Das Ende der Führung? - Thönneßen Johannes - E-Book

Das Ende der Führung? E-Book

Thönneßen Johannes

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Beschreibung

Führungskräfte üben Macht über andere aus. Sie treffen Entscheidungen, sitzen Besprechungen vor und haben den größten Gesprächsanteil. Sie vertreten Organisationen oder Teile davon nach außen. Sie präsentieren Ergebnisse, die andere erzielt haben, urteilen über Menschen und legen fest, welche Informationen sie in welcher Form weitergeben ... Ja, Organisationen brauchen Entscheider, Vermittlerinnen, Mentoren, Strateginnen, Feedback-Geber, Coachs, Fachleute - aber braucht es zwingend Führungskräfte? Menschen, die all die genannten Aufgaben auf sich vereinen sollen und müssen? Der Autor stellt dieses nach wie vor sehr pauschale Verständnis von Führung radikal in Frage. Er plädiert dafür, diejenigen Aufgaben in Organisationen und Unternehmen in den Blick zu nehmen, die mit den eigenen Kompetenzen, Haltungen und Anliegen kompatibel sind – und somit auch den größtmöglichen Erfolg auf Veränderung versprechen. Ein Buch für Leserinnen und Leser, die nicht „führen”, sondern vielmehr „wirken” wollen. Das Werk ist Teil der Reihe "Leadership kompakt".

Leserinnen und Lesern stehen eine ganze Reihe buchbegleitender Arbeitsmaterialien zum Download zur Verfügung, die bei der Anwendung der Inhalte unterstützen.

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Johannes Thönneßen

Das Ende der Führung?

Über ein veraltetes Konzept und seine Alternativen

managerSeminare Verlags GmbH – Edition managerSeminare

Johannes Thönneßen

Das Ende der Führung?

Über ein veraltetes Konzept und seine Alternativen

© 2023 managerSeminare Verlags GmbH

Endenicher Str. 41, D-53115 Bonn

Tel: 0228-977910

[email protected]

www.managerseminare.de/shop

Der Verlag hat sich bemüht, die Copyright-Inhaber aller verwendeten Zitate, Texte, Abbildungen und Illustrationen zu ermitteln. Sollten wir jemanden übersehen haben, so bitten wir den Copyright-Inhaber, sich mit uns in Verbindung zu setzen.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten.

ISBN: 978-3-98856-303-3

Herausgeber der Edition managerSeminare:Ralf Muskatewitz, Jürgen Graf, Nicole Bußmann

Lektorat: Sadia Oumohand

Coverfotos: peshkova/Depositphotos.com, elwynn/Depositphotos.com

Illustrationen: Stefanie Diers

E-Book: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

1.Warum „Führungskraft“ kein Beruf ist

2.Das Menschenbild oder warum wir keine Führungskräfte brauchen

3.Warum eher Fachleute als Führungskräfte benötigt werden

4.Ist eine Vision auch ohne Führungskräfte möglich?

5.Wie funktioniert die Vertretung nach außen ohne formale Führungskraft?

6.Warum man keine Führungskraft braucht, um Entscheidungen zu treffen

7.Wer trifft Entscheidungen, wenn es keine Führungskraft gibt? Und vor allem: Wie?

8.Wer wählt neue Mitarbeitende aus, wenn es keine Führungskraft gibt?

9.Wer entlässt Mitarbeitende, wenn es keine Führungskräfte gibt?

10.Wer entscheidet über die Strategie, wenn es keine Führungskräfte gibt?

11.Wer entscheidet über das Gehalt, wenn nicht die Führungskraft?

12.Warum Leistungsbeurteilungen ganz entfallen können

13.Wie Personalentwicklung ohne Führungskräfte funktioniert

14.Wer gibt den Mitarbeitenden Feedback, wenn nicht die Führungskraft?

15.Wer motiviert Mitarbeitende, wenn es keine Führungskräfte mehr gibt?

16.Geteilte Führung und was das mit Delegation zu tun hat

17.Elementar und doch ungemein vernachlässigt: Besprechungen moderieren

18.Über das Problem der informellen Führung

19.Wer übernimmt die Fürsorge für Mitarbeitende, die hierauf angewiesen sind?

20.Wer löst Konflikte, wenn es keine Führungskraft mehr gibt?

21.Wie sieht eine Organisation ohne Führungskräfte aus?

22.Warum sollte der Gründer auf seine Führungsposition verzichten?

23.Warum lässt man Führungskräfte nicht durch eine Wahl bestimmen?

Anstelle eines Nachwortes

Literatur

Stichwortverzeichnis

Einleitung

Wir geben ihnen Macht, um ihnen dann zu erklären, wie man diese nicht nutzt.

Wir geben ihnen die Vollmacht zu entscheiden und zeigen ihnen dann, wie man Entscheidungen den Mitarbeitenden überlässt.

Wir geben ihnen Verantwortung, um ihnen dann zu erklären, wie man diese an Mitarbeitende delegiert.

Wir erklären ihnen, dass die beste Führungskraft diejenige ist, die sich selbst überflüssig macht.

Seit Langem beschäftigt mich der Gedanke, einmal alles aufzuschreiben, was mir zum Thema „Führung“ wichtig ist. Und mindestens ebenso lange denke ich: „Zu dem Thema ist doch längst alles geschrieben. Warum sollte ich also die Liste der Buchtitel unnötig verlängern?“ Inzwischen weiß ich, warum. Weil sich alles ständig wiederholt. Das klingt erst mal paradox. Es gibt nach wie vor „Studien“ zum idealen Führungsstil, zur Führungspersönlichkeit, zu Führungstalenten, zur Erwartung an Führung, zur Wirkung von (schlechter und guter) Führung. Es werden stets die gleichen Aufgaben von Führungskräften betont: Die Führungskraft als Coach, Förderer, Ermöglicher, Dienstleister, Diener, Visionär, Motivator, Personalentwickler, Stratege, Entscheider, Moderator, Sinnstifter etc. Und es gibt tatsächlich noch Veröffentlichungen, die sich mit der „charismatischen Führungskraft“ beschäftigen.

In Trainings, Ratgebern und Lehrbüchern finden sich die stets gleichen Modelle: situatives Führen, transaktionales und transformationales Führen, dienende, authentische, coachende, direktive, partizipative oder Laissez-faire-Führung, um die bekanntesten zu nennen. Tatsächlich werden solche „Modelle“ den Führungskräften bis heute präsentiert, und immer wieder geht es um die Frage: Was ist der „richtige“ Führungsstil? Richtig im Sinne von: „Welches ist der erfolgreichste von allen?“

Wobei die Definition von Erfolg ja schon schwierig ist. Meist geht es um wirtschaftlichen Erfolg – aber woran misst man dann den Erfolg von Führungskräften in Behörden, in Krankenhäusern, in Non-Profit-Organisationen? Und wie in Abteilungen wie Verwaltung, Controlling, Forschung, Entwicklung …?

Wenn es also schon schwierig ist, erfolgreiche von weniger erfolgreicher Führung zu unterscheiden – wenn das möglich wäre, müsste der „ideale“ Führungsstil ja längst „entdeckt“ worden sein –, wie schaut es dann aus mit den Menschen, die Führungspositionen innehaben? Solche „Studien“ gibt es natürlich auch zuhauf: Man befragt Führungskräfte, die besonders erfolgreich (und hier meist in der Tat wirtschaftlich erfolgreich) sind und erklärt dann, was die Welt von ihnen lernen kann. Oder es gibt Mitarbeiterbefragungen, die darauf abzielen, zu erfahren, welches Verhalten bei Mitarbeitenden Höchstleistungen oder Wohlbefinden (oder beides) erzeugt. Mit stets sehr ähnlichen Ergebnissen: partizipativ, fordernd, fördernd, empathisch, authentisch, visonär, begeisternd, unterstützend, delegierend, wertschätzend usw.

Alles bekannt? Ja, wenn das alles bekannt und ausreichend „untersucht“ ist – warum werden dann die gleichen Betrachtungen immer wieder aufs Neue angestellt? Und warum gibt es dieses Phänomen nicht bei anderen „Berufsgruppen“, also z.B. die 100ste Studie zu den Themen „Was macht einen erfolgreichen Arzt aus? Was einen erfolgreichen Automechaniker? Einen erfolgreichen Wissenschaftler usw.?“

Meine Hypothese lautet: Es ergibt keinen Sinn, nach den Erfolgsmerkmalen von Führung zu suchen, weil das Konstrukt „Führung“ nicht viel taugt. Es dient lediglich zur Rechtfertigung, dass man Menschen in Positionen hievt, auf denen sie anderen Vorschriften machen, Macht über sie ausüben, mehr Einfluss haben, mehr Einkommen erzielen können. Polemisch? Und ob …

Was gehört eigentlich zu „Führung“?

Bevor Sie jetzt protestieren und erwidern möchten, dass es natürlich so etwas wie Führung gibt, weil Sie diese tagtäglich selbst erleben oder sogar selbst ausüben, lassen Sie uns mal einen Blick auf das werfen, was diejenigen tatsächlich tun, die sich Führungskraft nennen. Die folgende Liste ist nicht vollständig. Los geht‘s:

Sie treffen Entscheidungen. Sie sitzen Besprechungen vor und haben den größten Gesprächsanteil. Sie vertreten Teams, Abteilungen, Bereiche, Unternehmen, Organisationen nach außen. Sie entwickeln Strategien und hieraus Maßnahmen, die andere umsetzen. Sie präsentieren Ergebnisse, die andere erzielt haben. Sie vermitteln bei Konflikten und lösen diese bei Bedarf mithilfe einer Entscheidung. Sie kontrollieren die Ergebnisse der Mitarbeitenden und geben ihnen eine Rückmeldung über ihre Leistung und ihr Verhalten. Sie urteilen über Menschen und legen fest, was diese in Zukunft tun dürfen. Und wie viel Geld diese dafür bekommen. Sie entscheiden, wer einen Job bekommt und wer ihn verliert. Wer befördert wird und wer nicht. Sie sitzen mit ihresgleichen in Meetings zusammen, erhalten dort exklusive Informationen und entscheiden, welche sie in welcher Form an ihre Mitarbeitenden weitergeben. Wenn Mitarbeitende Probleme haben, stehen ihre Türen offen für ein Coaching-Gespräch. Und vermutlich vieles mehr. Außerdem übernehmen sie noch jede Menge fachlicher Aufgaben – zumindest je tiefer sie in der Hierarchie angesiedelt sind.

Da stellt sich die Frage, wie man all das in einer Definition von „Führung“ unterbringen will. Die gängigste Version, die ich kenne, lautet: „Führung ist die bewusste und zielbezogene Einflussnahme auf Menschen.“ (Friedemann W. Nerdinger, Arbeits- und Organisationspsychologie, Springer 2014). Damit konnte ich noch nie was anfangen: Was ist dann Lehren? Was ist Erziehen? Was ist Werbung? Was ist Politik? Was ist Training? Vermutlich auch alles Führung, aber es gibt Unterschiede, oder? Da gefällt mir diese „Definition“ schon besser: „Als Führung wird das bezeichnet, was Führungskräfte tun.“[1]

Ich konkretisiere mal die Hypothese und behaupte: Wir benötigen dieses Konstrukt „Führung“ gar nicht. Wir können all die Aufgaben, die oben aufgeführt sind, ziemlich genau beschreiben, und in der Regel können wir auch sehr genau sagen, wie man diese Aufgaben erfolgreich bewältigt. Warum müssen wir all das unter einem begrifflichen Dach versammeln? Nur aus einem Grund: Weil es nun mal Führungskräfte gibt, und die müssen schließlich ihre Daseinsberechtigung haben. Ganz drastisch ausgedrückt: Man braucht Entscheider, Vermittler, Mentoren, Strategen, Feedback-Geber, Coachs, Fachleute … – aber braucht man Führungskräfte? Menschen, die all diese oben genannten Aufgaben auf sich vereinen sollen und müssen? Ich glaube nicht, und darum geht es in diesem Buch.

Was bedeutet das für Sie als Führungskraft?

„Na prima“, werden Sie sagen, „ich bin nun aber Führungskraft. Und in meiner Organisation gibt es jede Menge dieser Positionen. Soll ich jetzt darauf verzichten? Selbst wenn ich das täte, dann würde ein anderer sie übernehmen. Oder muss ich kündigen und eine Unternehmung suchen, die bereits ohne Führungskräfte auskommt?“

Keines von beidem, solange Sie sich in der Organisation wohlfühlen, Kollegen und Mitarbeitende mögen und schätzen und auch Ihren Job gerne ausüben. Denn das Paradoxe ist: Als Führungskraft haben Sie viel eher die Möglichkeit, Führungspositionen abzuschaffen als andere, die sich nicht in dieser Position befinden. Die Frage ist also: Wollen Sie einen Teil oder sogar alle der sogenannten Führungsaufgaben loswerden und nur noch die Dinge tun, die Ihnen wirklich am Herzen liegen? Wenn Sie diese Frage mit Ja beantworten, lohnt sich die weitere Lektüre. Ich zeige Ihnen Schritt für Schritt, wie Sie dort hingelangen.

Am Ende eines jeden Kapitels wird Ihnen diese Frage wieder begegnen: Was bedeutet das für Sie als Führungskraft? Dort finden Sie konkrete Handlungsempfehlungen, die sich aus den jeweiligen Kapiteln ergeben.

Für die Lektüre des Buches bedeutet das: Sie können alle Kapitel jeweils unabhängig voneinander lesen und Dinge anschließend umsetzen. Empfehlen möchte ich allerdings, sich vorab mit den Kapiteln 1 und 2 auseinanderzusetzen, weil es darin um zwei grundsätzliche Fragen geht: Möchten Sie „Karriere“ machen? Und welches Menschenbild haben Sie? Alles Weitere hängt von der Beantwortung dieser beiden Fragen ab.

Viel Freude bei der Lektüre!

[1] Alle Quellenangaben finden Sie ab S. 133.

1Warum „Führungskraft“ kein Beruf ist

Führungskräfte haben nicht auf allen Teilbereichen Expertise

Wenn jemand auf seiner Visitenkarte „Leiterin zentraler Einkauf“ stehen hat, dann ist klar, dass es sich um eine Führungskraft handelt. Sie leitet eine Organisationseinheit, damit führt sie Menschen. Das macht sie mehr oder weniger gut. Sie kann eine begnadete Repräsentantin ihrer Organisationseinheit sein, aber eine lausige Besprechungsleiterin. Sie hat vielleicht die Fähigkeit, andere Menschen zu begeistern, aber wenn sie Entscheidungen treffen muss, hadert und zögert sie, sodass alles liegen bleibt. Ist sie damit eine „gute“ Führungskraft?

Vergleichen wir das einmal mit jemandem, der sich als „Steuerberaterin“ oder „Schlossermeisterin“ oder „Musikerin“ oder „Busfahrerin“ oder „Chirurgin“ bezeichnet. Eine Steuerberaterin berät andere Menschen in Sachen Steuerfragen, eine Schlosserin stellt Dinge aus Metall her, eine Musikerin macht Musik und eine Busfahrerin fährt einen Bus. Die Chirurgin operiert Menschen. Und alle haben dafür eine Ausbildung absolviert, die einen über viele Jahre, die anderen in einem Crash-Kurs, wieder andere befinden sich ständig in der Ausbildung.

Alle diese Tätigkeiten lassen sich wie die viel beschworene „Führung“ in Teiltätigkeiten aufsplitten. Am Beispiel „Busfahrerin“ mal durchgespielt: Sie startet den Bus, sie lenkt, sie beobachtet mithilfe der Spiegel den Verkehr, sie beschleunigt, kuppelt und bremst. Sie hält an, wenn Passagiere aussteigen oder einsteigen wollen, sie beachtet den Fahrplan und sorgt so dafür, dass alle möglichst pünktlich von A nach B kommen. Keine einzige dieser Teilhandlungen könnte sie überspringen oder weglassen, dann würde sie ihrer Gesamtaufgabe nicht nachkommen und scheitern.

Bei komplexeren Berufen wie der Chirurgin sieht das nicht anders aus. Auch sie muss ihr „Handwerk“ von A bis Z beherrschen, jeder Griff muss sitzen. Anders als eine Führungskraft kann sie sich nicht erlauben, auf einem Teilgebiet eine Niete zu sein. Was hilft es der Patientin, wenn die Fachfrau die perfekte Diagnose stellt, aber zwei linke Hände hat? Oder kein Blut sehen kann? Was hilft es, wenn sie wunderbare Schnitte macht, aber ihre Geräte vor lauter Zerstreutheit in der Patientin vergisst? Würde man ihr eine Patientin anvertrauen?

Aber eine Chirurgin muss auch führen, werden Sie einwenden. Sie braucht ein Team um sich herum, das genau weiß, was es zu tun hat und das im Krisenfall ohne lange Diskussionen ihren Anleitungen folgt.

Leiten als Teil der Fachaufgabe

Stimmt, bei der Ausübung ihres Berufes muss eine Chirurgin anderen Menschen genaue Anweisungen geben, sie so trainieren und „einstellen“, dass sie wie eine gut geölte Maschine miteinander für eine erfolgreiche Operation agieren. Dazu benötigt sie neben ihrer Fachkompetenz noch die Fähigkeit der klaren Kommunikation, die eindeutig ist und keine Zweifel aufkommen lässt. Ist das Führung oder Teil ihrer Fachaufgabe? Ich denke, Letzteres. So wie die Fluglotsin einer Pilotin klare Anweisungen geben muss, wenn diese ihren Flieger sicher landen soll. Die beiden sind Teil einer Organisation mit einer klaren Aufgabe, und niemand käme auf den Gedanken, die Fluglotsin in diesem Moment „Führungskraft“ zu nennen. So leitet die Chirurgin eine Operation wie die Einsatzleiterin der Feuerwehr einen Einsatz.

Ohne diese kommunikativen Fähigkeiten würde keine von ihnen auf Dauer ihren Beruf erfolgreich ausüben können. In der Praxis aber ist es so, dass die Chirurgin neben ihrer fachlichen Tätigkeit auch außerhalb des Operationssaales anderen Menschen „vorgesetzt“ ist – aber genau das ist die Frage: Ergibt das einen Sinn?

Führungskraft als Karriereschritt

Führen – eine Frage der Verantwortung?

Es gibt viele Menschen, die sich für eine neue Stelle bewerben und auf die Frage, wie sie sich ihre berufliche Zukunft vorstellen, antworten: „Ich möchte Führungsverantwortung übernehmen.“ Das freut die Personalerin – wunderbar, solche Leute kann sie gebrauchen. Wirklich? Was genau ist denn damit gemeint, außer dass man in Führungspositionen deutlich mehr verdienen kann und einen höheren Status genießt? Verantwortung für andere Menschen übernehmen? Eltern übernehmen Verantwortung für ihre Kinder, bis sie für sich selbst sorgen können. Ein Vormund übernimmt Verantwortung für die von ihm betreuten Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen. Wozu benötigt der Rest der Menschheit andere, die für sie die Verantwortung übernehmen?

„Halt!“, kommt da als Antwort: Eine Bergführerin übernimmt die Verantwortung für die von ihr Geführten, oder? Eine Busfahrerin für ihre Fahrgäste, eine Ärztin für ihre Patientinnen, also auch eine Führungskraft für ihre Mitarbeitenden.

Stimmt so nicht. Eine Bergführerin übernimmt nur die Verantwortung für ihre fachlichen Anweisungen, aber nicht für das Verhalten ihrer Folgschaft. Sie muss ihnen den richtigen Weg weisen, ihnen die Gefahren aufzeigen, den Gebrauch der Hilfsmittel zeigen. Macht sie hier Fehler, ist sie dafür verantwortlich. Aber für das eigene Verhalten tragen die Menschen selbst die Verantwortung. Eine Ärztin ist dafür verantwortlich, den Patientinnen die richtige Therapie zu verordnen. Ob sie diese annehmen bzw. sich an die Empfehlungen halten, ist ihre eigene Verantwortung.

Direktionsrecht unabhängig vom Fachwissen

Bei Führungskräften ist das anders. Wenn sie Mitarbeitenden Anweisungen erteilen mithilfe ihres Direktionsrechtes, dann haben diese die Anweisungen zu befolgen, wenn sie keinen Ärger riskieren wollen. Eine Ärztin hat keine disziplinarischen Möglichkeiten, die Einnahme eines Medikamentes oder die körperliche Betätigung durchzusetzen.

„Das ist nur ein gradueller Unterschied“, könnte man hierauf antworten, „in beiden Fällen folge ich einer Anweisung nicht, und in beiden Fällen muss ich mit den Konsequenzen leben.“ In der Tat, letztlich läuft es auf das Gleiche hinaus. So wie ich die Ärztin wechseln kann, kann ich auch die Führungskraft wechseln, indem ich das Unternehmen verlasse. Und dennoch sehe ich hier einen gravierenden Unterschied. Sagt mir die Ärztin, was zu tun ist, geschieht dies auf Basis ihres Expertenwissens. Ich kann ihr vertrauen oder nicht. Oder ich vertraue ihr, aber entscheide mich bewusst gegen ihren Rat. Eine Führungskraft kann mir Anweisungen Kraft ihres Direktionsrechts geben und bei Nichtbefolgung selbst die Sanktionen einleiten. Sie hat damit dank ihrer Position Macht über andere, nicht dank ihres Fachwissens.

Ein klassisches Dilemma

Was tun bei unsinnigen Weisungen?

Natürlich überschneidet sich das bei vielen Führungskräften. Erteilt eine Vorgesetzte mit dem entsprechenden Expertenwissen eine Anweisung, werden ihr die Menschen folgen, so wie sie der Bergführerin oder Ärztin folgen. Kritisch wird es, wenn sie in der Anweisung keinen Sinn sehen bzw. sogar wissen, dass diese unsinnig ist. Dann stecken sie in einem Dilemma. Sie können sich gegen die Anweisung wehren und die Durchführung verweigern. Das, was man im gesellschaftlichen Kontext den „zivilen Ungehorsam“ nennt. Sie riskieren die Sanktionen und verlieren im schlimmsten Fall ihren Job, können aber erhobenen Hauptes durch die Welt laufen.

Oder sie folgen der Anweisung und berufen sich darauf, dass sie „ja nur einen Befehl ausgeführt hätten“, für den sie keine Verantwortung übernehmen können und wollen. Nach dem Motto: „Mir soll erst mal jemand beweisen, dass ich wusste, dass diese Anweisung falsch war.“ So behalten sie ihren Job und fühlen sich im schlimmsten Fall mies. Um noch mal den Vergleich mit der Ärztin zu bemühen: Bin ich mir bei dieser sicher, dass ihr Rat falsch ist, werde ich ihn einfach nicht befolgen.

Die Konsequenz aus all dem: Hätten wir in allen Führungspositionen Expertinnen, denen die Menschen vertrauen und die Anweisungen auf der Basis ihres Fachwissens geben, bräuchten wir keine Führungspositionen. Hätten wir überall Mitarbeitende, die unsinnigen Anweisungen widersprechen und eigene Entscheidungen treffen, bräuchten wir auch keine Führungspositionen. Stellt sich die polemische Frage: Brauchen wir also den Beruf „Führungskraft“, weil wir nicht genug Expertinnen haben oder zu wenig Menschen mit Zivilcourage?

Womit wir beim Menschenbild sind …

Was reizt Sie am Status einer Führungskraft?

Was bedeutet das für Sie als Führungskraft?

Sie sollten für sich eine zentrale Frage klären: Was reizt Sie an dem Status einer Führungskraft? Ist es vor allem das Ansehen, der Status selbst? Das damit verbundene Gehalt? Die Aussicht auf weiteren Aufstieg, auf „die vertikale Entwicklung“? Die Aussicht, irgendwann ganz oder zumindest weit oben in einer Organisation zu landen?

Wenn Sie diese Fragen vorwiegend mit Ja beantworten, könnten Sie sich mit der Idee, sich selbst als Führungskraft überflüssig zu machen, schwertun. Sie würden sich selbst damit die Grundlage für den Aufstieg entziehen, zumindest müssten Sie dies befürchten. Denn in klassischen Hierarchien werden solche Ansätze eher ungern gesehen. Sie werden sich die Frage gefallen lassen müssen, ob Sie ernsthaft an Führungsaufgaben interessiert und bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.

Oder geht es Ihnen in erster Linie um andere Dinge, z.B. darum, Teil eines Teams zu sein, das Außergewöhnliches leistet? Menschen zu unterstützen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln? Ziele gemeinsam zu erreichen, Widerstände gemeinsam zu bewältigen, Erfolge gemeinsam zu feiern? Oder noch deutlicher ausgedrückt: Geht es Ihnen um die Sache, das Gemeinschaftserlebnis, um Erfolgserlebnisse, eine Atmosphäre, in der alle Beteiligten gleichermaßen voneinander profitieren? In der alle einen Anteil am Erfolg haben?

In diesem Fall kann es sein, dass die Idee, „Karriere“ zu machen, zugunsten eines Berufslebens, das durch Erfüllung, Freude und Spaß an dem, was Sie tun, deutlich an Reiz verliert. Einfach, weil die Alternative wesentlich interessanter ist.

Ich möchte nicht ausschließen, dass man auch mit dem Ansatz, sich selbst abzuschaffen, in hierarchischen Organisationen Karriere machen kann, allerdings muss man dafür vermutlich häufig „unter dem Radar“ fliegen. Indem man zum Beispiel Dinge umsetzt, von denen die höheren Ebenen erst einmal nichts mitbekommen. Erst, wenn die erzielten Erfolge nicht mehr zu übersehen sind, deckt man die Karten auf und erklärt, dass man diese Erfolge mit „hierarchiefeindlichen Mitteln“ erzielt hat. Möglicherweise werden Sie dann ebenfalls befördert, um Ähnliches auch in der nächsten Position zu erzielen. Oder aber Sie werden sich spätestens dann, wenn Sie feststellen, dass Ihre Leistung trotz des Erfolges nicht gewürdigt wird, nach einer neuen Aufgabe umschauen.

2Das Menschenbild oder warum wir keine Führungskräfte brauchen

Der Begriff „Theorie“ hat für viele etwas Abschreckendes. Weil sie Theoretiker für Menschen halten, die zwar viel nachdenken und kluge, aber sehr abstrakte Gedanken entwickeln, nur eben leider keine Ahnung von der Praxis, vom „wahren“ Leben haben. Dabei handeln wir alle ununterbrochen auf Basis von theoretischen Annahmen, verstanden als Modelle von der Wirklichkeit und den ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten, die Rückschlüsse auf die Zukunft erlauben.

Wenn ich, durch welche Erfahrungen und Beobachtungen oder was auch immer, die „Theorie“ habe, dass der Verzehr von Fleisch ungesund ist, dann ziehe ich daraus den Rückschluss: Wenn ich Fleisch esse, werde ich an dieser oder jener Krankheit leiden bzw. diese oder jene Krankheit wird noch schlimmer. Ich schließe auf Basis der Theorie auf die Zukunft („In Zukunft werde ich krank!“ bzw. „In Zukunft wird meine Krankheit schlimmer!“) und orientiere mein Verhalten daran – indem ich auf Fleisch verzichte.

Ob diese Theorie auf Basis wissenschaftlicher Studien zustande gekommen ist oder auf meinen eigenen Erfahrungen basiert oder allein meiner Fantasie entspringt, ist hier erst einmal völlig egal – sie hat sehr konkrete Auswirkungen auf mein Verhalten.

Mit guten statt „richtigen“ Theorien zum Erfolg

Wir sollten also stets dafür sorgen, dass wir gute Theorien entwickeln, denn unser Verhalten kann ja nur zum Erfolg führen, wenn die uns leitenden Theorien fundiert sind. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, ob sie „richtig“ sind, auch wenn Menschen oft über die „Richtigkeit“ einer Theorie streiten. Eine Theorie kann lange Zeit als gut gelten, weil wir mit den Entscheidungen, die wir auf ihrer Basis treffen, zufrieden sind. Bis jemand mit einer besseren Theorie kommt. Die Menschen sind eine ganze Weile recht gut mit dem Modell der Erde als Scheibe klargekommen, bis jemand mit einem besseren Modell kam. Oder mit der Vorstellung, Blitze seien Ausdrucks des Zorns der Götter, bis jemand mit einer besseren Theorie kam. Oder mit der Idee, dass die Welt in sieben Tagen erschaffen wurde, bis Darwin die Evolutionstheorie entwickelte.

Theorie X und Theorie Y

Warum diese Ausführungen zur Theorie? Um den Bogen zu schlagen zur Theorie X und Theorie Y nach McGregor. Sie erinnern sich? Der Mensch ist faul, muss motiviert, angetrieben, kontrolliert werden (Theorie X). Oder der Mensch ist motiviert, leistungswillig, aus sich heraus bereit und willens, Leistung zu bringen und Verantwortung zu übernehmen (Theorie Y).

Ich bin immer wieder überrascht, dass ernsthafte Menschen darüber diskutieren, was von beiden denn nun stimmt. Die Beantwortung dieser Frage, wozu der Mensch „von Natur“ aus mehr neigt, würde ich der Wissenschaft überlassen. Fest steht, dass beide Theorien nebeneinander existieren. So als ob es Menschen gibt, die an die Welt als Scheibe und andere, die an die Welt als Kugel glauben (wobei es Erstere ja tatsächlich geben soll).

Theorien steuern unser Handeln

Welcher Theorie von beiden ich auch immer anhänge: Es sind gedankliche Modelle, die unser Handeln steuern. Wenn Manager A der Theorie X anhängt, hat das unmittelbare Konsequenzen für seinen Führungsstil. So wie die Theorie von der Erde als Scheibe eher dazu führt, nicht bis zum Horizont zu segeln, während die Idee von der Erde als Kugel dafür sorgt, dass man lossegelt, um zu schauen, was auf der anderen Seite los ist, so führen auch die X- und die Y-Theorien zu unterschiedlichem Verhalten.

Welches das ist, dürfte ziemlich klar sein: Eine Führungskraft, die der X-Theorie anhängt, wird ihren Mitarbeitenden genaue Anweisungen geben, ihre Ergebnisse und vermutlich auch ihr Verhalten möglichst genau kontrollieren, Anreize setzen, mit denen sie „richtiges“ Verhalten und erwartete Ergebnisse honoriert und unerwünschtes Verhalten bzw. Verfehlungen und Fehler sanktioniert.

Führungskräfte, die zur Theorie Y tendieren, werden gemeinsam mit Mitarbeitenden überlegen, welche Ergebnisse realistisch sind, welche Regeln beachtet werden sollten und wie man sicherstellen kann, dass bei Problemen rechtzeitig gegengesteuert wird. Ansonsten werden sie die Entscheidungen, wie die Aufgaben bearbeitet werden, ja sogar wer sie bearbeitet, den Mitarbeitenden überlassen. Neben dem vereinbarten Honorar, sprich Gehalt, werden sie keine Prämien ausloben, weil sie ja davon ausgehen, dass Menschen von sich heraus motiviert sind, vereinbarte Aufgaben in entsprechender Qualität zu bearbeiten.

Von der Theorie zum Menschenbild

Die XY-Theorie ist also keine, die Menschen danach unterteilt, ob sie willig oder unwillig sind, sondern eine, die zwischen Menschen unterscheidet, die zu dem einen oder anderen Menschenbild tendieren. Mal ein Gedankenspiel: Würden alle Menschen der Theorie Y anhängen, würde niemand auf die Idee kommen, andere motivieren zu wollen, zu beurteilen, zu loben, zu bestrafen, ihnen Anweisungen zu geben. Würde es jemand versuchen, würden die Betroffenen sich wehren. Oder belustigt reagieren. So wie sie sich amüsieren würden, wenn jemand forderte, am Horizont ein Schild aufzustellen mit der Aufschrift: Achtung, hier ist die Welt zu Ende.

Nun werden Sie sagen, dass Sie eine ganze Reihe von Menschen kennen, die nicht wirklich aus sich heraus motiviert sind. Und Sie haben Ihren Partner vor Augen, der keine Lust hat, den Rasen zu mähen. Ihre Kinder, die partout ihr Zimmer nicht aufräumen wollen. Ihre Mitarbeitenden, die wichtige Aufgaben vor sich herschieben. Den Sachbearbeiter, der Sie warten lässt und erst mal seinen Kaffee trinkt. So können Sie Beispiel um Beispiel produzieren, mit dem Ergebnis: Die Welt ist zweigeteilt: Es gibt die X-Typen und es gibt die Y-Typen. Oder noch etwas differenzierter: Menschen sind je nach Situation und Aufgabe eher X oder Y. Also brauchen wir doch die Führungskräfte, die zwischen beiden unterscheiden können, die die einen eben antreiben, motivieren, belohnen und die anderen einfach machen lassen.

Keine gute Idee, oder besser: keine gute Theorie.[2] Probieren Sie das mal bei Ihren Kindern. Kind A räumt sein Zimmer nie von sich aus auf, entspricht also dem Typ X. Sie müssen es immer wieder darauf hinweisen, Druck ausüben, Prämien in Aussicht stellen, Anerkennung aussprechen und am Ende kontrollieren, ob nicht alles nur unters Bett geschoben wurde. Kind B hingegen macht alles von selbst, entspricht also Typ Y. Behandeln Sie B anders, nämlich keine Kontrolle, kein Lob, keine Prämie – was passiert? Ganz klar, es wird das Aufräumen bald einstellen und warten, bis Sie es endlich wie A behandeln. Weil es erkennt, dass man Lob und Prämien nur dann bekommt, wenn man erst die Arbeit verweigert.

Die „Selbsterfüllende Prophezeiung“