Das deutsche Pfarrhaus - Christine Eichel - E-Book

Das deutsche Pfarrhaus E-Book

Christine Eichel

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Beschreibung

Eine Pfarrerstochter ist Kanzlerin, ein ehemaliger Pfarrer Bundespräsident. Zufall? Seit Martin Luther den Zölibat verwarf, stieg Das deutsche Pfarrhaus zum Paradigma christlichen Zusammenlebens auf. Als Hort der Bildung und Bollwerk gegen säkularen Sinnverlust wurde es auch gesellschaftlich relevant: religiöses Biotop und politischer Gegenentwurf, bürgerliche Enklave und antibürgerlicher Kampfschauplatz. Und nicht zuletzt Heimat so unterschiedlicher Pfarrerskinder wie Albert Schweitzer, Friedrich Nietzsche oder Gudrun Ensslin. Die Geschichte des deutschen Pfarrhauses erzählt von einem geistigen Reizklima mit hohem Wertepotenzial. Glaube, Liebe, Hoffnung, aber auch Kritik, Einspruch und Radikalität das sind offenbar wieder attraktive Optionen in Zeiten des unverbindlichen Pragmatismus. Das deutsche evangelische Pfarrhaus steht singulär in der europäischen Kulturgeschichte. Wohl in keinem anderen Land hat man den Pfarrer und seine Familie derart aufmerksam in den Blick genommen: als Träger der protestantischen Kultur, als geistliches Kraftfeld, als künstlerisches Ferment. Dieses Buch ist ein Streifzug durch die Welt des Pfarrhauses, in dem Dichter wie Lessing und Hesse aufwuchsen, in dem die Künste und die Wissenschaft zu Hause waren und das in der jüngeren Geschichte seine Eigenständigkeit bewies, als es in der DDR zum Schutzraum der Opposition wurde. Zu Wort kommen auch Pfarrer und Pfarrerskinder, die aus dem Kosmos des Pfarrhauses berichten und deutlich machen: Es wird nie ein Haus wie jedes andere sein.

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Christine Eichel

DAS DEUTSCHE PFARRHAUS

Hort des Geistes und der Macht

Lübbe Digital

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG erschienenen Werkes

Lübbe Digital in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG

Copyright © 2012 by Quadriga Verlag, Berlin in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln

Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln

Umschlagfoto: Pfarrhaus Ankershagen (Mecklenburg); picture-alliance/ZB

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-2285-6

Sie finden uns im Internet unter:

www.luebbe.de

Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de

Meiner Familie

Inhalt

EinleitungKein Haus wie jedes andere

ETHOS UND IDYLLDer Mythos des deutschen Pfarrhauses

Das Pfarrhaus als Sehnsuchtsort

Das Pfarrhaus, ein Skandal

Idealisiertes Familienleben

Das offene Pfarrhaus der Gegenwart

Das Pfarrhaus als Asyl

Das Haus als Identität

Kleines Denkmal für die Pfarrfrau

Die Frau im Talar

Die Pfarrersfamilie zwischen Erfüllung und Überlastung

GEIST UND GLAUBEDas Pfarrhaus als Musentempel

Der geistliche Ackerbauer

Vom Landwirt zum Bildungsbürger

Sprachtempel und Wissensspeicher

Der Pfarrer als Gelehrter

Pfarrerskinder als Wissenschaftler

Klingender Glaube

Der väterliche Auftrag

Das Pfarrhaus als literarisches Sujet

Literatur aus dem Pfarrhaus

Die literarische Emanzipation der Pfarrerssöhne

Pfarrerssöhne im gesellschaftlichen Umbruch

GÄNGELUNG UND REBELLIONPfarrerskinder im Bann der Gottesvergiftung

Erziehungsgewalt

Erzwungener Gehorsam

Verordnetes Schweigen

Lieber Gott und böser Gott

Ausbruchsversuche

Gudrun Ensslins gewaltsame Revolte

Hass auf das Pfarrhaus

ANPASSUNG UND WIDERSTANDDas Pfarrhaus im politischen Reizklima

Glaube und Politik

Kirche im Dritten Reich

Kirche in der DDR

Das verdächtige Pfarrhaus

VON DER KANZEL AN DIE MACHTPolitiker vor dem Hintergrund der protestantischen Kultur

Der Mythos der protestantischen Arbeitsethik

Die protestantische Kultur

Pfarrhaustugenden in der politischen Sphäre

Die Renaissance des Predigertons

AusblickDas Pfarrhaus heute

Quellen

Register

EinleitungKein Haus wie jedes andere

Eine Pfarrerstochter ist Kanzlerin, ein ehemaliger Pfarrer Bundespräsident. Nichts weiter als ein Zufall?

Immerhin zeigte die Nachfolgediskussion um das Amt des Bundespräsidenten Anfang 2012 eine eigentümliche Symptomatik. Neben Joachim Gauck waren unter anderem die ehemalige Ratspräsidentin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Margot Käßmann und Altbischof Wolfgang Huber im Gespräch gewesen. Alle drei hatten ein Amt ausgeübt, das man mit einem schönen, altmodischen Begriff als Seelsorger bezeichnet. Und noch ein weiterer Name wurde genannt: Katrin Göring-Eckardt, Politikerin, Theologin und Präses der EKD-Synode. Diesem Quartett traute man zu, gleich ein ganzes Land zu vertreten – glaubensgefestigte Antworten auf den Bankrott politischer Moral, für den der gestrauchelte Präsident Wulff stand.

Woher kam dieser Vertrauensvorschuss? War es die freundliche Unterstellung ethischer Integrität aus dem Geist von Hausmusik und Tischgebet? Sind evangelische Pfarrhäuser die letzten Kaderschmieden für Ämter mit höchstem Symbolwert und moralischer Leuchtturmfunktion?

»Zukunft braucht Herkunft«, diese These Odo Marquards wurde offenbar wörtlich genommen. Bezieht man sie im engeren Sinne auf das Herkunftsmilieu, so wirkt sie wie ein Einspruch gegen das Wort von der durchlässigen Gesellschaft. Das Pfarrhaus erscheint demgegenüber wie ein Gütesiegel in einem politischen Klima, in dem mancher auffallend geschmeidig seine Prinzipien auswechselt. Oder gar nicht erst welche hat.

Pfarrer und kirchliche Würdenträger, das wissen wir nicht erst seit Margot Käßmanns Rücktritt als Landesbischöfin und Ratsvorsitzende der EKD, sind alles andere als unfehlbar. Offenbar stehen sie jedoch für eine christliche Ethik, die über Korrumpierbarkeiten erhaben ist. Der Kontrast zwischen dem aufrechten Rücktritt Margot Käßmanns und den zähen Rückzugsgefechten Christian Wulffs hätte größer nicht sein können. Luther schrieb einst, Anfechtungen seien Umarmungen Gottes. Margot Käßmann ließ sich umarmen und ging aus einer Niederlage siegreich hervor. Christian Wulff dagegen bestritt jede Anfechtung und lavierte sich damit auf die Position des Verlierers. Er fiel tief, verlor nicht nur sein Amt, sondern auch seine Reputation. Margot Käßmann dagegen konnte verkünden: »Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand.«

Worin aber besteht über solche Haltungsnoten hinaus das Faszinosum des Pfarrhauses? Sicherlich schwingt als Oberton dessen Weltbeglückungspathos mit, die Überzeugung, ein Beispiel geben und ausstrahlen zu können, ja zu müssen. »Ein feste Burg ist unser Gott«, dichtete Martin Luther. Solche Zeilen prägen. Bewohner von Pfarrhäusern wirken denn auch zuweilen wie Felsen in der Brandung, glaubwürdiger als Berufspolitiker. So jedenfalls muss die unausgesprochene Annahme gelautet haben, als Namen wie Gauck, Käßmann, Huber und Göring-Eckardt aus dem Hut gezogen wurden. Und mit ihnen die Hoffnung auf politisch-moralische Erneuerung aus dem Geiste des Pfarrhauses.

Diese Politisierung ist relativ neu. Von jeher traute man dem Pfarrhaus zu, eine ethische Gegenwelt zu repräsentieren. Zur Ressource des politischen Personals wurde es jedoch erst nach der friedlichen Revolution 1989. Pfarrer wie Markus Meckel und Rainer Eppelmann, die sich in der DDR-Opposition engagiert hatten, galten auch nach der Wende als politische Hoffnungsträger. Joachim Gauck, der sich erst spät öffentlich gegen die DDR-Führung gestellt hatte, wurde zu einem Wortführer des Neuen Forums.

So schien es nur konsequent, dass einige Pfarrer ganz auf das Terrain des Berufspolitikers wechselten. Die erste Volkskammer, die 1990 aus freien Wahlen hervorging, nannte man »Pastoren-Parlament« – mit einunddreißig evangelischen Theologen. Im ersten gesamtdeutschen Bundestag waren zwölf Theologen vertreten. Acht stammten aus dem Osten Deutschlands, unter ihnen Richard Schröder, Markus Meckel und Rainer Eppelmann. Mit Pastorentochter Angela Merkel und dem ehemaligen Pfarrer Joachim Gauck erhielt diese Tendenz ihre prominentesten Vertreter.

Das ist neu, denn Glaube und Macht waren nach Luther’schem Verständnis getrennte Sphären. Der Theologe Karl Barth hat diese Grenzziehung als »Lehre von den zwei Reichen« bezeichnet, die letztlich eine politische Einmischung von Christen untersagte. Die Konsequenz war sichtbar als Allianz zwischen Thron und Altar: Loyalität zur Obrigkeit, Solidarität mit den Mühseligen und Beladenen. Macht beanspruchte das Pfarrhaus nicht. Es verstand sich als Ort der Barmherzigkeit, nicht als Taktgeber für politische Veränderungen. So groß sein geistesgeschichtlicher Einfluss auch war, besonders in der Epoche der Aufklärung, von Macht konnte nur indirekt gesprochen werden. Jetzt aber scheint es, als ob das Pfarrhaus als gesellschaftlicher Faktor auch die Sphäre der Macht nicht scheut.

Solche politischen Tangenten des Pfarrhauses werfen ein Schlaglicht auf eine Institution, die keinen offiziellen Charakter, aber immer noch eine große Anziehungskraft besitzt. Der Grund dafür ist unmittelbar in Luthers Hinwendung zum Irdischen zu suchen. Das evangelische Pfarrhaus steht qua definitionem mitten im Leben, verlagert also das Göttliche ins Weltliche und erhebt den Anspruch, sich genau daran zu bewähren. Der evangelische Pfarrer wird nicht nur an dem gemessen, was er glaubt, sondern vor allem daran, wie er handelt – frei nach Martin Luthers Vorgabe, das gesamte Leben solle ein Gottesdienst sein.

Die theologisch begründete »Vergeistlichung« der Welt, wie der Politikwissenschaftler Martin Greiffenhagen sie nennt, reicht weit in die Privatsphäre hinein. Seit Reformator Luther den Zölibat verwarf, stieg das Pfarrhaus zum Paradigma christlichen Zusammenlebens auf. Das Familienleben wurde öffentlich, das Private sichtbar – und musste der Beobachtung durch die Gemeinde standhalten. Keine leichte Aufgabe, erliegen doch auch ein Pfarrer und seine Familie dem Allzumenschlichen. Dennoch wird von ihnen erwartet, dass sie Gelungenheit vorleben, auch und gerade wenn sie Krisen durchmachen. Pfarrer und ihre Familien befinden sich permanent im Praxistest. Scheitern sie, dokumentieren sie damit – von außen betrachtet – die Ermüdungsbrüche ihres Glaubens. Kein Wunder, dass sich starke innere Instanzen ausbilden.

Dass man überhaupt so genau hinsieht, hat vermutlich mit einer Sehnsucht nach Leitbildern zu tun. Ob das Pfarrhaus sie liefern kann, steht auf einem anderen Blatt. Doch in Zeiten metaphysischer Obdachlosigkeit fasziniert es offenbar, wenn sich Menschen zu einer Lebensform bekennen, die auf »Höherem« beruht. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Anachronismus in der Vernunftkultur, ist doch die Vernunft »das größte Hindernis für den Glauben, weil alles Göttliche ihr absurd scheint«, so Luther. Das rationale Zeitalter wurde daher eines der systematischen Glaubensenteignung. Dafür gab es gute Gründe, die nicht zuletzt die Philosophie der Aufklärung formulierte. Die Alternative hieß blinder Glaube oder abgesichertes Wissen – daher wirkte das »sapere aude«, Kants »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«, als Befreiungsschlag.

Auch hier gilt allerdings die Dialektik der Aufklärung, wie sie Adorno und Horkheimer beschrieben: Die Dekonstruktion von Ideologien durch die Vernunft schlage leicht um in die Bereitschaft, sich neuerlichen Glaubenssätzen auszuliefern. Das Vakuum, das mit der Diskreditierung des religiösen Glaubens einherging, wurde deshalb mit dem Glauben an den Fortschritt gefüllt, mit der Aussicht »auf Unterwerfung der Natur und auf materiellen Überfluss, auf das größtmögliche Glück und auf uneingeschränkte persönliche Freiheit«, wie Erich Fromm aufzählt.

Bekanntlich haben sich diese Hoffnungen nicht erfüllt. Und mehr noch, es kam zu massiven Sinnverwerfungen. Vor diesem Hintergrund erscheint das Pfarrhaus wie eine Projektionsfläche für den gestiegenen Orientierungsbedarf. Zu Recht?

Dieses Buch ist eine Annäherung an den Mythos des deutschen Pfarrhauses. Wie bei jedem Mythos, der besichtigt wird, kommt es dabei auch zu Entzauberungen. Der Anspruch gelebten Christentums, das bis ins Familienleben hinein Vorbildcharakter haben soll, ist zugleich eine Steilvorlage für Widersprüche und Überdehnungen. Gerade das aber machte das evangelische Pfarrhaus zu einem kulturellen Katalysator, der über die Jahrhunderte hinweg bis heute spürbar ist. Es hat immer wieder divergierende Tendenzen in sich vereinigt – und bewies gerade damit seine gesellschaftliche Relevanz. Es ist kein homogenes Gebilde, sondern konnte und kann vielerlei sein: Insel der Frömmigkeit und Geburtsstätte des Zweifels, Arena des Disputs und Schauplatz von Harmoniezwang, bürgerliche Enklave und antibürgerlicher Reflex.

Diese Mehrdeutigkeit ist nicht zuletzt an den Pfarrerskindern abzulesen. Ihr Erbe ist ambivalent, mündet wahlweise in Engagement, Überforderung oder Rebellion. Der Schriftsteller und Pfarrerssohn Benjamin von Stuckrad-Barre sagte mir einmal: »Als Pfarrerskind wird man entweder Terrorist oder Kanzlerin. Schriftsteller liegt vermutlich irgendwo dazwischen.«

Wohl kaum würde man auf den ersten Blick erraten, was sie verbindet, diese Dichter und Denker, Künstler und Politiker: Michael Praetorius, Andreas Gryphius, Georg Philipp Telemann, Johann Christoph Gottsched, Gotthold Ephraim Lessing, Christoph Martin Wieland, Matthias Claudius, Georg Christoph Lichtenberg, Gottfried August Bürger, Jean Paul, die Gebrüder Schlegel, Friedrich Schleiermacher, Friedrich Ludwig Jahn, Karl Friedrich Schinkel, Jacob Burckhardt, Alfred Brehm, Friedrich Nietzsche, C.G. Jung, Albert Schweitzer, Hermann Hesse, Gottfried Benn, Horst Wessel, Ingmar Bergman, Friedrich Dürrenmatt, Christine Brückner, Johannes Rau, Gabriele Wohmann, Meinhard von Gerkan, Gudrun Ensslin, Hans Wilhelm Geißendörfer, Friedrich Christian Delius, Christoph Hein, Rezzo Schlauch, Elke Heidenreich, Angela Merkel, Peter Lohmeyer, Katharina Saalfrank, Benjamin von Stuckrad-Barre.

Alle sind sie Kinder des Pfarrhauses. Was sie trennt, ist offensichtlich. Was aber verbindet sie?

Das Pfarrerskind gibt es so wenig wie das Pfarrhaus. Dennoch haben beide großen Anteil an unserer Mentalitätsgeschichte, weil sie die protestantische Kultur in die Gesellschaft trugen. Mit ihrem Ethos von Verantwortung, Pflicht und Selbstdisziplin prägten sie das Lebensgefühl auch jener, die sich als glaubensfern bezeichnen. Traditionell verstand sich das Pfarrhaus außerdem als Hort der Bildung, in dem Musik und Literatur vermittelt wurden, als Bollwerk des Humanismus in oft geistfeindlicher Umgebung.

Für viele Pfarrerskinder bedeutete das eine innere Verpflichtung, hinaus in die Welt zu gehen und dort zu wirken – wenn auch mit ganz unterschiedlichen Ambitionen. Viele von ihnen grenzten sich konsequent gegen das Elternhaus ab, gegen Glaubenspostulate und Kontrollfantasien. Doch das Pfarrhaus blieb ihr Bezugspunkt: »Kein Pfarrerskind verlässt das Haus, ohne symbolisch immer wieder dorthin zurückzukehren«, resümiert der Theologe Wolfgang Steck.

Das Thema dieses Buches betrifft mich auch persönlich. Als Tochter eines Landpfarrers erlebte ich, wie fröhliches Gottvertrauen und eisernes Pflichtbewusstsein Hand in Hand gingen. Möglicherweise bin ich aber auch Zeugin einer untergehenden Welt. Mein Vater, Jahrgang 1922, war noch rund um die Uhr erreichbar. Oft holte man ihn nachts aus dem Bett, wenn jemand im Sterben lag.

Das Familienleben stand völlig selbstverständlich im Dienst der Gemeinde. Meine Mutter ging in ihrer Aufgabe als Pfarrfrau auf, leitete verschiedene Frauengruppen und den Kirchenchor. Wir Kinder spielten bei Gemeindefesten Klavier und Geige, bastelten für Basare, öffneten die Haustür jedem, der klingelte. Wirklich jedem. Dem Brautpaar, das die Hochzeitspredigt besprechen wollte, ebenso wie dem Obdachlosen, der wusste, dass er im Pfarrhaus immer eine Tasse Kaffee und ein Butterbrot bekam. Wir waren die allzeit bereite Familienfirma. Und alle standen wir unter genauer Beobachtung.

Das wandelt sich heute. Nicht überall sind die Pfarrhäuser noch stets geöffnete Betreuungsofferten, selbst ernannte Vorbilder oder gar Kulturträger. Manche Pfarrersfamilie entzieht sich den allgegenwärtigen Gemeindepflichten. Auch ein intaktes Familienleben, ohne Scheidung, ohne Konflikte, ist längst Illusion.

Andererseits ist der Abgesang aufs Pfarrhaus letztlich eine Stimme mehr im Chor des Kulturpessimismus. Obwohl es in den vergangenen Jahrzehnten einen Bedeutungsverlust verzeichnete, ist das Pfarrhaus doch nicht völlig bedeutungslos geworden. Dagegen spricht, dass es eben immer wieder auch Pfarrer sind, die als gesellschaftliche Instanzen wahrgenommen werden. Wenn man sie nicht gleich für höchste Ämter empfiehlt.

Pfarrer werden vermutlich nie bloße Dienstleister sein. Die theologische Dimension ihres Berufs wird auch dem Pfarrhaus immer eine besondere Rolle zuweisen. Es wird Funktionswechsel geben, wie es sie in seiner Geschichte immer gegeben hat, in der mal biedermeierlicher Rückzug, mal preußisches Leistungsethos, dann wieder Zivilcourage oder politische Einmischung in den Vordergrund traten. Doch nie wird der evangelische Pfarrer seinem Selbstverständnis nach einer weltentrückten Klerikerkaste angehören. Er hat eine lebenspraktische Ausrichtung, auf das Hier und Jetzt. Sein Selbstverständnis ist auf die Konkretion gerichtet, nur sich und seinem Gott verantwortlich.

Ich habe mich auf eine Spurensuche begeben. Neben der Auseinandersetzung mit Martin Luther und Katharina von Bora war es vor allem eine Reise durch die deutsche Kulturgeschichte, mit Ausflügen in europäische Nachbarländer. In Gesprächen mit Pfarrerinnen, Pfarrern und Pfarrerskindern kam oft Überraschendes zutage, jenseits von Mythen und Klischees.

Äußerst hilfreich waren die Untersuchungen von Martin Greiffenhagen, der die Sozialgeschichte des Pfarrhauses und seiner Kinder eindrucksvoll dokumentiert hat. Auch die Interviews, die Anja Würzberg, Pastorentochter und Journalistin, mit Pfarrerskindern geführt hat, waren aufschlussreich. Hervorheben möchte ich darüber hinaus die Radiofeatures von Michael Hollenbach, der dem Thema Pfarrhaus neue Aspekte abgewinnt, sowie die Anthologie Der Pfarrer und das Pfarrhaus in der Literatur, herausgegeben vom Erziehungswissenschaftler und Religionspädagogen Fulbert Steffensky.

Bedanken möchte ich mich bei den Mitarbeitern des Quadriga Verlags, bei meiner wunderbaren Lektorin Ulla Mothes und bei allen, die mir persönlich Einblick in ihr Selbstverständnis als Pfarrer und Pfarrerskinder gegeben haben. Auch bei jenen möchte ich mich bedanken, die mir auf Fragen zur Rolle des Pfarrhauses in kulturhistorischer und politischer Hinsicht antworteten. Ein Fazit lässt sich ziehen: Auch wenn sich das Pfarrhaus seit seiner Entstehung in einem permanenten Wandel befindet – es wird nie ein Haus wie jedes andere sein.

ETHOSUNDIDYLL

Der Mythos desdeutschen Pfarrhauses

Das Pfarrhaus als Sehnsuchtsort

Das deutsche evangelische Pfarrhaus steht singulär in der europäischen Kulturgeschichte. Wohl in keinem anderen Land hat man den Pfarrer und seine Familie derart aufmerksam in den Blick genommen: als Träger der protestantischen Kultur, als geistliches Kraftfeld und künstlerisches Ferment.

Was sich aus Luthers antiklerikalem Impuls heraus entwickelte, war die gleichermaßen profane wie heilige Familie. Und damit das Paradoxon einer idealtypischen Gegenwelt, die zugleich mitten ins weltliche Geschehen hineinwirken sollte. Nur auf diese Weise konnte das Pfarrhaus einflussreich werden, in die Herzkammern der Gesellschaft vordringen, geistiger Schrittmacher sein. Oder wird hier ein bloßer Mythos bestaunt?

»Ohne Pfarrhaus, oder zumindest ohne lutherischen Hintergrund, sind auch die Größten: ein Leibniz, ein Bach, ein Goethe nicht zu verstehen«, behauptete der Germanist Robert Minder. Urteile wie dieses wecken die Erwartung von Superlativen. Und in der Tat gibt es sie, die kulturellen Spitzenfrequenzen, die außergewöhnlichen wissenschaftlichen Leistungen, die dichtenden Pfarrerssöhne, deren Werke Klassiker wurden. Sie erzeugten Legenden, die das Pfarrhaus bis heute überlagern. Vor allem aber wecken sie Neugier.

Ganz im Leben und doch seltsam entrückt, mit hehren Zielen, die die Gefahr des Scheiterns schon in sich tragen: Diese Spannung macht das Pfarrhaus zum Gegenstand von Projektionen. Über die Jahrhunderte delegierte man zunehmend an die Pfarrersfamilie, was andernorts misslang: gottgefälliges Leben, moralische Unbedenklichkeit, musische Affinität. Man wünschte sich das Pfarrhaus als Leitbild. Ganz gleich, ob man es dann mit Bewunderung, Herablassung oder geheimem Neid betrachtete – hier schien ein Leben, das den Unübersichtlichkeiten der Realität trotzte, zumindest denkbar. So geriet das Pfarrhaus in der Außenwahrnehmung zum Versprechen. Es weckte den Möglichkeitssinn für gelingendes Leben.

Wechseln wir die Perspektive und fragen nach Wahrnehmungen aus dem Inneren des Pfarrhauses, so sind die Auskünfte sehr unterschiedlich. Das Pfarrhaus ist keine in sich abgeschlossene Idylle, denn es moderiert Konflikte, die es im Außen vorfindet. Es übernimmt Verantwortung, auch und gerade für das, was nicht gelingt. Hans Egon Holthusen, Jahrgang 1913, schreibt über seinen Vater: »In seiner Sprechstunde herrschte ein Betrieb wie auf dem Wohlfahrtsamt. Er besuchte die Leute in ihren Wohnküchen, hatte dank seines monströsen Gedächtnisses alle ihre Daten, Jubiläen, Familienverhältnisse im Kopf, nahm ihr Gejammer auf sein Gewissen und bekämpfte das hartnäckige Einerlei ihres Elends, so gut er konnte.«

Diese Hingabe kann zur Selbstaufgabe werden. Das ist das Risiko eines Berufs, der die gesamte Familie in Atem hält – und atemlos macht. Wir seien nicht die heilige Familie, sondern die eilige Familie, scherzte mein Vater gern. Denn wir alle, Mutter wie Kinder, fügten uns lückenlos in seine Agenda der Pflichten. Das war erfüllend, konnte aber auch zum Stresstest werden. Nicht überall fällt er positiv aus. »Wir kamen als Familie immer an zweiter Stelle«, urteilt Christian Gauck heute. Joachim Gauck sei »selten der Vater« gewesen.

»Der königlichste, freieste, reichste, aufregendste, sinnvollste Beruf auf Erden ist auch der unbekannteste; auch bei denen, die in der Kirche tätig mitleben und darum ständig mit ihm zu tun haben – selbst bei denen, die ihn sich erwählt haben und deren eigener Beruf es ist«, schrieb der Theologe Helmut Gollwitzer über das Pfarramt. Einige Zeilen später spricht er aber schon vom »trostlosen Beruf«, den manche Pfarrer meinen ergriffen zu haben.

Damit steht der Betrachter vor einem Vexierspiel zwischen Hybris und Demut, Glück und Verzweiflung. Die wohltemperierte Mitte wird man im ambitionierten Pfarrhaus selten finden, vor allem nicht im Pfarrhaus der Vergangenheit. Es neigte zu Extremen, unter einem Dach vereint. Entsprechend unterschiedliche Botschaften erreichen uns aus dem Pfarrhaus. Manchmal sind es Notrufe. Protestantische Fröhlichkeit ist ebenso anzutreffen wie finsterste Depression, karge Strenge wie saturierte Bürgerlichkeit. Das Pfarrhaus gleicht einer Versuchsanordnung unter dem Mikroskop. Alle Facetten des Menschseins werden riesenhaft vergrößert.

Natürlich liegt die Gefahr nahe, das Abweichende mit dem Charakteristischen zu verwechseln. Nicht jeder Pfarrer zweifelt, und nicht jedes Pfarrerskind stürzt sich in die Revolte. Genauso wenig, wie alle Pfarrer mit einem Heiligenschein versehen sind und alle Pfarrerskinder mit außergewöhnlichen Gaben. Die Normalität hinterlässt weniger Spuren als das Herausragende. Dennoch weisen Extreme auf Symptomatisches hin.

»Es ist aber doch das beste Stück idealen Lebens, welches ich wirklich kennen gelernt habe; von Kindesbeinen an bin ich ihm nachgegangen, in viele Winkel, und ich glaube, ich bin nie in meinem Herzen gegen dasselbe gemein gewesen.« Überraschend genug: Diese Sätze über das Christentum seiner Kindheit stammen nicht etwa von einem beseelten Gläubigen. Geschrieben hat sie Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche, der Gottes Tod beklagte und Heilsverkünder als »Giftmischer« verhöhnte. Seine ersten Lebensjahre verbrachte er in Röcken, im heutigen Sachsen-Anhalt. Es war ein typisches Pfarrhaus des neunzehnten Jahrhunderts, glaubensstark, geprägt von Literatur und Musik.

Obwohl der Vater starb, als Nietzsche vier Jahre alt war, und die Familie daraufhin nach Naumburg zog, blieb die Pfarrhausatmosphäre das Fluidum seiner Kindheit. Er hat es tief eingeatmet. Neben der Mutter, die als Pfarrerwitwe den christlichen Wertekanon weiterlebte, war der Pfarrhof seines Großvaters mütterlicherseits prägend. Schon den Halbwüchsigen nannte man den »kleinen Herrn Pastor«. Es war derselbe Junge, der als Erwachsener gegen die »Sklavenmoral« der Bergpredigt wütete. Warum erinnerte er sich trotzdem an den Glauben seiner Kindheit als das »beste Stück idealen Lebens«?

Was zunächst als Widerspruch erscheint, hat eine gewisse Logik. Es führt uns an einen Ort, wo Widersprüche quasi systemimmanent sind. Die Innenschau des Pfarrhauses offenbart auch Abgründiges. Das Beruhigende und das Verstörende, das Tröstende und das Demütigende gehen Hand in Hand. Erst im Nachhinein wird das vor allem Pfarrerskindern bewusst, deren Emanzipation vom Elternhaus durch Loyalitätskonflikte erschwert wird. Schließlich ist der Ablösungsprozess ohne eine kritische Auseinandersetzung mit göttlicher wie elterlicher Autorität kaum denkbar.

Nicht selten lautet die Schlussfolgerung, dass gerade die heile Welt des Pfarrhauses Unterwerfung oder gar Selbstverleugnung fordere. Befreiung ist dann gleichbedeutend mit Protest. Heinrich Böll sagte einmal: »Wenn ich gelegentlich Literaten oder Philosophen mit einer verbissenen Abwehr gegen Kirche und Christentum treffe, denke ich fast automatisch: Das müssen Pfarrerskinder sein.«

Sinnstiftendes in der Rückschau zu verwerfen, das kann nicht ohne Beschädigung der eigenen Identität geschehen. Ein Ausweg ist Wut, und Nietzsche ist ein grandioses Beispiel dafür. Die Befreiung, nach der er suchte, schien nur durch die Befreiung vom Glauben möglich. »Die Heraufkunft des christlichen Gottes, als des Maximal-Gottes, der bisher erreicht wurde, hat deshalb auch das Maximum des Schuldgefühls auf Erden zur Erscheinung gebracht«, stellt er in Zur Genealogie der Moral fest. Folgerichtig heißt es am Ende des Abschnitts: »Atheismus und eine Art zweiter Unschuld gehören zueinander.«

Dennoch blieb die Erinnerung an das Ideal seiner Kindheitswelt in ihm verankert, ablesbar auch an der Wortgewalt, mit der er sich an seiner religiösen Herkunft rieb – als könne er vom süßen Gift nicht lassen. So wie in allen komplizierten Liebesbeziehungen überdauerten Sehnsüchte, die der Verstand längst verworfen hatte.

Ganz sicher leben wir nicht im Zeitalter der Verklärungen. Umso erstaunlicher ist, dass das Pfarrhaus noch immer eine große Anziehungskraft besitzt, dass man ihm Großes unterstellt und zumutet. Entmystifizierungen sind auch deshalb so schwierig, weil das Pfarrhaus denkbar attraktive Kulissen anbietet. Die pittoresken Fachwerkhäuser, die wehrhaften Sandsteinbauten, umgeben von Gärten, eingeschmiegt in Dorf und Natur, sie wirken, als seien hier Archetypen harmonischen Lebens und Arbeitens möglich.

Selbst für Pastorenkinder, die es unter Protest verließen, hatte das malerische Landpfarrhaus einen verführerischen Sog. Nietzsche schreibt, das Elternhaus habe »gar lieblich« gelegen, umgeben von Büschen und Teichen. »Vor der Wohnung erstreckte sich der Hof mit Scheune und Stallgebäude und geleitete zu dem Blumengarten. In den Lauben und Sitzen verweilte ich fast immer.«

»Dort wuchs ich auf«, erinnert sich Gottfried Benn an das Pfarrhaus seiner Kinderjahre, »ein Dorf mit 700 Einwohnern in der norddeutschen Ebene, großes Pfarrhaus, großer Garten, drei Stunden östlich der Oder. Das ist auch heute noch meine Heimat, obgleich ich niemanden dort mehr kenne. Kindheitserde, unendlich geliebtes Land.« Und diese Lust will Ewigkeit: »Eine riesige Linde stand vorm Haus, steht noch heute da, eine kleine Birke wuchs auf dem Haustor, wächst noch heute dort, ein uralter gemauerter Backofen lag abseits im Garten. Unendlich blühte der Flieder, die Akazien, der Faulbaum.«

Man meint, das Rauschen der Linde und das Zwitschern der Vögel zu hören. Das Pfarrhaus – ein Paradies auf Erden, ein Fluchtpunkt im Weltgetümmel? Jahrzehnte später spricht Pfarrerstochter Gabriele Wohmann vom »herrlichen Garten voller Verstecke und Geheimnisse« und dem Pfarrhaus als »Stätte der Geborgenheit, der Ruhe, der Annehmlichkeiten«. Pfarrerstochter Inge Grolle, Jahrgang 1931, beschreibt »lange Flure, dunkle Vorräume, Kellerfluchten, Bodenkammern mit Requisiten aller Art, Nebengebäude aus der Zeit bäuerlicher Eigenwirtschaft, Gärten im Ausmaß von Parks, teils in verwildert blühender Romantik, teils fleißig zur Obst- und Gemüsezucht genutzt«.

Solche Schilderungen untermauern, was wir durchaus erwarten. Noch heute sind unsere Vorstellungen oft unbewusst verschränkt mit Bildern, die sich unter anderem aus der umfangreichen Pfarrhausliteratur des achtzehnten Jahrhunderts herleiten. Ein Weichzeichner liegt über vielen dieser Darstellungen. In gemütvollem Tonfall erzählen sie von einer Gegenwelt – vom Leben auf dem Dorf, in dem mal gütige, mal skurrile Pfarrer auftreten, unverwundbar in ihrer Glaubensstärke, innig verbunden mit Gottes schöner Natur.

Schon die Anzahl der Landpfarrer übersteigt bei Weitem jene der städtischen Kollegen. Denkt man ans Pfarrhaus, so ist es deshalb auch heute von lieblicher Landschaft und verwunschenen Gärten kaum zu trennen. Damit ist es Sinnbild einer leicht weltfremden, aber auch anziehenden Lebensform. Wer in solch einer Idylle zu Hause ist, muss sich um sein Seelenheil keine Sorgen machen, mag man meinen. Die Idee eines beschaulichen Landpfarrerlebens hat daher großen Anteil an manch magischer Idealisierung. »Ein protestantischer Landgeistlicher«, vermutete schon Goethe nicht ohne leise Ironie, sei »vielleicht der schönste Gegenstand einer modernen Idylle«.

Der Begriff der Idylle weist zurück auf eine Sehnsuchtstradition, die sich seit der Antike auf ein imaginäres Arkadien richtet, auf bukolische Fantasien und Schäferspiele, auf ein besseres Leben. Die lateinische Bedeutung des Wortes »Pastor« – der Hirte – spielt mit der Assoziation des Schäfers, der sich um seine Herde kümmert. Deshalb schien der Pfarrer als Heger und Pfleger seiner Gemeinde auf dem Land seine eigentliche Bestimmung zu finden. Ganz so, wie es im 23. Psalm über den göttlichen Schutz heißt: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.«

Die Assoziationsketten sind erlernt und verinnerlicht. Sie legen nahe, Pfarrhaus und Landleben zu verschmelzen. Das Buch der Natur, in dem die Romantik las, ist für den Pfarrer demnach eine Quelle religiöser Selbstvergewisserung. Hier ist der Ort, der ihm seine Berufung vor Augen führt. Hier kann er ein guter Hirte sein, im Einklang mit der Schöpfung. Ein Anhauch dieser Vorstellung weht durch Wilhelm Raabes Roman Unruhige Gäste. Darin lädt der Blick aus der Studierstube des Pfarrhauses ein, die Natur als Spiegel der frommen Seele zu deuten. »Über die Eschenwipfel unter diesem Arbeitszimmer Prudens Hahnemeyers hinweg übersah man meilenweit die Tannenberge und – darüber hinaus bis in die blaueste, abendduftigste Ferne die norddeutsche Ebene: Dörfer, Städte, Flüsse und fruchtbares Land mehr oder weniger deutlich, so daß ein feineres Gefühl für Erdenschönheit sofort mit Rührung und Freude sich diesen Auslug in jeglicher Jahreszeit, bei jeglicher Beleuchtung und in jeglicher Lebensstimmung als einen Trost, eine Beruhigung denken konnte.«

Die Pfarrhauswelt vor naturschönem Hintergrund passt bestens in das Lebensgefühl der Gegenwart. Kulturkritik entzündete sich von jeher an der städtischen Zivilisation. Die Antithese Stadt und Land ist eine beliebte Denkfigur. Lange schien es, als ob im Landpfarrhaus die Versöhnung von Natur und Kultur, von Glaube und Leben zu sich selbst komme. Das hatte auch mit der funktionierenden gesellschaftlichen Ordnung zu tun, die man einst auf dem Lande vermutete. Als sei ein hierarchisches System, in dem der Adel regiert und in dem Pfarrer, Lehrer und Arzt für das geistige wie leibliche Wohl sorgen, eine gelebte Utopie.

Pfarrerssohn Jean Paul war sogar überzeugt, dass seine künstlerische Menschwerdung nur auf dem Dorf überhaupt habe stattfinden können. Dort, wo es keine Anonymität gebe, keine Gleichgültigkeit, wo jeder jeden kenne und jeden grüße. »Lasse sich doch kein Dichter in einer Hauptstadt gebären und erziehen, sondern womöglich in einem Dorfe, höchstens in einem Städtchen. Die Überfülle und die Überreize einer großen Stadt sind für die erregbare schwache Kindseele ein Essen an einem Nachtisch und Trinken gebrannter Wasser und Baden in Glühwein.« So argumentiert er in seinem autobiografischen Fragment Selberlebensbeschreibung.

Das elterliche Pfarrhaus feiert Jean Paul als eine Welt natürlicher Harmonie, als »locus amoenus« schlechthin: »Niemand übrigens wundere sich über ein Idyllenreich und Schäferweltchen in einem kleinen Dörfchen und Pfarrhaus. Im schmalsten Beete ist ein Tulpenbaum zu ziehen, der seine Blütenzweige über den ganzen Garten ausdehnt; und die Lebensluft der Freude kann man aus einem Fenster so gut einatmen als im weiten Wald und Himmel.« Liest man diese Sätze, so fühlt man sich an die Rilkezeile erinnert: »Und ihr Gut und Garten grenzt gerade an Gott.«

Zufriedenheit ist das Grundgefühl dieses Kosmos, der vor allem im achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhundert beschworen wird. Das Pfarrhausepos Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen von Johann Heinrich Voß, 1795 erschienen, beginnt mit den wunderbaren Zeilen:

»Draußen in luftiger Kühle der zwei breitlaubigen Linden,Die, von gelblicher Blüthe verschönt, voll Bienengesurres, Schattend der Mittagsstub’, hinsäuselten über das Moosdach,Hielt der redliche Pfarrer von Grünau heiter ein Gastmahl.«

Eingebettet in dörfliche Überschaubarkeit, umgeben von Feldern und Wiesen, stand das Pfarrhaus für die urbane Sehnsucht nach unschuldiger Landlust. Auch als Therapeutikum der Seele. »Geh aus, mein Herz, und suche Freud«, dichtete Pfarrer Paul Gerhardt mit Blick auf die Natur, »Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande« ist der erste Satz von Beethovens Pastorale überschrieben. Diese Erwartung formt das Sehnsuchtsmuster. Für Beethoven war die Natur denn auch nicht nur hübsche Kulisse, sondern religiöses Gegenüber: »Ist es doch, als ob jeder Baum zu mir spräche auf dem Lande: heilig, heilig!«, notierte der Komponist 1815, einige Jahre nach Entstehen der Pastorale.

Selbst im säkularen Zeitalter hat diese Haltung wenig von ihrem Reiz verloren. Speziell in Deutschland, wo das Rousseau zugeschriebene »Zurück zur Natur« mit nationaltypischen Überhöhungen aufgegriffen wurde – von der Wandervogelbewegung und der Reformkultur des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts bis hin zur Politisierung der siebziger Jahre, die zur Gründung der Grünen führte. Bedenkt man die emotionale, fast metaphysische Aufladung des Naturbegriffs hierzulande, wird das Landpfarrhaus als Sehnsuchtsort noch plausibler. Bewohnt von einem Seelenhirten, erzeugt es ein Gefühl naturwüchsiger Verwurzelung und Geborgenheit. Wer spielte da nicht manchmal mit dem Gedanken, darin zu leben? Oder wenigstens eine Weile zu Gast zu sein?

So bleibt vor allem das ländliche Pfarrhaus ein Faszinosum für seine Zaungäste, zumindest an der Oberfläche. Blättert man in der erfolgreichen Zeitschrift Landlust, die vorwiegend städtische Leser erreicht, so wirkt manches Foto wie einem imaginären Katalog alter Pfarrhäuser entnommen. Anmutig verwittert präsentieren sich die Gebäude, in den großen Gärten wird jede kleinbürgerliche Vorgartenakkuratesse vermieden. Lässig verwildert, mit Patina versehen, spiegelt die Ästhetik die Sehnsucht des Publikums. Es träumt sich in jene umblühte Idylle, die man traditionell im Pfarrhaus vorfand.

Nicht der Bauer ist das Vorbild als Bewohner dieser Idyllen, sondern der Pfarrer, der die Schönheit des Landlebens schätzt, unbehelligt vom Lärm der Städte. Mit der Rosenschere in der einen Hand, mit dem Buche in der anderen, so bedient die Figur des Landpfarrers eine Vorstellung frommer Einfachheit im Rhythmus von Jahreszeiten und Kirchenjahr.

Der Hang zur neuen Biedermeierlichkeit, den man dem beginnenden einundzwanzigsten Jahrhundert bescheinigt, findet sein literarisches Pendant in Gedichten wie »Der alte Turmhahn« von Eduard Mörike. Er richtet seine Behaglichkeitsfantasie über das Pfarrhaus mit ähnlichen Zutaten an.

»Hier wohnt der Frieden auf der Schwell’!In den geweißten Wänden hellSogleich empfing mich sondre Luft,Bücher- und Gelahrtenduft,Gerani- und Resedaschmack,Auch ein Rüchlein Rauchtabak.«

Letztlich bleibt auch heute der Wunsch nach geografischer und geistiger Beheimatung bestehen. Das Überzeitliche ist gefragt, so wie die alles überdauernde Linde und der unendlich blühende Flieder Benns. »Gerade der naturhafte Aspekt des Symbols Haus deutet auf lange Frist und heilende Wiederkehr des Gleichen«, meint der Religionspädagoge Fulbert Steffensky.

Auch wenn die Projektion der Wahrnehmung einen Streich spielt – es ändert nichts daran, dass ein Mythos fortlebt, der in tiefe Schichten der deutschen Seele hinabreicht. Von »Pfarrhäusern aus Holz und Stein, von Rosen umblüht, von Reben umrankt, die uns wundersam anheimeln« schwärmte der Theologe Wilhelm Baur. Sein Buch Das deutsche evangelische Pfarrhaus erschien 1884. Mehr als hundert Jahre später ist das Bild noch immer präsent.

Wie außen, so innen. Im Pfarrhaus scheint sich eine Nische aufzutun, in der Anfechtungen wirkungslos bleiben und Zweifel der Fröhlichkeit des Christenmenschen weichen. In vielen Fällen wurden diese hohen Erwartungen eingelöst. Die Geschichte des Pfarrhauses hat charismatische Bewohner vorzuweisen, die im Namen Gottes den Dienst am Menschen versahen. Daneben stehen die Scheiternden, auch die Verweigerer. Ein Ideal zu leben – was könnte unbequemer sein?

Das Pfarrhaus, ein Skandal

Wenn das Pfarrhaus als Idylle und Hort christlicher Tugenden beschworen wird, gerät leicht in Vergessenheit, dass seine Entstehung von wüsten Auseinandersetzungen begleitet wurde. Es war ein Stein des Anstoßes, ins Rollen gebracht von Martin Luther. 1505 hatte er im Augustinerkloster zu Erfurt sein Gelübde abgelegt und war 1507 geweiht worden. Seine Heirat im Jahr 1525 löste einen Skandal aus. Obwohl er seine Kutte schon ein Jahr zuvor ausgezogen hatte – die Wandlung des ehemaligen Mönchs zum Ehegatten schockierte selbst manchen Mitstreiter.

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