Das eigene Maß - Margrit Hasselmann - E-Book

Das eigene Maß E-Book

Margrit Hasselmann

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Beschreibung

Die Themen Essen und Figur sind Dauerbrenner: Wir diskutieren im Freundes- oder Kollegenkreis die neueste Diät, Ernährungsumstellungen oder den ultimativen Fitness-Tipp – und sind doch nie zufrieden mit den Ergebnissen. Wir zählen Punkte, essen in Intervallen, lassen dieses oder jenes weg – womöglich bis zum nächsten Essanfall. Warum haben viele Menschen Probleme mit einem intuitiven, gesunden und genussvollen Essverhalten? Woran liegt es, dass schon Kinder immer früher ein unbedarftes Gefühl zu ihrem eigenen Körper verlieren? Dieses Buch wirft einen systemischen Blick auf unser Verhältnis zum Essen und unserem Körper. Denn das Scheitern an unseren Ansprüchen ist viel weniger ein persönliches Versagen, als uns die Diätindustrie weismachen will. Die Autorinnen beschreiben die vielfältigen Einflüsse auf Essgewohnheiten und Körperzufriedenheit und wie sie sich in verschiedenen Lebensphasen – in der Jugend, nach einer Schwangerschaft, in der Lebensmitte – auswirken können. Welche Funktion hat Essen in unserem Leben? Wie können wir die damit verbundenen Konflikte besser verstehen und anders bewältigen? Diesen Fragen gehen die Autorinnen nach und zeigen, wie ein gelassenerer Umgang mit den Themen Essen und Körper gelingen kann.

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Margrit Hasselmann • Irina Rasimus

Das eigene Maß

Zwischen Essen, Hungern und Idealen

Impressum

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk inklusive aller Inhalte wurde unter größter Sorgfalt erarbeitet. Der Verlag und die Autorinnen übernehmen jedoch keine Gewähr und Haftung für die Aktualität, Korrektheit und Vollständigkeit der bereitgestellten Informationen. Für die Inhalte von den in diesem Buch abgedruckten Internetseiten sind ausschließlich die Betreiber der jeweiligen Internetseiten verantwortlich. Diese geben den Stand der Veröffentlichung zum Zeitpunkt des Abrufes wieder. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinen Einfluss. Eine Haftung des Verlages ist daher ausgeschlossen.

© 2022 edigo Verlag GmbH, Köln

1. Auflage 2022

Umschlaggestaltung: Irina Rasimus, Köln

Titelfotos: Africa Studio, beats1, CatwalkPhotos, estherpoon/alle shutterstock.com

Portraitfotos: Thomas Schütze, Bremen; Teresa Rothwangl, Köln

Illustrationen: tetiana_u (S. 16, 38, 74, 102, 126, 158, 194), Singleline (S. 60)/beide shutterstock.com

Satz: Irina Rasimus, Köln

Druck: oeding print GmbH, Braunschweig

ISBN 978-3-949104-02-2

ISBN eBook: 978-3-949104-09-1

www.edigo-verlag.de

Die Zertifizierung mit dem V-Label garantiert ein 100 % veganes Druckprodukt. Alle Bestandteile wie Papiere, Farben, Lacke und Klebstoffe sind frei von tierischen Inhaltsstoffen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für alle, die uns bei unserer Arbeit undbei diesem Buch inspiriert und begleitet haben

EINLEITUNG

1. WARUM WIR ESSEN

Körperliche Faktoren • Hunger und Sättigung • Geschmack • Soziokulturelle Faktoren • Familie und Erziehung • Essen in Gemeinschaft • Feste und Feiern • Emotionale Faktoren • Emotionales Essen • Ernährung im Wandel der Zeit • Industriell verarbeitete Nahrung • Die süße Versuchung • Lebensmittelwerbung

2. LEBEN IM ÜBERFLUSS

Der Ernährungsmarkt • Von Fressmeilen und Butterbergen • Snack to go – vom Dauerfuttern • Kochen und Kochen lassen • Ernährungswissen und Kochkompetenz • Ernährung als Lebensstil und „mit Haltung“ • Vegetarismus und Veganismus • Fasten • Lebensmittelunverträglichkeiten • Essen als „Ersatzreligion“ • Essen als Identitätsfaktor • Konsum • Information • Mediennutzung

3. LEBEN UNTER DRUCK

Die Leistungsgesellschaft • Stress • Stress und Schlaf • Stress und Essverhalten • Zwischen Stressbewältigung und Leistungssteigerung • Wer profitiert? • Gesundheit to buy?

4. LEBEN IN BILDERN

Medienmacht • Bilderflut • Schönheitsideale • Schlankheit – ein Glücksversprechen • Zwei Seiten einer Medaille • Übergewicht – die salonfähige Diskriminierung • Schönheitsoperationen • Bildbearbeitung • Castingshows – jede/r kann ein Star sein • Vorbilder im Netz • Selbstdarstellung im Netz • Essstörungen im Internet • Body Positivity – vom Ideal zur Körpervielfalt

5. WENN ESSEN ZUM PROBLEM WIRD

Körperunzufriedenheit • Beziehungsstörungen • Regeln und Verbote • Das „getrackte“ Leben • Körpernormen • Selbstabwertung und Körperscham • Diäten und Jojo-Effekt • Das Hunger-Experiment • Sportsucht und Bewegungszwang • Die Diätmentalität • Orthorexie – vom zwanghaft richtigen Essen • Von Schweinehunden und Cheat Days • Der Kipp-Punkt • Sozialer Rückzug • Wo fängt die Störung an? • Essstörungen haben viele Ursachen

6. GESCHLECHTERBILDER UND LEBENSPHASEN

Geschlechterbilder • Essstörungen und Frauenrolle • Männer und Essstörungen • Lebensphasen • Kinder • Jugendliche • Junge Erwachsene • Schwangerschaft und Geburt • „After-Baby-Body“ • Mütter • Eltern und der Zweitgenerationen-Effekt • Die Lebensmitte • Wechseljahre • Männer in der „Midlife Crisis“ • Schlank altern um jeden Preis?

7. ESSSTÖRUNGEN

Essstörungen haben viele Gesichter • Geschichte der Essstörungen • Verbreitung von Essstörungen • Anorexie – die Verweigerung • Bulimie – das Überdruckventil • Binge Eating – die Entgrenzung • Mischformen • Adipositas • Wege aus der Essstörung

8. DAS EIGENE MASS

Wie entsteht Gesundheit? • Verstehbarkeit • Zusammenhänge verstehen • Sich selbst verstehen • Sich selbst akzeptieren • Ziele setzen • Passende Ziele finden • Das eigene Gewicht • Kommunikation mit sich selbst • Neue Wege gehen • Wie können wir uns ändern? • Raus aus der Komfortzone • Selbstwirksamkeit • Umgang mit Essen • Von der Diät zur Essenserlaubnis • Das Esstagebuch – warum werde ich nicht satt? • Körpersignale wahrnehmen • Intuitives Essen • Esspausen • Einfach und frisch • Essen mit Genuss • Umgang mit Emotionen und Stress • Emotionalen Hunger auflösen • Stress und Selbstberuhigung • Körperwahrnehmung und Bewegung • Umgang mit sich selbst • Vom Bild zum Selbst • Körper- und Selbstwertgefühl • Sinnhaftigkeit

SCHLUSSWORT

ADRESSEN

BUCHTIPPS

QUELLENVERZEICHNIS

EINLEITUNG

Auf einer Betriebsfeier stehen zwei schlanke Mittfünfzigerinnen vor üppig angerichteten Platten. „Ich esse ja eigentlich keine Kohlehydrate mehr nach 18 Uhr“, sagt die eine entschuldigend zur anderen.

Bei einer Hochzeit wird das abendliche Buffet eröffnet. Während die anderen Gäste zu den Tellern greifen, bleibt ein junges Paar sitzen: „Wir machen seit ein paar Monaten Intervallfasten.“

Eine Frau feiert ihren 40. Geburtstag und seufzt mit verschämtem Blick auf ihren Kuchenteller: „Heute ist mein Cheat Day!“

Drei von vielen, alltäglichen Szenen, die wir so oder so ähnlich jederzeit erleben können. Menschen, die sich überlegen, was sie essen „dürfen“, die sich an wechselnde Ernährungsempfehlungen halten, über ihre neueste Diät berichten. Schon Teenager konkurrieren um den höchsten Gewichtsverlust, in der Kantine geht es darum, wer warum auf welche Nahrungsmittel verzichtet, und Partygespräche kreisen um die beste Ernährungsform.

Doch was heißt es eigentlich, wenn jemand einen „Cheat Day“ ausruft – also schummeln muss – um sich seine eigene Geburtstagstorte zu erlauben? Welche Bedeutung hat Essen, wenn eine Essenseinladung die Angst zu „sündigen“ hervorruft? Wenn mit schlechtem Gewissen oder anschließender Reue gegessen wird?

Dieses Ringen um Essen oder Nichtessen und die richtige Ernährung wird nicht nur in der täglichen Anschauung deutlich. Es drückt sich auch in Zahlen aus: Laut der Studie „So is(s)t Deutschland“ würden sich rund 85 Prozent der Befragten gern anders ernähren, als sie es derzeit tun.1 Jede vierte Zwölfjährige in Deutschland hat bereits Diäten gemacht um abzunehmen, jede Dritte ab 13 Jahren kontrolliert regelmäßig ihr Gewicht.2 Einerseits erleben wir in unserer Gesellschaft einen regelrechten Diätwahn. Andererseits gilt jeder vierte Erwachsene in Deutschland als adipös (fettleibig), ernährungsbedingte Krankheiten wie Diabetes nehmen zu.3, 4 Und schließlich gehören Essstörungen zu den häufigsten chronischen psychischen Störungen im Erwachsenenalter.5 Unser Essverhalten kann also zu Problemen sowohl für die körperliche als auch die seelische Gesundheit führen. Doch wie hängt das alles zusammen?

Zwischen Hungern, Essen und Idealen

Beim Thema Essen befinden wir uns in unserer Gesellschaft (wie in allen westlichen Industrienationen) in einem enormen Spannungsfeld: Auf der einen Seite werden wir mit einem extremen Schlankheits- und Schönheitsideal konfrontiert, das über eine Bilderflut in Medien und Werbung allgegenwärtig ist und von dem sich immerhin ein Drittel der Erwachsenen unter Druck gesetzt fühlt (bei den 18- bis 24-Jährigen sogar jeder Zweite).6 Auf der anderen Seite erleben wir ein Nahrungsüberangebot und ständige Stimulation. Dazu versprechen Industrie, Werbung und Gesundheitsapostel, dass wir auf immer neuen Wegen – bei ausreichend Disziplin! – in kürzester Zeit unsere Traumfigur erreichen könnten.

Aus diesem Spannungsfeld erwachsen oft hohe Ansprüche an sich selbst – was dazu führt, dass viele Menschen mit ihrem Essverhalten und ihrem Körper unzufrieden sind: Die Jugendliche, die sich nur von Light-Produkten ernährt. Der Student, der vor jeder Klausur nächtliche Heißhungeranfälle erlebt. Die frischgebackene Mutter, die hungert, um schnell ihre frühere Figur wiederzubekommen. Der junge Mann, der seinen Körper über stundenlanges Muskeltraining und Nahrungsergänzungsmittel formen will. Die Frau in den Wechseljahren, die ihre körperlichen Veränderungen mit strenger Diät aufzuhalten versucht. Mit ihrer Fixierung auf Selbstoptimierung und Fitness – und mit vielstimmigen Debatten um Übergewicht und die einzig „richtige“ Ernährung – fördert und honoriert unsere westliche Kultur solche Verhaltensweisen.

Die permanente Beschäftigung mit Essen und Figur ist also einerseits gesellschaftlich akzeptiert – gleichzeitig belastet sie das Leben vieler Menschen. So gaben bei einer Befragung unter US-amerikanischen Frauen drei Viertel an, dass die Sorge um Figur und Gewicht ihr Lebensglück beeinträchtigt.7 Und diese Sorgen fangen früh an, wie die großangelegte HBSC-Kinder- und Jugendgesundheitsstudie zeigte: Bei den in Deutschland befragten 11- bis 15-Jährigen fanden sich rund 40 Prozent der Mädchen und 30 Prozent der Jungen zu dick. 90 Prozent der Jugendlichen gaben an, im Jahr zuvor auf empfohlene oder sogar gesundheitlich riskante Strategien (wie Mahlzeiten auslassen, sich übergeben) zurückgegriffen zu haben, um das eigene Gewicht zu kontrollieren.8 Dabei ist die Körperwahrnehmung allerdings oft verzerrt: In einer DAK-Befragung unter Kindern und Jugendlichen aus Deutschland waren von den Jungen, die sich als „viel zu dick“ bewerteten, nur knapp die Hälfte tatsächlich übergewichtig – bei den Mädchen sogar nur ein Viertel.9 Welche Folgen aber hat es, wenn eine verzerrte Wahrnehmung über unser Lebensglück – und unsere Gesundheit – entscheidet?

Wenn Essen zum Problem wird

Der Dauerabgleich zwischen Ideal und Realität führt dazu, dass immer mehr Menschen ihren Körper ablehnen – und das schon bei ganz durchschnittlichen, gesunden Körperformen. Wir können bereits Sechsjährige erleben, die sich nicht in Badekleidung zeigen wollen, weil sie sich nicht als dünn genug empfinden – oder 60-Jährige, die sich zeitlebens unwohl in ihrem Körper fühlen. Menschen, die ständig Kalorien zählen, deren Gedanken den ganzen Tag um Essen oder Verzicht kreisen, die immer wieder Heißhungerattacken erleben. Die vielleicht schlank sind, aber dennoch in der permanenten Angst leben zuzunehmen. Oder die übergewichtig sind und sich danach sehnen abzunehmen, aber immer wieder daran scheitern.

Dadurch, dass es so „normal“ erscheint, ständig mit seinem Essverhalten, mit Figur und Gewicht zu hadern, nehmen wir es allerdings nicht als eigenständiges Problem wahr. Stattdessen endet es immer wieder mit den üblichen Scheinlösungen: ein sehr kontrolliertes Essverhalten, Ernährungsexperimente, die nächste Diät oder aufwändige Trainingspläne. Ein Scheitern an den unrealistischen Zielen ist dabei meist vorprogrammiert – dennoch ist der Frust groß, wenn sich nicht die gewünschten Ergebnisse zeigen.

Dieses Problem – auch und gerade unterhalb der Schwelle einer diagnostizierbaren Essstörung – ist so allgegenwärtig, dass wir es zum Thema dieses Buches gemacht haben. Denn das Eingeständnis, ein Problem mit dem Essen zu haben, ist immer noch ein großes Tabu.

Wo fängt eine Essstörung an?

Laut Robert-Koch-Institut zeigt bereits ein Fünftel der 11- bis 17-Jährigen einzelne Symptome einer Essstörung.10 Ein problematisches Essverhalten bedeutet zwar noch nicht, zwingend an einer Essstörung zu erkranken. Es stellt aber einen Risikofaktor dar, der im Zusammenspiel mit anderen Faktoren dazu führen kann.

Wenn wir an Essstörungen denken, haben wir vielleicht einschlägige Bilder im Kopf von Teenagern oder Models, die sich zu Tode hungern. Essstörungen haben aber viele Gesichter: Man versteht darunter neben der Anorexie (Magersucht) auch Bulimie (Ess-Brech-Sucht) und Binge-Eating-Störung (starke Essanfälle mit Kontrollverlust). Diese Krankheitsbilder wirken zwar zunächst sehr unterschiedlich, dennoch gibt es Übergänge und Mischformen. Fachleute sehen das als Zeichen, dass die verschiedenen Essstörungen in ihrer Entstehung und Bedeutung eng miteinander verbunden sind und ihnen dieselben inneren Zustände und Konflikte zugrunde liegen können.11 Dabei gilt: Untergewicht ist nicht gleichbedeutend mit einer Essstörung. Normalgewicht schließt eine Essstörung nicht aus. Übergewicht und Adipositas (Fettleibigkeit) sind keine Essstörungen – können aber insbesondere aus einer Binge-Eating-Störung entstehen (mehr Informationen dazu finden Sie in Kapitel 7).

Wie psychische Erkrankungen insgesamt, nehmen auch Essstörungen zu: So gab die AOK Nordost beispielsweise 2018 bekannt, dass die Zahl der Erkrankungen unter den 6- bis 54-jährigen Versicherten von 2010 bis 2016 um 74 Prozent angestiegen war.12

Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung seit dem Frühjahr 2020 nochmal verstärkt. Im Frankfurter Zentrum für Ess-Störungen standen laut dessen Leiterin Sigrid Borse die Telefone nicht mehr still: Viele Mädchen und Frauen meldeten sich, die spürten, dass sich ihre Beziehung zu Essen und Körper in den Lockdown-Phasen verändert hatte.13

Durch die psychische Belastung sowie das Fehlen von Strukturen und sozialen Kontakten nahmen Essanfälle, depressive Anzeichen und allgemeine Krankheitssymptome von Essstörungen zu. Bestehende Essstörungen verstärkten sich häufig, bereits vorbelastete Personen erlitten vermehrt Rückfälle.14

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert, Essstörungen mit hoher Priorität zu bekämpfen, weil sie ein großes gesundheitliches und psychosoziales Risiko bergen: Bei Jugendlichen ist die Anorexie die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeit (durch Mangelernährung und Suizid).15 Daher ist es wichtig, Essstörungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.

Leben wir in einer essgestörten Gesellschaft?

Ein problematisches Essverhalten fängt mitunter deutlich früher an. Da uns manche zwanghaften Essgewohnheiten und Ernährungseinschränkungen jedoch so alltäglich oder sogar gesundheitsbewusst erscheinen und sie als Problematik unerkannt bleiben, möchten wir den Fokus besonders darauf richten.

Denn auch ein latent gestörtes Essverhalten kann die Lebensfreude enorm beeinträchtigen und hohen Leidensdruck erzeugen. So klagt in einer Studie ein Drittel über abendliche Essanfälle.16 In einer Befragung von 25 bis 45 Jahre alten Frauen berichtete ebenfalls ein Drittel, dass sie schon über die Hälfte ihrer bisherigen Lebenszeit Diät hielten.17 Die gesundheitlichen Folgen und die medizinischen Kosten, die aus einer Fehl- oder Überernährung entstehen können, sind nicht zu unterschätzen. Ebenso aber die psychischen Auswirkungen, wenn ein Großteil der Lebensenergie darauf verwendet wird, den eigenen Körper „in den Griff“ zu bekommen.

Aufgrund der Ausmaße und der Entstehungsfaktoren eines gestörten Essverhaltens müssen wir bei diesem Thema auch berücksichtigen, wie unsere Lebensform und der Zeitgeist dazu beitragen. Wenn man weiß, dass eine hohe Körperunzufriedenheit und eine „Diätmentalität“ zu den größten Risikofaktoren für Essstörungen zählen – dann bietet unsere Kultur einen idealen Nährboden dafür. Aus diesem Grund spricht die Kinder- und Jugendpsychiaterin Dagmar Pauli in ihrem Buch „Size Zero“ auch von einer „essgestörten Gesellschaft“.18

Unser Buch beleuchtet die Themen Hungern und Essen, Schlankheitsideal und Gewicht sowohl aus gesellschaftlicher als auch individueller Perspektive. Die Frage ist: Wie können gerade junge Menschen, aber auch Frauen und Männer jeden Alters, mit den gesellschaftlichen Anforderungen und Idealen zurechtkommen und dabei gesund bleiben? Was sind die Gelingensbedingungen, um ein intuitives Essverhalten und ein positives Körpergefühl zu erreichen? In vielen Bereichen unseres modernen Lebens geht es darum, sich von äußeren – nicht selten durch finanzielle Interessen geprägten – Angeboten zu distanzieren und zu eigenen Maßstäben zu finden. Dafür müssen wir als Gesellschaft und oft auch persönlich einige Sicht- und Denkweisen verändern.

Was erwartet Sie in diesem Buch?

Wir laden Sie ein, eine andere als die weit verbreitete Perspektive auf Essen, Gesundheit und den eigenen Körper einzunehmen. Dafür müssen wir zunächst die Einflüsse auf unser Essverhalten verstehen: körperliche und emotionale Faktoren, die Auswirkungen von Diäten, die Gründe, aus denen wir hungern oder zu viel essen und zunehmen. In den ersten Kapiteln beschreiben wir daher, welch vielfältige Bedeutung Essen in unserem Leben hat. Warum ein Gefühl für unser eigenes Maß oftmals verloren geht und wie die Leistungsgesellschaft und ihre Ideale unser Selbstbild beeinflussen können.

Im Weiteren stellen wir dar, wie eine vermeintlich harmlose Diät zum Einstieg in eine Essstörung werden kann. Dabei beschäftigen wir uns mit den weit verbreiteten Sichtweisen und Mythen, welche die Gesundheits- und Diätindustrie – und nicht zuletzt wir selbst – uns immer wieder glauben machen wollen. Wir stellen vor, wie sich dies in unterschiedlichen Lebensphasen auswirken kann – gerade, wenn sie seelische oder körperliche Veränderungen mit sich bringen. Was Essstörungen genau sind und was man dagegen tun kann, erläutern wir in einem Extra-Kapitel.

Schließlich zeigen wir im letzten Teil des Buches – auch anhand von Beispielen aus der Praxis von Margrit Hasselmann – wie Wege aussehen können, um wieder zu einem gesunden, genussvollen Essverhalten und zum Frieden mit dem eigenen Körper zurückzukommen.

Sollten Sie bei sich persönlich oder bei Nahestehenden feststellen, dass die Themen Figur und Gewicht deutlich belastet sind, ein ständiger Kampf mit dem Essen und gegen den eigenen Körper stattfindet – dann kann sich die Auseinandersetzung mit einem „seltsamen“ Essverhalten lohnen. Weiterführende Adressen und Literatur dazu finden Sie im Anhang.

Dieses Buch ist kein Ratgeber, wie Sie schnellstmöglich doch noch zur vermeintlichen Idealfigur kommen. Es gibt auch kein Versprechen auf kurzfristige Erfolge ab. Mit dem Wissen, das Ihnen dieses Buch vermittelt, ist es aber möglich, persönliche und nachhaltige Veränderungen anzugehen, die Ihr Leben lebenswerter machen können. Sobald wir all die damit verbundenen Mechanismen verstanden haben, können wir einen anderen Ansatz verfolgen: Weg von unrealistischen, krankmachenden Idealen, hin zu einer empathischeren Sicht auf uns selbst, zu einem besseren Körpergefühl – sowie zu einem dauerhaft entspannten Essverhalten.

Viel Spaß bei dieser Entdeckungsreise!

1. WARUM WIR ESSEN

Eigentlich scheint es ganz einfach: Essen gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen, wie Atmen oder Schlafen. Es ist lebensnotwendig, um den Organismus mit Energie und Nährstoffen zu versorgen. Es soll dazu beitragen, alle Körperfunktionen, das Immunsystem, den Stoffwechsel und die Leistungsfähigkeit bestmöglich aufrechtzuerhalten – kurz, unsere Gesundheit.

Wenn man die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zugrunde legt, geht es bei Gesundheit um einen „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen.“19 Für all das ist unsere Ernährung eine wichtige Ressource. Denn neben dem gesundheitlichen Aspekt geht es auch um Bedürfnisbefriedigung – Essen spricht unsere Sinne an, kann großen Genuss bereiten und damit zur Lebensfreude beitragen.

In Deutschland und anderen Industrienationen steht uns eine ungeheure Vielfalt und Fülle an Nahrung zur Verfügung, um uns nach unseren persönlichen Vorlieben abwechslungsreich und gesund zu ernähren. Warum haben dennoch so viele Menschen in unserer Gesellschaft Probleme mit dem Essen, mit ihrer Ernährung, mit ihrem Gewicht?

In einer Studie des Demoskopischen Instituts Allensbach für Nestlé gaben 90 Prozent der Teilnehmenden an, dass sie mit ihrer Ernährung auch übergeordnete Ziele erreichen wollten: Rund 60 Prozent wollen ihre Fitness und Gesundheit, die Hälfte das persönliche Wohlbefinden stärken. Etwas mehr als ein Drittel will sich selbst optimieren, knapp ein Viertel etwas für das eigene Aussehen tun. Allerdings: 85 Prozent sind gleichzeitig mit dem eigenen Ernährungsverhalten unzufrieden und ernähren sich anders als gewollt. Ein Drittel der Befragten berichtete von abendlichen Heißhungerattacken. 31 Prozent gaben an, dass sie zu wenig Obst und Gemüse, 28 Prozent, dass sie zu viel Fett zu sich nähmen. Über zu wenig Zeit zum Essen klagte etwa ein Viertel der Befragten.20

Warum also essen so viele Menschen anders, als es für ihre Gesundheit förderlich ist? Und warum hat eine so natürliche und lebensnotwendige Handlung wie Essen die Selbstverständlichkeit verloren? Um das zu verstehen, beschäftigen wir uns zunächst mit der Bedeutung von Essen. Wonach wählen wir unsere Lebensmittel aus, wann und wie viel essen wir? Was bestimmt unseren Blick auf Nahrung und unser Verhältnis zum Essen?

KÖRPERLICHE FAKTOREN

Am Lebensanfang sind körperliche Faktoren für die Nahrungsaufnahme entscheidend: Ein Baby ist noch völlig abhängig von seinen Bedürfnissen und deren Befriedigung. Daher verfügt unser Körper über komplexe Mechanismen, um die Energieversorgung sicherzustellen. Hunger, Durst und Sättigung sind dabei die wichtigsten Signale.

Hunger und Sättigung

Hunger ist ein körperlicher Reiz mit dem Ziel, Nahrung aufzunehmen, um den Organismus mit Energie und Nährstoffen zu versorgen. Sättigung setzt etwa 10 bis 15 Minuten nach Beginn der Nahrungsaufnahme ein. Sie entsteht nicht allein dadurch, dass sich der Magen zunehmend füllt, sondern wird auch durch die Zusammensetzung der Nahrung, ihren Energiegehalt und ihre Konsistenz beeinflusst.

Entlang des gesamten Magen-Darm-Trakts und im Zentralnervensystem werden Hunger und Sättigungsgefühle in einem komplexen Zusammenspiel von Sinneseindrücken, mechanischen Reizen und Botenstoffen weitergegeben. Dieser Informationsaustausch zwischen Darm und Gehirn wird als Darm-Hirn-Achse bezeichnet.21

Einen Sättigungseffekt gibt es allerdings auch, wenn wir uns zu einseitig ernähren – wir können nicht immer das Gleiche essen, irgendwann haben wir es „satt“. Auf diese Weise stellt unser Körper sicher, dass kein Nährstoffmangel entsteht. Dazu können noch bestimmte Aversionen kommen, wenn man beispielsweise eine verdorbene Speise zu sich genommen hat oder sie mit einem unangenehmen Erlebnis verbindet (etwa der pappige Brei während eines längeren Krankenhausaufenthalts in der frühen Kindheit). Solche verinnerlichten Abneigungen schützen uns davor, ungute oder potenziell gesundheitsschädliche Essenserfahrungen zu wiederholen.

Was und wie viel wir essen, wird aber auch über weitere körperliche Faktoren beeinflusst, wie das Alter und das Geschlecht, unsere körperliche Aktivität, in welcher Stimmung wir sind, wie hoch die Stressbelastung ist, ob wir krank sind oder Medikamente einnehmen müssen. Neben unserem individuellen Stoffwechsel können außerdem genetische Faktoren eine Rolle dabei spielen, welche Nahrung und welche Mengen wir zu uns nehmen und wie wir sie vertragen: So kann beispielsweise bei einer Laktoseintoleranz Milchzucker wegen eines fehlenden Enzyms nicht richtig verdaut werden.

Ein weiteres wichtiges Signal unseres Körpers sind Durstgefühle. Neben der Nährstoffversorgung über die Nahrung ist für das Funktionieren unserer Organe auch Wasser lebenswichtig. Daher entsteht Durst, sobald wir eine bestimmte Menge Wasser über die Haut, beim Atmen oder über den Urin verbraucht haben. Es kann jedoch passieren, dass wir das Verlangen nach Flüssigkeit als Hungergefühl fehlinterpretieren – vor allem bei Menschen, die ohnehin zu wenig trinken. Gesüßte Getränke, Säure und Salz sowie scharfe Gewürze können den Durst besonders anregen.

All diese Signale sind kluge Sicherheitsprinzipien unseres Körpers, über die er sicherstellt, dass wir uns ausgewogen ernähren und keine gesundheitlichen Risiken eingehen. Unser Körper liefert also eigentlich ganz persönliche Maßstäbe, damit wir unseren Bedarf decken und erkennen können, wann es genug ist. Eigentlich.

Geschmack

Welche Nahrung wir auswählen, entscheidet zudem auch der Geschmack bestimmter Speisen – und der Genuss, den wir uns davon versprechen. Im Gegensatz zum Hunger kann Appetit spontan auftreten und richtet sich nicht unbedingt nach dem körperlichen Bedarf. Er ist ein psychischer Reiz, ein eher genussorientiertes Verlangen nach einem bestimmten Lebensmittel.

Manche Vorlieben sind genetisch vererbt, andere werden schon im Mutterleib geprägt: Über Nabelschnur und Fruchtwasser lernt ein Baby bestimmte Geschmackseindrücke durch die Speisenauswahl seiner Mutter kennen.22 Früh entsteht auch die Vorliebe für Süßes: Bereits Neugeborene bevorzugen diese Geschmacksrichtung, denn Muttermilch schmeckt süß. Der Geschmackseindruck vermittelt, dass die Nahrung viel Energie enthält und rasch sättigt. Evolutionär bedingt bedeutet süßer Geschmack auch Entwarnung: Süße Früchte sind eher reif und ungiftig – im Gegensatz zu sauren oder bitteren.

Mit zunehmendem Alter finden wir auch Geschmack an salzigen, herben oder würzigen Speisen und entwickeln weitere Vorlieben und Abneigungen. Neben dem Geschmack entscheiden auch andere Sinneseindrücke, welche Nahrung uns anspricht: Wie sieht eine Frucht aus, wie riecht eine Milchspeise, welche Konsistenz und Temperatur hat die Suppe? Wenn uns etwas besonders gut schmeckt, wir eine Mahlzeit sehr genießen oder wir viele geschmacklich abwechselnde Speisen angeboten bekommen, animiert uns das eher zum Weiteressen – selbst wenn wir eigentlich schon längst Sättigung spüren und unser Energiebedarf gedeckt ist.

SOZIOKULTURELLE FAKTOREN

Ob norddeutscher Grünkohl mit Pinkel oder koreanisches Kimchi: Bestimmte Speisen – hier Kohl – und ihre jeweilige Zubereitung sind uns durch die Esskultur des Ortes und der Gesellschaft, in die wir hineingeboren wurden, vertraut, und wir bevorzugen sie automatisch. Auch das ist evolutionär sinnvoll: Wir essen, was wir kennen – denn das ist wahrscheinlich sicher und unschädlich. Ab der frühesten Kindheit prägt unser soziales Umfeld unsere Ernährung und unsere Geschmacksvorlieben, genauso wie unsere Essgewohnheiten.

Familie und Erziehung

„Was auf den Teller kommt, wird gegessen.“ „Messer rechts, Gabel links.“ „Erst den Salat.“ – Die Familie, in der wir aufwachsen, bildet auch beim „Essenlernen“ den ersten und wichtigsten sozialen Rahmen. In vielen Fällen übernehmen wir von unseren Eltern zum Beispiel die Essenszeiten, die Mahlzeitengestaltung, die Essgeschwindigkeit oder die Portionsgrößen. Auch bestimmte Lieblingsspeisen, Abneigungen und familiäre Rituale werden oft „vererbt“. Essen ist dadurch eng mit unserer persönlichen Geschichte verwoben.

Als Kinder lernen wir durch Beobachten und durch Vorbilder – und übernehmen damit sowohl förderliche als auch eher ungünstige Gewohnheiten: Erleben wir gesellige Mahlzeiten mit Ruhe und Genuss oder auch das gemeinsame Kochen von leckeren, frischen Lebensmitteln, beeinflusst das unser Essverhalten ebenso sehr, wie wenn regelmäßig vor dem Fernseher gegessen oder Essen als Erziehungsmethode eingesetzt wird.

Bestimmte familiäre Verhaltensweisen können es Kindern und später Erwachsenen erschweren, in Bezug auf ihr Essverhalten auf ihre körpereigenen Signale zu hören: wenn beispielsweise für das Essen sehr strenge Regeln galten, wenn Kinder zum Essen gedrängt wurden, obwohl sie keinen Hunger hatten. Wenn sie ihren Teller leer essen sollten, obwohl sie längst satt waren, oder eher beiläufig gegessen wurde.

Aber auch wenn unsere Herkunftsfamilie unser Essverhalten in vieler Hinsicht prägt, muss das natürlich nicht für immer bestehen bleiben. Im Lauf unseres Lebens kommen weitere Einflüsse hinzu, etwa beim Eintritt ins Berufsleben, durch soziale Kontakte, mit verändertem ökonomischem Status oder bei einer eigenen Familiengründung.

Essen in Gemeinschaft

Essen ist „sozialer Klebstoff“: Das Abendessen mit der Familie oder das Kochen mit Freunden dienen als Anlass, sich über die Erlebnisse des Tages zu unterhalten oder sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. Essen ist auch deshalb stark emotional besetzt, weil wir damit Geselligkeit, Nähe und gemeinschaftliche Aktivitäten verbinden. Kinder essen in der Kita oder im Hort zusammen mit Spieloder Schulkameraden, der gemeinsame Besuch der Mensa dient Studierenden zum Pflegen persönlicher Kontakte und zum Informationsaustausch. Berufliche Besprechungen verbinden wir als Geschäftsessen nicht selten mit einem Restaurantbesuch. Wie wichtig gemeinsames Essen für unser Sozialleben ist, zeigte auch eine Studie US-amerikanischer Forscher der Cornell University: Wenn Arbeitskollegen regelmäßig zusammen die Kantine besuchten, verbesserte das nachweislich ihre Zusammenarbeit und ihre Arbeitsleistung.23

„Noch ein Nachschlag?“ – Das gemeinschaftliche Essen hat Auswirkungen darauf, wie viel Nahrung wir zu uns nehmen. Sind wir in Begleitung, kann die Menge durchaus anders ausfallen, als wenn wir allein essen – dieses Phänomen wird „soziale Aktivierung“ genannt. In Studien stellten Forschende fest, dass wir in Gesellschaft bis zu 48 Prozent mehr essen.24 Wenn andere beim Büffet die Speisen auf den Teller türmen oder bei der Essenseinladung eine zweite Portion angeboten wird, greifen wir verstärkt zu. Allerdings hängt die Menge davon ab, wie vertraut uns die Tischnachbarn sind: Gegenüber Fremden oder entfernteren Bekannten wollen wir vielleicht ein anderes Bild vermitteln als bei Freunden und Familienangehörigen.

Dabei wirken sich laut den Studien auch das Geschlecht, die Art der Lebensmittel und das Körpergewicht aus: Frauen aßen beispielsweise in Gegenwart von Männern weniger, wenn sie ihnen gefallen wollten. Ebenso hielten sich Menschen mit Übergewicht beim Essen eher zurück – womöglich, um nicht gierig zu erscheinen oder Vorurteile zu bestätigen. Auch kann es dazu kommen, dass alle am Tisch weniger essen, sobald einer aus der Runde erwähnt, dass er oder sie Diät hält.

Feste und Feiern

Einen besonderen Stellenwert haben gemeinsame Mahlzeiten bei Feiern und Festtagen. Die Auswahl der Speisen und Getränke, ihre Inszenierung, spezielle Regeln, Traditionen und Praktiken werden ebenfalls durch die Kultur beeinflusst, in der wir leben und aufgewachsen sind. Manche Gerichte werden beispielsweise nur einmal im Jahr konsumiert, weil sie für manche Menschen traditionell zu einem bestimmten Anlass gehören, wie der Gänsebraten an Weihnachten.

Andere traditionelle Mahlzeiten übernehmen bestimmte Funktionen: bei einer Trauerfeier etwa kann der so genannte „Leichenschmaus“ dabei helfen, dass die Hinterbliebenen zusammenkommen und sich gegenseitig Trost spenden. Auch im religiösen Kontext hat Essen als Ritual einen festen Platz – zum Beispiel das Fastenbrechen oder das Zuckerfest im Islam, das jüdische Pessach-Mahl oder Brot und Wein beim christlichen Abendmahl. Essen ist damit ein wichtiger Teil unserer sozialen und kulturellen Identität.

Unser Essverhalten und unser persönlicher Geschmack entwickeln sich in einem lebenslangen Lernprozess weiter. Die lebensnotwendigen körperlichen Grundbedürfnisse Hunger und Durst werden dabei zunehmend von Außenreizen ergänzt und teilweise überlagert. Daneben hängt unsere Nahrungsauswahl auch von Wünschen, Einstellungen und Erfahrungen ab. Neben den körperlichen und soziokulturellen Einflüssen bestimmen damit vor allem emotionale Faktoren unser Essverhalten.

EMOTIONALE FAKTOREN

„Das muss ich erstmal verdauen“, „Liebe geht durch den Magen“, „Ich könnte kotzen“, „Ich habe dich zum Fressen gern“ – wie viel Essen mit menschlichen Empfindungen zu tun hat, zeigt sich an geläufigen Redewendungen. So sind unsere ersten Ernährungserfahrungen meist positiv, weil sie mit menschlicher Zuwendung, mit Wärme und Körperkontakt verbunden sind. Das Lieblingsessen unserer Kindheit ist oft mit schönen Erinnerungen verbunden, bestimmte Speisen vielleicht mit beglückenden Erfahrungen oder einer besonderen Umgebung.

Der Erdbeerkuchen, den es immer zum Kindergeburtstag im Frühling gab, der warme Kaiserschmarren auf der Skihütte oder Matjesbrötchen an der Nordsee – solche Gerichte können blitzschnell angenehme Gefühle heraufbeschwören, den Genussfaktor erhöhen und schon vor dem ersten Bissen Glücksgefühle auslösen. Die mit dem Essen verbundenen Assoziationen, das Verlangen danach und die erwartete Befriedigung stimulieren das Belohnungszentrum des Gehirns. Der Botenstoff Dopamin, ein sogenanntes „Glückshormon“, wird ausgeschüttet und verstärkt das Wohlbefinden.

Bestimmte Gefühle können sich also auf unser Essverhalten auswirken, ebenso kann aber auch Nahrung unseren Gefühlshaushalt beeinflussen. Der Wissenschaftler Michael Macht beschreibt in der Ernährungs-Umschau fünf verschiedene Zusammenhänge: assoziativ, sensorisch, energetisch, neurochemisch und pharmakologisch.25

Zum einen lassen uns, wie schon beschrieben, Assoziationen zur Nahrung greifen – also bestimmte Erinnerungen, Geruchs- und Geschmacksreize, vielleicht aber auch die Werbung für ein bestimmtes Produkt. Sensorisch reagieren, wie ebenfalls schon erwähnt, beispielsweise Neugeborene auf süße Geschmacksreize. Über die Nahrung zugeführte Energie kann sich stimmungsaufhellend auswirken, Hunger dagegen depressive Stimmungen auslösen. Bestimmte Lebensmittel können neurochemische Veränderungen im Körper auslösen: etwa, indem sie den Serotoninspiegel ansteigen lassen, was entspannend und stimmungsaufhellend wirken kann. Schließlich können bestimmte Inhaltsstoffe auch eine gewisse pharmakologische Wirkung haben, wie zum Beispiel Koffein. Es gibt also ganz unterschiedliche Faktoren, die den Impuls zu essen auslösen können. Mit bewussten Entscheidungen haben diese nicht immer zu tun.

Emotionales Essen

Durch die emotionale Aufladung von Essen setzen wir Nahrungsmittel manchmal auch gezielt ein, um angenehme Empfindungen hervorzurufen: Beispielsweise im Sinne von Selbstfürsorge, wenn wir uns ein leckeres Essen kochen. Vielleicht motiviert man sich auch an einem anstrengenden Arbeitstag mit Süßigkeiten durchzuhalten oder „belohnt“ sich am Abend mit einem großen Teller Nudeln.

Daneben essen Menschen auch, um unangenehme Gefühle, Sorgen oder Ärger zu verdrängen. Die Verbindung von Essen mit Ablenkung, Beruhigung oder Trost lernen wir oft schon in der Kindheit kennen: Das weinende Baby bekommt nicht nur bei Hunger die Flasche, sondern auch, damit es aufhört zu weinen. Das Kleinkind wird bei einem Sturz mit ein paar Gummibärchen auf andere Gedanken gebracht. Auf diese Weise wird eine unangenehme Erfahrung durch einen anderen Reiz – hier: durch Essen – kompensiert. Diese gelernte Verbindung kann dazu führen, dass sich schon Kinder bei Einsamkeit oder Traurigkeit selbst mit Essen trösten – und sich noch als Erwachsene bei Problemen durch Knabbereien ablenken, vor Prüfungssituationen naschen, um die Anspannung zu lindern, oder versuchen zur Ruhe zu kommen, indem sie nachts nochmal zum Kühlschrank schleichen.

Kurzfristig kann Essen auch tatsächlich die Stimmung aufhellen: es lenkt vorübergehend ab, Belohnungsstoffe werden ausgeschüttet. Zuckerhaltiges stellt dem Körper schnell Energie zur Verfügung, die er in Stress-Situationen besonders braucht. Zudem wird Nahrung mit Sicherheit und Versorgung assoziiert – da liegt es nahe, in verunsichernden Situationen oder bei Einsamkeitsgefühlen zum Essen zu greifen.

Ob Nervennahrung, Trost- und Frustessen: Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich unser Essverhalten in herausfordernden Situationen oder in Momenten, in denen starke Gefühle vorherrschen, anpasst. Das können Empfindungen wie Stress, Frustration oder Traurigkeit sein, manchmal aber auch Glücksgefühle wie Verliebtheit. Nach repräsentativen Befragungen isst jeder dritte Deutsche bei Stress mehr als üblich.26

Natürlich ist es legitim, nach einem anstrengenden Tag mal zur Schokolade zu greifen. Wenn Essen allerdings regelmäßig als Belohnung oder Trost eingesetzt wird, kann das ungesunde Essgewohnheiten fördern: Man isst mehr, als man will, womöglich bis der Magen unangenehm spannt, oder ständig zwischen den Mahlzeiten. Vielleicht werden auch die Essensmengen immer größer: Hat früher ein Teller Nudeln ausgereicht, sind es neuerdings immer zwei oder drei Portionen. Allerdings entsteht meist kein wirkliches Wohlbefinden – denn die Probleme, die das Verlangen nach Nahrung ursprünglich hervorriefen, werden ja nicht gelöst.

Das Eating Behavior Laboratory der Universität Salzburg untersuchte in einer 2016 veröffentlichten Studie das emotionsbedingte Essen erstmals nicht unter Laborbedingungen, sondern im Alltag.27 Die Teilnehmenden dokumentierten mehrmals täglich per Smartphone, ob sie unter Stress oder Zeitdruck standen, ob bei ihnen positiv oder negativ empfundene Emotionen vorherrschten und ob sie jeweils aus Hunger oder aufgrund des Geschmacks aßen.

Während sich schlechte Stimmung bei manchen Personen appetitmindernd auswirkte, aßen die emotionalen Esser bei Traurigkeit, Ärger, Einsamkeit oder Langeweile deutlich mehr. Ebenso die Teilnehmenden mit einem hohen BMI. Vor allem Frauen und zwei Arten von „Ess-Typen“ griffen bei negativ empfundenen Gefühlen stark zu: Zum einen die so genannten „gezügelten Esser“, die ihre Nahrungsaufnahme normalerweise streng kontrollierten – unter Belastung aber zu Essanfällen neigten. Zum anderen die „externalen Esser“, die sich stark durch Sinneseindrücke zum Essen verleiten ließen.

Das „emotionale Essen“ hat bei einigen Menschen also einen großen Einfluss auf ihr alltägliches Essverhalten – und gegebenenfalls auf ihre Gesundheit. Denn auch medizinische Behandlungen, die zwingend eine Veränderung des Essverhaltens erfordern, etwa bei Diabetes, werden dadurch erschwert.