Das empfindsame Kind - Carol Kranowitz Stock - E-Book

Das empfindsame Kind E-Book

Carol Kranowitz Stock

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Beschreibung

„Dieses Buch ist zur Bibel für Eltern von Kindern mit sensorischen Verarbeitungsstörungen geworden.“ - The New York Times

Ist Ihr Kind „irgendwie anders“? Ist es über- oder unterempfindlich gegenüber Berührung, lehnt es bestimmte Kleidung ab, meidet aktive Spiele, ist übertrieben wählerisch beim Essen oder hält sich Augen und Ohren zu, wenn es mit bestimmten Reizen konfrontiert ist? Oder kann Ihr Kind von Sinnesreizen wie Lärm und Unordnung nie genug bekommen? Ist es auffallend ungeschickt oder gar unfallgefährdet? Dies sind oftmals Hinweise auf sensorische Integrationsstörungen bzw. sensorische Verarbeitungsstörungen – ein häufiges Problem, bei dem das zentrale Nervensystem Sinneseindrücke falsch interpretiert.

Carol Stock Kranowitz, Pionierin auf diesem Gebiet, hat sich während ihrer 25-jährigen Tätigkeit als Pädagogin intensiv mit der Thematik befasst, um betroffenen Kindern zu helfen, im Alltag, beim Spielen und im Umgang mit anderen besser zurechtzukommen. Ihre Erkenntnisse hat sie in einen bisher unübertroffenen Ratgeber für verzweifelte Eltern und Lehrkräfte gepackt und damit den Begriff des „Out-of-Sync Child“ geprägt.

In klar verständlicher Sprache und anhand zahlreicher Beispiele erklärt die Autorin, wie Integrations- bzw. Verarbeitungsstörungen erkannt und behandelt werden können, und zeigt die Unterschiede zu Beeinträchtigungen wie ADHS, Autismus oder Lernbehinderungen auf. Ein bahnbrechendes Buch, das in der deutschsprachigen Fachliteratur seinesgleichen sucht!

„Diese Buch beschreibt meisterhaft die verschiedenen Arten, wie Kinder auf Sinneseindrücke reagieren und ihre Reaktionen auf ihre Welt integrieren.“  - Dr. Stanley Greenspan, Kinderpsychiater

„Dieses warmherzige und weise Buch wird Eltern, die sich fragen, warum ihr Kind nicht 'dazugehört', Hoffnung und praktische Hilfe zugleich geben.“  Jane M. Healy, Autorin von Your Child's Growing Mind

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Carol Stock Kranowitz, M. A.

Das empfindsame Kind

Sensorische Integrations- und Verarbeitungsstörungen bei Kindern erkennen und bewältigen

IMPRESSUM

Carol Stock Kranowitz, M.A.

Das empfindsame Kind

Sensorische Integrations- und Verarbeitungsstörungen bei Kindern erkennen und bewältigen

1. deutsche Auflage 2023

ISBN: 978-3-96257-270-9

©2023 Narayana Verlag GmbH

Titel der Originalausgabe:

THE OUT-OF-SYNC CHILD:

Recognizing and Coping with Sensory Processing Differences

Copyright © 1998, 2006, 2022 by Carol Stock Kranowitz and Skylight Press

All rights reserved.

Übersetzung aus dem Englischen: Bärbel und Velten Arnold

Illustrationen: © tarcherperigee an imprint of Penguin Random House LLC

Coverlayout: Patrice Sheridan

Coversatz: Narayana Verlag

Cover Abbildung: © tarcherperigee an imprint of Penguin Random House LLC

Herausgeber:

Unimedica im Narayana Verlag GmbH,

Blumenplatz 2, D-79400 Kandern

Tel.: +49 7626 974 970-0

E-Mail: [email protected]

www.unimedica.de

Alle Rechte vorbehalten. Ohne schriftliche Genehmigung des Verlags darf kein Teil dieses Buches in irgendeiner Form – mechanisch, elektronisch, fotografisch – reproduziert, vervielfältigt, übersetzt oder gespeichert werden, mit Ausnahme kurzer Passagen für Buchbesprechungen.

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Erkenntnisse in der Medizin unterliegen einem laufenden Wandel durch Forschung und klinische Erfahrungen. Autor und Übersetzer dieses Werkes haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass die in diesem Werk gemachten therapeutischen Angaben (insbesondere hinsichtlich Indikation, Dosierung und unerwünschten Wirkungen) dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Das entbindet den Nutzer dieses Werkes jedoch nicht von der Verpflichtung, anhand einschlägiger Fachliteratur und weiterer schriftlicher Informationsquellen zu überprüfen, ob die dort gemachten Angaben von denen in diesem Werk abweichen und seine Verordnung in eigener Verantwortung zu treffen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einführung

Wie man dieses Buch verwendet

Ein Wort über Wörter

Teil 1 SENSORISCHE VERARBEITUNGS-STÖRUNGEN ERKENNEN

Kapitel 1: Vier Kinder mit sensorischen Verarbeitungsstörungen zu Hause und in der Schule

Tommy

Vicki

Paul

Sebastian

Kapitel 2: Leidet Ihr Kind unter einer sensorischen Verarbeitungsstörung?

Sensorische Verarbeitungsstörung: Eine kurze Definition

Häufige Symptome einer sensorischen Verarbeitungsstörung

Probleme mit der Selbstregulation

Wer hat eine sensorische Verarbeitungsstörung?

Es gibt Hoffnung

Kapitel 3: Hat Ihr Kind eine andere Diagnose erhalten?

Was keine sensorischen Verarbeitungsstörungen sind: „ähnliche“ Symptome

Andere Erkrankungen, bei denen eine sensorische Verarbeitungsstörung eine Rolle spielt

Weitere ähnliche Störungen und Überschneidungen

Kapitel 4: Verstehen, wie eine sensorische Verarbeitung funktioniert – und was schieflaufen kann

Die Sinne

Was ist sensorische Verarbeitung?

Sensorische Verarbeitung, wie sie funktionieren sollte

Die typische Entwicklung der sensorischen Verarbeitung bei Kleinkindern und Kindern

Was hat es also mit einer sensorischen Verarbeitungsstörung auf sich?

Sensorische Diskriminationsstörungen

Mögliche Ursachen einer sensorischen Verarbeitungsstörung

Sechs wichtige Vorbehalte

Kapitel 5: Woran Sie erkennen, ob der Tastsinn bei Ihrem Kind durch eine sensorische Verarbeitungsstörung beeinträchtigt ist

Drei Kindergartenkinder beim Sitzkreis

Ein richtig funktionierender Tastsinn

Ein durch eine sensorische Verarbeitungsstörung beeinträchtigter Tastsinn

Taktile Diskriminationsstörung: „Was hat das zu bedeuten?“

Wie der taktile Sinn alltägliche Fähigkeiten beeinflusst

Merkmale taktiler Störungen

Kapitel 6: Woran Sie erkennen, ob der vestibuläre Sinn bei Ihrem Kind durch eine sensorische Verarbeitungsstörung beeinträchtigt ist

Zwei Erstklässler im Freizeitpark

Der reibungslos funktionierende vestibuläre Sinn

Der vestibuläre Sinn eines Betroffenen mit sensorischen Verarbeitungsstörungen

Wie der vestibuläre Sinn alltägliche Fähigkeiten beeinflusst

Merkmale vestibulärer Störungen

Kapitel 7: Woran Sie erkennen, ob der propriozeptive Sinn bei Ihrem Kind durch eine sensorische Verarbeitungsstörung beeinträchtigt ist

Ein Neunjähriger im Schwimmbad

Der reibungslos funktionierende propriozeptive Sinn

Der propriozeptive Sinn eines Betroffenen mit sensorischen Verarbeitungsstörungen

Wie der propriozeptive Sinn alltägliche Fähigkeiten beeinflusst

Merkmale propriozeptiver Störungen

Kapitel 8: Woran Sie erkennen, ob der visuelle Sinn bei Ihrem Kind durch eine sensorische Verarbeitungsstörung beeinträchtigt ist

Zwei Siebtklässlerinnen in der Schule

Der reibungslos funktionierende visuelle Sinn

Der visuelle Sinn eines Betroffenen mit sensorischen Verarbeitungsstörungen

Merkmale visueller Störungen

Kapitel 9: Woran Sie erkennen, ob der auditive Sinn bei Ihrem Kind durch eine sensorische Verarbeitungsstörung beeinträchtigt ist

Eine Drittklässlerin im Musikunterricht

Der reibungslos funktionierende Hörsinn

Der auditive Sinn eines Betroffenen mit sensorischen Verarbeitungsstörungen

Merkmale auditiver Störungen

TEIL II UMGEHEN MIT SENSORISCHEN VERARBEITUNGSSTÖRUNGEN

Kapitel 10: Diagnose und Behandlung

Die Suche der Eltern nach Antworten

Wie Sie erkennen, wann Ihr Kind professionelle Hilfe braucht

Dokumentieren Sie das Verhalten Ihres Kindes

Die Diagnose des Problems

Verschiedene Therapien, verschiedene Herangehensweisen

Aufzeichnungen machen

Kapitel 11: Ihr Kind zu Hause

Eine elterliche Offenbarung

Ein um Sinneseindrücke bereichertes Leben

Die Förderung einer funktionierenden Sinnesverarbeitung zu Hause

Kapitel 12: Ihr Kind in der Schule

Welch einen Unterschied Kommunikation ausmacht!

Wenn es doch in der Schule ein bisschen mehr so wäre wie zu Hause

Entscheiden, wem man davon erzählt

Gutes Verhältnis zwischen Schule und Kind

Förderung des schulischen Erfolgs Ihres Kindes

Kindern helfen, ihr Leben besser zu organisieren

Ihr eigenes Verhalten anpassen

Kapitel 13: Der Umgang mit den Gefühlen Ihres Kindes

Ein typischer schrecklicher Morgen

Ratschläge von anderen Experten

Was man tun und was man nicht tun sollte

Kapitel 14: Sehen Sie Ihr Kind in einem neuen Licht

Eine elterliche Offenbarung

Die Erleuchtung

Ermutigende Worte einer Mutter

Anhang A

Anhang B

Anhang C

Weiterführende Informationen

Anmerkungen

Glossar

Über die Autorin

Danksagungen

Stichwortverzeichnis

Vorwort

Im Jahr 1955 schrieb Dr. A. Jean Ayres ihren ersten Artikel über die Theorie der sensorischen Integration, 1972 erschien ihr erstes Buch – und damit entstand ein ganz neues Fachgebiet. Auf Dr. Ayres’ Arbeit zurückgreifend gelang es der Vorschullehrerin Carol Stock Kranowitz unter Hinzuziehung eines Ergotherapeuten, der Dr. Ayres’ Arbeit ebenfalls studiert hatte, Dutzenden Kindern zu helfen, die eine „Störung der sensorischen Integration“ – auch sensorische Integrationsstörung (SI-Störung) genannt – aufwiesen. Im Jahr 1988 starb Dr. Ayres, und mit ihr gingen das Wissen und die Energie, die nur ein Begründer einer neuen Vision aufbringen kann. Ergotherapeuten behandelten zwar nach wie vor Kinder, die unter einer sensorischen Verarbeitungsstörung litten, und gaben Kurse über die sensorische Verarbeitungsstörung, doch das Fachgebiet hatte seine führende Kapazität verloren.

Im Jahr 1998 veröffentlichte Carol Stock Kranowitz die englische Originalausgabe des vorliegenden Buches unter dem Titel The Out-of-Sync Child, das sich sowohl an Eltern als auch an Lehrer richtet. Dieses Buch erklärt in einer für jedermann verständlichen Weise: 1) die komplexe Theorie der sensorischen Integration, 2) die Behandlung durch Ergotherapie mit dem Ansatz einer sensorischen Integrationstherapie und 3) die Störung, die heute sensorische Integrations- bzw. sensorische Verarbeitungsstörung genannt wird.

The Out-of-Sync Child belebte die Gemeinschaft derjenigen, die sich mit der sensorischen Integrations- bzw. Verarbeitungsstörung befassen, neu. Eltern kamen mit dem Buch in der Hand in die Praxen von Kinderärzten und Ergotherapeuten und sagten: „Was hier drinsteht, trifft auf mein Kind zu. Es benötigt eine Ergotherapie.“

Stock Kranowitz’ Ziel war es, einen Ratgeber für Eltern zu schreiben, deren Kinder Probleme mit der sensorischen Verarbeitung haben. Die Beliebtheit dieses Bestsellers zeigt zum einen, dass sie dieses Ziel erreicht hat, und macht zum anderen klar, wie dringend der Bedarf an einem solchen Buch war und auch gegenwärtig ist. Das empfindsame Kind hilft Eltern dabei, bei ihrem Kind das möglicherweise fehlende Puzzleteil im Hinblick auf die Fähigkeit zur sensorischen Verarbeitung zu entdecken. Erleichtert stellen sie fest, dass die verstörenden Verhaltensweisen ihres Kindes und die gestörten motorischen Fähigkeiten auf eine sensorische Verarbeitungsstörung zurückzuführen sind. Ein Elternteil hat es so ausgedrückt: „Das Problem ist physisch bedingt und nicht durch Fehler der Eltern verursacht.“

Eltern fragen: „Wie konnte das Problem, unter dem mein Kind leidet, so lange übersehen werden?“ Die Antwort lautet, dass, abgesehen von Ergotherapeuten, nur wenige Fachleute etwas über die sensorische Verarbeitungsstörung wissen. Als Stock Kranowitz’ Buch erschien, änderte sich das. Es steht auf jeder Ratgeber-Leseliste zum Thema „Kinder mit besonderen Bedürfnissen“ und ist Bestandteil des Lehrplans vieler Bildungsprogramme. Es ist das erste Buch, das Ergotherapeuten in den USA verunsicherten, frustrierten Eltern in die Hand drücken, wenn sie auf der Suche nach Antworten und Lösungen deren Praxis aufsuchen.

Inzwischen liegt die dritte Auflage der Originalausgabe sowie erstmals diese deutsche, erweiterte Ausgabe vor. Sie enthält aktualisierte Definitionen und Erklärungen, weitere Informationen über „ähnliche“ Störungen und über autistische Kinder sowie einen aktualisierten Blick auf Diagnose und Behandlung. Die Erklärungen zu den Unterschieden zwischen sensorischer Modulation, sensorischer Diskrimination und sensorisch basierten motorischen Fähigkeiten liefern eine nötige Klärung im Hinblick auf Subtypen einer sensorischen Verarbeitungsstörung. Ihr Ziel, auch für Nicht-Wissenschaftler verständlich zu schreiben, hat Carol Stock Kranowitz erneut erreicht.

Ich sage voraus, dass es in diesem Jahrzehnt noch weitere wissenschaftliche Veröffentlichungen über sensorische Integrations- und Verarbeitungsstörungen geben wird und dass diese Eingang in standardmäßige Diagnosehandbücher finden werden. Infolgedessen werden mehr Kinder eine korrekte Diagnose erhalten und richtig behandelt werden. Wir werden damit eine Generation heranwachsen sehen, in der zwar viele Kinder unter einer sensorischen Integrations- bzw. sensorischen Verarbeitungsstörung leiden, aber zu Hause und in der Schule kompetent und erfolgreich zurechtkommen werden. Wir werden erleben, dass Ergotherapie mit dem Ansatz einer sensorischen Integrationstherapie von der Schulmedizin und von Pädagogen und Bildungsexperten akzeptiert wird.

Carol Stock Kranowitz’ Beitrag auf diesem Fachgebiet ist unschätzbar wertvoll. Ihr Buch schenkt Tausenden verzweifelten Eltern Hoffnung und Verständnis und gibt ihnen etwas an die Hand, was sofort aktiv in die Tat umsetzbar ist. Es ermöglicht Kindern damit eine bessere Zukunft und ein erfüllteres Leben – was könnte kostbarer sein?

Dr. Lucy Jane Miller, Ergotherapeutin und Mitglied im US-amerikanischen Berufsverband der Ergotherapeuten,

Gründerin des STAR Institute for Sensory Processing mit Sitz in Centennial, Colorado (USA)

Einführung

Ich habe 25 Jahre lang in Washington, D.C., an der St. Columba’s Nursery School unterrichtet. Die meisten Vorschulkinder mochten die Stunden bei mir, in denen unter anderem Musik, Bewegung und Theater spielen im Vordergrund standen. Jeden Tag kamen kleine Gruppen drei-, vier- und fünfjähriger Kinder in mein Klassenzimmer und spielten, bewegten sich und lernten. Sie trommelten fröhlich, spielten Xylophon, sangen, klatschten in die Hände, tanzten und tobten herum. Sie tanzten und turnten mit Bohnensäckchen, spielten mit Marionetten und führten Märchen auf. Sie wedelten und schwangen mit dem Schwungtuch, spielten „Follow-the-Leader“-Spiele, bei denen die Kinder alles nachmachen müssen, was der Anführer macht, und absolvierten Hindernisparcours. Sie schossen herab wie Drachen, stampften wie Elefanten und schmolzen wie Schneemänner.

Den meisten Kindern machen solche Aktivitäten Spaß, weil ihre sensorische Verarbeitung richtig funktioniert. Das heißt, sie sind der Lage, sensorische Informationen aufzunehmen und so zu verarbeiten, dass sie diese Informationen in ihrem alltäglichen Leben umsetzen können. Sie nehmen durch Berührung, Bewegung, Sehen und Hören Empfindungen ihres Körpers und ihrer Umwelt auf und reagieren in einer gut organisierten und kontrollierten Art und Weise auf diese Empfindungen.

Doch einige Kinder, zum Beispiel Andrew, Ben und Alice, kamen nicht gerne in mein Klassenzimmer. Vor die Herausforderung gestellt, sensomotorische Erfahrungen zu machen, wurden sie angespannt, nervös und verunsichert. Sie weigerten sich, bei den Aktivitäten mitzumachen, oder führten sie schlecht aus, und ihr Verhalten beeinträchtigte den Spaß ihrer Mitvorschüler. Das sind die Kinder, für die ich dieses Buch geschrieben habe.

Während meiner Zeit als Vorschullehrerin (1976–2001) arbeitete ich mit mehr als 1.000 kleinen Kindern. Neben der Schule gab ich Kindergartenkindern bei mir zu Hause Musikunterricht. Für Aufführungen in unserer Gemeinde habe ich Kindertänze choreografiert und Dutzende musikalischer Geburtstagspartys organisiert. In der Grundschule assistierte ich im Unterricht, ich war Pfadfindergruppenleiterin und leitete schulische Gruppen und Sportmannschaften meiner eigenen Söhne.

Die vielen Jahre der Arbeit mit Kindern haben mich gelehrt, dass alle Kinder lebhafte, interessante Aktivitäten mögen. Alle wollen mitmachen und Spaß haben – doch einige machen nicht mit. Warum nicht? Machen sie nicht mit, weil sie nicht mitmachen wollen – oder weil sie nicht mitmachen können?

Als ich anfing, in der Vorschule zu unterrichten, waren mir die Kinder, die nicht mitmachten, ein Rätsel. Warum, fragte ich mich, waren diese Kinder so schwer zu erreichen? Warum waren sie so aufgelöst, wenn es daran ging, an einer Spaß machenden Aktivität teilzunehmen?

Warum rannte Andrew an den Wänden des Klassenzimmers entlang, während seine Mitvorschüler auf dem Teppich saßen und „The Wheels on the Bus“ sangen?

Warum klopfte Ben auf seine Schultern, obwohl die musikalische Anweisung lautete, auf die Knie zu klopfen?

Warum warf Alice sich auf den Bauch und gab vor, „zu müde“ zu sein, um sich aufzusetzen und zwei Rhythmusstöcke aneinanderzuschlagen?

Anfangs habe ich mich über diese Kinder geärgert. Sie sorgten dafür, dass ich das Gefühl hatte, eine schlechte Lehrerin zu sein. Zudem sorgten sie dafür, dass ich das Gefühl hatte, ein schlechter Mensch zu sein, wenn ihre Unaufmerksamkeit oder ihr störendes Verhalten mich dazu brachten, negativ zu reagieren. Tatsächlich ließ ich mich bei einer bedauerlichen Gelegenheit dazu hinreißen, ein Kind zurechtzuweisen und ihm zu sagen, dass es einfach ungezogen sei, sich abzuwenden und sich die Ohren zuzuhalten, wenn ich Gitarre spielte. Als ich an jenem Tag nach Hause kam, habe ich geweint.

Jeden Abend dachte ich über diese Kinder nach, während ich das Abendessen zubereitete oder mich mit meinen Söhnen befasste. Ich wusste nicht, wie ich mit ihnen umgehen sollte. Sie hatten keine diagnostizierten besonderen Bedürfnisse. Sie waren weder ungeliebt noch benachteiligt. Einige schienen sich mit Absicht schlecht zu benehmen, indem sie zum Beispiel einen Fuß ausstreckten, damit ein Mitvorschüler darüber stolperte, während andere nur ziel- und teilnahmslos wirkten. Ihr Verhalten ließ sich kaum konkret bestimmen, abgesehen davon, dass sie allesamt nicht in der Lage waren, sich an Aktivitäten zu erfreuen, die Kindern normalerweise Spaß machen.

Ich war nicht die Einzige, die ratlos war. Karen Strimple, die Direktorin der St. Columba’s Nursery School, und die anderen Lehrerinnen und Lehrer standen bei den gleichen Kindern vor demselben Rätsel. Die Eltern der betroffenen Kinder machten sich oft Sorgen, vor allem wenn sie deren Verhalten mit dem ihrer anderen, „normaleren“ Kinder verglichen. Und wenn schon die sich um sie kümmernden Eltern und Lehrer frustriert waren – wie mussten sich diese Kinder erst selber fühlen?

Sie fühlten sich wie Versager.

Und wir Lehrer hatten das Gefühl, sie im Stich zu lassen.

Wir wussten, dass wir es besser machen konnten. Immerhin hatte die St. Columba’s Nursery School seit den 1970er-Jahren etliche Kinder mit speziellen Bedürfnissen aufgenommen. Und wir erzielten mit diesen Kindern sehr gute Erfolge. Warum waren wir weniger erfolgreich darin, bestimmte „normale“ Kinder zu unterrichten, die unter subtilen, nicht identifizierten Problemen litten? Wir wollten es herausfinden.

Die Antwort lieferte die zugelassene und pädiatrische Ergotherapeutin Dr. Lynn A. Balzer-Martin, deren Kinder an der St. Columba’s Nursery School unterrichtet wurden. Lynn war an unserer Vorschule im Rahmen unseres Programms der Aufnahme von Kindern mit speziellen Bedürfnissen – heute Inklusion genannt – seit den 1970er-Jahren pädagogische Beraterin. Ihre Arbeit bestand vor allem darin, bei kleinen Kindern mit Lern- und Verhaltensproblemen, die von einer neurologischen Störung herrührten – damals Dysfunktion der sensorischen Integration genannt –, eine Diagnose zu stellen und diese zu behandeln.

Die Ergotherapeutin Dr. A. Jean Ayres war die Pionierin, die das Problem zum ersten Mal beschrieb. In der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte Dr. Ayres die Theorie der Dysfunktion der sensorischen Integration und leitete andere Ergotherapeuten an, Behandlungsstrategien zu entwickeln. Ihr Buch Sensory Integration and the Child (Deutsch: Bausteine der kindlichen Entwicklung: Die Bedeutung der Integration der Sinne für die Entwicklung des Kindes) liefert eine umfassende Erklärung für dieses missverstandene Problem, und jeder, der sich hier für Details interessiert, sollte es unbedingt lesen.

Die Dysfunktion der sensorischen Integration (auch sensorische Verarbeitungsstörung oder sensorische Integrationsstörung, kurz SI-Störung, genannt) ist an sich nichts Neues. Es ist nur eine neue Bezeichnung für ein altes Problem.

Eine sensorische Verarbeitungsstörung kann eine große Vielzahl von Symptomen verursachen. Wenn das zentrale Nervensystem nicht in der Lage ist, sensorische Informationen richtig zu verarbeiten, fällt es betroffenen Kindern schwer, in ihrem Lebensalltag zurechtzukommen. Sie können vom äußeren Erscheinungsbild her gut aussehen und sehr intelligent sein, aber zugleich ungeschickt und tollpatschig, ängstlich und in sich gekehrt oder abweisend und aggressiv sein. Eine sensorische Verarbeitungsstörung kann sich nicht nur darauf auswirken, wie betroffene Kinder sich bewegen und wie sie lernen, sondern auch darauf, wie sie sich verhalten, wie sie spielen und Freundschaften schließen und vor allem darauf, wie sie sich fühlen und sich selbst empfinden.

Vielen Eltern, Erziehern, Ärzten und Fachleuten für psychische Erkrankungen fällt es schwer, eine sensorische Verarbeitungsstörung zu erkennen und zu diagnostizieren. Wenn sie dieses Problem nicht erkennen, führen sie das Verhalten eines Kindes, sein mangelndes Selbstwertgefühl oder seine Abneigung, an ganz normalen Dingen teilzunehmen, die Kindern Spaß machen, möglicherweise auf Hyperaktivität, Lernstörungen oder emotionale Probleme zurück. Ohne über spezielle Kenntnisse über das Problem einer sensorischen Verarbeitungsstörung zu verfügen, verstehen nur wenige Menschen, dass ein verstörendes Verhalten auf ein schlecht funktionierendes Nervensystem zurückzuführen sein kann.

Dr. Lynn Balzer-Martin war wie andere, die Dr. Ayres’ Werk studiert hatten, darin geschult, sensorische Probleme zu erkennen und zu behandeln. Was ihr zusehends Sorgen bereitete, war, dass die meisten Kinder erst zu ihr geschickt wurden, nachdem sie in der Schule oder zu Hause längst Probleme entwickelt hatten, und somit bereits sechs, sieben oder acht Jahre alt waren, als sie ihre Diagnose stellen konnte. Dabei war sie darauf bedacht, schon in einem früheren Alter zu erkennen, ob ein Kind unter einer sensorischen Verarbeitungsstörung litt, weil das Gehirn am empfänglichsten für Veränderungen ist, wenn es sich noch in der Entwicklung befindet.

Vorschulkinder, deren Nervensystem sich noch in der Entwicklung befindet, haben eine gute Chance, von einer therapeutischen Behandlung zu profitieren. Lynn wusste, dass Kinder, bei denen schon im Alter von drei, vier oder fünf Jahren eine sensorische Verarbeitungsstörung diagnostiziert wird, eine individualisierte Behandlung erhalten können, die dafür sorgen kann, späteren sozialen Problemen und Lernschwierigkeiten vorzubeugen.

Die Herausforderung bestand darin, eine Möglichkeit zu finden, bereits bei Vorschulkindern zu erkennen, ob diese unter einer sensorischen Verarbeitungsstörung litten, weil die bisherigen verfügbaren Standardtests für diese kleinen Kinder ungeeignet waren. Lynn hatte die Idee, ein schnelles, effektives Testverfahren zu entwickeln, um schon bei sehr kleinen Kindern feststellen zu können, ob sie über die neurologischen Grundlagen verfügen, später ihr Alltagsleben gut bewältigen und sich in die Gesellschaft integrieren zu können. Sie fragte uns, ob wir an so einem Testverfahren interessiert wären.

Und ob wir interessiert waren!

Auf diese Weise kam alles zusammen. Wir wollten mehr über unsere Vorschüler erfahren, die uns Sorgen bereiteten. Und Lynn wollte ihre Idee mit dem Testverfahren ausprobieren. Die Katharine-P.-Maduxx-Stifung, die bereits unser als Aushängeschild dienendes Inklusions-Projekt finanzierte, animierte uns dazu, weitere Projekte umzusetzen, die darauf ausgerichtet sein sollten, die physische, psychische und emotionale Gesundheit von Kindern und ihren Familien zu verbessern.

Lucys Absicht war es, uns zunächst zum Thema sensorische Verarbeitung zu schulen und dann mit unserer Hilfe ein für den Entwicklungsstand von Vorschulkindern geeignetes Testverfahren zu entwickeln.

Die Teilnahme an dem Testverfahren sollte den Kindern Spaß machen. Es sollte so einfach sein, dass viele Vorschulen es ebenfalls einführen konnten. Außerdem sollte es schnell durchgeführt werden können, aber aussagekräftig genug sein und es Erziehern ermöglichen, bei kleinen Kindern zwischen einer zugrunde liegenden Unreife und einer möglicherweise vorliegenden sensorischen Verarbeitungsstörung zu unterscheiden.

Vor allem aber sollte das Testverfahren Daten liefern, die die Eltern betroffener Kinder dazu anhielten, möglichst früh einen geeigneten Experten aufzusuchen, um ihr Kind behandeln zu lassen (zum Beispiel einen Ergotherapeuten, einen Physiotherapeuten, einen Sprachtherapeuten oder einen Logopäden). Das Ziel einer frühen Behandlung ist es, betroffenen Kindern dabei zu helfen, in der Schule und zu Hause im Lebensalltag besser – ja, sogar sehr gut – zurechtzukommen.

Im Jahr 1987 führte Lynn an der St. Columba’s Nursery School, unterstützt von der Schulgemeinschaft, ein Testverfahren ein, dem sich alle 130 Vorschüler einmal im Jahr unterzogen.1 Wir begannen dafür zu sorgen, dass Kinder, bei denen wir eine sensorische Verarbeitungsstörung erkannt hatten, eine Therapie erhielten. Und wir sahen sofortige erfreuliche Resultate: die Fähigkeiten dieser Kinder begannen sich zu verbessern.

Unter Lynns Anleitung studierte und lernte ich über dieses Thema so viel wie nur irgend möglich. Ich lernte, die Kinder selber zu testen und Daten zusammenzustellen, die von Lehrern und Eltern stammten oder auf meinen eigenen Beobachtungen basierten. Und ich lernte, das merkwürdige Verhalten, das einige Kinder an den Tag legten, zu verstehen.

Mit meinem zunehmenden Wissen verbesserten sich auch meine pädagogischen Fähigkeiten. Ich begann, meinen Kollegen dabei zu helfen zu verstehen, warum diese Kinder aus der Reihe tanzten. Ich gab in anderen Vorschulen und Grundschulen Kurse, die das Ziel hatten, die Erzieher und Lehrer darin zu schulen, Anzeichen für das Vorliegen dieses subtilen Problems zu erkennen. Ich führte in meinem Unterricht Aktivitäten ein, die die sensomotorische Entwicklung aller Kinder förderten.

Und ich freute mich über die Fortschritte, die Kinder wie Andrew, Ben und Alice ziemlich schnell machten, nachdem sie mit der Ergotherapie begonnen hatten. Es war erstaunlich mit anzusehen, wie sie sich, als sich ihre sensomotorischen Fähigkeiten verbesserten, entspannten, sich besser konzentrierten und anfingen, Freude an der Vorschule zu finden. Wenn ich jetzt am Ende des Tages nach Hause kam, weinte ich nicht – ich jubelte innerlich!

Während mein Sachwissen wuchs, lernte ich, dass es Zeit und Geschick erfordert, Eltern betroffener Kinder zu erklären, was es mit einer sensorischen Verarbeitungsstörung auf sich hat. Wenn sich bei Kindern, die unser Testverfahren durchliefen, deutliche Anzeichen dafür zeigten, dass sie an einer sensorischen Verarbeitungsstörung litten, luden Karen und ich die Eltern in die Vorschule ein und hielten sie dazu an, ihr Kind im Unterricht und auf dem Schulhof zu beobachten. Dann setzten wir uns zusammen und besprachen unsere Beobachtungen.

Hierbei erklärten wir ihnen, dass es sich bei dem, was wir an ihrem Kind beobachtet hatten, um sensorische Verarbeitungsstörungen handelte, und zeigten ihnen zudem, dass man das Problem behandeln könne. Dabei wiesen wir sie darauf hin, dass sich bei älteren Kindern und sogar noch bei Erwachsenen Verbesserungen einstellen, wenn sie sich einer Behandlung unterziehen – dass eine möglichst frühe Behandlung jedoch die besten Resultate bewirkt. Wir versuchten, den Eltern die Ängste zu nehmen, indem wir ihnen versicherten, dass ihr Kind nicht unter einer geistigen Beeinträchtigung leide oder sie unzureichende Eltern seien.

Uns war klar, dass diese Information bei den Eltern unvermeidlich Ängste, Fragen und Missverständnisse auslösen würde. Oft suchten sie umgehend ihren Kinderarzt auf, der das Problem, weil er mit einer sensorischen Verarbeitungsstörung nicht vertraut war, fälschlicherweise als eine Sache abtat, aus der das Kind schon herauswachsen werde.

Es war uns bewusst, dass wir mehr Fragen aufwarfen, als man in einer halbstündigen Besprechung beantworten konnte.

Und so entstand dieses Buch, um Eltern, Lehrern und anderen Nicht-Ergotherapeuten, für die dieses Thema Neuland ist, zu erklären, was es mit sensorischer Verarbeitung und ihrem Gegenstück, einer sensorischen Verarbeitungsstörung, auf sich hat. Diese dritte Auflage enthält aktualisierte Informationen, die auch für diejenigen hilfreich sein können, die bereits Erfahrung damit haben, sich um Kinder mit anderen, deutlicher erkennbaren Beeinträchtigungen zu kümmern; denn bei vielen dieser Beeinträchtigungen gibt es Überschneidungen mit einer sensorischen Verarbeitungsstörung.

Ich habe mich bemüht, die Erklärungen leserfreundlich zu gestalten. Diese Erklärungen werden Sie an Begriffe erinnern oder Sie mit Begriffen vertraut machen, die normalerweise Experten verwenden, die sich mit der kindlichen Entwicklung befassen – Begriffe, die Sie kennen müssen.

Der Ansatz dieses Buches entspricht in etwa dem eines „Lehrers“ oder einer „Lehrerin“, die den Lesern etwas beibringen wollen, und mag hier und da von einer klinischen oder forschungsorientierten Sichtweise abweichen. Das Verständnis dafür, was eine sensorische Verarbeitungsstörung bedeutet, wird es Ihnen ermöglichen, Ihr Kind (oder Ihren Vorschüler oder Schüler) besser zu verstehen – und das ist der wichtigste Zweck, den dieses Buch erfüllen will. Auf diese Weise werden Sie darauf vorbereitet sein, dem Kind die Hilfe zu geben, die es benötigt, um so kompetent und selbstsicher zu sein wie nur irgend möglich.

Wie man dieses Buch verwendet

Unabhängig davon, ob bei Ihrem Kind eine Diagnose gestellt wurde oder nicht, wird dieses Buch Ihnen dabei helfen zu verstehen, was es mit sensorischen Verarbeitungsproblemen – die, wenn sie schwerwiegend sind, als sensorische Verarbeitungsstörung bezeichnet werden – auf sich hat, und damit umzugehen. Das Buch ist nicht nur für Eltern gedacht. Es richtet sich auch an Lehrer, Ärzte, Ergotherapeuten, Psychologen, Großeltern, Babysitter und andere, die sich um ein Kind mit sensorischen Verarbeitungsproblemen kümmern.

Als Vorschullehrerin habe ich gesehen, wie sich eine sensorische Verarbeitungsstörung bei betroffenen Kindern auswirkt. Ich habe Verhaltensweisen bemerkt, die Eltern, Kinderärzte und sogar Therapeuten nicht beobachten können, weil sie nicht die Gelegenheit dazu haben. Somit liefert das Buch, das aus der Perspektive einer Lehrerin geschrieben wurde, Einblicke, die ein Spezialist auf einem anderen Fachgebiet der kindlichen Entwicklung möglicherweise übersehen könnte.

Teil 1 enthält:

• Beispiele von vier Kindern, die unter einer sensorischen Verarbeitungsstörung leiden,

• einen Überblick über sensorische Verarbeitungsstörungen und wie diese das kindliche Verhalten beeinflussen,

• Checklisten zu Symptomen und charakteristischen Verhaltensweisen von betroffenen Kindern.

Ebenso geht es um mit der Verarbeitungsstörung einhergehende Probleme und ähnliche Diagnosen, eine Einführung in eine gesunde neurologische Entwicklung sowie eine Einführung, wie die grundlegenden Sinne funktionieren, wie sie das tägliche Leben beeinflussen und was passiert, wenn sie nicht richtig arbeiten. Am Ende dieses ersten Teiles stehen Beispiele für unterschiedliche Reaktionen von Kindern mit und ohne eine effiziente, richtig funktionierende sensorische Verarbeitung und die Hoffnung, dass eine Lösung für Herausforderungen, die Ihr Kind bewältigen muss, bereitsteht.

Teil 2 enthält:

• Kriterien und Hinweise dazu, wie man eine Diagnose erhält und an eine Behandlung kommt,

• Beispiele für selbst zu erstellende Diagramme, um das Verhalten Ihres Kindes zu dokumentieren,

• Ratschläge zum Führen eines Protokolls.

Zudem finden Sie eine Darstellung, wie Ergotherapie hilft, und einen Blick auf andere Therapien, genauso wie Vorschläge für die Bereicherung des Lebens mit Sinneseindrücken, die dazu beitragen, die Fähigkeiten Ihres Kindes zu Hause zu verbessern. Sie erhalten Anregungen, wie Sie Lehrern dabei helfen können, Ihr Kind in der Schule zu unterstützen, Bewältigungstechniken, die Ihnen helfen sollen, mit den Emotionen Ihres Kindes klarzukommen und das Familienleben zu verbessern, sowie Aufmunterung und Rat. Sie und Ihr Kind sind nicht allein!

Am Ende des Buches befinden sich drei Anhänge: ein Musterfragebogen zur sensomotorischen Anamnese des Kindes für Eltern kleiner Kinder, der sensorische Verarbeitungsapparat (eine Erklärung der Rolle des zentralen Nervensystems) und Dr. Ayres’ vier Stadien der sensorischen Integration. Ebenfalls finden Sie am Ende Anmerkungen sowie Literaturangaben zu Büchern, die beim Verfassen dieser Ausgabe verwendet wurden, deren Lektüre sich lohnt. Dazu erhalten Sie wertvolle Informationen über Organisationen, Unterstützung und Hilfsmittel, ein Glossar und einen Index.

Lesen Sie das Buch von vorne bis hinten durch, um sich ein umfassendes Bild darüber zu machen, was es mit einer sensorischen Verarbeitungsstörung auf sich hat. Verwenden Sie es als Nachschlagewerk, um Ihre Kenntnisse über einen bestimmten Bereich sensorischer Verarbeitungsstörungen aufzufrischen. Nutzen Sie es, mit einem Stift in der Hand, als Arbeitsbuch. Halten Sie es als Aufgaben- oder Aktivitätenbuch griffbereit. Verwenden Sie es, um mehr über Ihr Kind zu erfahren – und vielleicht auch über Sie selbst.

Ein Wort über Wörter

In der englischen Originalausgabe dieses Buches wird die Abkürzung „SPD“ verwendet, was der im Deutschen gängigen Bezeichnung „Sensorische Integrations- bzw. sensorische Verarbeitungsstörung“ entspricht. „S“ steht für Sensory (sensorisch), „P“ für Processing (Verarbeitung) und das „D“ steht für … Dysfunction (Dysfunktion)? Disorder (Störung)? Delays (Verzögerungen)? Deficits (Defizite)? Disabilities (Beeinträchtigungen)? Difficulties (Schwierigkeiten)? Dimensions (Dimensionen)? Diversity (Diversität)? Differences (Unterschiede)? Suchen Sie es sich aus!

Zur Erklärung …

Die verstorbene Ergotherapeutin Dr. A. Jean Ayres war die Erste, die sensorische Probleme als das Resultat einer unzureichenden neurologischen Verarbeitung beschrieb. In der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte sie eine Theorie der sensorischen Integration und lehrte andere Ergotherapeuten, wie „sensorische Integrationsprobleme“, die sie auch als „Dysfunktionen“ oder „Störungen“ bezeichnete, zu beurteilen sind.2

Viele brillante Ergotherapeuten – Kollegen und Schüler von Dr. Ayres – setzten ihre Arbeit fort. Sie verwendeten verschiedene Bezeichnungen, zum Beispiel „Sensorisch-integrative Dysfunktion“ oder „S. I.-Dysfunktion“, gelegentlich anstelle der langen Bezeichnung auch die Abkürzung „SID“. Dies war jedoch ein Problem, weil SIDS im Amerikanischen die Abkürzung für „Sudden Infant Death Syndrome“ – „plötzlicher Kindstod“ – ist. Um Verwechslungen zu vermeiden, wurde eine Zeit lang der Begriff „Dysfunktion der sensorischen Integration“, abgekürzt „DSI“, verwendet. Beim US-amerikanischen Berufsverband der Ergotherapeuten findet man den Begriff „sensorische Integrations- und Verarbeitungsschwierigkeiten.“ Einige Therapeuten ziehen es vor, ihre Behandlung „Ayres’ Sensorische Integrationstherapie“ zu nennen.3

Im Jahr 1998 erschien die erste Auflage dieses Buches. Der Untertitel lautete Recognizing and Coping with Sensory Integration Dysfunction, weil diese Bezeichnung zu jener Zeit gängig war.

„Dysfunktion“ klingt jedoch negativ. Die Tatsache, dass ein Kind nie die Füße vom Boden hebt oder immer bis zu den Achseln im Matsch steckt, bedeutet nicht, dass das Kind unnormal oder krank ist.

Zum Wohle des Kindes ist die Verwendung einheitlicher Begriffe sehr wichtig, damit Ergotherapeuten, Ärzte, anderes medizinisches Fachpersonal, Eltern, Erzieher und Versicherungsunternehmen einander verstehen und sich auf eine Diagnose und eine geeignete Behandlung einigen können. Deshalb schlug eine von Dr. Lucy Jane Miller geleitete Gruppe unter Rückgriff auf die ursprünglichen Konzepte von Dr. Ayres vor, die Terminologie abzuklären.4

Ihr (teilweise erreichtes) Ziel war, dass die Erkrankung anerkannt und in die fünfte Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, DSM-5, aufgenommen wird, damit Kinder, die unter sensorischen Verarbeitungsproblemen leiden, eine Beurteilung ihres Problems und eine Diagnose erhalten können. [Das DSM, „Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“ ist das führende psychiatrische Klassifikationssystem in den USA und spielt dort eine zentrale Rolle bei der Definition von psychischen Erkrankungen, Anm. d. Verlags.] Bei der Klassifizierung ist „Sensorische Integrations- bzw. sensorische Verarbeitungsstörung“ der Oberbegriff, dem drei diagnosebezogene Gruppen zugeordnet sind – sensorische Modulationsstörung, sensorische Diskriminationsstörung und sensorisch basierte Motorikstörung sowie deren Untertypen.

Im Jahr 2005 wurde die zweite Auflage dieses Buches veröffentlicht. Der Untertitel lautete Recognizing and Coping with Sensory Processing Disorder, weil diese Bezeichnung zu jener Zeit gängig war.

Doch „Störung“ (Disorder) ist nicht das richtige Wort. Solange keine Symptome diagnostiziert werden, die die Fähigkeit eines Kindes oder eines Erwachsenen beeinträchtigen, im alltäglichen Leben gut zurechtzukommen, wird eine atypische sensorische Verarbeitung nicht als Störung angesehen. Störungen sind Anzeichen für das Vorliegen einer Krankheit oder für einen beeinträchtigten Gesundheitszustand wie zum Beispiel Angstzustände, Depressionen oder ADHS. Bei vielen Kindern mit sensorischen Verarbeitungsproblemen ist das Wort „Störung“ nicht zutreffend.

Da der wissenschaftliche Erkenntnisstand sich kontinuierlich weiterentwickelt, zieht man derzeit die Einführung neuer Begriffe in Erwägung. So schlagen Dr. Miller und Kollegen die Verwendung einer dimensionalen Herangehensweise vor. Im Rahmen eines neuen Diagnoseverfahrens, der Sensory Processing Three Dimensions Scale, kurz SP-3D (Drei-Dimensionen-Skala der sensorischen Verarbeitung), messen sie das Vorliegen einer Abweichung der sensorischen Verarbeitung entlang einer kontinuierlichen Skala, die von „leicht“ bis „schwer“ reicht.5

Im richtigen Kontext passt der Begriff „Dimensionen“. Das Gleiche gilt für die anderen „D“-Wörter, die im ersten Absatz dieses Kapitels genannt wurden.

2022 ist die dritte Auflage dieses Buches erschienen. Der Untertitel lautet Understanding and Coping with Sensory Processing Differences. Der Begriff „Differenzen“ besagt, dass jeder Mensch Empfindungen in einer einzigartigen Weise verarbeitet – ein Konzept, das bei jedem Menschen angewendet werden kann.

[Anm. d. Verlags: Die vorliegende, erste deutsche Ausgabe dieses Klassikers der Fachliteratur basiert auf der aktualisierten englischen Originalausgabe von 2022 und enthält Ergänzungen bezüglich der Situation im deutschsprachigen Raum.]

Teil 1

SENSORISCHE VERARBEITUNGS- STÖRUNGEN ERKENNEN

Kapitel 1

Vier Kinder mit sensorischen Verarbeitungs-störungen zu Hause und in der Schule

Hinweis: Leichte sensorische Verarbeitungsprobleme sind „Abweichungen“ (Englisch „differences“). Stärker ausgeprägte sensorische Verarbeitungsprobleme sind „Schwierigkeiten“ (Englisch „difficulties“), schwere Probleme dagegen „Störungen“ (Englisch „disorder“). In diesem Buch werden alle drei Formen als sensorische Verarbeitungsprobleme bzw. -störungen bezeichnet. (Siehe das Kapitel „Ein Wort über Wörter“, auf Seite 15).

Bestimmt kennen Sie ein Kind, das überempfindlich, ungeschickt, pingelig oder zappelig ist oder irgendwie aus dem Takt geraten zu sein scheint. Dieses Kind kann Ihr Sohn, Ihre Tochter, Ihr Schüler, Ihre Schülerin, ein Mitglied Ihrer Pfadfindergruppe, Ihr Neffe, Ihre Nichte oder ein Kind aus der Nachbarschaft sein – oder das Kind, das Sie selber einmal gewesen sind.

Bei diesem Kind mag es zu Abweichungen, Schwierigkeiten oder Störungen bei der sensorischen Verarbeitung kommen, ein verbreitetes, jedoch verkanntes Problem, das sich auf das Verhalten des Kindes auswirkt und die Art und Weise beeinflusst, wie es sich bewegt, lernt, kommuniziert, sich im Umgang mit anderen Menschen verhält und wie es sich selbst wahrnimmt. Eine sensorische Verarbeitungsstörung tritt möglicherweise alleine auf oder wird von anderen physischen, kognitiven, sprachlichen, sozialen und emotionalen Problemen begleitet.

Um zu veranschaulichen, wie sich eine sensorische Verarbeitungsstörung äußern kann, werden im Folgenden Fallbeispiele von vier Kindern vorgestellt, die unter einer sensorischen Verarbeitungsstörung leiden, sowie von deren Eltern, die sich alle Mühe geben, diese Kinder großzuziehen. Vielleicht kommen Ihnen beim Lesen dieser Fallbeispiele einige Dinge bekannt vor, weil Sie sie bei dem Kind, das sie kennen, auch beobachtet haben.

Unabhängig davon, ob die sensorischen Verarbeitungsstörungen leicht oder schwer sind, benötigt das Kind, das unter einer solchen Störung leidet, Verständnis und Unterstützung, denn kein Kind ist alleine in der Lage, die Schwierigkeiten zu überwinden.

Tommy

Tommy ist das einzige Kind seiner hingebungsvollen Eltern. Sie haben lange auf das Kind gewartet und sich sehr auf seine Geburt gefreut. Und als ihr Sohn schließlich auf die Welt kam, hatten sie eine Menge zu tun.

Am Tag nach seiner Geburt hielt Tommy auf der Neugeborenenstation im Krankenhaus alle anderen Säuglinge wach. Als er nach Hause kam, schlief er nur selten eine Nacht durch. Obwohl er gestillt wurde und schnell wuchs, lehnte er die Einführung fester Nahrung hartnäckig ab und protestierte entschieden dagegen, abgestillt zu werden. Er schmuste nicht gerne, sondern schien körperliche Nähe regelrecht zu verabscheuen. Er war ein sehr quengeliges Baby.

Heute ist Tommy ein quengeliger Dreijähriger. Er schreit, weil seine Schuhe zu eng oder seine Socken zu groß sind. Er reißt sie sich von den Füßen und wirft sie weg.

Um einem Wutanfall vorzubeugen, lässt seine Mutter ihn mit Hausschuhen in die Vorschule gehen. Aber inzwischen weiß sie, dass es, wenn es nicht seine Schuhe oder seine Socken sind, unvermeidlich etwas anderes geben wird, das ihn im Laufe des Tages verstimmt.

Seine Eltern geben sich alle Mühe, aber es fällt ihnen schwer, ihr gesundes, hübsches Kind zufriedenzustellen. Alles macht ihm Angst oder sorgt dafür, dass es sich schlecht fühlt. Seine Antwort an die Welt ist: „Nein!“ Tommy hasst den Spielplatz, den Strand und die Badewanne. Er weigert sich, eine Mütze aufzusetzen oder Handschuhe zu tragen – sogar an eiskalten Tagen. Es ist immer wieder eine schwierige Aufgabe, ihn dazu zu bringen, etwas zu essen.

Verabredungen mit anderen Kindern zu organisieren, ist ein Albtraum. Friseurbesuche sind eine einzige Katastrophe. Wo auch immer sie hingehen, wenden sich die Leute ab oder starren sie an.

Seine Vorschullehrerin berichtet, dass er Malen und andere Aktivitäten, bei denen man sich schmutzig machen kann, meidet. Wenn Geschichten erzählt werden, zappelt er herum und passt nicht auf. Er schlägt ohne ersichtlichen Grund nach seinen Vorschulklassenkameraden. Doch er ist der beste Klötzchenbauer der Welt, wenn er nicht von anderen Kindern umdrängt wird.

Tommys Kinderarzt sagt seinen Eltern, dass mit ihm alles in Ordnung sei, weshalb sie sich keine Sorgen zu machen bräuchten und ihn einfach heranwachsen lassen sollten. Seine Großeltern meinen, er sei verwöhnt und müsse strenger erzogen werden. Freunde der Eltern schlagen diesen vor, ohne ihn in den Urlaub zu fahren.

Tommys Eltern fragen sich, ob es klug ist, sich seinen Launen zu beugen, aber es ist die einzige Methode, die funktioniert. Sie sind erschöpft, frustriert und gestresst. Sie können nicht verstehen, warum er so anders ist als alle anderen Kinder.

Vicki

Die süße Vicki, eine pummelige Erstklässlerin, ist oft wie benommen. Ihre Reaktion auf die um sie herum pulsierende Welt scheint zu sein: „Moment mal, wie bitte?“ Sie sieht offenbar nicht, wo sie entlanggeht, weshalb sie ständig gegen Möbel stößt, und scheint zwei linke Beine zu haben. Wenn sie stürzt, ist sie zu langsam, um den Fuß oder die Hand auszustrecken, um den Sturz abzufangen. Auch ganz normale Geräusche scheint sie nicht zu hören. Andere Sechsjährige mögen den Sinn dafür entwickelt haben, beim Hören bestimmter Geräusche stehen zu bleiben, sich umzusehen und genau zu lauschen, aber Vicki ist anders. Sie benötigt einen sehr viel größeren Input an Sinneseindrücken, um zu erfassen, worum es geht, und diese Eindrücke zu verarbeiten und sich entsprechend zu verhalten.

Außerdem ist Vicki schnell erschöpft. Ein Familienausflug oder ein Besuch auf dem Spielplatz ermüden sie schnell. Wenn ihr so eine Unternehmung vorgeschlagen wird, sagt sie seufzend: „Geht ihr. Ich habe keine Lust. Ich bin zu kaputt.“

Aufgrund ihrer Antriebslosigkeit ist es für ihre Eltern immer wieder eine mühselige Herausforderung, sie dazu zu bringen, aus dem Bett zu kommen, sich ihre Jacke anzuziehen und sie ins Auto zu bugsieren. Sie braucht lange, um einfache, alltägliche Bewegungen auszuführen. Es ist in jeder Situation so, als würde sie fragen: „Was hat diese Empfindung zu bedeuten? Wie soll ich darauf reagieren, und was soll ich damit anfangen?“

Trotzdem will sie eine Ballerina werden, wenn sie groß ist. Sie setzt sich jeden Tag vor den Fernseher und sieht sich ihren Lieblingsfilm an, das Märchen-Ballett Der Nussknacker. Wenn die von ihr geliebte Zuckerfee mit ihrem berühmten Tanz beginnt, steht sie auf, um sie tänzerisch zu begleiten. Doch ihre Bewegungen passen weder zum musikalischen Rhythmus noch zum Tempo. Ihre Gehör-Körper-Koordination ist nicht ihre Stärke.

Vicki hat darum gebettelt, Ballettunterricht zu bekommen, aber sie tut sich ziemlich schwer damit. Sie liebt ihr lila Tutu, kann jedoch nicht zwischen oben und unten des Ballettkleids unterscheiden und benötigt Hilfe beim Anziehen. Sobald sie ihren Tüllrock und ihren Haarreif angelegt hat und in ihre Ballettschuhe geschlüpft ist, plumpst sie auf den Boden. Sie hat keine Ahnung, wie sie bei einem Plié das Knie beugen oder bei einer Arabesque das Bein strecken soll. In der Tanzschule bekommt Vicki normalerweise kalte Füße und klammert sich wie eine Klette an das Bein ihrer Mutter.

Vickis Eltern sind sich nicht einig darüber, wie sie am besten mit ihrer Tochter umgehen sollen. Ihr Vater hebt sie vom Boden auf und befördert sie einfach dorthin, wo sie hinsoll – ins Bett, ins Auto oder auf den Stuhl. Er zieht sie auch an, weil es ihr schwerfällt, ihre Arme und Beine so zu positionieren, dass sie in die Kleidungsstücke hineinkommt. Er nennt sie seine „kleine Nudel“.

Vickis Mutter hingegen glaubt, dass Vicki nie lernen wird, sich mit Selbstvertrauen zu bewegen, geschweige denn, eine Ballerina zu werden, wenn sie nicht in der Lage ist, selbstständig zu sein. Ihre Mutter sagt: „Ich glaube, wenn ich sie lassen würde, würde sie den ganzen Tag an einem Ort verharren und sich nicht von der Stelle rühren.“

Obwohl es Vicki an Antrieb mangelt und sie definitiv nicht von allein in Schwung kommt, gibt es doch bestimmte Arten von Bewegungen, die sie auf Trab bringen. Wenn sie sich in ungewohnte Positionen begibt, wird sie lebhafter – zum Beispiel schaukelt sie auf allen Vieren vor und zurück, lässt sich kopfüber von der Bettkante herunterhängen oder schaukelt auf dem Bauch hin und her. Sie kann zwar auf einer Schaukel noch nicht selber in Schwung kommen, liebt es jedoch, lange zu schaukeln, wenn sie auf der Spielplatzschaukel jemand zu Beginn angeschubst hat – und wenn sie fertig ist, ist ihr nie schwindelig, was bei anderen Kindern der Fall sein kann.

Von jemand anderem Anschwung zu bekommen, macht Vicki richtig Spaß, genauso wie selber etwas Schweres zu schieben. Manchmal packt Vicki ihren Puppenwagen mit Büchern voll und schiebt ihn durch das Haus. Sie schiebt freiwillig den Einkaufswagen und trägt Taschen ins Haus. Es macht ihr auch Spaß, ihre große Schwester in einem Wagen zu ziehen. Nachdem sie etwas Schweres geschoben oder gezogen hat, hat sie noch ungefähr eine halbe Stunde Energie und fällt dann zurück in ihre typische Lethargie.

In der Schule sitzt Vicki meistens nur herum. Ihre Lehrerin sagt: „Vicki fällt es schwer, Kontakte zu knüpfen und sich an Unterrichtsaktivitäten zu beteiligen. Es ist so, als ob ihre Akkus leer wären. Sie braucht immer eine Starthilfe, um in die Gänge zu kommen. Aber dann verliert sie schnell das Interesse und gibt leicht auf.“

Vickis Verhalten ist ihren Eltern ein Rätsel. Ihre Erfahrungen mit ihren anderen beiden Kindern haben sie nicht darauf vorbereitet, mit Vickis Andersartigkeit fertigzuwerden.

Paul

Paul ist ein extrem schüchterner zehnjähriger Junge. Er bewegt sich unbeholfen, hat eine schlechte Körperhaltung und ein schlechtes Gleichgewichtsgefühl und fällt häufig hin. Er weiß nicht, wie man spielt, und wenn er mit anderen Kindern zusammen ist, guckt er meistens nur niedergeschlagen zu und geht weg. Am Sonntagnachmittag schlägt Pauls 12-jähriger Cousin Prescott ihm im Haus ihrer Großeltern vor, mit Murmeln zu spielen und mit einem Basketball Körbe zu werfen. Paul versucht es halbherzig, zuckt mit den Schultern und lässt es dann. „Ich kann das nicht“, sagt er. „Und überhaupt, was soll das bringen?“

Paul geht nicht gerne in die Schule. Manchmal bittet er darum, zu Hause bleiben zu dürfen, und seine Eltern lassen ihn. Er sagt, dass er nicht in die Schule gehen möchte, weil er anders sei als all die anderen Kinder. Er sagt, dass er in nichts gut sei und alle über ihn lachen.

Pauls Lehrerin ist aufgefallen, dass er sich lange konzentrieren und überdurchschnittlich gut lesen kann. Sie wundert sich, dass ein Kind, das so viel mitzuteilen hat, wie gelähmt ist, wenn es einen Aufsatz schreiben soll. Zugegeben, seine Handschrift ist krakelig, die Seiten seines Hefts sind zerknittert und voller ausradierter Stellen. Er umfasst seine Stifte verkrampft, drückt sich beim Schreiben den Ellbogen gegen die Rippen und streckt die Zunge heraus. Und er rutscht oft vom Stuhl, wenn er sich intensiv aufs Schreiben konzentriert. Sie hofft, dass sich seine handschriftlichen Fähigkeiten durch zusätzliche Übung verbessern werden, und sagt, dass er sich nur besser organisieren muss, um sich mehr auf seine Aufgaben konzentrieren und sauberer arbeiten zu können.

Seine Eltern wundern sich, warum er in der Schule ein Außenseiter ist, denn er hat sich ihrem geruhsamen Lebensstil immer angepasst. Paul ist ein bescheidenes Kind, das nur selten Aufmerksamkeit sucht. Er kann stundenlang über seinen Baseballkarten sitzen, ganz und gar in sich gekehrt.

Pauls Eltern halten ihn für ein perfektes Kind. Sie sehen, dass er anders ist als andere Kinder, die laut und frech sind. Er macht nie Ärger, auch wenn er etwas tollpatschig ist, oft Geschirr fallen lässt und Spielzeug kaputt macht, das einfach zu handhaben ist. Aber schließlich sind seine Eltern auch etwas unbeholfen und deshalb zu dem Schluss gekommen, dass körperliche Fähigkeiten unwichtig sind. Sie sind froh, dass ihr Sohn ruhig und wohlerzogen ist und gerne liest, genau wie sie.

Doch irgendetwas steht ihm im Weg. Und seine Eltern haben keine Ahnung, was das sein könnte.

Sebastian

Sebastian, acht Jahre alt, zappelt immerzu herum. In der Schule blättert er ständig Bücher durch, spielt mit Stiften, klopft mit Linealen auf den Tisch und zerbricht Bleistifte.

Sebastian Augen zucken hin und her, seine Knie wippen, er klopft mit den Füßen auf den Boden und fummelt an seinen Ohrläppchen herum. Er kippt mit seinem Stuhl nach hinten und dann mit einem Ruck wieder nach vorne. Er rutscht auf seinem Stuhl herum, setzt sich auf die Füße und drückt sich die Knie an die Brust. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit springt er von seinem Stuhl auf, um seinen Bleistift anzuspitzen oder ein zusammengeknülltes Stück Papier in den Papierkorb zu werfen.

Seine ununterbrochene Aktivität lenkt seine Klassenkameraden und seine Lehrer ab. Früher hatte er die Angewohnheit, das Band, an dem sein Hausschlüssel hing, um seinen Finger kreisen zu lassen. Einmal hat er es aus Versehen losgelassen, woraufhin es durch den ganzen Raum geflogen und gegen das Fenster gekracht ist. Seitdem übergibt er das Schlüsselband jeden Morgen seinem Lehrer, damit er damit niemanden ärgern und niemandem wehtun kann.

Jedes Kind sucht nach sensorischer Stimulation, aber Sebastians heftiges Verlangen nach Sinnesempfindungen ist anders. „Mehr, mehr, mehr!“ Er ist ein Kind, das „etwas anfassen muss“ und „sich bewegen muss“, auch wenn ihm aufgrund der Umstände klar sein sollte, dass der Zeitpunkt gerade unpassend ist, um etwas anzufassen oder sich zu bewegen.

Eines Tages bereitet die Lehrerin eine naturwissenschaftliche Unterrichtsstunde vor. Sie stellt Weißleim, Borax für die Waschmaschine und Wasser bereit – mit den Zutaten lässt sich eine Knetmasse herstellen. Sebastian ist interessiert, drückt sich in der Nähe herum und hüpft mit zuckenden Fingern von einem Fuß auf den anderen. Die Lehrerin meint: „Bitte fass nichts an, bevor die anderen Kinder auch da sind.“ Doch er langt nach vorne und stößt das Glas mit dem Leim um, der sich auf dem ganzen Tisch verteilt.

„Sebastian! Jetzt hast du schon wieder nicht aufgepasst!“, sagt die Lehrerin.

„Das wollte ich nicht!“, schreit Sebastian. Er schüttelt heftig den Kopf und springt auf und ab. „Mist“, jammert er, „immer kriege ich Ärger, warum bloß?“

„Oje“, klagt die Lehrerin und wischt den vergossenen Leim auf. „Was soll ich nur mit dir machen?“

Warum verhalten Tommy, Vicki, Paul und Sebastian sich so auffällig? Ihre Eltern, Lehrer und Kinderärzte haben keine Ahnung, was sie davon halten sollen.

Die Kinder leiden nicht unter festgestellten Beeinträchtigungen wie Autismus, Zerebralparese oder Sehstörungen. Bei ihnen scheint rundum alles in Ordnung zu sein: Sie sind gesund, intelligent und werden sehr geliebt. Trotzdem haben sie Probleme mit ihren grundlegenden Fähigkeiten, ihre Reaktionen auf ganz normale Situationen zu kontrollieren, ihre Handlungen zu planen und zu organisieren und ihr Aufmerksamkeitslevel und ihren Aktivitätsgrad zu beherrschen.

Ihr gemeinsames Problem ist, dass sie an einer sensorischen Verarbeitungsstörung leiden.

Kapitel 2

Leidet Ihr Kind unter einer sensorischen Verarbeitungsstörung?

Dieses auch für Laien verständlich geschriebene Kapitel über häufig auftretende Symptome bei einer vorliegenden Verarbeitungsstörung und mit diesen Symptomen verbundene Probleme kann Ihnen vielleicht dabei helfen festzustellen, ob Ihr Kind unter einer sensorischen Verarbeitungsstörung leidet. Wenn die Abweichungen im Hinblick auf die sensorische Verarbeitung bei Ihrem Kind auffällig sind, fällt es Ihnen vielleicht wie Schuppen von den Augen. Vielleicht erkennen Sie die Symptome sofort und sind erleichtert, zumindest endlich Antworten zu haben. Selbst wenn die Abweichungen nur mild ausgeprägt sind, können Ihnen die Informationen dabei helfen, neue Erkenntnisse darüber zu gewinnen, warum Ihr Kind sich so merkwürdig verhält.

Sensorische Verarbeitungsstörung: Eine kurze Definition

Eine sensorische Verarbeitungsstörung ist dadurch gekennzeichnet, dass Betroffene Schwierigkeiten dabei haben, durch die Sinne aufgenommene Informationen richtig zu empfangen, zu integrieren (also miteinander zu verbinden) oder zu verwenden, um im täglichen Leben problemlos zurechtzukommen. (Siehe das Kapitel „Ein Wort über Wörter“, Seite 15)

Die verstorbene Ergotherapeutin Dr. A. Jean Ayres war die Erste, die sensorische Verarbeitungsprobleme als Folge von Störungen im zentralen Nervensystem beschrieben hat. In der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte sie eine Theorie der sensorischen Integration und leitete andere Ergotherapeuten an, Störungen der sensorischen Integration zu erkennen und zu beurteilen. In Kapitel 2 wird ausführlicher darauf eingegangen, was eine sensorische Verarbeitungsstörung bedeutet.

Wenn eine sensorische Verarbeitungsstörung nur leicht ausgeprägt ist, kann sie zu Verzögerungen bei bestimmten kindlichen Entwicklungsstadien führen, zum Beispiel dazu, dass ein betroffenes Kind später laufen lernt als die meisten anderen Kinder. In schweren Fällen beeinträchtigt sie signifikant die Entwicklung der Selbstkontrolle, der Bewegung, der Lern- und Sprachfähigkeit sowie die Entwicklung sozial-emotionaler Fähigkeiten. Eine sensorische Verarbeitungsstörung kann bereits in der Gebärmutter beginnen, sich im Säuglings- oder Kindesalter, während der Pubertät oder im Erwachsenenalter bemerkbar machen und besteht normerweise während des gesamten Lebens eines Betroffenen fort.

Im folgenden Schema sind drei diagnostische Gruppen und Subtypen aufgeführt, die auf der von Dr. Lucy Jane Miller, einer Schülerin von Dr. Ayres, und anderen geschätzten Ergotherapeuten vorgeschlagenen Terminologie basieren.6 (Die Begriffe werden in Kapitel 4 erklärt.)

Subtypen der sensorischen Verarbeitungsstörung

Die sensorische Verarbeitung findet im zentralen Nervensystem statt, dessen „Verarbeitungszentrale“ das Gehirn ist. Wenn die Verarbeitung im Gehirn nicht richtig funktioniert, ist ein betroffenes Kind möglicherweise nicht in der Lage, sensorische Informationen wahrzunehmen, zu registrieren oder auf diese Informationen zu reagieren und sich in sinnvoller, beständiger Weise zu verhalten. Es kann Schwierigkeiten haben, sensorische Informationen zu verwenden, um darauf basierend Handlungen zu planen und auszuführen, deren Ausführung erforderlich ist. Das wiederum kann zum Beispiel zur Folge haben, dass es Lernschwierigkeiten hat.

Lernen ist ein weit gefasster Begriff. Eine Art des Lernens wird als „adaptives Verhalten“ bezeichnet, womit die Fähigkeit gemeint ist, auf neue Umstände zu reagieren und sein Verhalten entsprechend zu ändern und anzupassen, also zum Beispiel zu lernen, die Erwartungen verschiedener Lehrer zu erfüllen. Adaptives Verhalten (oder adaptives Reagieren) ist zielgerichtet und dient einem bestimmten Zweck.

Eine andere Art des Lernens ist das motorische Lernen, womit die Fähigkeit gemeint ist, immer komplexere Bewegungsfähigkeiten zu entwickeln, nachdem man gelernt hat, einfachere Bewegungen durchzuführen. Beispiele dafür sind zu lernen, einen Bleistift zu benutzen, nachdem man gelernt hat, mit einem Buntstift herumzukritzeln, oder zu lernen, einen Ball zu fangen, nachdem man gelernt hat, einen Ball zu werfen.

Eine dritte Art des Lernens ist das abstrakte Lernen beziehungsweise die „Kognition“. Das ist die Fähigkeit, konzeptionelle Fähigkeiten zu entwickeln, zum Beispiel Lesen und Rechnen oder die Fähigkeit, das heute Gelernte auf das gestern Gelernte anzuwenden.

Die Verknüpfung zwischen Gehirn und Verhalten ist sehr stark. Weil ein Kind mit einer sensorischen Verarbeitungsstörung ein schlecht organisiertes Gehirn hat, ist auch sein Verhalten in vielerlei Hinsicht schlecht organisiert. Seine Gesamtentwicklung ist gestört, und seine Beteiligung an typischen Kindheitserfahrungen und -erlebnissen ist schleppend, zögerlich oder unbeholfen. Für ein Kind mit einer sensorischen Verarbeitungsstörung kann die Bewältigung normaler Aufgaben und das Reagieren auf alltägliche Ereignisse eine gewaltige Herausforderung sein.

Dass ein betroffenes Kind unfähig ist, problemlos durch den Tag zu kommen, liegt nicht daran, dass das Kind nicht will, sondern daran, dass es nicht kann.

Wie eine ineffiziente sensorische Verarbeitung zu ineffizientem Lernen führt

Ihr Kind zieht die Katze am Schwanz, die Katze faucht, macht den Rücken rund und stößt kurz und heftig feuchte Luft aus. Normalerweise lernt ein Kind durch Erfahrung, so etwas Erschreckendes nicht noch einmal erleben zu wollen. Es lernt also, in Zukunft vorsichtig zu sein, und wird sein Verhalten besser an eine derartige Situation anpassen.

Einem Kind mit einer sensorischen Verarbeitungsstörung kann es jedoch schwerfallen, verbale oder nonverbale Signale aus seiner Umgebung zu verstehen. Möglicherweise kann es die akustische Botschaft – das Fauchen –, die visuelle Botschaft – den gekrümmten Rücken der Katze – und die taktile Botschaft – den Speichel auf seiner Wange – nicht entschlüsseln. Es begreift das Gesamtbild nicht und lernt dadurch nicht, sich in Zukunft vorsichtiger zu verhalten.

Oder das Kind kann die Reaktion der Katze verstehen, ist jedoch nicht in der Lage, sein Verhalten zu ändern und sich zu kontrollieren. Es empfängt die sensorische Information, kann diese jedoch nicht richtig verarbeiten, um angemessen zu reagieren.

Oder es kann auch passieren, dass das Kind die Empfindungen aufnimmt, verarbeitet und entsprechend reagiert – aber nicht heute. Heute könnte einer der „schlechten“ Tage sein, die das Kind manchmal hat.

Mögliche Folgen:

• Vielleicht lernt das Kind nie, sich angemessen zu verhalten, und wird immer wieder gekratzt. Also hält es sein riskantes Verhalten bei, bis jemand dafür sorgt, dass die Katze wegkommt, oder bis die Katze lernt, das Kind zu meiden. Das Kind hat eine Chance verpasst zu lernen, eine positive Beziehung zu einem anderen Lebewesen aufzubauen.

• Das Kind entwickelt Angst vor der Katze. Möglicherweise versteht es Ursache und Wirkung nicht und ist verstört über das in seinen Augen unvorhersehbar erscheinende Verhalten der Katze. Möglicherweise bekommt es auch Angst vor anderen Tieren.

• Irgendwann kann das Kind lernen, Ursache und Wirkung zu verstehen, seine Handlungen einzuschätzen und Tiere liebevoll zu behandeln, und möglicherweise liebt es Katzen, wenn es größer wird. Aber all dies wird nur mit großer bewusster Anstrengung und nach langer Zeit passieren und nachdem es viele Kratzer kassiert hat.

Häufige Symptome einer sensorischen Verarbeitungsstörung

Im Folgenden finden Sie drei Checklisten, in denen häufig auftretende Symptome aufgeführt sind, die mit sensorischen Verarbeitungsschwierigkeiten einhergehen. (Siehe auch Anhang A: Fragebogen zur sensomotorischen Anamnese für Eltern kleinerer Kinder.)

In der ersten Checkliste „Sensorische Modulationsstörungen“ geht es darum, wie das Gehirn eines Kindes auf Empfindungen reagiert und seine Reaktionen steuert. Einige Kinder mit sensorischen Modulationsstörungen sind geradezu überempfindlich. Schon angesichts ganz normaler Empfindungen zucken diese extrem sensiblen „Reiz-Vermeider“ (Sensory Avoider) zusammen oder scheinen sich gegen diese Empfindungen zu sträuben und „Nein!“ zu schreien. Andere Kinder sind hingegen unterempfindlich. Diese „Reiz-Spätbemerker“ (Sensory Struggler) scheinen Empfindungen gar nicht aufzunehmen und reagieren auf diese mit einem „Moment mal, wie bitte?“ Wiederum andere Kinder lechzen regelrecht nach sensorischen Empfindungen. Diese „Reiz-Süchtigen“ haben ein unbändiges Verlangen nach bestimmten Reizen und verlangen lauthals nach „Mehr, mehr!“

Inoffizielle Begriffe zur Beschreibung von Kindern mit einer sensorischen Verarbeitungsstörung

Die Begriffe in der ersten Spalte sind nicht-wissenschaftliche Vorschläge, die dabei helfen sollen, sich Kinder mit verschiedenen Arten sensorischer Verarbeitungsstörungen besser vorzustellen.

Dieses Kind:Hat Schwierigkeiten aufgrund von:Reiz-Vermeider (Sensory Avoider)ÜberempfindlichkeitReiz-Spätbemerker (Sensory Struggler)UnterempfindlichkeitReiz-Sucher (Sensory Craver)ReizsuchtReiz-Durcheinanderbringer (Sensory Jumbler)DiskriminationsstörungenSensorischer ZusammensackerPosturale StörungenSensorischer TollpatschDyspraxie (schlechte Koordination)

In der zweiten Checkliste „Sensorische Diskriminationsstörungen“ geht es um die Herausforderung, ankommende Botschaften mit einem Sinn zu unterscheiden. Wenn sensorische Botschaften einen „Reiz-Durcheinanderbringer“ verwirren, lautet seine Antwort: „Was hat diese sensorische Botschaft zu bedeuten?“

In der dritten Checkliste „Sensorisch basierte Motorikstörungen“ geht es um Schwierigkeiten, integrierte Sinne zu nutzen, um zu sitzen, sich zu bewegen, zu schreiben, zu essen usw. Ein Typ Kind mit einer sensorischen Verarbeitungsstörung, der „sensorische Zusammensacker“, hat posturale Probleme, die es ihm erschweren, sich bei körperlichen Aktivitäten zu bewegen und den Körper zu stützen, und infolgedessen sagt es: „Ich will das nicht.“ Ein anderer Typ Kind, der „sensorische Tollpatsch“, hat Probleme damit, kreative Lösungen zu finden, um einen „motorischen Plan“ zu entwickeln und mehrstufige Handlungen durchzuführen, weshalb es bekennt: „Ich kann das nicht.“

Wenn Sie auf der Liste Symptome entdecken, die Ihnen bekannt vorkommen, sollten Sie sich darüber im Klaren sein, dass die Symptome sich von Kind zu Kind unterscheiden, weil jedes Gehirn so einzigartig ist wie ein Fingerabdruck oder eine Schneeflocke. Kein Kind wird alle Symptome aufweisen. Doch wenn einige der beschriebenen Symptome bei Ihrem Sohn oder Ihrer Tochter auftreten, benötigt er oder sie wahrscheinlich Verständnis und Unterstützung. Die Schwierigkeiten, die Probleme bereiten, einfach zu ignorieren, wird nicht dafür sorgen, dass sie verschwinden.

Sensorische Modulationsstörungen

Die am häufigsten auftretende Form einer sensorischen Verarbeitungsstörung ist eine sensorische Modulationsstörung, die vorliegt, wenn ein „Reiz-Vermeider“, ein „Reiz-Spätbemerker“ oder ein „Reiz-Sucher“ häufig, ausgeprägt oder dauerhaft ein Symptom oder mehrere in der Liste aufgeführte Symptome aufweist. Häufig bedeutet mehrmals am Tag. Ausgeprägt bezieht sich darauf, wie stark erkennbar das beschriebene Verhalten ist, also zum Beispiel, dass ein Kind sensorische Reize auffällig meidet oder sich auffällig auf sie stürzt. Dauerhaft bedeutet, dass die Reaktion mehrere Minuten oder länger anhält.

Die Checklisten bieten Ihnen einen schnellen Überblick über häufig auftretende Probleme. In späteren Kapiteln werden Sie mehr Details erhalten.

Empfindungen

Reiz-Vermeider (Überempfindlichkeit): „Nein!“

Reiz-Spätbemerker (Unterempfindlichkeit): „Moment mal, wie bitte?“

Reiz-Sucher (Verlangen): „Mehr!“

Berührung

Vermeidet es, Gegenstände oder Menschen zu berühren oder von diesen berührt zu werden. Reagiert mit einer Kampf-oder-Flucht-Reaktion darauf, sich schmutzig zu machen, auf bestimmte Texturen von Kleidung oder Nahrungsmitteln, auf Licht und auf unerwartete Berührungen.

Ist sich nicht dessen bewusst, dass sein Gesicht, seine Hände oder seine Kleidung schmutzig sind, und weiß womöglich nicht, ob es berührt wurde. Nimmt nicht wahr, wie sich Dinge anfühlen, und lässt oft Gegenstände herunterfallen. Scheint nicht über einen „inneren Impuls“ zu verfügen, wie es mit Spielzeugen, Gegenständen, Stiften, Werkzeugen usw. umgehen soll.

Fasst immerzu alles an, suhlt sich im Matsch, kippt Spielzeugkisten aus, wühlt planlos in dem Spielzeug herum und reibt sich an Wänden und Möbeln.

Bewegung und Gleichgewicht

Vermeidet es, sich zu bewegen oder unerwartet bewegt zu werden. Ist unsicher und hat Angst hinzufallen oder das Gleichgewicht zu verlieren. Bleibt mit den Füßen auf dem Boden. Leidet unter Übelkeit im Auto.

Nimmt gar nicht wahr, dass es bewegt wird, und hat auch nichts dagegen. Nimmt gar nicht wahr, wenn es hinfällt, und schützt sich kaum vor dem Sturz. Kein Selbststarter beim Schaukeln, aber wenn das Kind Anschwung bekommen hat, macht es lange weiter, ohne dass ihm schwindlig wird.

Lechzt nach schnellen und Drehbewegungen, wobei ihm möglicherweise nicht schwindelig wird. Ständig in Bewegung, zappelt herum, liebt Positionen, bei denen der Kopf unten ist, wippt auf den Füßen hin und her, ist wagemutig und geht kühne Risiken ein.

Körperhaltung und Muskelkontrolle

Meidet möglicherweise den Spielplatz und sportliche Aktivitäten.

Scheint keinen Bewegungsdrang zu haben. Sitzt in „W“-Position. Tappt beim Gehen mit den Füßen auf den Boden, um sich sensorischen Input zu verschaffen. Wird nach Aktivitäten wacher.

Verlangt nach heftigen Umarmungen und will stark gedrückt werden. Stößt und kracht ständig irgendwo dagegen, knabbert und kaut ständig. Liebt intensive körperliche Aktivitäten und heftige Bewegungen.

Während Auffälligkeiten bei Berührungen, Bewegungen und bei der Körperhaltung ein deutliches Anzeichen für das Vorliegen einer sensorischen Verarbeitungsstörung sind, kann ein betroffenes Kind auch im Hinblick auf Sehen, Hören, Riechen, Tasten und viszerale Signale innerer Organe atypisch reagieren.

Sensorische Diskriminationsstörungen

Eine andere Form einer sensorischen Verarbeitungsstörung betrifft die sensorische Unterscheidung der Qualität von Sinnesempfindungen innerhalb des Sinnessystems. Ein Kind, das durch bloßes Ertasten ein Fünfcentstück von einem Zehncentstück unterscheiden kann, verfügt über eine vorteilhafte Unterscheidungsfähigkeit. Ein „Reiz-Durcheinanderbringer“ (Sensory Jumbler), der den Klang des Wortes „Band“ nicht von dem Klang des Wortes „Wand“ unterscheiden kann, ist hinsichtlich seiner Unterscheidungsfähigkeit im Nachteil. Ein solches Kind leidet häufig auch unter sensorisch basierten Motorikstörungen und sensorischen Modulationsstörungen.

Empfindungen

Reiz-Durcheinanderbringer (Diskriminationsstörungen) „Was hat das zu bedeuten?“

Berührung

Kann nicht sagen, an welcher Stelle des Körpers es berührt wurde; hat ein schlechtes Körpergefühl, „wie losgelöst“ von Händen und Füßen; kann Gegenstände nicht durch bloßes Ertasten unterscheiden (ohne sie zu sehen). Ist nachlässig beim Anziehen und sehr ungeschickt beim Hantieren mit Knöpfen, Haarspangen usw. Kann nicht richtig mit Essbesteck und Schulutensilien umgehen. Hat womöglich Schwierigkeiten, Schmerz- oder Temperaturempfindungen zu verarbeiten, z. B. einzuschätzen, wie ernst eine Prellung ist oder ob ein Zimmer zu warm oder zu kalt ist.

Bewegung und Gleichgewicht

Kann nicht spüren, dass es hinfällt, vor allem nicht mit geschlossenen Augen. Verliert leicht die Orientierung, wenn es sich dreht, die Richtung ändert oder in eine Körperposition gerät, bei der es nicht aufrecht auf zwei Beinen steht und der Kopf oben ist. Möglicherweise ist das Kind nicht in der Lage zu wissen, wann es sich ausreichend bewegt hat.

Körperhaltung und Muskelkontrolle

Ist möglicherweise nicht mit dem eigenen Körper vertraut. Ist „tollpatschig“ und hat Schwierigkeiten, die Gliedmaßen richtig zu positionieren, um sich anzuziehen oder Fahrrad zu fahren. Kann Bewegungen nicht gleichmäßig und flüssig abstufen (anpassen) und setzt zu viel oder zu wenig Kraft ein, um Stifte zu handhaben, mit Spielzeug zu spielen, Türen aufzudrücken oder Bälle zu treten. Kann sich in Interaktionen anderer einmischen, „hineinplatzen“ oder diese stören.

Sehen

Wenn das Problem durch eine sensorische Verarbeitungsstörung verursacht ist (und z. B. nicht durch Kurzsichtigkeit), können Ähnlichkeiten und Unterschiede in Bildern, geschriebenen Worten sowie von Gegenständen und Gesichtern nicht erkannt werden. Bei sozialen Interaktionen werden Ausdrücke und Gesten von Personen möglicherweise nicht erkannt. Das Kind kann Schwierigkeiten haben, visuelle Aufgaben zu lösen, beispielsweise Zahlen aneinanderzureihen oder zu beurteilen, wo sich Dinge im Raum befinden – das Kind selbst eingeschlossen –, oder wie es sich bewegen muss, um nicht gegen Hindernisse zu stoßen.

Hören

Wenn das Problem durch eine sensorische Verarbeitungsstörung verursacht wird (und nicht durch Ohreninfektionen oder Legasthenie), können Schwierigkeiten bestehen, Unterschiede zwischen Lauten zu erkennen, insbesondere bei Konsonanten am Ende von Worten. Kann keine Reime wiederholen oder selber Reime bilden. Singt schief. Orientiert sich an anderen, um zu wissen, was es tun soll, weil es verbale Anweisungen möglicherweise nicht versteht. Hat schlechte Hörfähigkeiten, kann z. B. nicht die Stimme eines Lehrers aus lauten Umgebungsgeräuschen heraushören oder sich auf ein bestimmtes Geräusch konzentrieren, ohne von anderen Geräuschen abgelenkt zu werden.

Riechen und Tasten

Kann bestimmte Gerüche, zum Beispiel den von Zitronen, Essig oder Seife nicht unterscheiden. Kann Geschmäcke nicht unterscheiden und nicht erkennen, wann eine Speise oder ein Nahrungsmittel zu scharf, zu salzig oder zu süß ist. Wählt bestimmte Speisen und Nahrungsmittel womöglich nach dem Aussehen aus oder lehnt sie ab.

Innere Signale

Fühlt sich möglicherweise schwach, kann aber nicht wahrnehmen, dass es Hunger hat. Verspürt möglicherweise Unwohlsein, ist sich jedoch nicht dessen bewusst, dass es sich entleeren muss. Weiß möglicherweise nicht, an welcher Stelle des Körpers es wehtut, wenn es über Schmerzen klagt oder ihm warm oder kalt ist.

Sensorisch basierte Motorikstörungen

Die dritte Form einer sensorischen Verarbeitungsstörung sind sensorisch basierte Motorikstörungen, von denen es zwei Arten gibt. Die eine Art ist durch posturale Probleme bei bestimmten Bewegungsmustern, Probleme mit dem Gleichgewicht und dem Einsatz beider Körperhälften (bilateraler Integration) gekennzeichnet. Beim sensorischen Tollpatsch kann auch eine schlechte Unterscheidungsfähigkeit im Hinblick auf Berührungs- und Bewegungsempfindungen auftreten.

Sensorisch basierte motorische Fähigkeiten

Sensorischer Zusammensacker (Posturale Probleme) „Ich will das nicht.“

Bewegungskomponenten

Kann verspannt sein oder einen „lockeren und schlaffen“ Muskeltonus haben sowie einen schwachen Griff beim Anfassen von Gegenständen. Hat Schwierigkeiten, eine stabile Position einzunehmen oder aufrechtzuerhalten, die Gliedmaßen vollständig zu strecken und zu beugen, das Gewicht zu verlagern, um zu krabbeln, oder den Körper zu drehen, um einen Ball zu werfen. Sitzt krumm und fläzt sich herum.

Gleichgewicht

Verliert beim Gehen oder bei einer Veränderung der Position das Gleichgewicht. Hat zwei linke Beine, stolpert über Luft.

Bilaterale Integration