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Scharfsinnig zeigt Volker Weiß die brisante Entwicklung des neuen rechten Denkens auf. Er porträtiert die wichtigsten Akteure der rechtspopulistischen Bewegungen mitsamt deren Strategien und Methoden. Eine dichte Darstellung von Geschichte und Gegenwart einer Neuen Rechten, deren Aufschwung nicht überraschend war. »Endlich eine Darstellung der deutschen Rechten, die sich nicht in billiger Polemik erschöpft, sondern gründlich, gerecht und darum vernichtend ist.« Gustav Seibt In seinem hochaktuellen Buch bietet Volker Weiß die erste tiefgehende und historisch fundierte Zeitdiagnose zu den rechtspopulistischen Phänomenen Pegida, AfD & Co. Dabei beschreibt er das vielfältige Spektrum der neuen rechten Bewegungen und untersucht die Herkunft und Vernetzung ihrer Kader. Mit seinem kenntnisreichen Blick in die deutsche Geschichte zerschlägt er die zentralen Mythen der Neuen Rechten und zeigt: Gegenwärtig werden nationalistische Strömungen der Vergangenheit, die der Nationalsozialismus verdrängt hatte, wieder aufgegriffen. Volker Weiß geht den autoritären Vorstellungen nach und veranschaulicht Übergänge von Konservativismus, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus. Zugleich demaskiert er die antiliberalen Phrasen der Rechten und ihren Gestus als »68er von rechts«. Die frappierende Erkenntnis: »Abendländer« und Islamisten sind in ihrem Kampf gegen Selbstbestimmung Waffenbrüder. Ein aufklärerisches Buch, das die Dürftigkeit der neuen Bewegungen schonungslos entlarvt und zum Kampf gegen deren autoritäre Zumutungen aufruft.
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Seitenzahl: 354
Veröffentlichungsjahr: 2017
Volker Weiß
Die
Autoritäre
Revolte
Die NEUE RECHTE
und der Untergang
des Abendlandes
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Klett-Cotta
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© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94907-0
Zweite Auflage, 2017
E-Book: ISBN 978-3-608-10861-3
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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
VORWORT
DIE »NEUE RECHTE« –EINE FAMILIENAUFSTELLUNG
»IST DER ISLAM UNSER FEIND?«
DER KOMMENDE AUFSTAND
EIN »68 VON RECHTS«?
REVOLUTIONÄRE FÜR DIE NATION
ARMIN MOHLER – DIE ERFINDUNG EINER TRADITION
»MONUMENTALE UNTERERNÄHRTHEIT«
DIE »KONSERVATIVE REVOLUTION«
JÜNGER, SCHMITT, DE GAULLE UND STRAUSS
METAPOLITIK
DIE LINKE ALS VORBILD?
SCHWUNDSTUFEN DES KONSERVATISMUS
DER WEG ZUR AFD – DIE SAMMLUNG DER KRÄFTE
DIE JUNGE FREIHEIT
DER KURZE FRÜHLING DER WIEDERVEREINIGUNG
DAS METAPOLITISCHE KARTELL UM DAS INSTITUT FÜR STAATSPOLITIK
AUF DER SUCHE NACH VORLÄUFERN
EINE DEUTSCHE TEA PARTY?
PROVOKATIONEN VON RECHTS – POLITIK DES SPEKTAKELS
IDENTITÄRE KRIEGSERKLÄRUNG
GÉNÉRATION IDENTITAIRE – »DIE ANDERE JUGEND«
VON SPARTA NACH STALINGRAD UND ZURÜCK
MIT HEIDEGGER IN DEN »WIDERSTAND«
KONSERVATIV-SUBVERSIVE AKTIONEN – VOM GEIST AUF DIE STRASSE
UNGEBETENE GÄSTE
DIE »KONSERVATIVE FRONT«
RECHTE PARTISANEN: CARL SCHMITT UND GÜNTER MASCHKE
AUFMERKSAMKEITSÖKONOMIE IN DER »SKANDALOKRATIE«
UNTERGANG UND RETTUNG – AUFSTAND DES »GEHEIMEN DEUTSCHLAND«
HOGESA – ERSTER AUFMARSCH IN KÖLN
PEGIDA – »DRESDEN ZEIGT, WIE ES GEHT!«
RADIKALISIERUNG
AUF DER GROSSEN BÜHNE
»ABENDLAND« – KURZE GESCHICHTE EINES MYTHOS
EUROPA FÜR ANTI-EUROPÄER
DAS SCHISMA UND DIE FOLGEN
»ABENDLAND« IM 20. JAHRHUNDERT
DAS »ABENDLAND« DES FASCHISMUS
»ABENDLAND« ALS KAMPFBEGRIFF IM KALTEN KRIEG
HEUTE: »ABENDLAND« IM OSTEN?
DER FEIND IN RAUM UND GESTALT – ISLAM, AMERIKA UND UNIVERSALISMUS
DER RAUM DES FEINDES
»EURASIEN«
»HERZLAND«
DER KAMPF DER »EIGENSTÄNDIGEN VÖLKER« GEGEN INTERNATIONALES RECHT
DIE GESTALT DES FEINDES
»SIND DIE USA UNSER FEIND?«
DIE HASSLIEBE ZUM ISLAM
DIE EIGENE GESTALT: DER WEG DER MÄNNER
WÄCHTER DES »EIGENEN«
VOM »WAHRHEITSKERN« NEURECHTER POLITIK – AUTORITÄRER POPULISMUS
DAS SCHWEIGEN IN DER KOMFORTZONE
DAS VERSCHWINDEN DER FRAU
DIE AUTORITÄT VON TRADITION UND KULTUR
NACHWEISE
LITERATURVERZEICHNIS
DANK
»Das religiöse und das patriotische Gefühl lieben nichts so sehr wie ihre Kränkung.«
Karl Kraus, Der Patriot (1908)
»Europa? Ein Begriff, bei dem uns nicht warm wird.« Selbst nach einem Krieg, dessen Ausmaße alles bisher Dagewesene sprengten, kann sich die europäische Idee nicht durchsetzen: »Europa« steht lediglich für »eine Aktiengesellschaft, eine wirtschaftliche Konstruktion, eine mechanische, motorartig von außen her betriebsfähig gehaltene Einheit«. Ihm mangle das identitätsstiftende Moment, die seelische Tiefe und historische Verwurzelung, das Erhebende, kurz: der Mythos. Europa ist nichts als »eine geistige Spätgeburt des Liberalismus«.1 Diese Worte könnten von einem beliebigen Europagegner dieser Tage stammen, doch sie sind wesentlich älter. Die katholisch-konservative Zeitschrift Abendland druckte sie 1926 und nahm darin zentrale Elemente der Europa-Ablehnung unserer Tage vorweg: Abendland statt Europa, Identität statt Liberalismus, Wärme statt Ökonomie. Damit ist bereits das Thema dieses Buches umrissen: die neuen rechten Bewegungen, die sich derzeit unter der Fahne des »Abendlandes« in die politische Auseinandersetzung drängen und dabei ihren historischen Vorläufern zum Verwechseln ähnlich sind. Für sie ist der Wert Europas drastisch gefallen. In ihren Reihen finden sich bewährte Kader der äußersten Rechten und mit der AfD erstmals eine rechtspopulistische Partei, die dabei ist, sich in der bundesdeutschen Politik zu verankern.
Das Buch stellt diese Entwicklung dar, in deren Zentrum eine lange isolierte Fraktion der äußersten Rechten steht: die »Neue Rechte«. Ein Überblick über diese Strömung, ihre Ziele und historischen Wurzeln zeigt: Als ein zunehmend von Krisen geprägtes Bürgertum in nennenswerter Zahl politisch die Contenance verlor, waren die Strukturen bereits vorhanden, die Heimatlosen mit offenen Armen aufzunehmen. Eine erstaunliche Dynamik entfaltete sich und die bisher unbedeutende Szene, die sich um einige kleine Zeitschriften und Institutionen gesammelt hatte, fand eine wütende Basis. Diese Entwicklung war jedoch keineswegs überraschend. Bezeichnenderweise war es ein Vertreter der bundesrepublikanischen Eliten, der dieser neuen Wut Vorschub leistete und zu ihrer Symbolfigur wurde: der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin. In seinem Buch Deutschland schafft sich ab fand 2010 die latente bürgerliche Krisenstimmung ihren Ausdruck. Themen und Begriffe, die bislang in der äußersten Rechten zirkulierten, erreichten die ganze Gesellschaft. Meisterhaft verstand Sarrazin sich auf die Inszenierung als Widerstandskämpfer gegen eine angeblich gleichgeschaltete öffentliche Meinung, für die das mittlerweile international bekannte Wort »Lügenpresse« steht. Damit fanden durch ihn Stichworte der Neuen Rechten den Weg in die breite Öffentlichkeit und er wurde zum Idol für all jene, die heute die autoritäre Revolte wagen.
Ein Schwerpunkt des vorliegenden Buches liegt auf den zeitgemäßen Formen, die dabei zum Erstaunen der Beobachter oftmals angewandt werden. Nicht spießbürgerlich angepasst und demütig, sondern provokant und offensiv werden die Inhalte vorgebracht. Längst hat die Neue Rechte die Mechanismen durchschaut, mit denen in der medial überfluteten Welt Aufmerksamkeit generiert wird. Selbst subkulturelle Formen, einst Ausweis des linken Protestes gegen das Establishment, sind willkommen, wie hier anhand der »Identitären Bewegung« nachgezeichnet wird. Die Rechten scheinen von den Linken gelernt zu haben und bieten sich als »neue 68er« an. Doch unter der dünnen Oberfläche ihres poppigen Protestes finden sich die alten Inhalte und ein genauerer Blick zeigt, dass auch das provokante Vorgehen keineswegs neu ist.
Unerwartetes ergibt sich ebenso aus den Vorstellungen vom »Abendland« einerseits und der Bestimmung von Freund und Feind andererseits, denen sich ein weiterer Abschnitt des Buches widmet. Denn obgleich ein wichtiger Teil der neuen Bewegung auf den Straßen Dresdens den Begriff »Abendland« gewissermaßen im Wappen führt, hat seine Bedeutung einen Wandel erfahren, der seinen Sinn völlig verzerrt. Selbst die alte Ordnung von »West« und »Ost«, mit der auch die Rechte ihre Welt strukturierte, hat ihre Gültigkeit verloren. »Eurasien« heißt der neue Raum, den es vor westlichen Einflüssen zu schützen gilt. Unter Rückgriff auf Carl Schmitt soll hier für Klarheit gesorgt werden.
Mittlerweile zeitigt das Streben nach Emanzipation im Zuge der Moderne weltweit eine Gegenbewegung. Ob europäische, russische, islamische oder neuerdings auch amerikanische Wiedergeburt, die Rückkehr von Autorität und Religion in die Politik vollzieht sich überall in enormer Geschwindigkeit. Daher wird gegen Ende des Buches der Blick auf das Phänomen des politischen Islam gerichtet, der zwar von den Rechten bekämpft wird, aber als weiterer Baustein einer globalen »Konservativen Revolution« gelten muss. Zudem wird ein Autor der amerikanischen »Alternative Right« beleuchtet, jener Strömung, die Donald Trump auf seinem Weg zur Präsidentschaft unterstützt hat und die mit der europäischen Neuen Rechten in Verbindung steht. Müßig, zu sagen, dass sich deren deutsche Bewunderer im Windschatten Trumps große Erfolge auch für sich versprechen. Nach dem gewonnenen Wahlkampf in den USA erheben sie nun Anspruch auf Weltpolitik.
Die hier skizzierten Ereignisse zeigen, wie längst überwunden geglaubte Inhalte aus der Nische der Neuen Rechten in die Politik zurückgekehrt sind. Diese Neue Rechte hat im Wesentlichen aus zwei Gründen überleben können: erstens durch die künstliche Schöpfung einer neuen rechten Tradition unter der Flagge einer »Konservativen Revolution«, die sie nach 1945 vom Nationalsozialismus abgegrenzt wissen wollte. Zweitens aufgrund eines daraus resultierenden über den Nationalstaat hinaus auf ganz Europa weisenden Ansatzes, der sich im Zuge der Eurokrise als zukunftsweisend herausgestellt hat. Einigendes Moment all dieser Phänomene ist, dass Positionen als »konservativ« ausgegeben werden, die den Rahmen dieses Begriffs längst gesprengt haben. Damit findet sich hier der Verfallsprozess bürgerlich-konservativer Politik nachgezeichnet, der eine ehemals bedeutende Strömung zum autoritären Reflex werden ließ. Ansätze dazu gab es schon immer, wie beispielsweise Kurt Lenk bereits vor zwei Jahrzehnten unter dem Titel Rechts, wo die Mitte ist festgehalten hat. Schon Lenk zeichnet die Bereitschaft des bürgerlichen Konservatismus nach, im Krisenfall sein Glück wieder im Schoße einer völkisch definierten, autoritär gegliederten Nation zu suchen.2 Dieses Potential des Konservativen, sich im Zweifel bis zur eigenen Auflösung zu radikalisieren, lässt die Geisteswelt der Neuen Rechten historisch wie gegenwärtig weit in faschistisches Terrain hineinragen. All das soll hier Schicht für Schicht freigelegt und nachvollziehbar gemacht werden.
Am Ende der archäologischen Arbeiten bleibt die Erkenntnis, dass sich die Gestalt der Rechten in Deutschland (und Europa) mit der Zeit gewandelt haben mag, sie in ihren Kernelementen aber unverändert bleibt. Das Beharren auf die unlösbaren Bindungen des Einzelnen an seine Ethnie und die daraus naturhaft resultierende Kulturform sowie auf die damit verknüpfte Gesetzmäßigkeit gesellschaftlicher Ungleichheit bleibt von diesem Wandel jedenfalls unbeeinträchtigt. Ellen Kositza, eine Protagonistin der hier betrachteten Strömung, formulierte dies in einem bekenntnisreichen Gesprächsband mit Blick auf das Logo des von ihrem Ehemann Götz Kubitschek geleiteten Antaios Verlags entsprechend deutlich: »Und doch geht es uns wie dem Emblemtier dieses Verlags, der Schlange: Sie häutet sich, häutet sich wieder – und bleibt doch immer die gleiche.«3 So zeigt sich, dass die Neue Rechte in vielen Dingen eine sehr alte Rechte ist. Mit ihrem neuerlichen Aufstieg steht viel auf dem Spiel.
Volker Weiß
Hamburg im November 2016
Ereignisse verdichten Entwicklungen und lassen Konturen hervortreten. Doch wird ihre Bedeutung erst in der Rückschau deutlich. Den Zeitgenossen zeigen sie sich gerafft und verschwommen. Der Berliner »zwischentag« war so ein Ereignis. Am 6. Oktober 2012 präsentierte sich dort ein randständiges Milieu in Form einer Fachmesse der Öffentlichkeit. Das Geschehen blieb damals noch auf die eigenen Kreise begrenzt, es kamen vor allem Insider. Doch »Ereignisse«, schrieb der französische Historiker Fernand Braudel, »vermitteln immer nur den Eindruck von trailern, also den kleinen Ausschnitten aus neuen Spielfilmen, die man in den Kinos vorführt, um das Programm der kommenden Woche anzukündigen.«1 In diesem Sinne war der »zwischentag« ein Ereignis, denn er bot einen Blick auf das Kommende. Nur drei Jahre später und zur Überraschung des etablierten Politikbetriebs kam den dort versammelten Akteuren tagespolitische Bedeutung zu.
Der »zwischentag« war eine Zusammenkunft der äußersten politischen Rechten in Deutschland. Wie auf einer Fachmesse üblich, gaben dort einschlägige Zeitschriften und Verlage Einblick in ihre Arbeit. Das gediegene Logenhaus in Wilmersdorf bot der selbsterklärten Elite der Nation dafür ein angemessenes Ambiente. Initiator der Veranstaltung war der mittlerweile fernsehbekannte Verleger, Autor und Aktivist Götz Kubitschek. Es überraschte daher wenig, dass sich unter den Ausstellern das von ihm mitbegründete private »Institut für Staatspolitik« (IfS) befand, das an Kubitscheks Wohnsitz im sachsen-anhaltinischen Schnellroda beheimatet ist. Ebenso waren die Hauszeitschrift des IfS Sezession und Kubitscheks Antaios Verlag vor Ort vertreten. Anwesend waren auch die nationalkonservative Wochenzeitung Junge Freiheit, für die Kubitschek lange gearbeitet hatte, sowie die politisch ähnlich wie das IfS ausgerichtete Chemnitzer Schülerzeitung Blaue Narzisse (BN). Zudem präsentierten sich in Berlin der Trägerverein der kurz zuvor eröffneten »Bibliothek des Konservatismus«, alteingesessene Verlagshäuser des rechten Randes, Studentenverbindungen und das Internetportal Politically Incorrect (PI). Beobachter berichteten, dass unter den Messebesuchern nicht nur eine hohe Anzahl von national gesinnten Burschenschaftern, sondern auch einige Funktionäre der NPD waren. Kurzum, es waren Vertreter eines Milieus anwesend, das politisch jenseits des rechten Flügels der Unionsparteien einzuordnen ist.
Zusammenkünfte dieser Art kommen in Deutschland mit gewisser Regelmäßigkeit vor. Sie mögen unerfreulich sein, stellen aber an sich nichts Außergewöhnliches dar. Das Besondere an diesem Treffen, das es zum Ereignis werden ließ, war eine Podiumsdiskussion zwischen Karlheinz Weißmann, Stammautor der Jungen Freiheit, und Michael Stürzenberger von PI. Das Thema ihres auf Video dokumentierten Streitgesprächs lautete: »Ist der Islam unser Feind?«2
Auf den ersten Blick war auch das nicht sonderlich originell. Diskussionen des rechten Randes über »den Islam« als »Feind« gehören spätestens seit dem 11. September 2001 zur politischen Routine. Überraschend war die Wendung, die das Gespräch nahm. Denn Weißmann war keineswegs bereit, unumwunden eine Feinderklärung auszusprechen – und erhielt dafür den lauten Beifall des Publikums. Aus der Debatte ging er als klarer Sieger hervor, ohne überhaupt richtig herausgefordert worden zu sein. Zu unterschiedlich waren die Charaktere, die dort aufeinandertrafen: Weißmann, Gymnasiallehrer und promovierter Historiker, pflegt einen kühlen Habitus, argumentiert strukturiert und differenziert. Er kennt und verteidigt den Kanon rechtsintellektueller Weltanschauungen seit Jahrzehnten und hat ihn durch zahlreiche eigene Beiträge erweitert. Er ist zweifellos ein rechter Ideologe mit scharfem Intellekt. Michael Stürzenberger hingegen ist ein klassischer Rechtspopulist. In der Debatte formulierte er eher assoziativ und vor allem emotional. Wo Weißmann eine weltanschaulich klar unterfütterte Argumentation präsentierte, war Stürzenbergers Werkzeug die Angst. Im Kontrast zum kühlen Weißmann wirkte er wie getrieben. Wie ein Entertainer im Bierzelt die Pointe wiederholte er mehrfach seine Kernbotschaft, man müsse den Islam »knacken«. Während der Debatte fuchtelte er mit dem Koran herum, verglich ihn mit Hitlers Mein Kampf und berief sich auf »das Grundgesetz, die Gleichheit von Mann und Frau, die Freiheit und auf die westliche Gesellschaft«.
Weißmann ließ ihn auflaufen. Erfolgsbedingung für die islamische Expansion sei nicht der Koran, sondern die »Trägervölker« der Lehre Mohammeds gewesen. Diese Beduinenstämme »jüdischer und arabischer Herkunft« wollten »Beute machen« und erobern. Im Islam hätten sie lediglich eine Rechtfertigung dafür gefunden. Die Religion sei nicht Verursacher, sondern nur Nutznießer des Niedergangs der abendländischen Kultur. Dessen Ursachen seien aber hausgemacht. Für Stürzenbergers Aufruf zur Befreiung der Menschheit von der islamischen Gefahr hatte er nichts übrig, wie er unmissverständlich klarstellte: »Ich habe überhaupt kein Bedürfnis, Menschen anderer Kultur von irgendwas zu befreien – und in gar keinem Fall möchte ich das im Namen einer von mir als tief dekadent empfundenen Zivilisationsform.« Er halte es gar nicht für »wünschenswert«, dass die Muslime so werden wie die Menschen im Westen, betonte Weißmann. Seinen Kontrahenten Stürzenberger stellte er aufgrund von dessen »antifaschistischer« Rhetorik kurzerhand »unter Liberalismus-Verdacht« – und bekam dafür Szenenapplaus.
Die Zuschauer wussten, dass sie Weißmanns Aufruf zu einer differenzierten historischen Betrachtung des Islam keinesfalls als Ausweis multikultureller Toleranz zu deuten hatten. Politisch ist er weit davon entfernt, Einwanderung gutzuheißen. Weißmann zog lediglich die Konfliktlinien anders, ihm ging es nicht um einen »Zusammenprall der Weltreligionen«, sondern um Fragen der »kulturellen und nationalen Identität«. Deren Verlust sei die Grundlage für die desolate Situation vor allem der jüngeren Generation. Die deutschen Jugendlichen hätten ja nichts mehr, worauf sie sich beziehen könnten. Deshalb seien sie »in der Defensive«. Wer im Westen, fragte er, könne denn überhaupt noch die »eigene Kultur« definieren? Konsequent machte Weißmann den Hauptgegner nicht im Islam, sondern in der »individualistische[n], hedonistische[n] westliche[n] Form von Liberalismus« aus.
Stürzenberger forderte hingegen, dass die Muslime dem Koran abschwören. In seinen Augen sei das die Grundbedingung, um sich in Deutschland besser zu assimilieren und mit der nichtmuslimischen Bevölkerung zu vermischen. Weißmann, für den Religion und Kultur immer auch Ausdruck ethnisch bedingter Dispositionen sind, hatte ebendaran wenig Interesse. Im Gegenteil, er fürchtete weniger den Koran als einen »Volksaustausch, die »Herrschaft von Nichtdeutschen über Deutsche«. Er sah in dem Konflikt eine Auseinandersetzung um Nationalität und »Volkstum«, nicht um Religion. Die mangelnde Pflege der eigenen Identität, eben die »Dekadenz« der westlichen »Zivilisationsform« habe dem Islam erst den Raum zur Expansion gegeben. Ein Zwischenruf des Sezession-Autors Martin Lichtmesz aus dem Publikum stimmte ihm zu: »An Liberalismus gehen Völker zugrunde, nicht am Islam!«
In dieser Szene auf dem »zwischentag« sind nicht nur die wesentlichen Stichworte einer politischen Strömung gebündelt, die als »Neue Rechte« bezeichnet wird. Es fand sich dort auch ein bedeutender Teil ihres Personals versammelt. Der Veranstalter Kubitschek setzt mit der Arbeit des Instituts, seinem Verlag und der Zeitschrift Sezession inhaltliche Akzente. Karlheinz Weißmann war sein Mentor und zählt zu ihren wichtigsten zeitgenössischen Autoren. Kubitschek hatte ihm einige Jahre zuvor den Titel eines »Vordenkers« der Neuen Rechten angetragen.3 Selbst Stürzenberger steht für einen rechtspopulistischen Politikertypus, den diese Richtung hervorbringt, wenn sie die Sphäre der intellektuellen Zirkel verlässt und sich in die Niederungen des politischen Betriebs begibt. Ebenso entstammen die Aussteller diesem Milieu. Die Junge Freiheit fungiert seit drei Jahrzehnten als ideologisches und organisatorisches »Mutterschiff« und kooperiert eng mit der Bibliothek des Konservatismus.4 Schließlich spiegelten die Messebesucher, vor allem die in Verbindungen organisierten Akademiker, die Zielgruppe dieser politischen Richtung wider: eine zumindest nationalkonservativ eingestellte Oberschicht, zukünftige oder amtierende Entscheidungsträger mit ausgeprägtem Elitebewusstsein.
Die Gäste von der NPD runden das Bild ab. Ihre Anwesenheit unterstreicht die Schwierigkeiten, klare Grenzen innerhalb der breit gefächerten deutschen Rechten zu ziehen. Überschneidungen und Ähnlichkeiten bestimmen die Szene ebenso wie Konkurrenz und Differenzen. Das gilt auch für ihre Leitmedien. Ein systematischer Vergleich der Jungen Freiheit (JF) mit der NPD-Zeitung Deutsche Stimme (DS) wies 2013 deutliche Schnittmengen in der Weltanschauung nach. Als Gemeinsamkeit lässt sich der »völkische Nationalismus« nennen, die »Brüche und Unterschiede« bestehen in »unterschiedlichen Lesarten (oder Interpretationsvarianten). JF und DS ›verkörpern‹ unterschiedliche Lesarten, was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass sie sich in unterschiedliche, obgleich nicht eindeutig voneinander abgrenzbare ideologische Traditionen stellen, die JF in die jungkonservative Tradition der sog. Konservativen Revolution, die DS dagegen in eine dominante nationalsozialistische Tradition. Die Übergänge sind fließend.«5 Das zeigt sich übrigens auch an der Zeitschrift Hier & Jetzt (H&J), die aus dem sächsischen NPD-Landesverband hervorgegangen ist und eine ausgesprochene Nähe zu Themen und Gästen des »zwischentags« vorweist. Chefredakteurin bis 2009 war mit Angelika Willig eine vormalige Kulturredakteurin der JF. Ihr Nachfolger, der NPD-Politiker Arne Schimmer, über den Kubitscheks Sezession sich mehrfach wohlwollend äußerte, hatte zunächst ebenfalls für die JF geschrieben, ehe er in der NPD Karriere machte. Wie der Journalist Andreas Speit, langjähriger Beobachter der Szene, schreibt, lektorierte Schimmer für den Antaios Verlag und war auch Seminarteilnehmer beim IfS.6 Über die Frage einer Einladung der H&J zur Messe sollte es im folgenden Jahr zum Bruch des Kreises um IfS und Sezession mit der JF kommen, die auf eine schärfere Abgrenzung von der NPD beharrte. All das, Nähe, Distanz und die Auseinandersetzung auf dem Podium des »zwischentags«, zeigen, wie komplex die Gemengelage der deutschen Rechten ist. Sie lässt sich daher kaum mit den auf die Verfassungsfrage orientierten Begriffen der staatlichen Sicherheitsorgane fassen.
Bei der Diskussion des »zwischentags« waren bereits die Stichworte gefallen, an denen sich mittlerweile – seit Pegida und AfD – auch die öffentliche Islamdebatte berauscht: »Volksaustausch« und »Identität«. Der Zwischenruf von Lichtmesz führt sodann direkt in den Theoriefundus der Neuen Rechten. Er variierte die berühmte Formel »An Liberalismus gehen die Völker zugrunde« des Kulturtheoretikers Arthur Moeller van den Bruck, der zu den zentralen Denkern des deutschen Radikalnationalismus der Weimarer Republik zählte. 1922 war die Formel zunächst der Titel eines Aufsatzes von ihm in dem Sammelband Die Neue Front, mit dem Autoren der äußersten Rechten für ihren Kampf gegen die junge Demokratie warben.7 Moeller van den Bruck stellte diese Formel 1923 dann auch in seinem Hauptwerk Das Dritte Reich dem Kapitel über den Liberalismus voran.8 Der Autor hatte eine tiefe Sehnsucht nach staatlicher Autorität und völkischer Bindung, für deren Verschwinden er das westlich-liberale Denken verantwortlich machte. Gerade aufgrund ihres Antiliberalismus wird seitens der Neuen Rechten dieser Denkschule bis heute ein hoher Stellenwert zugesprochen. Der Zwischenruf während der Podiumsdiskussion bestätigte dies einmal mehr.
Vor allem aber zeigte sich im Konflikt Weißmanns mit Stürzenberger, dass in der gefestigten Weltanschauung einer äußersten Rechten der Blick auf den Islam keineswegs nur ablehnend ist. Intellektuelle wie Weißmann sind selbstverständlich in der Lage, zwischen der Religion und ihrer politischen Ausbeutung zu differenzieren. Sie sind nicht unumwunden »islamophob«, wie es eine fatale Fehldeutung unterstellt. Ihr Hauptfeind ist nicht die Lehre Mohammeds, sondern die globale Moderne mit all ihren Konsequenzen. In manchem gleichen sie ihrem islamischen Feind sogar, denn die geistige Welt eines autoritären Ultrakonservatismus, wie ihn der politische Islam darstellt, entspricht ihrer eigenen viel mehr als die der »dekadenten« westlichen Zivilisation. Traditionell spielte der Islam in diesen Kreisen jahrzehntelang nur eine untergeordnete Rolle. Wenn, dann wurde er durch die Zeit aufgrund seiner heroischen Potenzen geschätzt. Ähnlich handhabten es auch die historischen Vorläufer: Julius Evola, esoterisch gestimmter Anhänger des italienischen Faschismus, der fest zum Kanon der Neuen Rechten zählt, lobte in der 1935 auf Deutsch erschienenen Erhebung wider die moderne Welt ausdrücklich das heroische Kriegertum des Islam.9 Ende der dreißiger Jahre begeisterte sich der einflussreiche nationalsozialistische Publizist Giselher Wirsing nach einer Palästinareise für den Islam, da er in ihm eine »ständisch gegliederte Kriegerreligion« sah.10 Die Spuren dieser Verehrung des »Islam als Kampfgemeinschaft« reichen heute noch bis in die Publikationen neurechter »Islamkritiker«.11 Mehr als der Religion gilt ihr Kampf der »ethnischen Substanz« eines Landes, die in ihren Augen erst die Grundlage für die Kultur darstellt. Im Denken der Neuen Rechten haben die »Trägervölker« mitsamt ihrer »Kultur« in den ihnen zugehörigen »Räumen« zu bleiben. Gäbe es keine Einwanderung, so wäre für sie eine Allianz mit der islamischen Welt gegen den westlichen Materialismus denkbar.
Das ist in den entsprechenden rechten Debatten zwar oft genug formuliert worden, kam aber nie im Bewusstsein der Öffentlichkeit an. Insofern hätte Weißmanns grundsätzliche Kritik an Stürzenbergers primitiver antiislamischer Agitation während der Podiumsdebatte eine fruchtbare Irritation sein können. Doch blieb die Debatte 2012 ein Streit am »lunatic fringe«, fern der allgemeinen Rezeption. Sie wurde allenfalls von den wenigen Spezialisten wahrgenommen, die sich mit den Konfliktlinien zwischen politischen Splittergruppen befassen.
Heute ist das anders. Die Auseinandersetzungen um Einwanderung und die zunehmende Präsenz des Islam im öffentlichen Raum, der weltweite islamistische Terror und schließlich die Fluchtbewegungen aus Afrika und dem Mittleren Osten nach Europa haben Inhalten, wie sie der »zwischentag« präsentierte, einen enormen Aufwind beschert. Mit der Rhetorik eines Volksaufstandes, als ginge es darum, den Widerstand gegen eine Diktatur zu organisieren, sammelten sich die Unzufriedenen erst auf den Straßen und dann an den Wahlurnen. Mit ihren Parolen von »Volksverrätern« und »Lügenpresse« dachten sie, »denen da oben« einen Denkzettel zu verpassen: der Regierung und ihrer angeblichen Entourage in den Redaktionen und Verlagshäusern. Im Unterschied zum Kampf gegen Diktatoren und Tyrannen wurde jedoch nicht weniger Autorität gefordert, sondern mehr. Sicherheit und Souveränität des Nationalstaats waren das Begehren des Protestes. Wie kaum jemand brachte die 2015 in diesem Milieu gegründete Initiative »Ein Prozent« das Paradox dieser autoritären Revolte auf den Punkt: »Früher gab man den Zehnten, um im Einflußbereich eines Herrschers sicher leben zu dürfen.«12 Mit diesem Satz, der die Geschichte der bürgerlichen Emanzipation auf den Kopf stellt, warb die Fundraising-Initiative als »Greenpeace für Deutschland« bei ihren Unterstützern um Spenden. Im Stile einer NGO wollte sie Aktionen gegen die Flüchtlingspolitik der Regierung finanzieren. Als Netzwerk äußerst rechter Politiker und Aktivisten war »Ein Prozent« ein weiteres Zeichen, dass rechts der CDU etwas in Bewegung geraten war. Zum inneren Kreis zählen neben Götz Kubitschek der Journalist Jürgen Elsässer des extrem rechten Compact-Magazins, der »eurokritische« Jurist Karl Albrecht Schachtschneider und der AfD-Politiker Hans-Thomas Tillschneider. Die äußerste Rechte hatte begonnen, sich fraktionsübergreifend zu formieren. Dass sie dabei mit dem Image des Outlaws kokettierte – »onepercenter« nennen sich die Angehörigen krimineller Rockerbanden –, sollte wohl den Anspruch auf eine revolutionäre Rolle unterstreichen.
Dieser rechte Sammlungsprozess hatte sich bereits in der breiten Debatte über Thilo Sarrazins 2010 veröffentlichtes Untergangsszenario Deutschland schafft sich ab angekündigt. Wie Kubitschek selbst in der Rückschau formulierte, war dadurch das »Diskutieren über bestimmte Dinge […] einfacher geworden«. Der Sozialdemokrat Sarrazin habe Begriffe »ventiliert, die wir seit Jahren zuspitzen, aber nicht im mindesten so durchstecken können wie Sarrazin das konnte«.13 Mit der Auseinandersetzung über Sarrazin waren die Hemmschwellen fraglos gesunken. Doch die institutionelle und politische Ausmünzung der Debatte ließ zum Leidwesen von Akteuren wie Weißmann, Stürzenberger und Kubitschek auf sich warten. In der unmittelbaren Zeit nach dem Erscheinen von Sarrazins Buch konnte keine der ultrarechten Kleinstparteien nennenswerte Erfolge für sich verzeichnen. Als im November 2011 plötzlich bekannt wurde, dass in der Bundesrepublik ein »Nationalsozialistischer Untergrund« für eine rassistische Mordserie verantwortlich war, versandeten die Versuche einer politischen Offensive von rechts zunächst. Doch Sarrazin hatte etwas geweckt, die »Unzufriedenen« warteten seither auf ihre Chance. In ebendieser Latenzphase fand der »zwischentag« statt, die Neue Rechte war in Habachtstellung und ersehnte die Eskalation. Ganz nach Kubitscheks taktischen Handreichungen: »Wünschen wir uns die Krise! Sie bedrängt, sie bedroht unser krankes Vaterland zwar, aber gerade dies weckt vielleicht seinen Mut, ins Unvorhersehbare abzuspringen und das zu wagen, was den Namen ›Politik‹ verdiente: Nur kein Rückfall ins Siechtum, ins Latente, ins Erdulden!«14
Mit Parteigründung der »Alternative für Deutschland« (AfD) 2013 erschien eine Kraft, die das Potential besitzt, die gebündelten Ressentiments in »Politik« umzuwandeln. Sie sollte binnen drei Jahren die politische Landschaft der Bundesrepublik verändern. Vor allem 2016 errang sie bei mehreren Landtagswahlen zweistellige Ergebnisse: Baden-Württemberg 15,1 Prozent, Berlin 14,2 Prozent, Mecklenburg-Vorpommern 20,8 Prozent, Rheinland-Pfalz 12,6 Prozent, Sachsen-Anhalt 24,3 Prozent. Im Herbst 2014 formierte sich zudem die Bewegung Pegida auf den Straßen von Dresden. Wie deutlich sich hier den Inhalten des »zwischentags« ein Resonanzboden bot, wurde bei einem gemeinsamen Auftritt des thüringischen AfD-Vorsitzenden Björn Höcke mit dem Pegida-Funktionär Siegfried Däbritz in Erfurt deutlich. Als habe er Weißmann auf dem »zwischentag« persönlich gelauscht, verkündete auch Höcke: »Der Islam ist nicht mein Feind, unser größter Feind ist die Dekadenz.«15
In der Dynamik der Ereignisse traten nun Kader der Neuen Rechten wie der Verleger Götz Kubitschek vor einem großen Publikum auf. Waren die Massen ihnen bisher nicht gefolgt, so folgten sie nun eben den Massen; elitärer Anspruch hin oder her. Sie sprachen auf Pegida-Kundgebungen und berieten Politiker. Neurechte Medien profitierten direkt davon. Die JF verkündete einen stetigen Zuwachs ihrer Leserschaft und entwickelte sich zur inoffiziellen Parteizeitung der AfD. Bereits vor den großen Erfolgen der Partei bei den Landtagswahlen 2015/16 ließ sich zudem mit Björn Höcke ein Vertreter des völkischen Flügels von seinem Weggefährten und Duzfreund Kubitschek in der Sezession interviewen.16 Ein hoher Funktionär der Partei, Alexander Gauland, berief sich in einer ARD-Talkshow auf die Zeitschrift. Nachdem sich der völkisch-nationale Flügel in einer parteiinternen Auseinandersetzung hatte durchsetzen können, wurde die Allianz noch enger. Als seine Partei bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt über 24 Prozent der Stimmen erhalten hatte, zeigte sich der AfD-Fraktionsvorsitzende André Poggenburg demonstrativ mit Kubitschek auf einer Pressekonferenz des Compact-Magazins.17 Während der Auseinandersetzung über die antisemitischen Pamphlete des AfD-Abgeordneten Wolfgang Gedeon im Frühsommer 2016 war es für den »Parteiphilosophen« Marc Jongen, einen ehemaligen Assistenten Peter Sloterdijks, schon selbstverständlich, sich sowohl in der JF als auch gegenüber der Sezession in der Sache zu äußern.18 Binnen kurzer Zeit hatte eine Szene, die sich jahrelang selbst genug gewesen war, den Weg in die tagespolitische Auseinandersetzung gefunden. Bislang Offiziere ohne Soldaten, schien die Neue Rechte in den »besorgten Bürgern« die Armee gefunden zu haben, die ihnen so lange gefehlt hatte. Mit ihrem Einfluss auf die AfD verfügt sie nun über ein Instrument, um ihre politischen Vorstellungen in die Parlamente zu tragen. Teile der Gesellschaft bewegten sich auf ihre Positionen zu, ein Prozess der Normalisierung hatte begonnen.
Schlagartig rückte mit dieser Entwicklung ein Milieu in den Fokus der Berichterstattung, von dem nur wenige Fachleute tiefere Kenntnis hatten. Der Film zum trailer, um im Bild Braudels zu bleiben, war angelaufen. Journalisten, in deren Vorstellungswelt »Rechte« nur als stiefeltragende Schläger existierten, rieben sich die Augen angesichts der Tatsache, plötzlich mit eloquenten Ideologen konfrontiert zu werden. Götz Kubitschek wurde zum gefragten Interviewpartner. Wie die Sezession spöttisch anmerkte, geriet die Homestory aus seinem Wohnsitz in Schnellroda zu einer »Art journalistischem Sub-Genre«.19
Bedeutung verschaffte Öffentlichkeit und Öffentlichkeit verschaffte Bedeutung. Die Neue Rechte war aus der Kulisse auf die große Bühne getreten und alle waren erstaunt. Ob als Intellektuelle, Aktivisten oder Volksredner, auf einmal sah man ihre Protagonisten vor den Transparenten von Pegida, bei AfD-Parteitagen oder auf den Schulungen in Schnellroda. Sie waren jedoch keineswegs aus dem Nichts aufgetaucht. Die politische Agenda der Neuen Rechten ist seit Jahrzehnten ausformuliert. Angefangen mit der Sarrazin-Debatte war allerdings deutlich geworden, dass mit ihr zu rechnen sein wird.20 Das macht einen Streifzug durch die Geschichte dieser Strömung dringend erforderlich.
Die Vorstellungen, was die Neue Rechte eigentlich sei, sind diffus. Meist werden drei Punkte genannt, was das »Neue« an der Strömung ausmache: erstens eine inhaltliche Distanz zum »Dritten Reich«, die sich an der Auswahl nichtnationalsozialistischer Stichwortgeber festmache; zweitens eine Intellektualisierung der Rechten, die mit einem elitären »Stil« einhergehe und die Neue Rechte von den plebejischen Neonazis unterscheide; und drittens eine europäische Orientierung, die zumindest punktuell den alten Nationalismus zu überwinden trachte. Alle drei Kriterien treffen jedoch nur bedingt zu: Die behauptete Distanz der historischen Vorbilder zum Nationalsozialismus hält oft genug einer genaueren Untersuchung nicht stand. Das theoretische Gerüst der neurechten Weltanschauung ruht auf einem ausgeprägten Antirationalismus und die aristokratische Haltung ist nichts als Pose. Selbst ihre Fassung der europäischen Idee führt die alteuropäischen nationalistischen Bruchlinien fort. Zur Bestimmung empfiehlt sich daher die Orientierung an dem Adjektiv »neu«. Es zielt auf die Zeit und damit stellt sich die Frage nach dem Anfang dieser »Neuen Rechten«.
Es ist verlockend, die Geschichte der Neuen Rechten mit dem Jahr 1968 beginnen zu lassen. Mit diesem Geburtsdatum ließe sie sich als Modernisierungsbewegung innerhalb eines verkrusteten Milieus erzählen. Sie fände sich in das bundesrepublikanische Narrativ von der Kulturrevolution der Außerparlamentarischen Opposition (APO) eingebettet, nur eben spiegelbildlich. In dieser Erzählung fungiert die AfD schließlich als eine Entsprechung zu den Grünen, die aus der APO hervorgingen und in ihrer Anfangsphase mehrere Häutungen durchlebten. Bei eingehender Betrachtung geht diese Rechnung zwar nicht auf, vieles an der Neuen Rechten war altbekannt. Dennoch gibt es eine Reihe interessanter Parallelen, die eine Interpretation der Neuen Rechten als ein »’68 von rechts« inspirierten.
Maßgeblich befördert wurde die Wahrnehmung der Neuen Rechten als eine Reaktion auf die APO dadurch, dass sie ihren ersten Höhepunkt im »roten Jahrzehnt« der siebziger Jahre hatte. Im gleichen Zeitraum begann auch die Revolte der 68er institutionelle Früchte zu tragen. Es herrschte eine demokratische Aufbruchsstimmung im Land. Parlamentarisch schlug sich der neue Zeitgeist in Form der sozialliberalen Koalition nieder, die 1969 die Konservativen erstmals in die Opposition geschickt hatte. Zudem hatte die NPD, trotz vorheriger Erfolge in den Landesparlamenten, den Einzug in den Bundestag nicht geschafft. Die äußeren Bedingungen für Politik waren andere geworden und die alte Rechte geriet zwischen Spießbürgertum und NS-Nostalgie in eine tiefe Krise.
Wie so oft waren es die Jungen, die ein feines Gespür für diese Umbruchssituation hatten. Tatsächlich wird auch seitens der Forschung betont, dass die Grenze zwischen »alter« und »Neuer« Rechter anhand der Generationen bestimmbar ist. Funktionäre und Anhänger der 1964 gegründeten NPD entstammten Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre meist Jahrgängen, die den Nationalsozialismus bereits als Erwachsene erlebt hatten. Für die Vertreter der Neuen Rechten galt das nicht mehr. Sie entstammten, wie die Forschung ergab, im Durchschnitt dem Geburtsjahrgang 1938: »Entsprechend kann davon ausgegangen werden, dass sich die ›Neue Rechte‹ hinsichtlich ihrer Altersstruktur von der ›alten Rechten‹ tatsächlich unterschied.«21 Ganz wie bei der Neuen Linken trat eine Generation an, die dem Politikstil einer neuen Zeit verpflichtet war. Unter der Selbstbezeichnung »Junge« oder »Neue« Rechte galt es, sich weniger verbissen zu präsentieren als der alte Nationalismus, offener für zeitgenössische Debatten. Das geeignete Mittel für diese Politik waren weniger die traditionellen, also nationalistischen Massenverbände und Parteien, sondern Institute und Zeitschriften. Die Suche nach einer Geschichte der Neuen Rechten führt also in jenes Milieu, das sich auch auf dem »zwischentag« ein Stelldichein gab.
Eine Betrachtung der publizistischen und organisatorischen Plattformen dieser neurechten Generation fördert genau die diffuse weltanschauliche Mischung zutage, die für diese Kreise bis heute kennzeichnend ist. Sie schließt ein nationalkonservatives Spektrum ebenso ein wie nationalrevolutionäre und nationalsozialistische Akteure, mitunter bietet sie sogar mystisch-esoterischen Belangen Raum. In Deutschland stellte unter anderem die 1970 vom Nationalkonservativen Caspar von Schrenck-Notzing gegründete Zeitschrift Criticón diesen neuen Stimmen eine solche publizistische Plattform bereit. Der heutige AfD-Politiker Alexander Gauland war schon Autor von Criticón, als er noch das Parteibuch der CDU hatte.
Auch in der NPD führten die Erneuerungsdebatten zu einer Abspaltung. 1972 gründete sich aus ihren Reihen eine »Aktion Neue Rechte«. Darin sammelten sich unzufriedene junge Revolutionäre, denen die Partei zu bieder war. Ihr schlossen sich Anhänger der heute vergessenen Unabhängigen Arbeiter-Partei (UAP) an, die sich auf nationalrevolutionäre Ideen beriefen. Die Personalbestände dieser Sammlungsbewegung rekrutierten sich also zunächst aus den vorhandenen Strukturen der extremen Rechten. Die Geschichte der Neuen Rechten ist daher eine Geschichte von Restrukturierungen und Synergien.
Entsprechend waren auch ältere Jahrgänge an den Vorgängen beteiligt, und wenn sie nur vermittelnd wirkten. Der ehemalige SS-Offizier Arthur Erhardt brachte den 1942 geborenen Henning Eichberg 1966 in Kontakt mit der französischen Fédération des étudiants nationalistes (FEN), einer nationalistischen Studentenorganisation mit revolutionärem Selbstverständnis. Wie Volkmar Wölk, einer der wenigen deutschen Kenner der französischen »Nouvelle Droite«, schreibt, entsprang dieser Gruppe »ein wesentlicher Teil« ihrer »späteren Protagonisten«.22 Durch diese Verbindung kannte Eichberg den ein Jahr jüngeren Alain de Benoist. Beide sollten in den nächsten Jahren zu Schlüsselfiguren der deutschen und französischen Neuen Rechten werden. Eichberg trug zur Aktion Neue Rechte sein »Manifest einer europäischen Bewegung« bei. Benoist gründete bald darauf mit anderen Führungskadern der FEN die Groupement de recherche et d’études pour la civilisation européenne, GRECE (zu Deutsch: Forschungs- und Studiengruppe für die europäische Zivilisation). Dank Arthur Erhardt stand Autoren wie Eichberg und Benoist in den Folgejahren mit Nation Europa ein bereits in der extremen Rechten etabliertes Blatt mit europäischer Ausrichtung zur Verfügung. Die Zeitschrift war 1951 mit französischen Geldern gegründet worden und stand »von Beginn an für die europäische Vernetzung im Geiste der Waffen-SS«.23 Derartige Projekte richteten sich vor allem gegen den gemeinsamen Gegner im Osten und erinnerten nicht von ungefähr an die Kollaboration der Kriegsjahre, als französische Rechtsintellektuelle für den Kampf an der Seite der Deutschen eintraten. Jetzt sollte die nächste Generation diesen Weg beschreiten. Die Neue Rechte stand also auch in einer faschistischen Bündnistradition.
Gerade hinsichtlich des französischen Einflusses bei der Gründung einer Neuen Rechten stößt der beliebte Vergleich mit 68 wiederum an seine Grenzen. Volkmar Wölk hat darauf hingewiesen, dass ihre Konstituierung vor dem linken Mai 68 im Pariser Quartier Latin datierte: Die »Gründungsversammlung ihrer Hauptorganisation« GRECE fand »bereits im Januar 1968 in Nizza« statt. Für Wölk ist die Charakterisierung der Neuen Rechten als eine »Reaktion« auf 68 daher ein »Mythos«.24 Die Nouvelle Droite selbst erhebe diesen Anspruch nicht, wie er anhand eines Zitats von Alain de Benoist zeigt. Der bestreitet den spiegelbildlichen Charakter unter dem Hinweis, dass es »niemals eine ernsthafte Analyse des Mai 68 durch die Rechte gegeben« habe. Den Grund dafür sieht Benoist darin, wie er nicht ohne Kritik anmerkt, »dass die Rechte nur selten irgendetwas analysiert«.25 Ebendas wollten Autoren wie Benoist ändern.
Im Laufe der siebziger Jahre gewannen diese deutsch-französischen Synergien an Relevanz. 1980 gründete sich nach dem französischen Vorbild von GRECE in Deutschland das »Thule-Seminar«, um die weltanschauliche Arbeit zu verfestigen. Hieß die 1973 gegründete Zeitschrift von GRECE Éléments, nannte sich das 1986 geschaffene Periodikum des Thule-Seminars Elemente. Die Nähe des Thule-Seminars zum Grabert-Verlag, der als führender Verlag geschichtsrevisionistischer und NS-apologetischer Literatur etabliert war, zeigt erneut die Schwierigkeit, klare Grenzen zur »alten« extremen Rechten zu ziehen. Um die Tücken dieses permanenten Ausfransens ins altrechte Lager zu umgehen, weist die Strömung in ihrer Eigengeschichtsschreibung selbst auf ihre Heterogenität hin und bevorzugt die Bezeichnung im Plural: »Die ›Neue Rechte‹ bildet keine Einheit. […] Wenn überhaupt, dann wäre von den ›Neuen Rechten‹ […] zu sprechen.«26
Naheliegend ist jedoch eine Verbindung zum Zeitgeist von ’68, die sich besonders in der »nationalrevolutionären« Strömung niederschlug. Hier finden sich nicht nur bereits die Anleihen, die die heutige Neue Rechte programmatisch bei der Linken tätigt. Ideologische Grenzgänger versuchten, in den Gewässern der Gegenseite zu fischen. So konnte etwa Henning Eichberg 1978 in der Zeitschrift dasda/avanti, die Klaus Rainer Röhl, einstmals Herausgeber der linken konkret und Ehemann von Ulrike Meinhof, herausgab, die Parole »National ist revolutionär« ausgeben. Den Anlass zu diesem Grenzübertritt hatten Spekulationen des ehemaligen APO-Kopfes Rudi Dutschke in seinem dänischen Exil über die Integration der »nationalen Frage« von links gegeben.27
Kurz darauf gründeten Nationalrevolutionäre mit wir selbst – Zeitschrift für nationale Identität ein eigenes Organ. Wir selbst sollte Eichbergs Hausblatt werden und ihm eine Bühne als »Experte in nationalrevolutionärer Politik« bieten.28 Der Name ihrer Zeitschrift war eine Übersetzung von Sinn Féin, dem Namen der irisch-republikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Damit bezog sich schon der Titel direkt auf eine Gruppe, der traditionell vor allem die Sympathien der Linken dieser Zeit galten. Diese Irritation war programmatisch, denn wir selbst bot eine spezifisch rechte Form des zeitgenössischen Antiimperialismus, der sich in ihrem Fall allerdings gegen die USA und UdSSR gleichermaßen richtete. Ein gewisses Faible für den libyschen Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi machte die Verwirrung komplett (dem wiederum eine großzügige Spende an das Heft nachgesagt wurde).29 Diese Linie findet heute ihre Fortsetzung in den außenpolitischen Bestrebungen der Neuen Rechten, die sich nach dem Niedergang der Sowjetunion mehrheitlich gegen die USA stellt und dabei auch Positionen pro Putin oder für den syrischen Baathisten Assad bezieht.
Im Mittelpunkt dieses nationalrevolutionären Konzeptes standen bereits Begriffe wie »nationale Identität« und »Souveränität« wie auch die Verpflichtung gegenüber regionalen Traditionen. Die linke Rhetorik vom Befreiungskampf in der Dritten Welt wurde, wie heute wieder, auf Deutschland übertragen. Als Hauptziel galt die Überwindung von nationaler Teilung und Besatzung durch die Siegermächte. Das war nicht die einzige Modifikation: Die traditionellen Lehren von der weißen Überlegenheit, die den europäischen Rassismus geprägt hatten, wurden durch das neue Konzept des »Ethnopluralismus« ersetzt, der eine Gleichwertigkeit homogener Völker in ihren angestammten Lebensräumen propagiert. Das klang zunächst wesentlich menschenfreundlicher als die üblichen Ungleichheitslehren, barg aber im Glauben an ethnische Homogenität und der Verbindung von Volk und Raum dieselben Ausschlussmechanismen, nur in modernisiertem Gewand. Als Herausgeber von wir selbst zeichnete Siegfried Bublies, zuvor Mitglied der NPD-Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten und später Militaria-Verleger und Funktionär der Rechtsaußen-Partei Die Republikaner.
Die inhaltliche Ausrichtung nach rechts von wir selbst war auf den ersten Blick nicht erkennbar. Das Blatt schien sich nicht nur in der Machart, sondern auch in seiner Themenwahl kaum von der Flut kleiner alternativer Zeitschriften linken Zuschnitts dieser Zeit zu unterscheiden. Durchaus eine zeittypische Verwirrung, die sich bei anderen neurechten Organen wie dem Jungen Forum wiederholte, in dem Alain de Benoist publizierte. Die erste Ausgabe von wir selbst wartete im Dezember 1979 mit einem Rudi-Dutschke-Porträt auf dem Titel auf. Doch die Präsentation »linker« Themen des Zeitgeistes, darunter Ökologie und Arbeitnehmerrechte, stand stets unter dem Paradigma von nationaler Identität und eigentlichem Volkstum: »Wer für nationale Identität in Deutschland eintritt, wird selbstverständlich den Freiheitskampf der Korsen, Basken, Eriträer, Kurden, Waliser usw. unterstützen, ebenso selbstverständlich wird die Solidarität im Kampf gegen Diktatur, kapitalistische Ausbeutung und marxistische Konzentrationslager sein oder gegen Atomkraftwerke – seien sie in Ost oder West.«30 Aus dieser Perspektive widmete sich wir selbst ausführlich Themen wie der alliierten Besatzung, den verlorenen Ostgebieten des Reiches oder der deutschen Teilung. Letztere suchte man unter ähnlich antiimperialistischen Prämissen zu fassen wie etwa die Nordirlandfrage. Dem revolutionären Nationalismus kam bei diesen Brückenschlägen eine zentrale Rolle als »Emanzipationsbewegung« zu, um nach der Niederlage der Imperien »das Zusammen- und Miteinanderleben der Völker auf der Basis des Prinzips Ethnopluralismus zu ermöglichen«.31 Die Quintessenz lautete daher »Befreiungsnationalismus gegen Sowjet- und US-Imperialismus« und gab einen Vorgeschmack auf den besonderen völkischen Inter-Nationalismus, den die Neue Rechte bis heute pflegt.32 Damit bot wir selbst im Stile des damaligen Alternativmilieus die bis heute wesentlichen Stichworte neurechter Politik auf.
Schon wir selbst zeigt, dass das »widerständige« und »antibürgerliche« Gebaren heutiger Rechter kein neues Phänomen ist. Die Publikation zielte bewusst auf die alternative Gegenkultur, die sich im Laufe der siebziger Jahre unter den Fahnen von Umwelt- und Bürgerinitiativen oder der Friedensbewegung sammelte. Da sich dieses Milieu in der 1980 gegründeten Partei Die Grünen zusammenschloss, fand der nationalrevolutionäre Ansatz auch dort prominente Unterstützung. So gab es um den Ökologen Herbert Gruhl Kreise, die eher in der Tradition der völkischen Lebensreformbewegung aus der Frühzeit des 20. Jahrhunderts standen und für den Ansatz von wir selbst durchaus offen waren. Der DDR-Dissident Rudolf Bahro, nach seiner Ankunft im Westen ebenfalls bei den Grünen aktiv, nutzte wir selbst, um eine Hinwendung der Partei zur nationalen Frage zu propagieren: »Die Ökologie- und Friedensbewegung sollte auch ihren nationalen Anspruch geltend machen. Dies wird also sehr wesentlich sein, ob wir auf der abrüstungspolitischen Ebene, Friedenspolitik etc. durchkommen werden. Ob wir also praktisch der Politik ›wir und Amerika‹, wie die CSU in Bayern mal plakatieren ließ, eine nationale Alternative entgegenzusetzen haben.«33
Vor diesem Hintergrund bemerkenswert sind heute die langjährige Autorenschaft von Bahros Ziehsohn Erik Lehnert für die Junge Freiheit und seine Rolle als wissenschaftlicher Leiter des IfS. Lehnert selbst bringt die eigene politische Entwicklung mit den Einflüssen seines Stiefvaters und dessen Umfeld in Verbindung.34 Entsprechend verfasste er bereits 2007 für die Sezession ein Porträt Bahros, in dem er ihn als eine »Kreuzung aus russischem Revolutionär und deutschem Klassiker« beschrieb und der eigenen politischen Richtung zuschlug. Sein Urteil über Bahro lautete, dessen »Rebellion war deutsch, weil sie auf das Ganze zielte.«35 Das Staatspolitische Handbuch des IfS führt Bahro bereits als »Vordenker«.36 So lässt sich die Geschichte alternativer Lebenskonzepte und ihrer Köpfe aus den siebziger Jahren auch von rechts schreiben. Zur Einschätzung heutiger, sich ebenfalls »alternativ« und »ethnopluralistisch«, mitunter gar »revolutionär« gebender Rechter ist die Kenntnis dieses Nischenmilieus unabdingbar.
Diesen Befund stützt auch eine Notiz von Kubitschek, man kenne den ehemaligen Herausgeber Siegfried Bublies »aus alten ›Wir Selbst‹-Zeiten«.37 Der Hintergrund dieser Bemerkung ist, dass 1995, als nach zweijähriger Pause wieder eine Ausgabe der »Zeitschrift für nationale Identität« erschien, im Impressum Namen auftauchten, die vor allem Lesern der JF schon geläufig waren. Deren Autorin Ellen Kositza, die Frau Kubitscheks, schrieb ab 1999 für wir selbst. Auch Lehnert griff dort zur Feder. Ebenso findet sich Arne Schimmer vertreten, jener heute bei der NPD aktive langjährige Freund des neurechten Stammhauses in Schnellroda. Der JF-Autor Claus Michael Wolfschlag, ebenfalls bei wir selbst vertreten, wird heute von Kositza als derjenige genannt, der sie als Jugendliche überhaupt erst ins Gleis der Neuen Rechten gesetzt habe.38Wir selbst war nicht nur in den Anfängen der Neuen Rechten bedeutsam, sondern noch Mitte der neunziger Jahre ein ausgesprochenes Sammelbecken der nächsten neurechten Generation.
Trotz dieser zeittypischen Annäherungen von Milieu und Themen, für die auch wir selbst stand, ist die Neue Rechte nicht allein als Reaktion auf die Studentenbewegung der sechziger Jahre zu erklären. Sicher wurde sie von der Präsenz und dem Erfolg der APO beeinflusst. Vor allem aber fand ihre Politik unter den gleichen politisch-kulturellen Bedingungen statt und wurde zunächst von den gleichen Geburtsjahrgängen getragen wie die Neue Linke. Es gab jedoch immer auch inhaltliche und personelle Brücken zur alten Rechten und insbesondere zum theoretischen Kanon der Zwischenkriegszeit. Vieles, was die Neue Rechte propagierte, fand sich bereits in den Texten von Autoren der Weimarer Zeit wie Oswald Spengler, Ernst Jünger, Ernst von Salomon und Arthur Moeller van den Bruck. Sie stand daher in einer klaren weltanschaulichen Tradition der alten Rechten.
Ähnliches ließe sich übrigens genauso über die APO sagen, die sich ebenfalls auf die Klassiker ihrer Ideengeschichte berief. Auch sie war keineswegs ein Produkt des Jahres 1968, sondern hatte einen langen Vorlauf in der Beat Generation, der Friedensbewegung und den Jazzkellern der fünfziger Jahre. Letztlich ist die These von der Neuen Rechten als einem »68 von rechts« nur der Gegenmythos zum Mythos »68«. Sie kann höchstens den jugendlichen Elan und einige Veränderungen im Auftreten erklären, liefert aber sonst keine tiefere Erkenntnis. Die Genealogie der Neuen Rechten führt noch weiter zurück in die Vergangenheit.
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