Das Ende des Kapitalismus - Ulrike Herrmann - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Ende des Kapitalismus E-Book

Ulrike Herrmann

0,0
19,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Demokratie und Wohlstand, ein längeres Leben, mehr Gleichberechtigung und Bildung: Der Kapitalismus hat viel Positives bewirkt. Zugleich ruiniert er jedoch Klima und Umwelt, sodass die Menschheit nun existenziell gefährdet ist. »Grünes Wachstum« soll die Rettung sein, aber Wirtschaftsexpertin und Bestseller-Autorin Ulrike Herrmann hält dagegen: Verständlich und messerscharf erklärt sie in ihrem neuen Buch, warum wir stattdessen »grünes Schrumpfen« brauchen. Die Klimakrise verschärft sich täglich, aber konkret ändert sich fast nichts. Die Treibhausgase nehmen ungebremst und dramatisch zu. Dieses Scheitern ist kein Zufall, denn die Klimakrise zielt ins Herz des Kapitalismus. Wohlstand und Wachstum sind nur möglich, wenn man Technik einsetzt und Energie verbrennt. Leider wird die Ökoenergie aus Sonne und Wind aber niemals reichen, um weltweites Wachstum zu befeuern. Die Industrieländer müssen sich also vom Kapitalismus verabschieden und eine Kreislaufwirtschaft anstreben, in der nur noch verbraucht wird, was sich recyceln lässt. Aber wie soll man sich dieses grüne Schrumpfen vorstellen. Das beste Modell ist ausgerechnet die britische Kriegswirtschaft ab 1940.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 390

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ulrike Herrmann

Das Ende des Kapitalismus

Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Ulrike Herrmann

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Einleitung: Das Ende des Kapitalismus

I. Der Aufstieg des Kapitals

1. Ein Segen: Wachstum schafft Wohlstand

2. England, ab 1760: wie das Wachstum erfunden wurde

3. Ohne Energie geht es nicht: Der Kapitalismus wird fossil

4. Jedes Land war plötzlich ein »Entwicklungsland« – auch Deutschland

5. Auf ewig abgehängt? warum der globale Süden kaum aufholt

6. Ausbeutung und Krieg sind nicht nötig – sondern schaden dem Kapitalismus

7. Expansion oder Kollaps: warum der Kapitalismus wachsen muss

8. Der Preis des Wohlstands: Die Welt wird zerstört

II. »Grünes Wachstum« gibt es nicht

9. Das CO2 wird nicht verschwinden

10. Die Atomenergie bleibt ein Irrtum

11. Leider nicht verlässlich: Sonne und Wind

12. Das Problem der Speicher

13. Die Energiewende wird teuer, nicht billig

14. Der Traum von der »Entkopplung« funktioniert nicht

15. Warum technische Innovationen und Digitalisierung das Klima nicht retten können

III. Das Ende des Kapitalismus

16. Grünes Schrumpfen: wenn die Wirtschaft zusammenbricht

17. Das Versagen der Ökonomen

18. Ein Vorbild: die britische Kriegswirtschaft ab 1939 

19. Wie wir in Zukunft leben

Schluss: Die »Überlebenswirtschaft« hat schon längst begonnen

Dank

Literatur

Inhaltsverzeichnis

Für Xicu, Finn, Annika, Dorothea, Caroline und Johannes – die nächste Generation

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Das Ende des Kapitalismus

Viele Jugendliche verzweifeln an den Erwachsenen. Die Klimakrise gefährdet ihre Zukunft, doch unablässig werden neue Treibhausgase produziert. »Wir fragen uns: Was macht unsere Eltern nur so ratlos?«, schreibt etwa Klimaaktivistin Luisa Neubauer. Genauso wenig kann sie begreifen, warum die Kanzlerin 16 Jahre lang weitgehend untätig blieb. »Merkel ist Physikerin. Müsste sie da nicht verstehen, was es bedeutet, wenn Klimagrafen in die Höhe rasen?«[1]

Mit ihrer Fassungslosigkeit sind die Jugendlichen nicht allein. Berühmt sind die Worte der Affenforscherin Jane Goodall: »Wie kann es sein, dass das klügste Wesen, das die Erde jemals betreten hat, sein einziges Zuhause zerstört?« Wissenschaftlich besteht kein Zweifel mehr, dass die Klimakatastrophe extrem bedrohlich ist und die Menschheit sogar auslöschen könnte. Der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber wählt das drastische Bild, »dass wir unsere Kinder in einen globalen Schulbus hineinschieben, der mit 98 Prozent Wahrscheinlichkeit tödlich verunglückt«.[2]

Die Jugendlichen sind auch deshalb so enttäuscht, weil viele Wissenschaftler suggerieren, dass Klimaschutz eigentlich einfach wäre. So schreibt der Solaringenieur Volker Quaschning: »Die nötigen Technologien und Konzepte sind schon lange entwickelt. Leisten können wir uns den nötigen Wandel auch. Es gibt also keine unüberwindlichen technischen und ökonomischen Hürden.«[3] Und der Meteorologe Mojib Latif unterstellt, dass allein »korrupte Politiker« und »skrupellose Konzerne« verhindern würden, dass das Klima gerettet wird.[4]

Da Klimaschutz angeblich mühelos möglich ist, folgern viele Jugendliche völlig logisch, dass offenbar die Parteien versagen. Sonst wäre der Planet ja längst gerettet. Also soll die Politik nichts mehr zu entscheiden haben, sondern nur noch auf die Wissenschaft hören. »Follow the science« lautet der zentrale Slogan. Er stammt von der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg und ist nun das Motto von »Fridays for Future«.

Die jungen Klimaschützer vermuten, dass allein das nötige Geld fehlt, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Populär ist der Spruch: »Wenn die Erde eine Bank wäre, hättet ihr sie längst gerettet.«[5] Die Klimakatastrophe wird also betrachtet, als wäre sie eine normale Krise wie etwa ein Finanzcrash. Sie ist zwar existenziell, aber angeblich schnell zu beheben – wenn nur die nötigen Milliarden fließen.

Leider ist es nicht so einfach. Der Klimaschutz scheitert nicht, weil die Politik korrupt wäre oder nicht genug Geld bewilligen möchte. Der Wille ist vorhanden, den Planeten zu retten. So bilanziert SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach erschüttert: »Niemand würde sein Eigenheim so sehr heizen, dass es mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent in dreißig Jahren abbrennen würde. Genau das tun wir derzeit aber mit dem Eigenheim Erde.«[6]

Die Menschheit fackelt ihr Zuhause ab, weil es nicht genügt, allein die wissenschaftlichen Fakten zu kennen. Das Problem reicht tiefer. Klimaschutz ist nur möglich, wenn wir den Kapitalismus abschaffen.

Anders, als Kapitalismuskritiker glauben, ist dies keine frohe Botschaft. Der Kapitalismus war außerordentlich segensreich. Mit ihm entstand das erste Sozialsystem in der Geschichte, das kontinuierlich Wohlstand erzeugt hat. Vorher gab es kein nennenswertes Wachstum. Die Menschen betrieben eine eher kümmerliche Landwirtschaft, litten oft unter Hungerkatastrophen und starben im Durchschnitt mit 35 Jahren.

 

Der Kapitalismus war ein Fortschritt, hat aber leider eine fundamentale Schwäche: Er erzeugt nicht nur Wachstum, sondern muss auch wachsen, um stabil zu sein. Ohne ständige Expansion bricht der Kapitalismus zusammen. In einer endlichen Welt kann man aber nicht unendlich wachsen. Momentan tun die Industriestaaten so, als könnten sie mehrere Planeten verbrauchen. Bekanntlich gibt es aber nur eine Erde.

Bisher setzen die Regierungen darauf, dass sie Wirtschaft und Klimaschutz irgendwie versöhnen könnten. Die typischen Stichworte heißen »Green New Deal« oder »Entkopplung« von Wachstum und Energie. Die große Hoffnung ist, dass sich die gesamte Wirtschaft auf Ökostrom umstellen ließe – ob Verkehr, Industrie oder Heizung.

Dieses »grüne Wachstum« ist jedoch eine Illusion, denn der Ökostrom wird nicht ausreichen. Diese Aussage mag zunächst überraschen, schließlich schickt die Sonne 5.000-mal mehr Energie zur Erde, als die acht Milliarden Menschen benötigen würden, wenn sie alle den Lebensstandard der Europäer genießen könnten.

An physikalischer Energie fehlt es also nicht, aber bekanntlich muss die Sonnenenergie erst einmal eingefangen werden. Solarpaneele und Windräder liefern jedoch nur Strom, wenn die Sonne scheint und der Wind weht. Um für Flauten und Dunkelheit vorzusorgen, muss Energie gespeichert werden – und dieser Zwischenschritt ist so aufwendig, dass Ökostrom knapp bleiben wird. Wenn die grüne Energie reichen soll, bleibt nur »grünes Schrumpfen«.

Es ist kein neuer Gedanke, dass permanentes Wachstum keine Zukunft hat. Viele Klimaaktivisten sind längst überzeugt, dass die Natur nur überleben kann, wenn der Kapitalismus endet. Also haben sie den eingängigen Slogan geprägt: »system change, not climate change«.

Auch mangelt es nicht an Visionen, wie eine ökologische Kreislaufwirtschaft aussehen könnte, in der nur noch so viel verbraucht wird, wie sich recyceln lässt. Stichworte sind unter anderem Tauschwirtschaft, Gemeinwohlökonomie, Konsumverzicht, Arbeitszeitverkürzung oder bedingungsloses Grundeinkommen.

Doch wie lässt sich eine ökologische Kreislaufwirtschaft erreichen? Das bleibt unklar, denn die Vision wird meist mit dem Weg verwechselt. Das Ziel soll zugleich der Übergang sein. Nur selten wird gefragt, wie man eigentlich aus einem ständig wachsenden Kapitalismus aussteigen soll, ohne eine schwere Wirtschaftskrise zu erzeugen und Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Es fehlt die Brücke aus der dynamischen Gegenwart in eine statische Zukunft.

Viele Klimaaktivisten spüren, dass der Abschied vom Kapitalismus schwierig wird. Greta Thunberg wurde kürzlich von einem Anhänger gefragt, wie denn das künftige System aussehen soll. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Es wurde bisher noch nicht erfunden.«[7]

Um sich das »grüne Schrumpfen« vorzustellen, hilft es, vom Ende her zu denken. Wenn Ökostrom knapp bleibt, sind Flugreisen und private Autos nicht mehr möglich. Banken werden ebenfalls weitgehend überflüssig, denn Kredite lassen sich nur zurückzahlen, wenn die Wirtschaft wächst.

In einer klimaneutralen Wirtschaft würde niemand hungern – aber Millionen von Arbeitnehmern müssten sich umorientieren. Zum Beispiel würden sehr viel mehr Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und auch in den Wäldern benötigt, um die Folgen des Klimawandels zu lindern.

Diese Sicht auf die Zukunft mag radikal erscheinen, aber sie ist im wahrsten Sinne des Wortes »alternativlos«. Wenn wir die emittierten Treibhausgase nicht auf netto null reduzieren, geraten wir in eine »Heißzeit«, die ganz von selbst dafür sorgt, dass die Wirtschaft schrumpft. In diesem Klimachaos käme es wahrscheinlich zu einem Kampf aller gegen alle, den unsere Demokratie nicht überleben würde.

Der Rückbau des Kapitalismus muss geordnet vonstattengehen. Zum Glück gibt es bereits ein historisches Modell, das als Vorbild taugen könnte: die britische Kriegswirtschaft ab 1939. Damals standen die Briten vor einer monströsen Herausforderung. Sie hatten den Zweiten Weltkrieg nicht kommen sehen und mussten nun in kürzester Zeit ihre Wirtschaft auf das Militär ausrichten, ohne dass die Bevölkerung hungerte.

 

Fast über Nacht entstand eine Planwirtschaft, die bemerkenswert gut funktionierte. Die Fabriken blieben in privater Hand, aber der Staat steuerte die Produktion – und organisierte die Verteilung der knappen Güter. Es wurde rationiert, aber es gab keinen Mangel. Die Briten erfanden also eine private und demokratische Planwirtschaft, die mit dem dysfunktionalen Sozialismus in der Sowjetunion nichts zu tun hatte.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Nicht jede Kriegswirtschaft eignet sich als Vorbild. Das gilt für Hitlers Plünderungspolitik genauso wie für Putins Angriff auf die Ukraine. Die Briten haben jedoch ein Modell entwickelt, von dem sich lernen lässt.

Klimaschutz kann nur global gelingen, denn die Treibhausgase kennen keine Grenzen. Trotzdem beschreibt dieses Buch zunächst einmal nur ein Konzept für Deutschland. Dies soll nicht den nationalen Tunnelblick befördern, sondern das Verständnis erleichtern. Die Ökonomie des Klimaschutzes ist schon schwierig genug. Da hilft es, wenn wenigstens der Rahmen überschaubar und bekannt bleibt. Also werden die Tücken der Ökoenergie am deutschen Beispiel erläutert.

Manche Deutsche fragen sich allerdings auch, ob es überhaupt sinnvoll ist, auf nationaler Ebene über den Klimaschutz nachzudenken. Sie fürchten, dass andere Länder es sogar ausnutzen könnten, wenn wir unsere Treibhausgase reduzieren. So schreibt der Ökonom Hans Werner Sinn: »Ob man nun an Kohle, Erdöl oder Erdgas denkt: Wenn Deutschland weniger kauft und verbrennt, dann können die Chinesen halt mehr kaufen und verbrennen.«[8]

Dieses Misstrauen ist verständlich, verkennt aber, dass fast alle anderen Staaten unter der Klimakatastrophe noch weit stärker leiden als Deutschland. Es liegt in ihrem Eigeninteresse, die Treibhausgase ebenfalls zu reduzieren. In der Klimadebatte wird stets suggeriert, dass wir die Lösung schon hätten und allein der politische Wille fehlt. Doch tatsächlich gibt es bisher kein Konzept, wie sich der Kapitalismus friedlich beenden ließe. Es wird nur über Nichtlösungen gestritten.

Wer das Ende des Kapitalismus verstehen will, muss seine Geschichte kennen. Das Buch beschreibt also zunächst, wie das heutige Wirtschaftssystem entstanden ist und wie es funktioniert. Dabei zeigt sich, dass das Ende unausweichlich ist. Der Kapitalismus ist faszinierend, hat aber keine Zukunft. Die nächste Epoche wird eine »Überlebenswirtschaft« sein.

Inhaltsverzeichnis

I. Der Aufstieg des Kapitals

1. Ein Segen: Wachstum schafft Wohlstand

Der Kapitalismus hat keinen guten Ruf. Weltweit geben die Menschen in Umfragen an, dass er dringend reformiert werden muss. In Deutschland glauben nur noch zwölf Prozent, dass ihnen das jetzige Wirtschaftssystem nützt und sie vom Wachstum ausreichend profitieren. 55 Prozent hingegen sind der Meinung, dass der Kapitalismus in seiner derzeitigen Form mehr schadet als hilft.[9]

Dieser Unmut ist verständlich, und dennoch ist der Kapitalismus besser als sein Image. Bevor die Industrialisierung einsetzte, waren Hungersnöte weit verbreitet. Auch in Deutschland starben regelmäßig Menschen, weil die Nahrung nicht für alle reichte. 1846/47 kam es zur letzten europaweiten Hungersnot, als schlechtes Wetter einen großen Teil der Getreideernte vernichtete und gleichzeitig die Kartoffelfäule grassierte.[10]

Seither war Nahrung in Westeuropa nie mehr knapp, solange keine Weltkriege angezettelt wurden. Nur in Finnland brach 1867 eine allerletzte Hungerkrise aus; durch eine Missernte starben 100.000 der 1,6 Millionen Einwohner.[11] Der Kapitalismus hat den Hunger überwunden und stattdessen Überfluss produziert, hat »Butterberge« aufgetürmt und »Milchseen« gefüllt.

In den Industrieländern lebt heute jeder gesünder und komfortabler als einst die Könige. Adelige residierten zwar in Schlössern und hatten stets reichlich zu essen, aber auch sie starben oft jung und wurden von den grassierenden Seuchen dahingerafft – ob es Pest, Typhus, Scharlach, Diphtherie, Tuberkulose oder Pocken waren. Gleiches ließ sich auch bei Mönchen beobachten: Die Klöster waren meist bestens versorgt, aber die wohlgenährten Kleriker wurden im Durchschnitt nicht älter als die Laienschar.[12]

Selbst harmlose Krankheiten konnten tödlich enden: Der bedeutende Ökonom David Ricardo starb 1823 an einer schlichten Mittelohrentzündung; und der damals reichste Mann der Welt, der Bankier Nathan Mayer Rothschild, erlag 1836 einem Furunkel am Gesäß.

Heute hingegen können neugeborene Mädchen in Deutschland erwarten, dass sie im Durchschnitt mehr als 83 Jahre alt werden, bei Jungen sind es fast 79 Jahre. Die maximal mögliche Lebenszeit des Menschen ist zumindest in den reichen Industriestaaten schon weitgehend ausgereizt: Selbst wenn es gelingen würde, alle Krebsarten zu besiegen, würden wir im Durchschnitt nur vier bis fünf Jahre länger leben.[13]

Doch nicht nur die schiere Lebenszeit hat sich mehr als verdoppelt; auch die Lebensqualität ist weitaus besser: Verschlissene Knie und Hüften werden routinemäßig ausgetauscht und befreien die Patienten von quälenden Schmerzen, während früher schon ein normaler Knochenbruch bedeuten konnte, dass man hinterher lebenslang schwerbehindert war.[14]

Auch der Alltag wurde viel angenehmer. Selbst Arme leben heute bequemer als Könige im 18. Jahrhundert. Um nur ein paar Annehmlichkeiten aufzuzählen, die früher gänzlich undenkbar gewesen wären: Fast alle Haushalte verfügen heute über Autos, Handys, Computer, fließendes Wasser, Heizungen, Waschmaschinen, Kühlschränke, Fernseher, Fahrräder und künstliches Licht.[15]

Zudem ist immer weniger Arbeit nötig, um sich diese Annehmlichkeiten leisten zu können. 1919 musste ein Beschäftigter in den USA rund 1.800 Stunden arbeiten, damit er sich einen Kühlschrank kaufen konnte. Ein Jahrhundert später reichen dafür weniger als 24 Stunden.[16]

Zugleich werden die Geräte ständig leistungsfähiger: Ein normales Smartphone ist derzeit ab etwa 200 Euro zu haben, aber dafür erhält man nicht nur ein Telefon, sondern zusätzlich einen Computer, eine Kamera, einen Taschenrechner, ein GPS-Gerät, einen Wecker, eine Taschenlampe, ein Fernsehgerät und einen Videorekorder. Die Rechenleistungen eines Smartphones sind heute 160.000-mal höher als die Computerkapazitäten der Apollo 11, mit der 1969 die erste Mondladung gelang.[17]

Vor allem Frauen haben vom Siegeszug der Konsumgüter profitiert, denn die Hausarbeit verschlingt deutlich weniger Zeit. Vor 100 Jahren war es weit mehr als ein Vollzeitjob, eine Familie zu versorgen: Es fielen ungefähr 58 Stunden Arbeit pro Woche an. Heute sind es im Durchschnitt noch 11,5 Stunden. Allein das Waschen der Kleider erforderte früher knapp zwölf Stunden in der Woche und beansprucht jetzt nur noch 1,5 Stunden.[18] Der südkoreanische Ökonom Ha-Joon Chang übertreibt kaum, wenn er pointiert behauptet: »Die Waschmaschine hat die Welt stärker verändert als das Internet.«[19]

Allerdings sind Hausarbeit und Kinderbetreuung noch immer sehr ungleich verteilt zwischen den Geschlechtern: 2016 erledigten Männer in Paarbeziehungen etwa 37 Prozent der Hausarbeiten.[20] Aber gerade weil Familienarbeit überwiegend weiblich ist, hätten Frauen keine Chance gehabt, am Erwerbsleben teilzunehmen, wenn ihnen nicht Haushaltsgeräte zur Hilfe kämen.

Es ist keine neue Erkenntnis, dass der Kapitalismus ein Segen ist. Die schönste Hymne stammt ausgerechnet von Karl Marx. Wortgewaltig beschrieb er im Kommunistischen Manifest, wie die neue Bourgeoisie die Welt verändert hat: »Erst sie hat bewiesen, was die Tätigkeit des Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen.«

Marx und Engels waren lebenslang fasziniert von den technischen Erfindungen ihrer Zeit, und penibel wurden die »Wunderwerke« aufgezählt: »Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegrafen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, dass solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.«

Es wäre also ein Missverständnis zu glauben, dass Marx und Engels den Kapitalismus abgelehnt hätten. Sie begrüßten das entfesselte Wachstum. Der Wohlstand sollte kräftig zunehmen, damit es danach bei der kommunistischen Revolution möglichst viel zu verteilen gäbe.[21]

Der Kapitalismus ist aber weit mehr als nur ein Wirtschaftssystem, das Wachstum und Wohlstand ermöglicht. Er prägt uns von der Wiege bis zur Bahre und ist längst in unser intimstes Privatleben vorgedrungen. Wen wir heiraten, wie wir unsere Kinder erziehen oder unsere Freizeit verbringen – wir leben völlig anders als unsere Vorfahren vor 250 Jahren, die noch nicht im Kapitalismus aufgewachsen sind.

Menschen haben immer geliebt, aber meist konnten sie diese Liebe nicht leben. Früher dienten Heiraten vor allem dazu, die Besitztümer der eigenen Großfamilie zu erhalten und zu mehren. Ob bei Bauern, Handwerkern oder Adligen: Ehen waren eine Art Lebensversicherung und oft arrangiert. Die Väter suchten sorgfältig aus, wen ihre Töchter und Söhne zu erwählen hatten. Liebesheiraten konnten erst zur Norm werden, als der steigende Wohlstand dafür sorgte, dass die jungen Familien nicht mehr materiell von ihren Eltern abhängig waren, sondern eigenes Geld verdienten.

Der Kapitalismus ist also ein totales System. Er durchdringt nicht nur die Wirtschaft, sondern das gesamte Leben. Deswegen ist es auch so schwer, gedankliche Alternativen zu entwickeln. Dieses Dilemma wurde auf den legendären Spruch gebracht: »Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.«[22]

Zudem sind viele Errungenschaften des Kapitalismus so segensreich, dass niemand sie missen möchte. Der materielle Wohlstand hat immaterielle Folgen. Nicht nur die Lebenserwartung hat sich verdoppelt; auch allgemeine Bildung, Gleichberechtigung und Demokratie werden erst möglich, wenn eine Gesellschaft reicher wird.

Um noch einmal auf Marx zurückzukommen: Als er 1835 in Trier sein Abitur ablegte, ging in Preußen nur etwa ein Prozent der Jungen aufs Gymnasium.[23] Bildung erhielten nur die Söhne der oberen Stände, zu denen auch Marx gehörte. Sein Vater war ein bedeutender Anwalt und zählte zu den Honoratioren der Stadt. Die restlichen Jungen besuchten, wenn überhaupt, für wenige Jahre die Volksschule, um in völlig überfüllten Klassen ein bisschen Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Mädchen erhielten oft gar keinen Unterricht. Kinder wurden als Arbeitskräfte auf den Feldern oder im Handwerk gebraucht; Eltern konnten es sich deshalb nicht leisten, dass ihre Söhne und Töchter zur Schule gingen.

Doch obwohl Akademiker damals so rar waren, gab es immer noch zu viele: Theologen und Juristen mussten oft zwölf Jahre warten, bis sie endlich eine Pastoren- oder Richterstelle erhielten – und durften vorher nicht heiraten und eine Familie gründen. Arme Agrarstaaten benötigen fast keine Akademiker und können sie auch nicht ernähren.

Bildung ist ein Menschenrecht, aber erst der Kapitalismus hat zahllose Stellen geschaffen, die gut geschultes Personal erfordern. Heute machen in Deutschland über 50 Prozent eines Jahrgangs Abitur, wobei die Mädchen sogar leicht überwiegen.[24] Die Bildungsrevolution hat jedoch nicht nur die Gymnasiasten erfasst: Alle Kinder werden deutlich besser und länger ausgebildet, als es vor 100 Jahren vorstellbar gewesen wäre.

Allerdings gehört zur Wahrheit auch, dass nicht alle Kinder die gleichen Chancen haben. Ihre Herkunft entscheidet maßgeblich, welchen Abschluss sie machen. Noch immer ist es sehr unwahrscheinlich, dass Arbeiterkinder zur Universität gehen, während der Nachwuchs von Akademikern fast immer studiert.[25]

Der Kapitalismus ist kein Paradies und hat längst nicht alle Ungleichheiten beseitigt. Neu ist aber, dass gegen Benachteiligungen zumindest protestiert werden kann. Das Thema Gleichberechtigung kommt erst auf, wenn Gesellschaften wohlhabender sind. Ob es um die Gleichstellung von Arbeiterkindern, Frauen, Homosexuellen, Menschen mit Behinderung oder Zuwanderern geht – diese Forderungen haben nur eine Chance, wenn Wohlstand herrscht.

Solange eine Gesellschaft arm ist, können die Herrschenden nur reich sein, indem sie ihre Untertanen ausbeuten. Es läuft auf ein brutales Nullsummenspiel hinaus: Die Mächtigen eignen sich die knappen Güter an, sodass der große Rest fast völlig leer ausgeht. Wenn die Wirtschaft jedoch wächst, ist dieser brachiale Kampf nicht mehr zwingend. Die Zugewinne sind groß genug, um alle zu beteiligen. Die Ungleichheit bleibt zwar bestehen, und die Reichen werden noch reicher – aber auch die gemeinen Bürger profitieren. Für die Eliten ist es nicht mehr nötig, das Volk gewaltsam zu unterjochen.[26]

Die Demokratie konnte sich daher erst durchsetzen, als die Industrialisierung schon ziemlich weit gediehen war. In Deutschland und Österreich wurde das allgemeine Wahlrecht 1918 eingeführt, Gleiches galt für die Männer in Großbritannien, während alle[27] Britinnen erst ab 1928 wählen durften. Ein Sonderfall ist die Schweiz: Dort genießen die Männer bereits seit 1848 das allgemeine Wahlrecht, aber für die Frauen wurde es formell erst 1971 eingeführt.[28]

Der Umkehrschluss wäre allerdings falsch. Demokratien florieren zwar nur, wenn sie wohlhabend sind, doch folgt daraus noch lange nicht, dass ein Industrieland zwingend demokratisch sein muss. Ein spannender Fall ist China: Das Pro-Kopf-Einkommen liegt dort fast so hoch wie 1990 in Australien[29] – trotzdem ist bisher nicht zu erkennen, dass die Kommunistische Partei an Macht verlieren würde.

Das Beispiel China zeigt zudem, dass der Kapitalismus den globalen Süden erreicht hat und nicht auf die traditionellen Industrieländer beschränkt bleibt. Selbst in armen Staaten steigt die Lebenserwartung deutlich: Neugeborene im südlichen Afrika haben heute mehr Chancen, ihren fünften Geburtstag zu erreichen, als Kinder, die 1918 in England zur Welt kamen. Inder werden jetzt im Durchschnitt älter als Schotten im Jahr 1945 – obwohl sie längst nicht so reich sind wie die Briten damals.[30]

Der globale Fortschritt ist beeindruckend: In den vergangenen 20 Jahren hat sich die extreme Armut weltweit halbiert, 80 Prozent der Kinder sind heute geimpft, und 80 Prozent der Familien haben Zugang zur Elektrizität. »Das sind großartige Errungenschaften«, konzediert auch die Klimaaktivistin Luisa Neubauer.[31]

Diese Erfolgsmeldungen können jedoch nicht verdecken, dass die Ungleichheit in der Welt immer noch extrem groß ist und nicht alle Menschen gleichermaßen vom Kapitalismus profitieren. Um in Deutschland zu beginnen: Hier besitzt das reichste Hundertstel, also das oberste eine Prozent, bereits 33 Prozent des Volksvermögens. Das reichste Zehntel kommt gemeinsam auf beachtliche 64 Prozent. Da bleibt für die ärmeren Schichten nicht mehr viel übrig; die untere Hälfte besitzt ganze 2,3 Prozent des Volksvermögens.[32] Deutschland ist eine Klassengesellschaft, obwohl viele Bundesbürger glauben, sie würden in einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« leben.

Noch größer sind die Unterschiede zwischen den Staaten. Weltweit steigt die Lebenserwartung zwar deutlich, aber einige Länder werden abgehängt. Noch immer gibt es Staaten, in denen über zehn Prozent der Neugeborenen vor ihrem fünften Geburtstag sterben. Dazu gehören etwa Nigeria, der Tschad oder Sierra Leone. Dabei fallen die Kleinkinder meist keinen exotischen Erregern zum Opfer, sondern so banalen Krankheiten wie Durchfall oder Malaria, die sich eigentlich gut behandeln lassen.[33]

Auf den ersten Blick erscheint es seltsam, dass es dem globalen Süden so schwerfällt, die traditionellen Industrieländer einzuholen. Ein naheliegender Gedanke wäre doch, die Technik schlicht zu kopieren: Deutschland verdient bekanntlich sehr viel Geld mit Luxusautos – warum also baut Bangladesch nicht einfach eigene Fertigungsstraßen und exportiert ebenfalls Fahrzeuge des gehobenen Segments?

Der moderne Kapitalismus ist komplex. Am besten lässt er sich verstehen, wenn man von vorn anfängt und an den Ort seiner Entstehung zurückkehrt: England, ab etwa 1760.

2. England, ab 1760: wie das Wachstum erfunden wurde

Der Wohlstand ist ein Wunder: Jeder Westeuropäer ist heute im Durchschnitt 20-mal so reich wie seine Vorfahren, die vor 200 Jahren lebten.[34] Zudem hat der Kapitalismus nicht nur ein Mehr vom Vorhandenen produziert, sondern eine völlig neue Welt erschaffen. Ein Auto mit 50 »Pferdestärken« (PS) ist nicht einfach eine Kutsche, die von 50 Pferden gezogen wird – sondern ein gänzlich anderes Produkt. Auch die heutigen Lampen bestehen nicht aus Millionen von Kerzen, die erst einmal angezündet werden müssen.[35] Der Kapitalismus war eine Revolution.

Diese »industrielle Revolution«[36] war allerdings kein plötzliches Ereignis. Die Verwandlung der Welt hat sich über mehrere Jahrhunderte hingezogen und begann ganz bescheiden: Anfangs wurde in England nur ein einziger Produktionszweig mechanisiert, die Textilindustrie, und auch dort dauerte es Jahrzehnte, bis der letzte Handwebstuhl verschwunden war.[37]

Es gibt keine eindeutige Antwort, warum die industrielle Revolution ab 1760 ausgerechnet in England einsetzte. »Obwohl tausende von Büchern über dieses erstaunliche Phänomen geschrieben wurden, bleibt es ein gewisses Rätsel«, urteilt die US-amerikanische Wirtschaftshistorikerin Joyce Appleby.[38] Vor allem neoliberale Ökonomen sind irritiert, weil ihre Standardmodelle hier nicht weiterführen. Angeblich sind Privateigentum, Arbeitsteilung, Märkte, Banken und Bildung besonders wichtig, um Wachstum zu generieren. Doch keines dieser Phänomene kann erklären, warum der Kapitalismus gerade in England begann.

Die englischen Textilfabriken gehörten zwar privaten Eigentümern, aber auch im restlichen Westeuropa war Privateigentum stark geschützt – ohne dass es zu Wachstum gekommen wäre.[39] Zudem war es nicht neu, Besitz rundum abzusichern: Bereits die antiken Römer hatten Firmenkonstrukte ersonnen, die die Haftung von Eigentümern beschränkten.[40] Privateigentum allein schafft offenbar keinen Reichtum, sonst hätte bereits in Rom stürmisches Wachstum einsetzen müssen.

Auch die Arbeitsteilung entstand nicht erst im 18. Jahrhundert.[41] Schon die Antike kannte den Trick, die Produktion in kleine Schritte aufzuteilen, damit jeder Beschäftigte schneller vorankam. Bereits die griechischen Philosophen Aristoteles, Platon und Xenophon erwähnten die Arbeitsteilung, und die Römer trieben sie zur Perfektion: Das Lateinische verzeichnet über 500 Ausdrücke für verschiedene Gewerbe.[42] Auch außerhalb Europas hatte man die Vorteile der Arbeitsteilung längst entdeckt. Die Chinesen produzierten ihr berühmtes Porzellan in mehr als 70 verschiedenen Schritten, wobei es für jede einzelne Tätigkeit eigens ausgebildete Handwerker gab.[43] Aber eine Industrie entstand daraus nicht. Wie die antiken Römer blieben auch die Chinesen bei der Handarbeit stehen.[44]

Märkte können ebenfalls nicht erklären, warum die englische Wirtschaft ab dem 18. Jahrhundert expandierte. Der Kapitalismus wird zwar gern als »Marktwirtschaft« tituliert, doch diese Bezeichnung führt in die Irre, weil es in der Geschichte fast überall Märkte und Fernhandel gab.[45] Die Türken hatten ihre Bazare und die Araber ihre Souks, ohne dass sich daraus ein industrieller Kapitalismus entwickelt hätte. Zudem war ausgerechnet Europa in viele Kleinstaaten zersplittert, die sich durch hohe Zölle voneinander abgeschottet hatten.[46] Handel war hier schwierig, nicht einfach.

Wenn es wahr wäre, dass große Märkte zu Reichtum führen, dann hätten vor allem die gewaltigen Imperien florieren müssen. Die russischen Zaren, die türkischen Osmanen, die indischen Mogule und die chinesische Qing-Dynastie herrschten über gigantische Reiche, die intern kaum Zölle kannten.[47] Trotzdem stagnierten diese Imperien ökonomisch und wurden immer wieder von Hungersnöten heimgesucht. China zählte im 18. Jahrhundert etwa 300 Millionen Einwohner, während das Vereinigte Königreich nur auf sieben Millionen Menschen kam. Dennoch war es diese kleine Insel, die die ersten Maschinen entwickelte.

Oft wird betont, dass die Briten schon früh leistungsfähige Banken hatten. Das stimmt. Nur waren diese Banken nicht daran beteiligt, die ersten Fabriken zu finanzieren.[48] So erstaunlich es klingt: Der moderne Kapitalismus benötigte anfangs kaum Kapital. Die frühen Maschinen waren so klein und billig, dass sich die Textilunternehmer das nötige Geld in der Familie und bei Freunden leihen konnten. Der spätere Sozialist Robert Owen zum Beispiel startete seine Fabrik in Manchester mit 100 Pfund, die er sich im Bekanntenkreis geborgt hatte.[49] Am Geld ist es also nicht gescheitert, dass sich andere Völker nicht ähnlich früh industrialisierten wie die Engländer.

Über besonderes Wissen verfügten die Briten übrigens auch nicht. Zwar kam es in Europa ab dem 17. Jahrhundert zu bahnbrechenden Entdeckungen in der Astronomie, Mechanik oder Optik. Aber diese »wissenschaftliche Revolution« beschränkte sich nicht auf England, sondern wurde von Forschern auf dem ganzen Kontinent getragen – ob Galileo Galilei in Italien oder Otto von Guericke in Magdeburg. Zudem spielten diese neuen Erkenntnisse gar keine Rolle, als die ersten Fabriken gegründet wurden. Die frühen Textilmaschinen wurden nicht etwa von Wissenschaftlern gebaut, sondern meist von Handwerkern, die kaum lesen und schreiben konnten. Sie bastelten so lange an ihren Apparaten herum, bis sie endlich funktionierten.

Um die Stationen kurz nachzuzeichnen: 1733 ließ der Tüftler John Kay seinen »Flying Shuttle« patentieren, der auf Deutsch etwas umständlich »Schnellschusswebstuhl« heißt. Dies war noch ein Handwebstuhl, der aber viel breiter war als das bisherige Modell und nur noch von einem Weber bedient wurde. Das Weben ging jetzt so schnell, dass die Spinner nicht mehr hinterherkamen – was dann zur »Spinning Jenny« führte, die 1764 von dem Handweber James Hargreaves erfunden wurde. Sie hatte anfangs acht Spindeln und war schon dreimal so produktiv wie das herkömmliche Spinnrad.[50] Wenig später folgte der eigentliche Durchbruch. Der Perückenmacher Richard Arkwright konstruierte 1769 den »Water Frame«, der mit Wasserkraft angetrieben wurde. Jetzt reichte ein Hilfsarbeiter, um Hunderte von Spindeln zu überwachen. Der Weber Samuel Crompton vereinigte 1779 beide Maschinen zu seiner »Spinning Mule«, die nun perfektes, ultrafeines Baumwollgarn herstellte.[51]

Diese Erfindungen waren den Tüftlern nicht in die Wiege gelegt: Nur John Kay kam als Sohn eines Wollfabrikanten zur Welt und führte schon früh das väterliche Unternehmen, aber alle anderen Maschinenbauer stammten aus kümmerlichen Verhältnissen. Der Handweber James Hargreaves hatte vermutlich nie eine Schule besucht und war Analphabet, musste aber 13 Kinder ernähren. Seine erste »Spinning Jenny« stellte er mit einem Taschenmesser her.[52] Samuel Crompton war Halbwaise und musste schon als Fünfjähriger Baumwolle spinnen. Allerdings ist er wohl gelegentlich zur Schule gegangen, wo er vor allem im Fach Mathematik brilliert haben soll.[53] Bei Richard Arkwright ist ungeklärt, ob er lesen konnte. Jedenfalls war er das jüngste von sieben Kindern, und seine Eltern hatten nicht die Mittel, um ihn zur Schule zu schicken. Trotzdem gelang es Arkwright später, ein Textilimperium zu errichten, und seine Nachfahren wurden zu den reichsten Bürgerlichen im britischen Königreich.[54]

Theoretisch hätte man diese Textilmaschinen bereits in der Antike entwickeln können, denn die frühen Erfindungen »benötigten nicht viel mehr Wissen, als bereits Archimedes besaß«[55]. Daher waren die Engländer auch gar nicht die Ersten, die Spinnmaschinen bauten. Schon 1313 hatte der Chinese Wang Zhen eine »Maschine zum Spinnen von Hanffäden« beschrieben, die Hargreaves »Spinning Jenny« und Arkwrights »Water Frame« erstaunlich ähnelte.[56] Doch in China verpuffte dieses Wissen, und es blieb bei der Handarbeit.

Warum also waren es ausgerechnet englische Handwerker, die die ersten Maschinen bauten? Denkbar wäre doch gewesen, dass auch österreichische oder italienische Weber ihre Taschenmesser zückten, um neue Spinnmaschinen zu entwickeln, denn das nötige Wissen hätten sie gehabt. Die überzeugendste Antwort lautet: Die Industrialisierung begann in England, weil dort die höchsten Löhne der Welt gezahlt wurden. Im 18. Jahrhundert verdienten englische Arbeiter mindestens dreimal so viel wie ihre Kollegen auf dem europäischen Kontinent.[57] Nur weil Tagelöhner teuer waren, hat es sich erstmals gelohnt, Maschinen einzusetzen, um Arbeitskräfte einzusparen.

Die ersten Textilmaschinen waren zwar klein, unscheinbar und noch aus Holz, aber auch sie kosteten Geld: Hargreaves’ »Spinning Jenny« war 70-mal so teuer wie ein herkömmliches Spinnrad. Diese Kosten rentierten sich nur, weil sie hohe Löhne einsparten.[58] In anderen Ländern, wo Arbeitskräfte billig waren, ging diese Kalkulation nicht auf, wie der Wirtschaftshistoriker Robert C. Allen vorgerechnet hat: »In den 1780er Jahren lag die Rentabilität einer Arkwright-Spinnerei in England bei 40 Prozent, in Frankreich bei neun Prozent und in Indien bei einem Prozent. Da Investoren jedoch mindestens eine Rendite von 15 Prozent auf ihr fixes Kapital erwarteten, ist es kein Wunder, dass in dieser Zeit rund 150 Arkwright-Spinnereien in Großbritannien, vier in Frankreich und keine einzige in Indien errichtet wurde.«[59]

Die hohen Löhne spiegelten einen generellen Wohlstand wider, der in England schon vor der Industrialisierung eingesetzt hatte und kontinentale Besucher zutiefst erstaunte. 1737 reiste der Franzose Abbé Le Blanc auf die Insel und berichtete in seinen Briefen an die Heimat, dass die englischen Bauern alle Annehmlichkeiten des Lebens genießen würden. Selbst der Knecht würde erst einmal Tee trinken, bevor er mit dem Pflügen beginne – und Tee galt damals als Luxusprodukt. Le Blanc war auch beeindruckt, wie elegant die Landbewohner gekleidet waren. Im Winter würden sie Mäntel tragen, und ihre Frauen und Töchter sähen aus wie echte Damen.[60] Ein spanischer Botschafter soll 1778 gestaunt haben, dass in den Markthallen von London »in einem Monat mehr Fleisch verkauft wird, als ganz Spanien in einem Jahr isst«[61].

Neben diesen persönlichen Eindrücken sind auch handfeste Statistiken überliefert, die den damaligen Wohlstand bezeugen, denn die Briten erstellten bereits Übersichten, wie hoch das Einkommen in den einzelnen Regionen ihres Landes war. Bekannt ist unter anderem der Verdienst eines 40-jährigen Gärtners, der mit Frau und vier kleinen Kindern in der Nähe von London lebte. Er erhielt 1797 etwa 30 Pennys pro Tag,[62] und mit diesem Durchschnittslohn konnte sich die Familie recht üppig ernähren: Täglich gab es Weizenbrot, Käse, ein halbes Pfund Fleisch, Tee, Zucker und einen Krug Bier. Man konnte sich neue Schuhe und Kleider leisten sowie das Schulgeld für die beiden ältesten Kinder aufbringen. Die Familie lebte in einem Haus mit Garten und heizte im Winter mit Kohle.[63]

Wie später berechnet wurde, verzehrten Londoner Arbeiter damals 2.500 Kalorien pro Tag und kamen auf eine Proteinzufuhr von 112 Gramm. So viel Eiweiß war schon gar nicht mehr gesund: Ein Drittel hätte ausgereicht, wenn man die heutigen Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zugrunde legt.[64]

Nirgendwo sonst lebten Arbeiter so gut. In Italien oder Indien standen nur etwa 1.900 Kalorien pro Kopf zur Verfügung, was nicht ausreichte, um einen ganzen Tag körperlicher Arbeit durchzustehen. Auch in Frankreich waren viele Menschen unterernährt und aßen tagein, tagaus Getreidebrei. Schätzungsweise 20 Prozent der Franzosen waren so geschwächt, dass sie eigentlich gar nicht mehr arbeiten konnten und nur noch zu maximal drei Stunden leichter Tätigkeit fähig waren.[65]

Der relative Reichtum der Engländer ließ sich auch an ihrer Körpergröße erkennen: Ende des 18. Jahrhunderts waren britische Soldaten im Durchschnitt etwa 172 Zentimeter groß. Franzosen brachten es nur auf 165 Zentimeter, Italiener und Österreicher kamen auf kümmerliche 162 Zentimeter.[66]

Aber warum waren die Engländer so wohlhabend, noch bevor die Industrialisierung einsetzte? Dies ist eine lange Geschichte, in der unter anderem die Pest, Schafe, der internationale Handel, eine Revolution und die Kohle vorkommen.

Mit dem »Schwarzen Tod« fing alles an: Die Pest erreichte Europa 1347 und tötete innerhalb von vier Jahren etwa ein Drittel der Bevölkerung. Damit war die Pandemie jedoch nicht beendet, denn die Pest kehrte mehrmals zurück. Allein in England kam es in den Jahren 1361/62, 1369, 1471 und 1479/80 zu weiteren schweren Ausbrüchen, denen jeweils bis zu 20 Prozent der Bevölkerung zum Opfer fielen. Ein letztes Mal schlug die Seuche 1665/66 in London zu und traf vor allem die ärmeren Schichten, wie schon die Zeitgenossen bemerkten. Der Kaufmann und Autor Daniel Defoe schrieb über diese »große Pest von London« frohgemut, dass sie eine »Erlösung« sei, denn sie hätte gerade »jene Menschen dahingerafft, die, wenn sie am Leben geblieben wären, durch ihre Armut eine unerträgliche Last gewesen wären«[67].

Doch hatte es seinen Preis, dass die unteren Schichten durch immer neue Pestwellen dezimiert wurden: Plötzlich fehlten die Arbeitskräfte, sodass die Löhne stark stiegen und die Hörigkeit faktisch endete. Ab etwa 1400 waren die englischen Bauern nicht mehr rechtlos an ihre adligen Herren gekettet, sondern erhielten langfristige Verträge für ihr Land, die fixe Raten vorsahen. Wenn also Pächter in ihre Felder investierten, um die Ernten zu steigern, dann blieb ihnen dieser Zusatzertrag und konnte nicht mehr vom Grundbesitzer abgeschöpft werden. Diese Rechtssicherheit war einzigartig in Europa. Die Pächter wurden zu Agrarunternehmern, die ihre Gewinne zu maximieren versuchten.[68]

Jede neue Erkenntnis wurde genutzt. Die Pächter schafften die Dreifelderwirtschaft aus dem Mittelalter sofort ab, als sich im 18. Jahrhundert herausstellte, dass eine andere Fruchtfolge günstiger ist. Früher hatte man das Land jedes dritte Jahr brachliegen lassen, damit es sich nach einer Runde Winter- und Sommergetreide wieder erholte. Doch jetzt erkannten die Landwirte, dass diese Brache gar nicht nötig war, wenn man zwischendurch Klee oder Rüben pflanzte.

Diese veränderte Fruchtfolge wirkt im Rückblick simpel, aber sie stellte einen epochalen Durchbruch dar in einer Welt, die bis dahin gegen zwei absolute Grenzen gekämpft hatte: Es gab nicht genug Getreide, um alle Menschen ausreichend zu ernähren, und es gab nicht genug Futter, um die eigentlich nötigen Last- und Zugtiere durchzubringen. Diese Probleme waren plötzlich gelöst. Dank Klee und Rüben ließen sich erstmals genug Pferde unterhalten, um sie flächendeckend beim Pflügen einzusetzen. Die Bodenkrume konnte nun viel tiefer umgegraben werden, was die Getreideernten deutlich steigerte. Die Kühe wiederum lieferten nicht nur Fleisch und Milch – sondern auch Mist, womit die Getreidefelder gedüngt werden konnten, sodass deren Ertrag nochmals zunahm.

Auch neue Produkte kamen hinzu – zum Beispiel Wolle. Da die Pest das Land entvölkert hatte, wurden nicht mehr alle Flächen benötigt, um Nahrungsmittel anzubauen. Wo einst Felder gewesen waren, konnten nun Schafe grasen. Englische Wollstoffe wurden zu einem begehrten Luxusgut und machten Ende des 17. Jahrhunderts knapp 70 Prozent der britischen Exporte aus.[69] Die Engländer hatten also schon eine florierende Textilbranche, bevor sie begannen, Maschinen einzusetzen und diese Betriebe noch rentabler zu machen.

Der britische Sonderweg war anfangs nicht klar zu erkennen. Auch im restlichen Europa stiegen die Löhne, nachdem die Pest die Arbeitskräfte dezimiert hatte. Doch in den meisten Ländern blieb es nicht lange bei den hohen Einkommen: Sobald die Bevölkerung wieder zunahm, sanken die Reallöhne erneut, weil die knappen Güter für mehr Menschen reichen mussten, sodass jeder Einzelne ärmer wurde. Nur England entging dieser demografischen Falle. Die Zahl der Einwohner stieg zwar – aber der Durchschnittslohn auch.

Dieses erstaunliche Phänomen war sehr wesentlich dem europäischen Seehandel zu verdanken, der sich auf London konzentrierte. England war zwar klein, aber London die größte Stadt Europas. Im Jahr 1700 lebten dort schon 500.000 Einwohner, und ein Jahrhundert später waren es knapp eine Million.[70] Londons Aufstieg war kein Zufall, sondern militärisch erkämpft. Allein gegen die Niederlande führten die Briten vier Kriege, um den europäischen Binnenhandel zu monopolisieren. Auch gegen die Franzosen zogen sie immer wieder zu Felde und erbeuteten dabei unter anderem fast alle französischen Kolonien in Nordamerika.

Das Vereinigte Königreich war ein höchst erfolgreicher Militärstaat – gerade weil das Parlament regierte. Die »Glorious Revolution« von 1688 hatte die Willkür des Königs beschnitten, und fortan war es das Recht der Abgeordneten, über Steuern abzustimmen und die Finanzierung von Kriegen zu verweigern. Diese Zugeständnisse sind oft so gedeutet worden, als sei der Einfluss von Staat und Krone zurückgedrängt worden, doch faktisch geschah genau das Gegenteil. Eben weil es nun eine parlamentarische Kontrolle gab, wurde der Staat in England immer wichtiger.

Nach 1688 war es nie wieder ein Problem, die Steuern zu erhöhen, um Armee und Marine auszustatten. Denn ein Wahlrecht besaßen nur die obersten drei bis fünf Prozent der männlichen Bevölkerung, sodass im Parlament allein der Adel und wichtige Kaufleute vertreten waren. Sie wussten genau, dass es ihren Interessen diente, die permanenten Kriege in Europa zu gewinnen. Wer die Weltmeere beherrschte, beherrschte den Weltmarkt.[71]

Englands Steuereinnahmen stiegen daher rasant: Zwischen 1665 und 1800 nahmen sie von 3,4 auf mindestens 12,9 Prozent der Wirtschaftsleistung zu. In Frankreich hingegen betrugen sie 1788 nur 6,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.[72] Das Ergebnis ist bekannt. Das kleine England gewann alle Kriege gegen das viel größere Frankreich, das damals doppelt so viele Einwohner zählte.

Vor allem die unteren Schichten brachten die Steuern auf, denn die britische Armee und Marine wurden vorrangig durch indirekte Konsumabgaben auf Bier, Zucker und Tabak finanziert. Es machte sich also bemerkbar, dass vor allem die Aristokraten im Parlament vertreten waren und sich die restliche Bevölkerung nicht wehren konnte. Doch obwohl die britischen Arbeiter Konsumsteuern zahlen mussten, lebten sie weitaus besser als ihre europäischen Nachbarn – eben weil ihre Löhne deutlich höher waren.

Auch auswärtige Besucher wunderten sich, dass die Briten europaweit konkurrenzfähig waren, obwohl ihre Tagelöhner so teuer waren. Im späten 18. Jahrhundert war der Chef der französischen Glasfabrik Saint-Gobain in England unterwegs und befand, dass die Briten niemals in der Lage sein würden, so günstiges Tafelglas herzustellen wie seine eigene Firma. »Unsere Franzosen essen nur Suppe mit ein bisschen Butter und Gemüse […] Eure Engländer essen Fleisch, und viel davon, und sie trinken ständig Bier, so dass ein Engländer drei Mal mehr ausgibt als ein Franzose.«

Doch der Saint-Gobin-Chef hatte sich verrechnet. Die Briten konnten sich ihre hohen Löhne leisten, weil sie über billige Kohle verfügten, während die Franzosen Holz verfeuern mussten. Die Energiekosten lagen in den englischen Glashütten bei einem Sechstel der französischen Firmen.[73]

Kohle war damals selten in Europa, weil viele Flöze noch gar nicht entdeckt worden waren. Zu diesen unbekannten Vorkommen gehörte auch das Ruhrgebiet: Die Preußen dachten bis 1851, dass sie in einem rohstoffarmen Land lebten. Erst als es gelang, die Mergelschichten zu durchstoßen und in die Tiefe vorzudringen, wurden die ergiebigen Steinkohleflöze entdeckt.[74] In Nordengland hingegen lag die Kohle direkt an der Oberfläche und zudem ganz nah am Meer, sodass sie sich billig verschiffen ließ. Bereits ab 1600 erlebte England eine »Kohlerevolution«, die das Holz ersetzte. Weit vor der eigentlichen Industrialisierung wurde Kohle in den energieintensiven Gewerken genutzt. Mit ihr wurde Salz aus Meerwasser gewonnen, Zucker raffiniert, Bier gebraut, Brot gebacken, Glas geblasen, wurden Backsteine gehärtet, Fliesen hergestellt und Häuser beheizt.[75]

Die Engländer erkannten klar, dass ihre Kohlegruben rund um Newcastle eine Form des Reichtums darstellten, die sich mit den Silberschätzen im spanischen Kolonialreich vergleichen ließen. Der Dichter John Cleveland reimte 1650 leicht ironisch:

England’s a perfect world, hath Indies too,

Correct your maps, Newcastle is Peru.[76]

England hatte also die teuersten Arbeitskräfte und die billigste Energie. Diese Kombination war weltweit einmalig, und sie erklärt, warum die Industrialisierung in England begann. Nur in England war es profitabel, Menschen durch Maschinen zu ersetzen.[77]

1796 hatte Großbritannien erst 20 Millionen Yards an bedruckten Baumwollstoffen hergestellt, 1830 waren es schon 350 Millionen Yards. Damit hätte man den Äquator siebenmal umwickeln können. Selbst Geschirrtücher wurden nun aus Baumwolle hergestellt, denn diese Faser war einzigartig vielseitig: Strapazierfähige Arbeitshosen ließen sich damit genauso produzieren wie hauchdünne Ballkleider. Zudem ließ sich Baumwolle mühelos und farbenfroh bedrucken, während Wolle immer ein bisschen schmutzig ausgesehen hatte. Vor allem aber war Baumwolle vergleichsweise billig, sodass sich jetzt viele Menschen mehr als nur ein Hemd leisten konnten. Im Jahr 1800 gab es in England bereits 14 Frauenmagazine, die ausführlich über die neueste Mode berichteten.[78]

Trotzdem profitierte zunächst nur eine kleine Minderheit vom neuen Aufschwung, während es vielen Briten sogar schlechter ging. Hohe Löhne hatten die Industrialisierung zwar ausgelöst, aber im 19. Jahrhundert sank der Lebensstandard der Massen wieder. Dieses seltsame Phänomen ist als »early growth paradox« in die Wirtschaftsgeschichte eingegangen: Die britische Wirtschaft wuchs, aber die Arbeiter verarmten. Weben und Spinnen waren spezialisierte Handwerksberufe gewesen, doch in den Fabriken brauchte man die Männer nicht unbedingt. Die monotone Tätigkeit an den Maschinen konnten auch ungelernte Frauen und Kinder verrichten, die nur Hungerlöhne erhielten.

In den neuen Fabriken waren die Arbeitsbedingungen oft entsetzlich, wie selbst die konservative Presse monierte. In den bürgerlichen Quellen fanden sich so viele Klagen, dass Marx damit Seite um Seite in seinem Hauptwerk Das Kapital füllen konnte. Einen schauerlichen Fall entnahm Marx zum Beispiel dem Daily Telegraph vom 17. Januar 1860: »Herr Broughton, ein County Magistrate, erklärte […], dass in dem mit der Spitzenfabrikation beschäftigten Teile der städtischen Bevölkerung ein der übrigen zivilisierten Welt unbekannter Grad von Leid und Entbehrung vorherrscht […] Um zwei, drei, vier Uhr des Morgens werden Kinder von neun bis zehn Jahren ihren schmutzigen Betten entrissen und gezwungen, für die nackte Subsistenz bis zehn, elf, zwölf Uhr nachts zu arbeiten, während ihre Glieder verschwinden, ihre Gestalt zusammenschrumpft, ihre Gesichtszüge abstumpfen und ihr menschliches Wesen ganz und gar in einem steinähnlichen Torpor erstarrt, dessen bloßer Anblick schauderhaft ist.«[79]

Viele Kinder erreichten noch nicht einmal das Erwachsenenalter, was selbst liberale Politiker als Skandal empfanden. Genüsslich zitiert Marx eine Rede von Joseph Chamberlain, der damals Bürgermeister von Birmingham war und später zu einem der bedeutendsten britischen Politiker aufsteigen sollte: »Dr. Lee, der Gesundheitsbeamte von Manchester, hat festgestellt, dass in jeder Stadt die mittlere Lebensdauer der wohlhabenden Klasse 38, die der Arbeiterklasse nur 17 Jahre ist. In Liverpool beträgt sie 35 Jahre für die erstere, 15 für die zweite. Es folgt also, dass die privilegierte Klasse eine Anweisung aufs Leben hat (have a lease of life) mehr als doppelt so groß als die ihrer weniger begünstigten Mitglieder.«[80] An diesem Zitat aus dem Jahr 1875 ist jedoch nicht nur die Gesellschaftskritik interessant. Im Rückblick fällt auch auf, wie selbstverständlich es für Marx oder Chamberlain noch war, dass auch die Privilegierten im Durchschnitt nicht älter als 35 oder 38 Jahre wurden.[81]

Die Industrialisierung begann in den Textilfabriken, dennoch war ihre Bedeutung bescheiden. 1830 machten Baumwollstoffe nur etwa acht Prozent der britischen Wirtschaftsleistung aus,[82] und meist wurden diese ersten Maschinen noch mit Wasserkraft betrieben. Der Rest der Branchen war vom technischen Wandel noch gar nicht erfasst worden, und vielleicht wäre die »industrielle Revolution« schon bald wieder zu Ende gewesen, wenn sie sich nur auf Textilien konzentriert hätte. Doch parallel fand eine zweite bahnbrechende Entwicklung statt: Großbritannien entdeckte die Dampfkraft.

3. Ohne Energie geht es nicht: Der Kapitalismus wird fossil

Seit dem 16. Jahrhundert hatten die Briten ständig mehr Kohle verbrannt, um Salz zu sieden, Bier zu brauen, Häuser zu heizen und Backsteine herzustellen. Doch diese »Kohlerevolution« hatte die Rolle der Kohle nicht verändert. Sie wurde weiterhin nur genutzt, um Wärme zu erzeugen. Erst die Dampfkraft setzte die Kohle ein, um Bewegungsenergie zu gewinnen und Maschinen anzutreiben. Dieser technische Sprung hat die Welt radikal verändert.

Zunächst diente die Dampfkraft nur dazu, Kohlegruben zu entwässern. Je tiefer die Schächte wurden, desto mehr Grundwasser drang ein, sodass Pferdegöpel nicht mehr ausreichten, um die lästigen Fluten an die Oberfläche zu schaffen. Wieder war es ein Handwerker, der die erste funktionstüchtige[83] Maschine konstruierte: der Schmied und Eisenhändler Thomas Newcomen. Er lebte im beschaulichen Dartmouth und amtierte nebenher als Laienprediger in einer Baptistengemeinde. Zehn Jahre lang bastelte Newcomen an seiner Dampfmaschine, bis er ein erstes Exemplar 1712 in einem Bergwerk in Dudley installieren konnte.

Diese Maschine war ein technisches Wunder, denn sie machte Luft zu Geld. Sie nutzte das Gewicht der Atmosphäre, um Wasser aus dem Boden zu befördern.[84] Newcomens Erfindung bestand im Kern aus einem offenen Metallzylinder, in dem Wasser zu Dampf erhitzt wurde, um einen Kolben nach oben zu drücken. Anschließend wurde kaltes Wasser zugeführt, damit der Dampf kondensierte und ein Vakuum entstand. Durch den Luftdruck wurde der Kolben wieder nach unten gepresst, in das Vakuum hinein, weswegen die Dampfmaschinen anfangs »atmosphärische Maschinen« hießen. Am Kolben waren Holzbalken befestigt, deren Auf und Ab dann die Pumpen bewegte.

Das Meisterwerk hatte nur einen einzigen entscheidenden Nachteil: Newcomens Maschine verschlang Unmengen an Energie, um erst Dampf zu erzeugen und ihn dann wieder zu kondensieren. Für eine einzige Pferdestärke (PS) wurden pro Stunde 20 Kilo Kohle benötigt.[85] Daher rentierte sich die Maschine nur in Kohlegruben, wo es sowieso genug Bruchkohle gab, die nicht verkäuflich war.

Außerhalb der Kohlegruben war Newcomens Dampfmaschine aber viel zu teuer, was vor allem die Zinn- und Kupferminen in Cornwall schmerzlich spürten. Auch dort mussten Schächte entwässert werden, aber die nächsten Kohlevorkommen lagen in Wales. Der Transport der Kohle war so mühsam und kostspielig, dass sofort Versuche einsetzten, die Dampfkraft effizienter zu nutzen.

Die Erfolge waren erstaunlich: In den nächsten 150 Jahren gelang es den Ingenieuren, den Kohleverbrauch auf nur noch ein Pfund pro Pferdestärke zu drücken.[86] »Energiesparen« ist also keine neue Idee, die erst jetzt aufkommt, um dem Klimawandel zu begegnen. Stattdessen wurde im Kapitalismus schon immer auf technischen Fortschritt gesetzt, um die Effizienz zu steigern. Das Resultat war jedoch nicht, dass dann weniger Energie verbraucht worden wäre. Ganz im Gegenteil. Da die Maschinen immer effektiver wurden, verbreiteten sie sich rasant – sodass am Ende mehr Energie benötigt wurde, obwohl jedes einzelne Gerät sparsamer war. Dieses Paradox, auch »Rebound-Effekt« genannt, zeigte sich schon bei der Dampfkraft: Ab 1830 war sie so billig, dass sie sich auch in der Textilindustrie lohnte, die bis dahin vor allem mit Wasserkraft gearbeitet hatte.

Zur gleichen Zeit entstand ein gänzlich neuer Kohlefresser: die Eisenbahn. Auch sie war eine technische Revolution. Immer wieder haben Zeitgenossen und Historiker versucht, die Wirkung dieser Erfindung zu beschreiben, und die wohl beste Zusammenfassung stammt von dem französischen Dichter und Philosophen Paul Valéry, der dafür nur einen einzigen Satz benötigte: »Napoleon kam ebenso langsam voran wie Julius Cäsar.« Nun aber rasten die Europäer durch ihren Kontinent; kurz vor dem Ersten Weltkrieg brachten es die Eisenbahnen im Durchschnitt auf 90 Stundenkilometer.

Auch die Geschichte der Eisenbahn beginnt in der Kohlegrube. Dort kämpfte man seit alters her mit dem Problem, wie man die Kohle bis zum nächsten Fluss oder Kanal schaffen sollte. Schon früh wurden Loren eingesetzt, die auf Schienen rollten und von Pferden gezogen wurden. Am Anfang waren diese Schienen aus Holz, im 18. Jahrhundert schon aus Eisen. Aber der Durchbruch kam erst mit der Dampfkraft: Als sie erfunden wurde, lag der Gedanke nahe, dass sie doch auch die Kohleloren ziehen könnte.