Hurra, wir dürfen zahlen - Ulrike Herrmann - E-Book

Hurra, wir dürfen zahlen E-Book

Ulrike Herrmann

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Beschreibung

Die Mittelschicht in Deutschland betrachtet sich gerne und immer häufiger als Opfer. Ständig hat sie den Verdacht, sie würde vom Staat ausgebeutet. Doch: Stellt die Mittelschicht nicht die Mehrheit in dieser Gesellschaft? Warum stimmt sie zum Beispiel für Steuergesetze, die die Oberschicht einseitig privilegieren? Warum benimmt sich die Mittelschicht so irrational? Ulrike Herrmann untersucht den bundesdeutschen Alltag, analysiert die wundersame Vermehrung der Milliardäre, die Renaissance des Adels, die Rückkehr der Dienstboten, die Verachtung der Unterschicht und den fatalen Glauben der Mittelschicht, sie sei privilegiert. Aber die Zeit drängt. Findet die Mittelschicht nicht zu einem realistischen Selbstbild, sondern hängt weiter ihrem Elitedünkel an, wird sie auch weiterhin allein für wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen bezahlen.

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Für Hui und Tui

‎© Ulrike Hermann

Titel der Originalausgabe:‎

»Hurra, wir dürfen zahlen«, Westend Verlag GmbH, Frankfurt‎

‎© Piper Verlag GmbH, München 2022‎

Covergestaltung: Maßmann Werbeagentur, München

Einleitung

1Der Selbstbetrug der Mittelschicht

Die Mittelschicht ist frustriert. 2000 Studenten sollten kürzlich die Frage beantworten, welches Bild die Gesellschaft am besten beschreibt: eine Zwiebel oder eine Pyramide? Passt noch das Bild von der gemütlichen Knolle – wo es oben und unten ein paar Reiche und Arme gibt, während sich die starke Mitte prall rundet? Oder ruht inzwischen eine schmale Oberschicht auf einem breiten Sockel von Armut? Fast alle Studenten entschieden sich für dieses zweite Bild der Pyramide. Das Vertrauen in die Chancengleichheit, lange Zeit zentral für das Selbstverständnis der Bundesrepublik, ist offenbar tief gestört. Die Mittelschicht empfindet, dass sie abgedankt hat.

Dieser Pessimismus ist berechtigt: In Deutschland schrumpft die Mittelschicht, wie Sozialerhebungen belegen. Die Reichen werden reicher, während zugleich die Zahl der Armen steigt – und die Mittelschicht verliert nicht nur in der Krise, sondern selbst noch im Boom. Früher konnten sich die Angestellten darauf verlassen, dass ihre Reallöhne stiegen, wenn die Wirtschaft wuchs. Doch beim letzten Aufschwung zwischen 2005 und 2008 galt dieses scheinbar eherne Gesetz nicht länger. Während die Firmengewinne explodierten, stagnierten die Gehälter.

Warum aber schrumpft die Mittelschicht? Warum sinken ihre Gehälter? Oft wird vermutet, dass der Staat schuld sei, der die Mittelschicht durch Steuern und Sozialabgaben ausplündere.1 Völlig falsch ist diese Beobachtung nicht. Tatsächlich haben die jüngsten Steuerreformen vor allem die Spitzenverdiener begünstigt, während die Mittelschicht damit allein gelassen wird, die wachsende Zahl der Armen zu finanzieren.

Trotzdem bleibt es seltsam, ausgerechnet die Mittelschicht als Opfer des Staates zu bedauern. Denn die Mittelschicht stellt noch immer die weitaus meisten Wahlberechtigten. Ihre Mehrheit wirkt sich an der Urne sogar überproportional aus, weil die Armen ihre Stimme oft gar nicht erst abgeben.2 Auch die Politik weiß genau, dass Wahlen nur mit der Mittelschicht zu gewinnen sind, weswegen alle etablierten Parteien monoman auf die »Mitte« zielen. Die FDP etwa warb im vergangenen Bundestagswahlkampf mit dem Slogan »Die Mitte stärken«.

Die Mittelschicht kann also nicht nur Opfer, sondern muss auch Täter sein. Wenn sie absteigt, dann nur, weil sie an diesem Abstieg mitwirkt. Sie selbst ist es, die für eine Steuer- und Sozialpolitik stimmt, die ihren Interessen völlig entgegengesetzt ist.

In Deutschland haben die Wähler sogar mehr Macht als in vielen anderen EU-Staaten: Der Föderalismus sorgt dafür, dass eine Bundesregierung nicht nur alle vier Jahre die Bundestagswahl bestehen muss – sondern zwischendurch auch bei diversen Landtagswahlen abgestraft werden kann, die stets als Stimmungstest gelten und regelmäßig zu Kurskorrekturen führen.

Wenn also die rot-grüne Regierung den Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent gesenkt hat, wovon allein die sehr hohen Einkommen profitierten – dann muss sie geglaubt haben, dass auch die Mittelschicht einverstanden wäre, wenn die Spitzenverdiener ein Milliardengeschenk erhalten. Ähnlich verhält es sich mit der neuen schwarz-gelben Regierung: Wieder werden Steuersenkungen versprochen, diesmal in Höhe von 24 Milliarden Euro, von denen vor allem die Bessergestellten profitieren. Gleichzeitig sollen aber die Sozialabgaben steigen, was alle Arbeitnehmer belastet. Die neue Regierung war für die meisten Bürger ein absehbar schlechtes Geschäft – und trotzdem hat die Mehrheit diese »Koalition der Mitte« an die Macht gewählt.

Warum also stimmt die Mittelschicht immer wieder gegen ihre eigenen Interessen? Nicht selten wird vermutet, dass Medien und Lobbyisten die Bundesbürger so lange gezielt verwirren, bis sie hörig den Eliten folgen.3 Und tatsächlich ist der Einfluss von Journalisten und Verbänden enorm – aber grenzenlos ist er nicht. Zeitungen müssen gekauft, Sendungen gesehen und Lobby-Botschaften geglaubt werden. Wer die Interessen einer Minderheit durchsetzen will, muss die Emotionen der Mehrheit berühren.

Lobbyisten sind nur erfolgreich, weil sie auf das Selbstbild der Mittelschicht zielen. Sie sprechen deren Träume und Hoffnungen an, bedienen ihre Ängste und Vorurteile. Konkret: Wenn Lobbyisten Steuersenkungen für die Reichen durchbringen wollen, dann müssen sie der Mittelschicht das Gefühl geben, dass sie ebenfalls zur Elite gehört. Man muss die Mittelschicht zum Selbstbetrug animieren.

Zunächst mag es erstaunen, dass die Mittelschicht überhaupt je auf die Idee verfallen konnte, sich in der Nähe der Elite zu glauben. Denn begütert ist die Mittelschicht nicht. Zu ihr zählt, wer zwischen siebzig und hundertfünfzig Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat. Bei einem Single wären dies zwischen 1000 und 2200 Euro netto im Monat. Bei Familien liegt die Spannbreite deutlich höher, weil auch der Bedarf größer ist. So benötigt ein Ehepaar mit zwei kleinen Kindern zwischen 2100 und 4600 Euro netto, um zur Mittelschicht zu gehören. Darunter beginnt die Unterschicht, darüber schon die Oberschicht.4

Diese sozio-ökonomischen Begriffe haben sich jedoch im alltäglichen Sprachgebrauch nicht immer durchgesetzt. So ist »Mittelschicht« zwar sehr gängig, doch »Oberschicht« wird kaum benutzt. Stattdessen hat sich das Wort »Elite« eingebürgert, das daher auch in diesem Buch verwendet wird – und damit alle meint, die sich mit ihrem Einkommen und Vermögen oberhalb der Mittelschicht etablieren konnten.

Doch zurück zur eigentlichen Frage: Wie kann es also sein, dass die Mittelschicht, mit ihrem eher bescheidenen Wohlstand, eine Politik unterstützt, die vor allem den Eliten dient? Drei Mechanismen scheinen ineinanderzugreifen.

Erstens: Die Reichen rechnen sich arm und erklären sich selbst zu einem Teil der Mittelschicht. Sie verschleiern ihren Wohlstand derart gekonnt, dass völlig unklar ist, wie reich sie wirklich sind. Fest steht nur, dass Billionen Euro aus der Statistik verschwinden. Zudem suggerieren die Eliten der Mittelschicht, dass ein Aufstieg in die oberen Ränge jederzeit möglich sei – und verbrämen damit geschickt, dass sich die Eliten faktisch nach unten abschließen, was schon mit der Partnerwahl beginnt. Diese heimlichen Techniken der Dominanz lassen sich von niemandem besser lernen als vom deutschen Adel, der sich noch immer an der Spitze hält, ohne eigentlich Macht zu besitzen.

Zweitens: Umgekehrt nimmt die Mittelschicht nicht wahr, wie groß der Abstand zu den Eliten tatsächlich ist. Die Mehrheit der Deutschen hält sich für einigermaßen wohlhabend und neigt dazu, die Grenze des Reichtums knapp oberhalb ihres eigenen Einkommens und Vermögens anzusetzen.5 In dieser Weltsicht muss man sich also nur ein bisschen anstrengen oder ein wenig Glück haben – und schon gehört man selbst zur Elite. Leistung lohnt sich, davon ist die Mittelschicht noch immer überzeugt. Und sollte man selbst nicht an die Spitze gelangen, dann könnten zumindest die eigenen Kinder Karriere machen. Der Glaube an den eigenen Aufstieg ist in der Mittelschicht ungebrochen, wie auch der Boom der Privatschulen zeigt.

Drittens: Die Mittelschicht überschätzt ihren Status auch deshalb, weil sie viel Kraft und Aufmerksamkeit darauf verwendet, sich vehement von der Unterschicht abzugrenzen. Nur zu gern pflegt die Mittelschicht das Vorurteil, dass die Armen eigentlich Schmarotzer seien. So meinen immerhin 57 Prozent der Bundesbürger, dass sich Langzeitarbeitslose »ein schönes Leben auf Kosten der Gesellschaft machen«.6 Aus dieser Verachtung für die Unterschicht entsteht dann eine fatale Allianz: Die Mittelschicht sieht sich an der Seite der Elite, weil sie meint, dass man gemeinsam von perfiden Armen ausgebeutet würde.

Die Kosten dieses Selbstbetrugs sind enorm. Während die Eliten immer weniger belastet werden, verliert die Mittelschicht rapide. Schon jetzt müssen Arbeitnehmer bis zu 53 Prozent ihrer Arbeitskosten als Steuern und Sozialabgaben abführen – während umgekehrt Millionäre ihre Einkünfte mit nur durchschnittlich 34 Prozent versteuern.

Künftig dürfte die Mittelschicht sogar noch stärker belastet werden. Die Finanzkrise hat die Staatsverschuldung stark erhöht – und diese Kosten wird erneut allein die Mittelschicht tragen, wenn sie sich nicht aus ihrer fatalen Allianz mit den Eliten löst.

Die Mittelschicht ahnt bereits, dass die Kosten der Finanzkrise an ihr hängen bleiben sollen. Trotzdem wendet sie sich weiterhin gegen die Unterschicht und nicht etwa gegen die Eliten. So sagen fast 65 Prozent aller Menschen, die sich selbst von der Wirtschaftskrise betroffen fühlen: »In Deutschland müssen zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden.«7 Wieder gerät völlig aus dem Blick, dass vor allem die Vermögenden davon profitiert haben, dass der Staat mit Milliardensummen Banken und Wirtschaft gerettet hat. Stattdessen werden nun die Armen einmal mehr zu Schmarotzern erklärt, obwohl sie Opfer der Krise sind.

Dass die Armen so wenig Solidarität erfahren, kann man zu Recht moralisch verurteilen. Trotzdem verfolgt dieses Buch einen anderen Ansatz: Es versucht zu zeigen, dass es nicht nur ethisch geboten wäre, die Unterschicht zu unterstützen – sondern dass es im eigenen Interesse der Mittelschicht ist, sich mit den Armen zu verbünden. Denn solange sich die Mittelschicht weiterhin mit aller Macht gegen die Unterschicht abgrenzt, wird sie jene Allianz mit den Eliten fortsetzen, die allein den Reichen nutzt.

Dieser Selbstbetrug wird in drei Abschnitten beschrieben, die jeweils einen anderen Fokus wählen: Zunächst geht es um die Macht der Eliten, dann um die Irrtümer der Mittelschicht und schließlich um die Verachtung für die Unterschicht. Dabei tauchen zentrale Themen wie die Verteilung von Einkommen oder der Bildungswettbewerb immer wieder auf. Trotzdem sind Doppelungen nicht zu befürchten, weil der Kampf um Status und Anerkennung für jede Schicht anders funktioniert. Wie teuer der Selbstbetrug für die Mittelschicht ist, wird dann in den Kapiteln zu Steuern (17) und Sozialversicherungen (19) erläutert.

Es ist ein Buch über die falsche Selbstwahrnehmung der Deutschen. Daher beginnt es mit einer Darstellung, wie die Bundesbürger ihre eigene Lage empfinden.

2Die Selbstwahrnehmung der Deutschen: Fast jeder fühlt sich fast reich

Für jede Lappalie gibt es inzwischen eine Umfrage. Keine Regung entkommt der Statistik. So wurde kürzlich völlig ernsthaft erhoben, was die Deutschen machen, wenn ihre Fernbedienung kaputt ist. Antwort: Dann stehen doch tatsächlich 89 Prozent auf und gehen höchstpersönlich zum Fernseher, um das Programm zu wechseln, falls eine Sendung zu langweilig geworden ist. Nur eine kleine Minderheit guckt aus reiner Bequemlichkeit weiter, selbst wenn es öde wird. Dazu passt, dass angeblich 77 Prozent lieber Treppen steigen, als den Aufzug zu nehmen – jedenfalls wenn nur zwei Stockwerke zu überwinden sind. Auch das Verhältnis zur Schwiegermutter ist längst geklärt: Sie hätten keinerlei Probleme, geben 90 Prozent der verheirateten Deutschen an.

Die Trivialitäten des Alltags sind also bestens erfasst. Doch nur wenige Studien sind komplex genug, um die Selbstwahrnehmung der Deutschen tiefer zu erforschen. Eine sehr aufwendige Erhebung entstand Anfang 2006 – und zwar im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, die bekanntlich den Sozialdemokraten nahesteht. Der Zeitpunkt war nicht zufällig gewählt: Nach den weitreichenden Steuer- und Sozialreformen unter Rot-Grün wollte man herausfinden, wie die SPD in der großen Koalition am besten weitermachen sollte. Waren die Deutschen etwa reformmüde? Oder konnte man ihnen noch weitere Maßnahmen zumuten? Wer empfand sich als Verlierer? Wer als Gewinner? Und wie kommuniziert man schmerzhafte Reformen am besten?1

Die Repräsentativbefragung ergab sehr widersprüchliche Befunde. Man könnte glauben, dass die Deutschen patentierte Masochisten sind, die politisch nur goutieren, was sie quält.

So zeigte sich zunächst einmal eklatant, wie verunsichert die meisten Menschen schon damals waren:

63 Prozent machten die gesellschaftlichen Veränderungen Angst52 Prozent waren orientierungslos46 Prozent empfanden ihr Leben als ständigen Kampf44 Prozent fühlten sich vom Staat alleingelassen15 Prozent waren generell verunsichert14 Prozent fühlten sich ins Abseits geschoben

Vor allem ihre finanzielle Zukunft sahen viele recht düster:

59 Prozent gaben an, sich finanziell einschränken zu müssen49 Prozent befürchteten, ihren Lebensstandard nicht halten zu können39 Prozent hatten die Sorge, dass sie im Alter auf Sozialhilfe angewiesen sein werden, weil die Rente nicht reicht21 Prozent waren mit ihrer finanziellen Situation unzufrieden13 Prozent plagten finanzielle Sorgen

Dazu passt, dass die allermeisten eine wachsende Ungleichheit konstatierten:

71 Prozent meinten, dass die Gesellschaft immer weiter auseinandertreibt61 Prozent stimmten der Aussage zu, dass es keine Mitte mehr gibt, sondern nur noch ein Oben und ein Unten51 Prozent sagten, dass ihnen die Ellbogenmentalität in unserer Gesellschaft schwer zu schaffen macht

Daher ist es auch wenig überraschend, dass die rot-grünen Reformen als Einschnitt erlebt wurden:

48 Prozent glaubten, sie hätten Nachteile erlittenfür 46 Prozent hatten sich keine Veränderungen ergebennur 4 Prozent hielten sich für Profiteure der Reformen

So weit, so klar. Viele Deutsche schienen Schlimmstes für die Zukunft zu befürchten. Doch dann wurde es verwirrend. Denn die Steuer- und Sozialreformen der vergangenen Jahre wurden keineswegs abgelehnt, obwohl doch fast niemand glaubte, profitiert zu haben:

43 Prozent plädierten für weitere Reformen – aber in kleineren Schritten30 Prozent wollten das Reformtempo sogar noch steigernnur 17 Prozent waren für eine Reformpause

Genauso erstaunlich waren die Antworten, wenn direkt danach gefragt wurde, wer sich zu den Gewinnern oder Verlierern der gesellschaftlichen Entwicklung zählte. Dann stellte sich heraus:

58 Prozent hielten sich für Gewinner28 Prozent waren unentschiedennur ganze 14 Prozent sahen sich auf der Verliererseite

Die Deutschen sind schon seltsam. Einerseits sorgen sie sich um die Zukunft und halten sich für Reformverlierer – andererseits wollen sie eben diese Reformen und geben mehrheitlich an, dass sie zu den Gewinnern der gesellschaftlichen Entwicklung gehörten. Irgendetwas stimmt nicht mit dem Selbstbild der Deutschen.

Um die Bundesbürger zu verstehen, muss man wohl vor allem eine der Selbstaussagen wirklich ernst nehmen, die in dieser Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zutage trat: Die meisten wollen auf gar keinen Fall zu den Verlierern zählen, selbst wenn sie objektiv an Wohlstand einbüßten. Es gibt eine breite Orientierung nach oben, die noch nicht einmal erschüttert werden kann, wenn der Abstieg droht. Die Deutschen scheinen zur Selbsttäuschung zu neigen.

Wie diese Selbstüberhöhung psychisch funktioniert, zeigte sich – eher zufällig – bei einer weiteren Untersuchung, die diesmal von der Bundesregierung veranlasst wurde. 2008 erschien der dritte Armuts- und Reichtumsbericht, und vorab wollte das Arbeitsministerium endlich einmal wissen, was sich die Deutschen eigentlich unter Reichtum vorstellen. Das war bis dato unbekannt. Man wusste nur, dass es selbst in der Wissenschaft keinen einheitlichen Begriff von Reichtum gibt.

Also wurden in einer repräsentativen Erhebung fünftausend Personen befragt, hinzu kamen drei Gruppen- und fünf Einzelinterviews.2 In den Gesprächen fiel vor allem auf, wie schwer es der Unter- und der Mittelschicht fällt, überhaupt ein konkretes Haushaltsnettoeinkommen zu benennen, das als »reich« einzustufen wäre. Sobald sie einen genauen Betrag angeben sollten, waren die Befragten eher ratlos.

Ein 47-jähriger Angestellter sagte zum Beispiel: »Wenn man so viel hat, dass man nach Bestreiten seines normalen Lebensunterhaltes sich noch ein bisschen Freizeit leisten kann und am Ende noch ein paar Euro übrig bleiben, das ist eigentlich schon Reichtum. Ob das 50, 100 oder 1000 sind. Am Ende des Geldes ist nicht nur Monat übrig, sondern am Ende des Monats ist noch ein bisschen Geld übrig.«

Da äußert sich Bescheidenheit: Wenn »ein bisschen Geld übrig« bleibt – dann empfinden dies viele offensichtlich schon als Reichtum. Nach einigem Nachdenken meinten die meisten Teilnehmer in der Gruppendiskussion, dass man bereits reich sei, wenn man über ein Haushaltsnettoeinkommen von zwei- bis dreitausend Euro verfüge. Nüchtern stellen die Wissenschaftler fest: Es falle »den Diskutanten schwer, von der persönlichen Ebene zu abstrahieren«. Da es einen objektiven Begriff von Reichtum offenbar nicht gibt, wird zum eigenen Einkommen nur ein wenig dazuaddiert. Diese Bescheidenheit ist durchaus tröstlich für den Einzelnen: Fast jeder kann sich beinahe reich fühlen. Nur wenige Hundert Euro trennen einen selbst von der Elite.

Fast jeder macht sich zum Maßstab, wie auch die repräsentative Umfrage bestätigte. Manche finden, dass schon 1500 Euro netto das Ticket zum Reichtum seien, bei andern liegt die Untergrenze bei wilden zehn Millionen Euro. Selbst wenn man die Ausreißer nach oben und unten weglässt, ergibt sich noch immer ein äußerst breiter Korridor von 2000 bis 20 000 Euro Nettoeinkommen im Monat.

Geht es um Vermögen, schwanken die Schätzungen sogar noch stärker als beim Einkommen, selbst wenn die extremsten Antworten unberücksichtigt bleiben: Während bei den einen der Reichtum schon bei einem Vermögen von 50 000 Euro beginnt, müssen es bei den anderen mindestens zwei Millionen sein. Wieder zeigt sich, dass Reichtum kein objektiver Begriff ist, sondern stark vom individuellen Einkommen abhängt. Wohlhabende setzen die Grenzen weitaus höher an als Arme. Fast jeder kann damit dem Reichtum subjektiv ganz nah sein, egal wie viel er besitzt oder verdient.

Zudem ist Reichtum ein schwammiger Begriff. Man kann sich durchaus als reich einstufen, ohne vermögend zu sein. Denn wichtiger als Geld ist den meisten Menschen ihr Wohlbefinden. Wenn man sie nur entsprechend fragt, dann sagen neun von zehn Deutschen, dass sie sich bereits reich fühlten, wenn sie gesund seien.

Wenn man schon fast reich ist, dann muss man ja nicht noch reicher werden. Das erklärt vielleicht die erstaunliche Bescheidenheit, die eine weitere repräsentative Umfrage zutage förderte.3 Gerade einmal 13 Prozent aller Männer in Deutschland hielten es für sehr wichtig in ihrem Leben, finanziell reich zu werden. Bei Frauen waren es sogar nur sechs Prozent. Umgekehrt war es 48 Prozent der Deutschen unwichtig, nach Reichtum zu streben.

Die Deutschen fühlen sich nicht reich, sondern nur fast reich. Also verorten sie sich allesamt in der Mittelschicht. Obwohl die Bundesrepublik objektiv eine Klassengesellschaft ist, ist sie in der subjektiven Wahrnehmung tatsächlich eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft – das gilt vor allem für Westdeutschland. Vom leitenden Angestellten bis zum Arbeitslosen vermuten sich alle irgendwie in der Mitte. Wenn man die Deutschen etwa bittet, sich auf einer Unten-Oben-Skala zwischen 1 und 10 einzusortieren, dann geben westdeutsche Manager nur 6,6 an. Umgekehrt platzieren sich selbst ungelernte Arbeiter immer noch bei 4,6. Weder die obersten noch die untersten Ränge sind also in der Selbsteinschätzung besetzt.4

Dieser Drang zur Mitte zeigt sich auch, wenn man die Frage etwas anders stellt und von den Deutschen wissen will, welcher konkreten Schicht sie sich zuordnen. 2006 erklärten nur 9 Prozent in Westdeutschland, dass sie sich zur Oberschicht rechneten. Zur Unterschicht wollte sowieso niemand gehören: Dort verorteten sich ganze 3 Prozent.5

Die ökonomische Realität sieht jedoch anders aus: Wenn man die Einkommensverteilung misst, dann stellt sich heraus, dass etwa 20 Prozent oberhalb der Mittelschicht anzusiedeln sind.6 Wieder zeigt sich das Phänomen, dass sich viele Privilegierte nicht als privilegiert wahrnehmen und dass sie auch die gesellschaftliche Dynamik völlig verkennen. Sie übersehen einfach, dass sie reicher werden.

Dieser Drang zur Mitte ist bei den Unterschichten allerdings genauso stark. Während subjektiv nur drei Prozent glauben, dass sie zu den Abgehängten dieser Gesellschaft gehören, kommen objektive Erhebungen auf mindestens 25 Prozent, die sich unterhalb der Mittelschicht befinden.7 Doch es will eben niemand vom Stigma der Armut betroffen ein. Selbst die Allerärmsten scheuen sich davor, sich als arm zu bezeichnen. Ein Beispiel ist der 43-jährige Frank Schmidt, der als Obdachloser jahrelang auf der Straße gelebt hat. »Nur manchmal« habe er sich arm gefühlt, versicherte er der Süddeutschen Zeitung in einem Interview über Geld.8 Ganz konkret erinnere er sich überhaupt nur an zwei Nächte, in denen er sich arm vorkam.

Was die eigene soziale Lage betrifft, herrscht in Deutschland also eine bemerkenswerte Verwirrung. Viele Reiche fühlen sich ärmer, als sie sind, dafür empfinden sich die Armen oft als reicher – und die Mittelschicht ist subjektiv dem Reichtum sowieso ganz nah. Aber richtig zufrieden ist keine Schicht.

Dieses Durcheinander lässt sich auch damit erklären, dass über die Reichen so wenig bekannt ist, die sich nach Kräften bemühen, ihren wahren Reichtum zu verschleiern. Während jeder Hartz-IV-Empfänger seine gesamten Konten offenlegen muss, sind die Daten über die großen Besitztümer und Top-Einkommen eher nebulös. Der Reichtum in Deutschland verschwindet im statistischen Dunkelfeld.

Die Macht der Eliten

3Die wundersame Vermehrung der Milliardäre: Der wahre Reichtum bleibt ein Geheimnis

Zumindest das Forbes-Magazin scheint genau zu wissen, wer auf dieser Welt zu den Superreichen zählt. Jährlich erscheint die berühmte Liste der Milliardäre. Für 2008 meldete das Magazin, dass es weltweit genau 793 Milliardäre gegeben habe. Ein Jahr zuvor wurden allerdings noch 1125 Milliardäre ausgemacht, doch die Finanzkrise habe die weltweiten Vermögen stark reduziert. Reichster Mann der Welt ist noch immer Bill Gates; der Gründer von Microsoft soll 40 Milliarden Dollar sein Eigen nennen.

Als besonderen Service erstellt Forbes auch Listen für einzelne Länder, so dass bequem nachzulesen ist, wer zu den zehn reichsten Deutschen gehört.1 Angeführt wird das Ranking von den Brüdern Karl und Theo Albrecht. Die Aldi-Besitzer sollen gemeinsam auf ein Vermögen von 31,5 Milliarden Euro kommen. Der Familie Otto vom gleichnamigen Versandhaus werden 10,3 Milliarden nachgesagt. Insgesamt lebten 2008 in Deutschland angeblich 54 Milliardäre, nachdem es im Jahr zuvor noch 59 gewesen sein sollen.2

Angesichts dieser überaus genauen Zahlen nagen dann doch die Zweifel: Woher weiß Forbes eigentlich, wie viel die Aldi-Brüder nun wirklich besitzen? Schließlich sind die beiden dafür berüchtigt, dass sie ihr Privatleben und ihre Geschäftszahlen am liebsten für sich behalten. Angeblich ist noch nicht einmal bekannt, wo die beiden Brüder wohnen.3 Auch die Familie Otto geht nicht mit ihrem Kontostand hausieren. Wie also informiert sich Forbes? Verräterisch ist ein Satz der Nachrichtenagentur dpa: Die Zahlen des Magazins basierten »auf Recherchen der Redakteure und auf Schätzungen«.4 Wirklichen Durchblick hat Forbes also nicht.

Methodisch ähnlich windig ist der zweite Publikumsknüller: der Weltreichtumsbericht. Jährlich wird er von der US-Investmentbank Merrill Lynch und der Beratungsfirma Capgemini veröffentlicht – und hat sich als ein geniales Marketinginstrument erwiesen. Großflächige Berichte in fast allen Zeitungen sind den Initiatoren stets sicher. Anders als Forbes widmen sich Merrill Lynch und Capgemini nicht nur den Milliardären, sondern auch die Millionäre werden wohlwollend berücksichtigt. Dabei kommt für Deutschland heraus: 2008 soll es hier genau 809 700 Dollar-Millionäre gegeben haben, nachdem es ein Jahr zuvor noch 826 000 waren. Also konstatiert der Bericht akribisch, dass die Zahl der deutschen Millionäre um exakt 2,7 Prozent gefallen sei.5 Das sieht doch nach echter Statistik und vertieftem Wissen aus.

Dieser schöne Schein verblasst allerdings, wenn man zum Methodik-Teil der Studie blättert. Dort wird es abenteuerlich. Offenbar wird die Zahl der Millionäre dank einer »Capgemini Lorenz Kurvenmethode« ermittelt, die »Schätzungen« auf der »Makro-Ebene« fortschreibt.6 Es bleibt allerdings unklar, was wohl diese »Capgemini Lorenz Kurvenmethode« sein soll, und es ist höchst unwahrscheinlich, dass die Zahlen stimmen – wie schon der Vergleich mit einem Konkurrenzunternehmen zeigt. Die Beratungsfirma Boston Consulting hat nämlich ebenfalls entdeckt, dass Reichen-Rankings ein wunderbares Marketinginstrument sind und kommt für das Jahr 2008 auf 373 565 Dollar-Millionäre für Deutschland.7 Bei Capgemini, wie gesagt, waren es weit mehr als das Doppelte. Noch seltsamer: Capgemini weist zwar deutlich mehr Millionäre aus, dafür sollen diese aber weitaus weniger besitzen als bei Boston Consulting. Für 2008 schätzt Capgemini das Vermögen der »High Net Worth Individuals« auf weltweit insgesamt 32,8 Billionen Dollar.Boston Consulting kommt auf stolze 92,4 Billionen.8

Inzwischen haben auch deutsche Medien entdeckt, dass sich mit den Superreichen Aufmerksamkeit erheischen lässt. So bringt das Manager Magazin jährlich ein Spezialheft heraus, das sich den »300 reichsten Deutschen« widmet. Dort kann man dann erneut nachlesen, dass die beiden Aldi-Brüder auf Platz eins bei den Milliardären stehen. Übrigens beruht auch diese Liste nur auf »Schätzungen«.9 Dem Wahnwitz entkommt dieses Ranking ebenfalls nicht: 2008 wurden genau »122 Einzelpersonen oder Familien« ausgemacht, die in Deutschland über ein Vermögen von mindestens einer Milliarde Euro verfügten.10Forbes, nur zur Erinnerung, kam für das gleiche Jahr auf nur 54 deutsche Milliardäre. Nirgendwo vermehrt sich der Reichtum offenbar so schnell wie auf Hochglanzseiten.

An all diesen Rankings fällt auf, dass sie erst seit ein paar Jahren existieren. Das Manager Magazin veröffentlichte 2009 seine »300 reichsten Deutschen« zum neunten Mal, auch Boston Consulting hat den neunten Bericht erstellt. Der Weltreichtumsbericht von Capgemini erscheint seit 13 Jahren. Nur Forbes spürt den Milliardären schon seit 1987 nach. Das Bedürfnis scheint also noch recht jung zu sein, sich mit den Eliten und ihrem Vermögen zu beschäftigen. Dieser Befund gilt übrigens auch für die Wissenschaft. In der Soziologie sind die wichtigen Studien zur Herkunft der Eliten ebenfalls nur etwas mehr als zehn Jahre alt.

Obwohl die Rankings der Milliardäre und Millionäre methodisch absurd sind, werden sie fleißig gelesen. Denn ansonsten gibt es kaum statistische Quellen, die Auskunft über die Reichen geben würden. Sogar seriöse Einrichtungen wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sehen sich genötigt, die Listen zu zitieren, als wären sie ernst zu nehmende Erhebungen.11 Zumindest zwei Erkenntnisse lassen sich aus den Rankings tatsächlich gewinnen: Seitdem sie erstellt werden, verzeichnen sie weltweit immer mehr Millionäre und Milliardäre – und davon leben erstaunlich viele in Deutschland.

Doch die amtliche Statistik weiß wenig über diesen wachsenden Wohlstand. Die offiziellen Daten sind sehr lückenhaft. Um die wichtigsten Erhebungen kurz vorzustellen:

Einen ersten groben Überblick bietet die Deutsche Bundesbank, die jährlich eine »gesamtwirtschaftliche Finanzierungsrechnung« erstellt. Dort wird unter anderem ermittelt, über wie viel Vermögen die Deutschen überhaupt verfügen. Dabei kam für 2008 heraus, dass die privaten Haushalte 4,4 Billionen an Finanzvermögen besaßen – hinzu kamen Sachwerte wie Immobilien in Höhe von rund 5,2 Billionen Euro. Gleichzeitig hatten die Deutschen natürlich Schulden, denn gerade Häuser werden oft über Hypothekenkredite finanziert. Wenn man diese Darlehen von rund 1,5 Billionen wieder abzieht, dann lag das Reinvermögen im Durchschnitt bei 206 000 Euro pro Haushalt.12 Dieser Durchschnittswert sagt jedoch nichts darüber aus, wie sich das Vermögen individuell zwischen Armen und Reichen verteilt. Dafür sind die Statistiken der Bundesbank blind.

Daher erstellt das Statistische Bundesamt alle fünf Jahre die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Befragt werden knapp 60 000 Haushalte – also etwa 0,2 Prozent der Wohnbevölkerung. Das Statistikamt selbst ist sehr stolz auf diese Masseninterviews: Die EVS sei »die größte Erhebung dieser Art innerhalb der Europäischen Union«.13 Über die Reichen erfährt man trotzdem nicht viel. Großverdiener wie der ehemalige Porsche-Chef Wendelin Wiedeking oder Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann werden nämlich nicht erfasst. Die Statistik berücksichtigt keine Haushalte, die über ein monatliches Nettoeinkommen von mehr als 18 000 Euro verfügen. Sie würden »in der Regel nicht in so ausreichender Zahl an der Erhebung teilnehmen, dass gesicherte Aussagen über ihre Lebensverhältnisse getroffen werden können«.14 Übersetzt: Das Statistikamt hat festgestellt, dass die Reichen eine gewisse Scheu zeigen, über ihr Einkommen und ihr Vermögen freiwillig Auskunft zu geben.

Nicht freiwillig ist hingegen eine andere Stichprobe: der Mikrozensus. Jährlich ist ein Prozent der Bevölkerung verpflichtet, sich an dieser Erhebung zu beteiligen. Auch die Reichen können sich also nicht entziehen. Allerdings wird das Vermögen gar nicht abgefragt – und das Einkommen nur sehr pauschal erhoben. Spitzenverdiener wie Wiedeking müssen dort nur ankreuzen, ob ihr persönliches Nettoeinkommen »18 000 Euro oder mehr beträgt«. Mit dem Mikrozensus ist also nicht besonders viel anzufangen.

Bleiben noch die Finanzämter. Denn auch ein Wendelin Wiedeking muss Einkommensteuern zahlen. Jeder Superreiche ist bei den Ämtern erfasst und hat eine Steuererklärung abzugeben. Daher sitzen die Behörden auf einem immensen Schatz an Daten, der auch gehoben wird: Einmal jährlich wird die Einkommensteuerstatistik veröffentlicht. Den aktuellsten Daten von 2004 ist zu entnehmen, dass es damals 31 390 Steuerpflichtige gab, die ein Jahreseinkommen von mehr als 500 000 Euro brutto zu versteuern hatten.15