlen wird, kann man sich vorstellen, wie sehr russische Fachleute und Studierende dazu angehalten werden, die Aufsätze ihres Präsidenten zur Richtschnur zu nehmen.«[13]
In seinen Augen hatte Putins zur Lehrmeinung aufgewerteter Text das Ziel, den russischen Anspruch auf die Ukraine geschichtspolitisch abzusichern. Als Referenzen dienten dabei einerseits die behauptete kulturelle und historische »Einheit von Russen und Ukrainern« seit der Kyjiwer Rus, andererseits der »Große Vaterländische Krieg« bzw. die Nachkriegsordnung zu Zeiten der Sowjetunion. Schon in vorherigen Verlautbarungen Putins, führt Kappeler aus, finde sich die Ukraine unumstößlich in die russische Welt integriert. Die Argumentation laufe damit »auf die These hinaus, dass die ukrainische Nation erst durch die Sowjetunion geschaffen wurde.« Mit der Einbindung historischer Konflikte zwischen Russland, Polen und Österreich und dem Territorium der Ukraine werde zudem der Bogen zum Westen als ewig destruktiver Kraft im Hintergrund geschlagen. »Solche Verschwörungstheorien, die in Russland eine lange Tradition haben, kommen in Putins Beschuldigungen an die Adresse der USA und der Europäischen Union zum Ausdruck, die Ukrainer gegen Russland aufzuhetzen.«[14]
Die Argumentation Putins offenbart somit eine geschichtspolitische Operation im Hintergrund. Nicht ohne Raffinesse knüpft er einerseits an die imperiale Tradition von Zarenreich und Sowjetunion an, macht andererseits aber die Bolschewiki für Entwicklungen verantwortlich, die nicht in sein Konzept passen. Durch den Schritt, die Staatsgrenzen der Gegenwart allein als Folge sowjetischer Nationalitätenpolitik zu deuten, wird der aktuelle territoriale Anspruch an das Nachbarland antikommunistisch gewendet. In seiner Ansprache am Morgen des Überfalls sprach Putin in dieser Konsequenz auch von der »Sowjet- oder Lenin-Ukraine«.[15] Das scheint widersprüchlich, doch so können imperiale Sowjetnostalgie, Antikommunismus und monarchisch-nationalistische Traditionsbestände zu einem Zweck verflochten und weltanschauliche Angebote für mögliche Partner im Ausland kommuniziert werden. Auch Kappeler wertet die teils emotional überfrachteten Ausführungen Putins wegen der Kombination der unterschiedlichen Traditionselemente als kalkuliert und gefährlich. Gerade dieses collagenhafte Vorgehen gebe »einen Einblick in Putins Gedankenwelt, in der sich Sowjetpatriotismus, imperialer und ethnischer Nationalismus und ein Blut-und-Boden-Pathos vermischen.«[16]
Diese spezielle Verknüpfung kennzeichnet tatsächlich viele Elemente der russischen Propaganda aus den vergangenen Jahren. Ein ähnliches geschichtspolitisches Patchwork hatte Putin bereits in einer anderen Ansprache bemüht, die ebenfalls als wichtiger Hinweis auf seinen forciert antiwestlichen Kurs gilt. Ein Jahr vor dem Überfall auf die Ukraine hatte der Präsident beim Treffen des Waldai-Klubs detailliert seine Weltsicht dargelegt.[17]
Der Waldai-Klub ist ein jährlicher Diskussionsgipfel der russischen Politik und genießt hohen Stellenwert – auch bei ausländischen Ultrarechten.[18] Nach Einschätzung des Russland-Historikers Ian Garner dient er vor allem dazu, im Stil eines Thinktanks die Ansichten des Kremls für die Öffentlichkeit aufzubereiten. Er berichtet von einer Rede Putins auf dieser Bühne, mit der schon 2013 der antiwestliche Kurs bekanntgegeben worden sei. Der Redner habe bereits damals eine ganze Reihe negativer Aspekte präsentiert, die in seinen Augen mit dem Phänomen der political correctness verbunden seien: Pädophilie, Homosexualität, Feminismus, Militarismus und selbst Satanismus.[19] Mit dieser Aufzählung der destruktiven Einflüsse des »kollektiven Westens« war Putin in einen cultural war um die Identität eingestiegen, der im Westen ebenfalls seine Fürsprecher hat. Seine Liste des Verderbens versammelte alle Sünden, die zu dieser Zeit längst auch aus den Reihen der US-Republikaner und europäischer Rechter bis in die AfD hinein einem angeblich allgegenwärtigen westlichen »Kulturmarxismus« angelastet wurden. Putin bot seinem Auditorium auch denselben Ausweg wie diese an, er propagierte den Rückgriff auf Religion, Tradition und nationale Identität im Kampf gegen die »Dekadenz« und präsentierte damit wesentliche Ingredienzien der weltweit anhebenden autoritären Revolte als Heilmittel.
Auffallend an diesen Äußerungen, die immerhin einen manifesten Krieg in Europa und damit die größte sicherheitspolitische Herausforderung des Kontinents seit 1945 flankierten, waren die darin vollzogenen Deutungen bzw. Umdeutungen des Historischen. Schließlich war es nicht die Bundesrepublik als Erbin des nationalsozialistischen Deutschlands, der Putin vorwarf, von »Neonazis« regiert zu werden, sondern die Ukraine, die als sowjetische Teilrepublik selbst schwer unter der deutschen Besatzung gelitten hatte. Mit dieser historisch inspirierten Überzeichnung der politischen Verhältnisse im Nachbarland bei gleichzeitiger Verzerrung der Vergangenheit sollten vor allem die Interessen Moskaus, seine geopolitische Einflusssphäre zu wahren, kaschiert werden. Doch wie so oft ging der Versuch, die Frontenbildung der Gegenwart allein anhand historischer Konfliktlinien zu erklären, bei genauerer Betrachtung nicht auf. Schon die Herkunft des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj aus einer russisch-jüdischen Familie versperrte sich gegen diese Einordnung. Zwar gab es, wie von Putin angeführt, ukrainische Kollaboration mit Nazi-Deutschland, von diesem Phänomen waren jedoch weder Russland selbst noch das verbündete Weißrussland verschont geblieben.[20] Die heute der Aggression gegen Russland geziehenen USA hatten zudem seit 1941 im Rahmen des Lend-Lease Act die Sowjetunion massiv mit Kriegsmaterial unterstützt, ohne das sich die Rote Armee kaum hätte behaupten können (die Unterzeichnung des Ukraine Democracy Defense Lend-Lease Act am 9. Mai 2022 durch US-Präsident Biden kann hier getrost als Retourkutsche an Putin gesehen werden).
Zu den Details, die eine geschichtspolitische Argumentation so kurios machen, zählt zudem das Engagement der privaten Söldnertruppe »PMC Wagner« im Ukraine-Konflikt. Schon deren Profil will sich nicht recht in die antifaschistische Traditionslinie einfügen, denn der deutsche Name der russischen Firma geht auf die Wertschätzung ihres Kommandeurs Dmitrij W. Utkin für den Komponisten Richard Wagner zurück. Utkin schätzte jedoch nicht nur den Musiker Wagner, sondern vor allem dessen großen Verehrer Adolf Hitler mitsamt seiner antisemitisch-imperialen Weltanschauung. Fotos zeigen ihn mit tätowierten SS-Rangabzeichen, von seiner Truppe ist die Verwendung von Symbolen der white-supremacy-Ideologie dokumentiert.[21] Diese private Armee, die zuerst bei der Annexion der Krim 2014 gesichtet worden war und anschließend als »Sicherheitsfirma« im syrischen Bürgerkrieg agierte, trat nun ausgerechnet auch bei der »Entnazifizierung« der Ukraine in Erscheinung. Nach Konflikten mit dem Kreml im Sommer 2020, die den Wagner-Führungsstab das Leben kosteten, wurde das Unternahmen umstrukturiert und übernahm die Aufgabe, russische Interessen in Afrika durchzusetzen. Der neue Name, unter dem die Firma jetzt agiert, steht dabei bruchlos in der Tradition der ursprünglichen Bezeichnung: Sie nennt sich jetzt »Afrika-Korps«, wie der deutsche Kampfverband in Nordafrika während des Zweiten Weltkriegs. Alleine diese aussagekräftigen Details führen die »antifaschistischen« Vorsätze Russlands ad absurdum, schließlich böte schon der eigene Apparat genug Anlässe zur »Denazifizierung«.
Insgesamt war die Geschichte des traumatischen »Großen Vaterländischen Krieges« eine schlechte Referenz für den Angriff Russlands auf sein Nachbarland. Sie lässt sich nur aufrechterhalten, wenn wesentliche Differenzen zwischen den historischen Konstellationen ausgeblendet werden. Nicht zuletzt weckte Putins eigenes Vorgehen – eine territoriale Expansion unter Kriegsdrohung, die auf ein Zurückweichen des Westens spekulierte – eher ungute Erinnerungen an die Sudeten-Krise 1938. Möglicherweise hatte Putin seinerseits das historische Gedächtnis des Westens unterschätzt, denn für die Halbinsel Krim und das Donezbecken kam kein »Münchner Abkommen« zustande, das dem Deutschen Reich damals die Einverleibung des Sudetenlandes gestattete und zur anschließenden Besetzung der »Rest-Tschechei« führte. Vielmehr hatte man Sorge, dass nach diesem Muster im Anschluss an die Ukraine auch das Baltikum und Polen »denazifiziert« würden. Durch eine ernsthafte historische Reflexion hätte Putin daher die Reaktion des Westens erahnen können und auf das Vabanque-Spiel im Februar 2022 verzichten können. Da er die Geschichte jedoch ausschließlich in den Dienst seiner Interessen stellte, blieb ihm diese Einsicht verwehrt. Dieser rein instrumentelle Zugang zeigt sich auch an seiner gespaltenen Erinnerung an die Sowjetunion in den verschiedenen Reden. Während Lenin vorgeworfen wurde, »Frauen« und »Hühner« kollektiviert zu haben, war Stalin als Sieger von 1945 im Moment des Krieges wieder gefragt. Letztlich ging es auch viel weniger um die Vergangenheit als um die Legitimation der Gegenwart. Das Vorgehen zeitigte zumindest im Inland Erfolg und brachte das Land auf Kriegskurs, konnte es doch auf bereits lange etablierte Narrative der Nationalgeschichtsschreibung aufbauen. Verstärkt durch Propaganda und Repression hatte Putins Botschaft neben der Ukraine und dem Westen auch ihre wichtigste Adressatin, die russische Bevölkerung, erreicht.[22] Als Nebeneffekt wurde die Geschichte des Zweiten Weltkrieges mit einer neuen Erzählung überschrieben, die aus der gemeinsam mit westlichen Verbündeten geleisteten Abwehr Nazi-Deutschlands einen ewigen Kampf des Westens gegen Russland machte.
Die geschichtspolitischen Volten des Präsidenten zu Kriegsbeginn blieben keine isolierte Aktion. Die breite Streuung ähnlicher Argumentationen ließ den Eindruck einer konzertierten Aktion entstehen, mit der ein möglichst breites Spektrum abgedeckt werden sollte. Dieser Rahmen ermöglichte, dass Russlands Präsident Putin dem altrussischen Imperium den Vorzug vor der Sowjetunion gab und deren Gründerfigur Lenin attackierte, während sein Vorgänger im Präsidentenamt, Dmitri Medwedew, der Welt zugleich eine Deutung des Faschismus im Geiste der alten sowjetischen Geschichtsschreibung auftischte. In einem Beitrag zum 9. Mai 2024, dem »Tag der Befreiung«, präsentierte der heutige stellvertretende Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation eine historische Lesart, nach der vom Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten bis zur aktuellen Waffenhilfe des Westens für die Ukraine im Hintergrund stets das angelsächsische Kapital gewirkt habe, dessen eigentliches Ziel bis heute die Vernichtung Russlands sei.[23]
Einen ähnlich harten Ton hat auch das russische Außenministerium in seinen Pressebriefings angeschlagen. Die auf der amtlichen Website veröffentlichten deutschen Übersetzungen sind zwar recht holprig, lassen aber keine Zweifel an einer spezifischen Sicht. Die eigene Armee, so die Verlautbarungen, kämpfe heldenhaft gegen »Neonazis« in der Ukraine und schone dabei Bevölkerung und Infrastruktur nach Kräften. Leider erschwere die Unterstützung des Westens den Sieg über die »Nazis«. Kurz nach dem Bekanntwerden des Massakers russischer Soldaten an ukrainischen Zivilisten in Butscha, am 6. April 2022, klagt Marija Sacharowa, die Sprecherin des Außenministeriums, über eine schwerwiegende, von Kyjiw aus orchestrierte Desinformationskampagne. Weltweit würden »lügnerische Inszenierungen« gestreut, mit dem Ziel, »Russland Kriegsverbrechen zur Last zu legen.« Dieses Vorgehen sei schon aus Syrien bekannt, jetzt sei »die Welt zum Augenzeugen eines weiteren Verbrechens der ukrainischen Behörden in Butscha« geworden, wo man die »Inszenierung eines angeblichen Mordes an friedlichen Einwohnern durch russische Militärs organisiert« habe. Anschließend zieht sie in einem erstaunlich umfangreichen Exkurs eine Parallele zur Darstellung der Roten Armee durch die nationalsozialistische Propaganda in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs. Gegen Ende des Statements werden die Assoziationen immer willkürlicher. Sie vergleichen die westlichen Sanktionen gegen Russland und die angeblich entfesselte Cancel-Kultur mit der Bücher- und Hexenverbrennung im Mittelalter, den Praktiken der Nazis, der Kolonialmächte, der McCarthy-Ära etc. Die Quintessenz des Ministeriums lautet: »Das ist dieselbe Ideologie. Jetzt – die Canceln-Culture und neues Kultur-Genozid [sic!]. Diesmal gegenüber dem großen russischen Erbe. Das betrifft alles. Es gibt nichts Neues. Die alte Krankheit des Westens.« Den Abschluss des Briefings bildet ein Lob der russischen Kulturleistungen und russischen Toleranz während der Jahrhunderte im Kontrast zur westlichen Verfolgungswut: »Sich so etwas in unserem Lande vorstellen – das ist unmöglich.«[24] Aus dem Munde einer Regierungssprecherin, deren Regime seit Jahren kulturelle oder politische Abweichungen gnadenlos verfolgen lässt, zeugen diese Aussagen von einem ausgeprägten Willen zur Geschichtsklitterung.
Mit diesen Vorhaltungen war der Gipfel jedoch noch lange nicht erreicht. In einem Briefing ein halbes Jahr später zieht Sacharowa enge Parallelen zwischen der NS-Vernichtungspolitik und der gegenwärtigen Kriegslage, den Sanktionen und der westlichen Corona-Politik: »Erinnert das nicht an etwas? Gerade so gehen jetzt ihre Nachfolger vor, die sie auch verherrlicht haben – die Neonazis des Kiewer Regimes.« Wie schon Putin dem Jargon Donald Trumps vorgegriffen hatte, ähnelt der Ton der Diplomatin der Rhetorik von Querdenkern, AfD-Gefolge und Internet-Trollen. Am Ende war alles, inklusive der queeren Emanzipation, irgendwie mit der NS-Vergangenheit gekoppelt. Selbst die Migration wird darauf zurückgeführt und mit der historischen Zwangsarbeit während des Krieges verglichen: »Verhält man sich in EU-Ländern zu Einwandern [sic!] nicht wie zu Ressourcenbasis? Oder hat jemand Illusion, dass sie auf Augenhöhe behandelt werden? Gleiche Rechte wie indigene Bürger bekommen? Natürlich nicht. Sie sind als rechtslose Arbeitskraft in den Ländern, die bei Propagieren der LGBT-Ideologie entarteten [sic!], nötig. Jemand muss doch arbeiten. Das ist für sie eine Ressourcenbasis – genau wie beim Dritten Reich.«[25]
Das wilde Crossover, in dem sich mit diesen Statements reaktionäre und scheinbar fortschrittliche Elemente vermischen, ist erstaunlich. Das Motiv des dekadenten Westens, dessen Bevölkerung von der Heterosexualität abfalle und das Arbeiten verlernt habe, ist von einem deutlichen Kulturpessimismus im Stil der 20er Jahre getragen. Die vorgebliche Parteinahme für ausgebeutete Migrantinnen und Migranten und der Bezug zur NS-Zwangsarbeit schlagen hingegen einen Menschenrechts- und Gewerkschaftston an. Die Kritik am Umgang mit migrantischer Arbeit im Westen, die ganz unabhängig von der NS-Zwangsarbeit gerechtfertigt ist, wäre glaubwürdig, wenn diese Form der Ausbeutung auch für das eigene Land thematisiert worden wäre oder es eine Aufarbeitung des sowjetischen Zwangsarbeitssystems gegeben hätte. Solche Reflexionen blieben jedoch aus, wie auch die Tatsache, dass Russland über seine Kriegspolitik in Syrien und der Ukraine selbst Fluchtbewegungen gen Europa initiiert hat. In diesem Kontext vorgetragen und von maßlosen Vergleichen gerahmt, blieben die Äußerungen der offiziellen außenpolitischen Sprecherin reine Propaganda. Passend dazu gerieten in den Statements schließlich alle historischen Elemente durcheinander, und am Ende stand die ahistorische Parallelisierung, der Westen agiere wie »die Nazis«: »Die Westler und ihre Kiewer Schützlinge bemühen sich zwar Russland zu schaden […]. Mit denselben Methoden (Verbrennung der Bücher, Verbot von Dichtern, Schriftstellern, Philosophen, Vernichtung von Millionen Menschen in Gaskammern, Erschießen, Vergruben [sic!] am lebendigen Leib) wollten die Nazis das Bewusstsein des Menschen ändern, damit er darauf verzichtet, was für ihn wichtig ist.«[26]
Ganz wie bei Putin (oder auch bei seinem Adepten Tillschneider) wird diese Sicht von der Dauerklage begleitet, der Liberalismus des Westens sei letztendlich ein gigantisches Projekt zur Zerstörung Russlands und der Totalentfremdung des Menschen von sich selbst.