Das Diabetologische Dilemma - Ralf Yamamoto - E-Book

Das Diabetologische Dilemma E-Book

Ralf Yamamoto

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Beschreibung

Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe! Der Autor, selbst seit über 45 Jahren Typ 1-Diabetiker, erzählt in diesem Band der "Geschichten mit dem Diabetes" von seinen Abenteuern mit der japanischen Art der Diabetesbehandlung, die er im Rahmen eines freiwilligen Krankenhausaufenthaltes und einer Schulungsmaßnahme für Diabetiker an der Tokyo Women Medical University erleben - durfte und musste. Das war kein Kulturschock – es war der Eintritt in ein anderes Universum. Erfahren Sie unter anderem, wie eine spezielle Diät für Typ 1-Diabetiker festgelegt, wie ein Basalratentest auf Japanisch durchgeführt und wie im Land des Lächelns auf Notfälle im Bereich des Diabetes reagiert wird. In trotz des Ernstes humorvoller und manchmal leicht ironischer Weise legt der Autor die vorhandenen Missstände in einem Teilbereich des japanischen Gesundheitssystems dar und macht dabei gravierende Unterschiede deutlich, insbesondere zu Deutschland.

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Ralf Yamamoto

Das Diabetologische Dilemma

Geschichten mit dem Diabetes

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhalt

Das Diabetologische Dilemma

Das Lachen geht weiter

Impressum neobooks

Inhalt

Das Diabetologische Dilemma

Unbedingt notwendige Vorbemerkungen

Dieser Bericht ist KEINE Darstellung der allgemeinen Lage in der Betreuung von Japans Diabetikern. Es enthält weder fachtheoretischen Beschreibungen noch Abhandlungen zu lange bekannten Themen und Fakten.

Von Statistiken hat das Werk zwar irgendwann einmal etwas gehört, aber es kommt ganz gut ohne solche langweiligen Dinge aus. Warum auch nicht? Sicher wird sich der eine oder andere Verweis nicht vermeiden lassen, aber ich werde versuchen, so weit wie nur irgend möglich darauf zu verzichten.

Dieses Büchlein ist nichts weiter als die Zusammenfassung eines einwöchigen Aufenthaltes auf einer diabetologischen Fachstation in einem der führenden Behandlungszentren für Diabetes in Tokio, ergänzt durch einige Details, die mir im Nachhinein noch über den Weg gelaufen sind.

Das Werk und die darin festgehaltenen Meinungen und Ansichten sind ABSOLUT SUBJEKTIV und dürfen AUF KEINEN FALL als Verallgemeinerung betrachtet oder verstanden werden, obwohl meine bislang fast zehnjährigen Erfahrungen mit der Diabetesbehandlung in Japan darauf hindeuten, dass das in diesem Buch dargestellte Schema wohl überall im Land der aufgehenden Sonne gleich ist oder zumindest sehr ähnlich sein wird.

Erlauben Sie mir bitte an dieser Stelle noch ein Hinweis auf die Darstellung in diesem Büchlein.

Der Text enthält längere Passagen, die kursiv, also in schräger Schrift, dargestellt sind. Diese Teile sind Wort für Wort aus meinen Facebook-Postings vom Februar 2015 kopiert. In diesen Passagen werden Sie demzufolge auch alle Fehler und falschen Formulierungen zu lesen haben, die mir damals in der Eile des Schreibens und der Hektik der Gefechte passiert sind. Ich bitte schon im Voraus um Ihr Verständnis und Ihre Nachsicht.

Ergänzungen, neue Textteile und Anmerkungen, auch solche, die ich aus Gründen eines besseren Verständnisses in die Texte aus den Posts eingefügt habe, sind in normaler, also aufrecht stehender Schrift dargestellt.

Alle gezeigten Abbildungen sind entweder von mir aufgenommen worden oder das Originaldokument, das mir natürlich vorliegt, wurde von mir eingescannt. Zum Schutz Unbeteiligter sind Gesichter auf Fotos, sofern überhaupt sichtbar, unkenntlich gemacht.

Weil ich in Japan lebe, liegt es in der Natur der Sache, dass alle schriftlichen Unterlagen in Japanisch gehalten sind. Wenn es für das richtige Verstehen unumgänglich ist, habe ich die notwendigen Übersetzungen mittels des Programmes Microsoft Paint® an den entsprechenden Stellen eingefügt.

Ansonsten sind die Abbildungen in keinster Weise weder von mir noch von einem anderen manipuliert worden.

Widmung

Dieses Büchlein möchte ich den vielen bekannten und unbekannten Diabetikern widmen, die mir nicht nur während meines Krankenhausaufenthaltes im Februar 2015 über Facebook jeden Tag mit ihren Kommentaren und »Gefällt mir«-Klicks auf meine Postings und Kommentare neuen Mut gemacht und mich dazu ermuntert haben, weiterhin über das Vorgehen und meine Erlebnisse zu berichten.

Es ist auch denen gewidmet, die auf die eine oder andere Art und Weise an meinem diabetischen Leben im Land der aufgehenden Sonne teilnehmen und mir schon ein paar Mal mit wirklich wichtigen Dingen in der Not geholfen haben.

Vorgeschichte

Der eine oder andere wird sich nun fragen, warum ich aus meinen Abenteuern mit der Behandlung des Diabetes in Japan unbedingt ein Buch machen will. Dafür gibt es viele Gründe. Die allen einzeln aufzuführen und zu erklären, würde nicht nur den Rahmen dieses Büchleins sprengen. Ich möchte hier nur zwei, drei der wichtigsten Gründe aufführen.

Zum einen sind es die teilweise haarsträubenden, wenn nicht sogar lebensgefährlichen Absurditäten, denen man während einer Diabetesbehandlung hier in Japan wieder und wieder begegnet. Die Einstellung eines Typ 1-Diabetes anhand von Kalorien anstelle von Kohlenhydraten ist dabei noch eine der harmlosesten Variationen zum Thema Chaos.

Zum anderen sind es zwei Ereignisse, die mich bewogen haben, mich hinzusetzen und alles aufzuschreiben und dabei auch aufzuarbeiten. Das eine widerfuhr mir VOR einem halben Jahr, das andere erlebe ich SEIT einem halben Jahr.i

Da stehst du morgens um halb acht vorm Fahrstuhl, freust dich auf den ersten Kaffee des Tages und nach einer verdammt langen und ereignislosen Nacht auf die erste Zigarette. Und da kommt plötzlich eine junge Frau im Rollstuhl angefahren, beide Beine bis an die Knie amputiert. Diesen Menschen einmal zu treffen kann man durchaus als Zufall bezeichnen. Den gleichen Menschen zur gleichen Zeit am gleichen Ort mehrere Tage hintereinander zu treffen ist auf keinen Fall noch dem Zufall zuzuordnen. An einem dieser Tage siehst du auch die Pens, die sie in der Hand hält und du weißt dadurch, dass diese Frau, genau wie du, Diabetiker ist. Du erlebst das japanische System seit fast zehn Jahren und weißt genau, dass man auch das, was der jungen Frau passiert ist, wie so vieles anderes hätte verhindern können. Da kommen Erinnerungen hoch, siehe auch die Geschichte »Ich will wieder laufen können« in meinem Buch »Wie wär's mal mit was Süßem?«. Gleichzeitig bist du froh darüber, dass du die Uzi und die Kalaschnikow diesmal zu Hause gelassen hast. Du könntest kotzen vor Wut. Du könntest jemanden mit Spaß und allem Schmackes kräftig in den Allerwertesten treten und prügeln, bis der Verstand einsetzt. Und dir wird bewusst, dass du dem Betreuungssystem genauso ausgeliefert bist wie diese junge Frau.

Sie werden weiter hinten in diesem Buch noch einmal auf diesen Punkt stoßen.

Und dann liest du nur wenige Minuten später im Internet solche Posts wie »Meine Krankenkasse bezahlt mir das Libre nicht. Soll ich jetzt die Krankenkasse wechseln? Welche ist denn bereit, das Libre zu bezahlen?« Das ständige, sich immer wiederholende Wohlstandsjammern, gegen das du nicht ankommst, egal, was du machst, egal, mit welchen Argumenten du zu überzeugen versuchst. Das laute Meckern wegen der zehn Euro Zuzahlung für x Ampullen Insulin. Kleine Anmerkung am Rande: Hier in Japan bezahlt man FÜR JEDE AMPULLE 30% DES PREISES aus der eigenen Tasche!

Noch wesentlich häufiger ist allerdings in den verschiedenen Gruppen zum Thema Diabetes folgende Meldung zu lesen:

»Meine Teststreifen für diesen Monat sind alle, mein Arzt will mir keine mehr verschreiben, was soll ich denn jetzt machen?«.

Leute, seid froh, dass ihr so viele bekommt, wie ihr von eurem Arzt bekommt! Ich musste hier mit zwei Teststreifen pro Tag anfangen und nach nur neun Jahren Kampf bin ich nun endlich bei maximal sieben Tests pro Tag angekommen und, wie mir von verschiedenen Stellen gesagt wurde, werden es auch nicht mehr werden. Mit den sieben Streifen pro Tag habe ich das obere Ende der Skala erreicht. Und das ist der einzige Punkt, in dem wir, meine Ärztin und ich, absolut einer Meinung sind:

»Häufigeres Messen macht den Zucker nicht besser, wenn man nicht die entsprechenden Schlüsse aus den Ergebnissen zieht und danach handelt.

Unter anderen auch aus diesen Gründen habe ich aus den Abenteuern mit dem Diabetes im Land der aufgehende Sonne und des Lächelns dieses Büchlein gemacht, um den deutschen Diabetikern einmal zu zeigen, wie gut es ihnen eigentlich wirklich geht, wenn man es mit anderen, auch mit modernen, Ländern vergleicht. Dass es aber trotzdem das eine oder andere, für den einen mehr und für den andere weniger große Problem auch im deutschen Betreuungssystem gibt, darf, kann, will und werde ich nicht abstreiten, verleugnen oder verharmlosen. Aber im Gegensatz zu dem, was hier in Japan Normalität für einen Diabetiker ist, sind diese Probleme nichts anderes als laut verkündete, total überbewertete Wohlstandswehwehchen.

Nun ja, man sagt im Allgemeinen, dass man sich im Leben mindestens zweimal begegnet. Noch vor zehn Jahren habe auch ich diesen Satz als das abgetan, als was ihn die meisten anderen auch betrachten: als Nonsens. Nie im Leben hätte ich zu diesem Zeitpunkt angenommen, alten Bekannten wieder zu begegnen. Bekannte, die ich seit über 25 Jahren als nicht mehr existent angesehen habe. Bekannte, die mir bereits in den Zeiten der DDR suspekt waren. Bekannte, die zu treffen ich in einem so hochmodernen Staat wie Japan niemals erwartet hätte.

Wie jetzt? Das verstehen Sie nicht. Ich will Sie doch nur einstimmen auf das, was auf den folgenden Seiten auf Sie zukommen wird. Am besten wird es sein, wenn Sie sich schon einmal Taschentücher für die Tränen und ein wenig Valium zum Beruhigen bereitstellen. Den Herren der Schöpfung würde ich empfehlen, das Bier in die Richtungen auszuspucken, in denen weder Menschen noch technische Geräte Schaden nehmen könnten.

Ich möchte Sie noch einmal auf eine Zeitreise mitnehmen, möchte Ihnen zeigen, wie rückständig selbst eine moderne Industrienation sein kann, wenn man den Blick nur auf einen einzigen Punkt fokussiert und diesen Punkt dann einmal von allen Seiten zu betrachten versucht.

Der erste Tag Sonntag, 08. Februar 2015

Das Bett, in dem ich die nächsten Nächte schlafen sollte.

Lange genug war der Termin ja angekündigt, der Tag seit Monaten im Kalender dick umrahmt, die Vorbereitungen dafür abgeschlossen, alles Weltliche geregelt und zu angeblich über den Wolken lebenden Wesen habe ich von Kindesbeinen an ein äußerst gestörtes Verhältnis. Dem Ereignis stand, ganz nüchtern gesehen, eigentlich nichts mehr im Wege. Also, auf in den Kampf, das Insulin ist vorgewärmt, die Pumpe habe ich noch einmal aufgeladen, die Kanülen geschärft und die Katheter ausgerollt. Los, los, die Schwiegermutter naht und die Pflicht ruft. Keine Müdigkeit vorschützen! Nur eine knappe Stunde mit der Bahn und dann noch einmal fünf Etagen in die Höhe, ab ins Zimmer und der Dinge harren, die auf mich zukommen sollten.

Mir schwante zu diesem Zeitpunkt schon grausiges, aber nicht einen Moment, nicht eine Sekunde hatte ich mit dem gerechnet, was dort, hinter weißen und hellblauen Kitteln perfekt getarnt, auf mich lauerte.

So, ich bin nun seit 2 Stunden und 45 Minuten in der Klinik, der Tokyo Women Medical University. Ich habe hier ein Bett in der 5. Etage, das ich mir mit einem älteren Herrn teile. Da er auch englisch und sogar ein wenig deutsch spricht, dürfte es kommunikativ kaum größere Probleme geben.

Die gab es allerdings schon mit der Schwester. Nein, sie ist ein nettes Wesen, jung, sieht nicht mal übel aus, aber ob sie Ahnung vom Diabetes hat, das wird sich erst im Laufe der Zeit herausstellen.

Zumindest war sie schon mal mit der einfachen Frage nach dem Kohlenhydratanteil im Mittagessen überfordert. Na ja, warum auch nicht, sie ist ja nur die Schwester.

Was mir aber hier gleich am ersten Tag geboten wurde, Leute, das kommt mir alles so bekannt vor, allerdings noch aus alten DDR-Zeiten. Nun ja.

Am meisten hat mich von den Socken gehauen, dass man hier den Typ 1 wirklich und allen Ernstes nach Kalorien behandelt. Ich habe es bislang nicht glauben wollen, dachte, okay, bei Typ 2 ja, aber bei Einsern? Bislang hielt ich es tatsächlich nur für ein Gerücht, das sich aber wie jedes gute Gerücht Ewigkeiten hält. Und dann bekomme ich einen Fragebogen hingelegt, den ich ausfüllen sollte. Okay, das hat meine Frau für mich übernommen. Ich muss zugeben, ihr Japanisch ist eindeutig besser als meines. Aber da wird bei den einzelnen Mahlzeiten nicht etwa nach den BEs oder KEs oder wie auch immer man das nennt gefragt, sondern echt und nachweislich nur nach der GESAMTKALORIENMENGE pro Tag. Ich dachte echt, ich erwische meinen Dackel beim Knutschen mit Kingkong. Ich habe das mal als Foto festgehalten. Leider kann ich die Bilder auf meinem iPad nicht bearbeiten, werde das aber nachreichen, sobald ich wieder zu Hause bin. Aber die Kalorien hat mal mit der allgemein üblichen Abkürzung kcal dargestellt.

Abb. 1 Das ist das versprochene Bild des Aufnahmebogens. Von Kohlenhydraten ist da nichts zu lesen. Typ 2 eben! Dumm nur, wenn auf dem gleichen Bogen nach dem Typ des Diabetes gefragt wird. Siehe das dünn umrahmte Feld. Interessant ist der letzte Punkt der Liste. Übersetzt heißt das: »Ich weiß nicht!«

Für Diabetiker, die sich nicht entscheiden können. Grrr

Und es ist auch nicht so, dass jeder seine individuell abgestimmte Portion bekommt, so wie man das aus deutschen Kliniken gewohnt ist. Nein, du wirst in eine Gruppe eingestuft: Du darfst, und so schließt sich ganz gekonnt den Kreis zu den Kalorien, am Tag nicht mehr als 1200 kcal essen. Und weil du da rechts in der dritten Reihe größer bist, darfst du 1840 kcal verputzen, und für Sie da hinten haben wir mal mit 2200 kcal pro Tag gerechnet. Na, nun aber! Die Portionen variieren also schon ein wenig, aber eben nur in der Menge der Kalorien. Wie die hier für einen Patienten berechnet wird, habe ich im Laufe der Woche in einer Schulung erfahren und werde es später an entsprechender Stelle noch einmal ganz genau erläutern. Wenn es nicht so verdammt traurig wäre, man könnte über das Prozedere den ganzen Tag nur lachen bis der Arzt kommt. Es ist einfach nur lustig und so was von daneben, zumindest für Typ 1-Diabetiker.

Und ja, man ist inzwischen auch dazu übergegangen, feste Insulinmengen pro Mahlzeit zu verabreichen. Nun ja, nicht etwa nach Menge der KH berechnet, sondern eben pro Mahlzeit so und so viel Einheiten. Da brate mir doch einer einen Storch und reiche mir die Schenkel!

Das Ganze hat aber auch was für sich, wenn man mal in Ruhe darüber nachdenkt. Da kann ich mal wieder in der Erfahrungskiste kramen und voller Genuss und Schadenfreude von den dort eingelagerten Dingen profitieren. Aber dass ich gleich wieder bis ganz runter muss? Ich freue mich tierisch auf die Gesichter der Krankenschwestern, wenn mich mal der Hafer sticht, ich dann einfach ankomme und locker aus der Hüfte verkünde:

»Ich habe heute zu Mittag Diät gemacht und nur 300 Gramm Kohlenhydrate gegessen. Der Zucker lag vorher bei immerhin 30 mg/dl (Ich sollte echt in Betracht ziehen, die lustige Maßeinheit mmol/l ins Spiel zu brin­gen, das wird bestimmt ganz toll spaßig.) stand, habe ich auch nur zwölf Einheiten gespritzt.« Na, das wird ein gigantischer Gag, wenigstens für mich. Wie die hier damit klar kommen, sorry, das ist dann nicht mehr das Problem von meiner Mutter ihrem großen Sohn.

Für morgen steht ein abgewandelter OGT (oraler Glukosetoleranztest) auf dem Programm.

Wie das geht? Na, so richtig typ 2-mäßig eben. Um es gleich zu sagen, mit einem normalen Glukosetoleranztest, wie er auch in Deutschland durchgeführt wird, hat diese japanische Version in etwa so viel zu tun wie ein Eisberg mit der Sahara. Das Ziel, und das muss ich fairerweise dazu sagen, wird einem in einem ellenlangen Gespräch beschrieben. Die wollen hier auf diesem Wege doch tatsächlich herausfinden, wie sehr das Frühstück den Blutzucker ansteigen lässt. Bei jemandem, der kein Insulin spritzt, kann ich das ja sogar noch irgendwie einigermaßen logisch nachvollziehen, aber bei einem Spritzer? Ich meine, und wir alle wissen das, da zählt jede Einheit, da kommt es fast auf jedes Gramm Kohlenhydrate an, da spielen dann auch so unwesentliche Faktoren wie Fett, Eiweiß und vielleicht auch noch für später geplante Aktivitäten eine maßgebliche Rolle.

Wie läuft der Test nun ab?

Also, ich bekomme mein Frühstück, muss dazu spritzen und dann will man eine Stunde später und zwei Stunden später sehen, wie der Zucker ist. Habe ich ja nichts dagegen einzuwenden. Nur, warum nur mit dem Frühstück und nicht auch mit Mittag und Abend? Und, wie real ist der Test, wenn ich bedenke, dass ich im normalen Leben nach dem Frühstück körperlich arbeite, mir hier aber ein drittes Ei wachsen lassen darf?

Ich meine, dass das zwei vollkommen verschiedene Welten sind, das dürfte eigentlich einem jeden einleuchten, dessen IQ auch nur ansatzweise über der Körpertemperatur liegt.

Die Möglichkeit und auch die zwingende Notwendigkeit eines Basalratentests, wie er zum Beispiel in Deutschland üblich ist und von vielen auch zu Hause und teilweise regelmäßig praktiziert wird, kennt man hier nur dem Namen nach, wenn überhaupt. Es sei mir bitte schon an hiesiger Stelle verziehen, dass ich mit meiner jugendlichen Arroganz und meiner unermesslichen Überheblichkeit doch tatsächlich und allen Ernstes etwas anderes erwartet hatte. Vielleicht mal eine Büchse Teststreifen rüberreichen und sagen: »Okay, dann machen Sie mal! Wir sprechen am Ende mal in Ruhe darüber«, kommt hier erstens niemandem in den Sinn und dann zweitens schon gar nicht in die Tüte. Als Träger einer doch schon recht betagten Insulinpumpe und schon vor Jahrzehnten manifestierter Typ 1-Diabetiker braucht man so was wie eine individuell angepasste Basalrate doch nicht, jedenfalls so lange nicht, wie nur die Kalorien stimmen!

Wenn das Ganze nicht so unsagbar traurig und auch nicht so verdammt gefährlich wäre, müsste man eigentlich in schallendes Gelächter ausbrechen und schreiend davonlaufen.

Die mancherorts offensichtlich nicht vorhandene Fähigkeit, eine Art des Diabetes von der anderen zu unterscheiden und zu trennen, die hier weit verbreitete Unfähigkeit, auf begründete und auch mit Fakten unterlegte Einwände eines Patienten adäquat zu reagieren, wie gesagt, ich bin geschockt.

Abb. 2 So, hier mal das Foto von der Mitteilung über den oralen Glukosetoleranztest. Anbei die Übersetzung:

6:00 Uhr Blutzuckermessung (vor dem Essen), 8:00 Uhr Frühstück, Insulin und Tabletten wie gewohnt

9:00 Uhr Blutzuckermessung (60 min nach dem Essen)

10:00 Uhr Blutzuckermessung (120 min nach dem Essen)

Abb.3 Und hier der Teil des Diabetikertagebuches, der sich mit dem Essen und Trinken befasst. In die beiden Spalten auf der rechten Seite muss per Strichliste eingetragen werden, wie oft man auf der Toilette war, getrennt nach der Art des »Geschäftes«.

Wieso man so etwas wie ein deutsches Diabetikertagebuch nicht in Japan benutzt, auf diese Frage habe ich bis heute keine auch nur ansatzweise befriedigende Antwort finden können.

Hilfe, wo bin ich hier gelandet? Das ist ja finsterstes Mittelalter. Jetzt muss ich sogar aufschreiben, wie viel ich wann trinke und wie oft auf's Klo muss. Leute, was soll denn der Scheiß jetzt wieder? Gibt es keine andere Methode festzustellen, ob die Nieren noch funktionieren? Nun ja.

Als vor knapp 1,5 Stunden die Schwester da war um aufzunehmen, was ich wann esse und was ich denn den ganzen Tag so mache, da musste sie heftig schlucken. Besonders, als sie las, dass ich mir abends eine Stunde nach dem Abendessen noch einmal runde 10 BE reindrehe. Das muss ich jetzt auch auf-schreiben. Nun ja, wenn es denn dem Wohlbefinden dient.

Bis jetzt war der Tag ein voller Reinfall. Die einzige neue Erkenntnis ist die, dass es am Ende noch viel schlimmer sein wird wie ich bislang geglaubt habe. Oder, wie sagt der Japaner: Schlimmer geht immer. Ob mir das Spaß machen wird? Keine Ahnung.

Aber irgendwie erinnert das hier wirklich an die DDR-Zeiten. Jedes Mal, wenn Zeit für den nächsten Blutzucker ist, kommt ein Rundruf. Ins Deutsche übersetzt bedeutet der: "BLUTZUCKER!" Wer jemals in Karlsburg gewesen ist, wird diesen Ruf kennen. Und ich dachte, mit der Mauer wäre auch das untergegangen. Das ging nicht unter, es hat nur den Ort gewechselt.

Die Schwester hat auch ganz entnervt auf meine Ausdrucke der Blutzuckerdaten geschaut. Wie jetzt, hat die angenommen, dass ich alles ins Japanisch übersetze oder was oder wie? Selber denken macht schlau, und wenn sie das nicht versteht, sie hat unter der Nase eine Körperöffnung, mit der sie fragen kann, im allgemeinen Sprachgebrauch Mund genannt. Ich muss mit den Daten zurechtkommen. Wenn ich hier wieder raus bin, dann hat sich das Problem für die hier erledigt, für mich geht es weiter.

Beim nächsten Mal Katheterwechsel will sie sich das Ansehen, also wie ich das mache. Denken die vielleicht nach 25 Jahren Pumpe, ich würde das nicht bringen oder was? Und wie ich beim Ändern der Basalrate vorgehe, möchte sie auch sehen. Okay, wie oft ändert man die Basalrate? Okay, ich an jedem Arbeitstag, wenn ich sie temporär runternehme, aber ansonsten?

Beim Blutzuckermessen benutzen die hier Alkoholtupfer. Also mit klatschnassem Tupfer einmal übers Ohrläppchen, SOFORT stechen und Wert machen. Eiderdauß! Also mit dem Blut den Alkohol ins Messgerät, yuppie, lasst uns feiern! Und dabei weiß man doch, dass der Alkohol beim Desinfizieren den Wert genau verfälschen kann wie Seife, die nach dem Waschen noch auf der Haut ist oder einige Lotionen. Wenn ich mit meinem Gerät nachmesse, liege ich bis jetzt immer um 10 mg/dl UNTER dem offiziellen Wert. Ob das am Alkohol liegt, weiß ich bislang noch nicht. Den Zusammenhang herauszufinden wird meine Hauptaufgabe sein.

Und nun - Trommelwirbel - der Gag des Tages:

Ich hatte heute Nachmittag um 17:00 Uhr einen offiziell gemessenen BZ von 56 mg/dl. Für mich nichts außergewöhnliches, ich merke Hypos ja erst, wenn der BZ auf 20 runter ist. Und dann drückt mir die Schwester ein (in Ziffern: 1) Bonbon in die Hand, damit der Zucker wieder hoch kommt. WOW, man, da ist die Hyperglykämie quasi vorprogrammiert! Ich habe dann mit Gummibärchen aus privatem Bestand nachgeholfen.

Aber, das alles kann noch überboten werden:

Ich habe gerade mein Abendessen bekommen. Eine KLEINE Portion Reis, also rund eine halbe Schale. Laut Speiseplan hat die normale Portion 96 gr KH, das sind dann also 400 gr Reis. Das glaube ich ja schon mal gar nicht, aber die Miniportion geht mal gleich gar nicht. Ich reklamiere sofort, eine Ärztin kam und sagte mir, dass ich statt 2000 kcal nur 1700 kcal essen dürfe. Klar, ich bin bei 169 cm Größe und 64 kg Gewicht im bekleideten Zustand, also mit Klamotten, auch eindeutig zu dick.

Abb. 4 Mein erstes Abendessen. Man beachte die unwahrscheinliche Menge an Reis, die mir serviert wurde. Als Vergleich eine Box mit 25 Freestyle-Teststreifen.

Tja, wenn man nur 1200 kcal pro Tag essen darf. Ich bin eben doch zu dick!

Ziehen wir doch an dieser Stelle mal ganz vorsichtig ein vernichtendes Resümee des ersten Tages in dieser Klinik. Und gehen wir dabei noch einmal einige Dinge in Ruhe durch und voller Ironie an.

Wieso muss ich nun als insulinpflichtiger Diabetiker OHNE bislang bekannte Nierenschäden aufschreiben, wann ich wie viel trinke? Wenn neben dem oder durch den Diabetes weitere Probleme mit Nieren oder Wasserhaushalt bekannt wären, kein Thema, aber so? Völlig sinnfrei.