Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen - Ulrike Herrmann - E-Book

Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen E-Book

Ulrike Herrmann

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Beschreibung

Wie die Deutschen wirklich reich wurden Deutschland ist reich, aber die gängigen Erklärungen sind falsch. So soll Ludwig Erhard der „Vater“ des Wirtschaftswunders gewesen sein – in Wahrheit war er ein unfähiger Ökonom, ein Profiteur im Dritten Reich und ein Lügner. Die Bundesbank war angeblich die unbestechliche „Hüterin der D-Mark“ – tatsächlich hat sie Millionen in die Arbeitslosigkeit geschickt und die deutsche Einheit fast ruiniert. „Soziale Marktwirtschaft“ klingt nach sozialem Ausgleich, doch begünstigt werden die Reichen. Auch die permanenten Exportüberschüsse haben Deutschland nicht voran gebracht, sondern geschadet. Umgekehrt werden echte Erfolge nicht gesehen: Die Wiedervereinigung war angeblich wahnsinnig teuer. Tatsächlich hat sie keinen einzigen Cent gekostet. Es ist Zeit, sich von den Legenden zu verabschieden. Sonst verpassen wir unsere Zukunft.

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‎© Ulrike Hermann 2016 ‎

Titel der Originalausgabe:‎

‎»Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung«, Westend Verlag GmbH, Frankfurt 2016 ‎

‎© Piper Verlag GmbH, München 2022 ‎

Covergestaltung: zero-media.net, München; nach einem Entwurf von Buchgut, Berlin

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Inhalt

Einleitung
I Was von der Nazi-Zeit übrig blieb
Das Deutsche Reich: Ein Schwellenland
Zu Fuß in den Krieg
Der Untergang
Der Hunger erreicht Deutschland
Wenn Geld nichts mehr wert ist: Der Schwarzmarkt
II Kein Wunder: Das »Wirtschaftswunder«
Ein Symbol wird geboren: Die D-Mark
Der wahre Vater der D-Mark: Edward A. Tenenbaum
Das »Wunder« startet – nicht nur in Westdeutschland
Ein Fehler: Erhard gibt fast alle Preise frei
Noch ein Fehler: Die SPD setzt auf Sozialismus
III Ludwig Erhard: Ein talentierter Selbstdarsteller
Verkäufer für Weißwäsche
Profiteur des NS-Regimes
»Kriegswichtige« Gutachten
Eine Denkschrift, die auch die SS liest
Die Lüge vom Widerstand
Als Minister gescheitert, aber »Professor«
Eine Qual für beide: Erhard und Adenauer
Seltsamer Nachruhm
IV Die Rettung kommt von außen: Europa
Der Marshallplan: Nicht nur Propaganda
Genial und effizient: Die Europäische Zahlungsunion
»Exportstar« Deutschland: Die ewigen Überschüsse
Gold – ein schlechtes Geschäft
Europa vereinigt sich – wider Willen
V Die »soziale Marktwirtschaft« war nicht sozial
Das große Missverständnis: Um Gerechtigkeit ging es nicht
Kein Wahlgeschenk: Die Rentenreform von 1957
Nirgendwo ist »Marktwirtschaft«: Die ungebrochene Macht der Großkonzerne
Die Kontinuität der Eliten
VI Die Krisen kehren zurück
Eine Schlüsselindustrie verschwindet: Die Kohle
Goldkrise: Die Tücken der Leitwährung Dollar
»Truppendollar«: Ständiger Streit mit den USA
Erhard muss gehen: Die Bundesbank stürzt einen Kanzler
Die SPD triumphiert: »Wahlschlacht um die Mark«
Die Spekulanten siegen: Das Weltwährungssystem zerfällt
Herstatt: Eine Kölner Pleite hat weltweite Folgen
Der Ölpreis explodiert – und Autos bleiben stehen
VII Staat im Staat: Die Bundesbank
Die Macht der Unabhängigkeit
Adenauer muss nachgeben
Alarm: Inflation!
»Hysterie in Frankfurt«
Die Bundesbank torpediert die deutsche Einheit
Europa ist empört: »Tyrannei der D-Mark«
VIII Ein historisches Geschenk: Die Wiedervereinigung
Die DDR: Ein Vasallenstaat der Sowjets
Die Macken der Planwirtschaft
Selbst SED-Kader resignieren
Teuer und trotzdem kostenlos: Die Wiedervereinigung
Schicksalswahl 1990: Das tragische Versagen von Oskar Lafontaine
Die »soziale Marktwirtschaft« bleibt unsozial
IX Die Reichen werden beglückt – vor allem von Rot-Grün
»Die größte Steuerreform der Bundesrepublik«
Agenda 2010: Die SPD-Wähler werden betrogen
»Riester-Rente«: Die Angst vor der Altersarmut kehrt zurück
Vor der GroKo ist nach der GroKo
X Die Finanzkrise ab 2007: Die Pleite einer Bank war keine gute Idee
Der ewige Traum: Spekulieren ohne Risiko
Selbst Arbeitslose kaufen Häuser
Der Schock: Lehman Brothers geht pleite
Seltsam: Auch deutsche Banken sind bankrott
Nach der Krise ist vor der Krise
Ein Sanierungsfall: Die Deutsche Bank
XI Ein Kontinent zerstört sich selbst: Die Eurokrise
Die D-Mark war kein Dollar
Der Euro ist die »Story«
Es funktioniert nicht: Ein Euro, aber 19 Staatsanleihen
»Exportstar« Deutschland: Weltrekorde im Außenhandel
Der Euro wird von innen gesprengt
Kein Euro ist auch keine Lösung
Der Euro könnte wie der Dollar sein
XII Schluss: Politik lohnt sich
Dank
Anmerkungen
Literatur

Einleitung

Deutschland ist ein reiches Land, und dennoch hält sich die Erzählung: Früher war alles besser. Nicht wenige Deutsche würden gern zur D-Mark zurückkehren, trauern der Bundesbank hinterher oder träumen von einer Welt, in der wieder der Goldstandard gilt. Die AfD hat diese Nostalgie längst für sich entdeckt und propagiert den Mythos, dass die Bundesrepublik mühelos auf den Euro verzichten könnte.1

Aber auch andere Parteien bedienen sich höchst eigenwillig bei der bundesdeutschen Geschichte. Besonders beliebt ist das Märchen, die Bundesrepublik sei eine einzigartige »soziale Marktwirtschaft«. Als Unterton schwingt dabei stets mit, dass man sich dieses angebliche Sozialparadies aber leider nicht mehr länger leisten könne. Daher wurde in immer neuen Runden bei den Angestellten gekürzt: CDU-Kanzler Helmut Kohl fabulierte vom »Freizeitpark Deutschland«, und SPD-Kanzler Gerhard Schröder hielt es für dringend nötig, einen der »besten Niedriglohnsektoren« in ganz Europa aufzubauen.

Die Märchen sind also keineswegs harmlos, die über die bundesdeutsche Wirtschaftsgeschichte erzählt werden. Sie haben konkrete Folgen und schädigen Millionen Bürger. Den Legenden kann aber nur widersprechen, wer weiß, was wirklich geschah.

Die deutsche Wirtschaftsgeschichte ist jedoch weithin unbekannt – obwohl sie auch prominente Opfer gefordert hat. Vier Bundeskanzler verloren ihr Amt, weil sie ökonomische Probleme falsch eingeschätzt hatten: Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt und Gerhard Schröder.

Die Bundesrepublik wird jetzt 70 Jahre alt, und schon ihr Anfang ist sagenumwoben: Nach dem Zweiten Weltkrieg soll Westdeutschland angeblich ein einzigartiges »Wirtschaftswunder« erlebt haben, das allein der Währungsreform zu verdanken sei.

Wie in jedem Märchen gibt es auch einen Helden: Ludwig Erhard. Selbst Grüne lassen sich inzwischen mit seinem Konterfei abbilden.2 Ganz allein soll Erhard die neue D-Mark eingeführt und die »soziale Marktwirtschaft« erfunden haben. In diesem Narrativ ist Erhard ein überragender Ökonom und Staatsmann, der Deutschland aus tiefster Not errettet hat. Nichts davon stimmt.

Die deutsche Mark war keine westdeutsche Erfindung, sondern wurde von den Amerikanern durchgesetzt. Auch ein rein bundesdeutsches »Wirtschaftswunder« gab es nicht– fast alle westeuropäischen Staaten wuchsen rasant. Besonders erfolgreich war übrigens Spanien.

Die »soziale Marktwirtschaft« war ebenfalls ein Märchen, denn die Bundesrepublik war nie besonders sozial, und eine »Wirtschaftsreform« hatte auch nicht stattgefunden. Diese Legende sollte nur verbrämen, wie wenig sich seit der NS-Zeit ökonomisch verändert hatte: In den Großkonzernen dominierten weiterhin die alten Eliten.

Diese personelle Kontinuität verkörperte niemand besser als Ludwig Erhard: Nach dem Krieg verbreitete er zwar das Märchen, dass er eine Art Widerstandskämpfer gewesen sei. Doch in Wahrheit hatte Erhard zu NS-Zeiten üppigst verdient, indem er bis zuletzt eng mit Gauleitern und SS-Größen zusammengearbeitet hatte.

Erhards unerfreuliche NS-Vergangenheit ist historisch bestens dokumentiert – wird aber trotzdem tatkräftig verschwiegen. Ein Kapitel dieses Buches widmet sich daher dem Leben Erhards, denn bisher fehlt eine vollständige Biographie.3

Erhard war jedoch nicht nur ein Opportunist und Lügner, sondern auch ein überaus naiver Ökonom. Für die Bundesrepublik erwies es sich daher als Glück, dass Erhard als Wirtschaftsminister wenig zu sagen hatte, weil Adenauer die Richtlinien bestimmte. Der erste Bundeskanzler hat die westdeutsche Wirtschaftsordnung bleibend geprägt: Er forcierte die Europäische Integration und setzte die Rentenreform von 1957 durch.

Adenauer war der wohl wichtigste Wirtschaftspolitiker, den Deutschland je hatte – gerade weil er sich nicht als Ökonom verstand, sondern als Politiker. Für Adenauer war die Wirtschaft niemals Selbstzweck, sondern ein Mittel, um die Gesellschaft zu gestalten.

Adenauer erkannte klar, dass es ein Fehler war, dass die Bundesbank völlig unabhängig agieren durfte und keinerlei demokratischer Kontrolle unterlag. Der Kanzler wollte die Frankfurter Notenbanker entmachten, doch diesen wichtigen Kampf verlor Adenauer, weil die Öffentlichkeit nicht hinter ihm stand: Die Wähler verehrten die Bundesbank als »Hüterin der D-Mark«.

Bis heute wird das Märchen erzählt, dass die Bundesbank für Stabilität gesorgt hätte. In Wahrheit haben die Frankfurter Notenbanker mehrfach schwere Wirtschaftskrisen ausgelöst, indem sie die Zinsen nach oben trieben und Kredite abstrus verteuerten. Millionen von Menschen wurden in die Arbeitslosigkeit geschickt, weil die Bundesbank allzu große Angst hatte, dass eventuell eine Inflation drohen könnte.

Selbst die deutsche Einheit wurde von der Bundesbank torpediert, indem sie die Zinsen nach oben schraubte. Viele Ostdeutsche glauben noch immer, dass die Treuhand schuld gewesen sei, dass so wenig neue Arbeitsplätze entstanden. In Wahrheit hat die Bundesbank den »Einheitsboom« beendet und für bundesweite Tristesse gesorgt.

In Ost und West setzte sich daher der falsche Eindruck fest, dass die Wiedervereinigung ein trauriges Stück Geschichte sei. Dabei war sie eigentlich ein enormer Erfolg: Es ist weitgehend gelungen, in ganz Deutschland ähnliche Lebensverhältnisse herzustellen. Inzwischen ist die gigantische Summe von 2,5 Billionen Euro vom Westen in den Osten geflossen – und dennoch war die Einheit kostenlos. Die deutsche Staatsverschuldung liegt nicht höher als in anderen Ländern, die keine Wiedervereinigung zu stemmen hatten. Die Ausgaben für die Ex-DDR haben sich letztlich selbst finanziert, indem sie für Wachstum sorgten.

Auch um die Wiedervereinigung ranken sich viele Mythen. So wird gern behauptet, dass es den Euro nur geben würde, weil Frankreich sonst 1989 der deutschen Einheit nicht zugestimmt hätte. Die Wahrheit ist komplizierter. FDP-Außenminister Hans-Dietrich Genscher arbeitete nämlich bereits ab 1986 an einer europäischen Währungsunion, weil er – wie Adenauer – erkannt hatte, dass man die Bundesbank dringend entmachten musste. Es ist ironisch, dass nun ausgerechnet viele FDP-Anhänger den Euro ablehnen.

So erfolgreich die deutsche Wirtschaftsgeschichte war – es wurden viele Fehler gemacht. Dazu gehört etwa der deutsche Ehrgeiz, unbedingt »Exportweltmeister« zu sein. Nie taucht die naheliegende Frage auf, warum eigentlich andere Länder ebenfalls prosperieren, obwohl sie auf diesen Titel dankend verzichten.

Es ist nicht möglich, die gesamte deutsche Wirtschaftsgeschichte in einem Buch zu erzählen. Viele Einzelthemen fehlen, die auch interessant gewesen wären. Nur ein paar Beispiele: Es findet sich nichts zu Frauen, Familien oder Zuwanderern; auch die Atomenergie oder der Umweltschutz werden nicht behandelt; der Wandel des Konsums ist so wenig dargestellt wie der Siegeszug der Computer.

Zudem geht es bis 1989 meist um die westdeutsche Entwicklung, während der DDR nur ein Kapitel gewidmet ist. Dies mag ungerecht erscheinen, spiegelt aber die Geschichte wider: Mit der DDR verschwand auch der Sozialismus. Das westdeutsche Wirtschaftssystem wurde einfach übertragen und prägt nun auch den Alltag eines jeden Ostdeutschen.

Dieses Buch versucht, den großen Rahmen zu erklären. Es greift jene Mythen auf, die bis heute die bundesdeutsche Wirtschaftspolitik leiten und oft in die Irre führen. Auf den ersten Blick scheinen die Legenden über Erhard, die D-Mark, die Bundesbank, die »soziale Marktwirtschaft« oder die Exportüberschüsse nicht viel gemeinsam zu haben. Doch es gibt einen Aspekt, der sie alle verbindet: Es sind nationale Märchen. Stets wird der Eindruck erzeugt, als wäre es allein der deutschen Raffinesse zu verdanken, dass die Bundesrepu­blik reich wurde. Es wird der Irrglaube verbreitet, dass Deutschland weder Europa noch den Euro bräuchte. In Wahrheit ist es genau anders herum: Ohne Europa hätte es das deutsche »Wirtschaftswunder« niemals gegeben.

I Was von der Nazi-Zeit übrig blieb

Deutschland ist nicht aus Ruinen auferstanden, obwohl es zunächst so aussah. Frankfurt sei »eine Toten-Stadt«, schrieb der amerikanische Journalist Robert Thompson Pell im April 1945. Die Gebäude seien zu 80 bis 90 Prozent zerstört, und »nach der Ausgangssperre um 19 Uhr schallen die Stiefel der GIs wie Schritte in einer Gruft«.1

Wie in Frankfurt sah es in vielen Teilen Deutschlands aus: 131 Städte waren bombardiert worden; etwa 560 000 deutsche Zivilisten sowie 40 000 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene waren dabei umgekommen.2 Doch so groß die Verwüstung war – nicht jeder wurde gleich hart getroffen. US-Journalist Pell stellte fest, dass in Frankfurt vor allem die Armen litten. »Die Reichen leben von all dem ziemlich unberührt in den Vororten oder den umliegenden Städten wie Bad Homburg oder Ursel; sie wohnen dort mit Dienern und haben fast allen Luxus.«3

Nach dem Krieg gab es keine Stunde null – zu groß waren die Kontinuitäten. Nicht nur der Unterschied zwischen Arm und Reich setzte sich ungebrochen fort – auch die deutsche Wirtschaft fing keineswegs bei null an. Trotz der immensen Zerstörungen hatten viele Fabriken weitgehend intakt überlebt, wie die Besatzer erstaunt notierten.

Bereits im April 1945 begannen die Alliierten, die Folgen des Bombenkrieges zu erfassen. Der US-Ökonom Moses Abramovitz reiste durch die schon besetzten Gebiete in Westdeutschland und hielt in seinem Bericht fest: »Die drei größten Betriebe der I. G. Farben in Frankfurt, darunter auch das große Werk in Höchst, weisen … fast keine Schäden auf.« Gleiches galt auch für »die Betriebe mit mehr als 250 Beschäftigten im Düsseldorfer Raum«.4 Die Zechen an der Ruhr hätten ebenfalls fast intakt überlebt.

Die Fabriken hatten den Krieg so unversehrt überstanden, dass sich die bundesdeutsche Wirtschaft nicht verstehen lässt, ohne die NS-Ökonomie zu kennen.

Das Deutsche Reich: Ein Schwellenland

Das Deutsche Reich war kein reiches Land. Bis heute wird gern so getan, als sei Deutschland schon immer – spätestens seit dem 19. Jahrhundert – eine voll entwickelte Industrienation gewesen. Tatsächlich war Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg in weiten Teilen noch ein Schwellenland, wie man es heute nennen würde. Zwar gab es Weltkonzerne wie Siemens, Krupp und I. G. Farben, die große Exporterfolge vorweisen konnten – daneben aber existierten Millionen von Bauern, die häufig noch sehr traditionell wirtschafteten.5

Heute wird diese Rückständigkeit gern vergessen und lieber eine Leistungsschau der deutschen Wirtschaft präsentiert. Die Abfolge der Superlative liest sich dann so: »In seiner Roheisenerzeugung hatte Deutschland 1903 England und 1913 sogar die USA überrundet. In der Stahlproduktion wurde Großbritannien schon 1893 eingeholt … Mehr als die Hälfte des Welthandels mit elektrotechnischen Erzeugnissen entfiel 1913 auf deutsche Lieferungen. Die Chemieindustrie hatte 1913 … vor den Vereinigten Staaten … den führenden Platz erreicht.«6

Diese industriellen Leistungen waren zweifellos imposant, aber lange Zeit prägten sie nicht die gesamte deutsche Wirtschaft, sondern waren eher Inseln in einem Meer von Kleinstbetrieben und einer oft armseligen Landwirtschaft.

Wie dürftig und hart das Leben auf dem Land war, hat die bayerische Bäuerin Anna Wimschneider 1984 beschrieben. Ihre Autobiographie Herbstmilch wurde zu einem Bestseller und mehr als zwei Millionen Mal verkauft, nicht zuletzt weil so viele Leser ihre eigene Kindheit wiedererkannten. Anna Wimschneider stammte von einem Hof, der nur neun Hektar Grund hatte – und dieser Besitz reichte in den 30er-Jahren noch nicht einmal, um die Familie zu ernähren. Das Essen war so knapp, dass die Kinder die Kartoffeln verschlangen, die eigentlich als Futter für die Schweine gedacht waren.7

Die Familie der Anna Wimschneider war kein Einzelfall. Wie der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze berechnet hat, lebten 1933 rund zwölf Millionen Deutsche auf Bauernhöfen, die eigentlich zu klein waren, um einen angemessenen Lebensstandard zu sichern. Das waren 18 Prozent der Gesamtbevölkerung.8

Das Deutsche Reich war damals europäisches Mittelmaß – und längst nicht so weit entwickelt wie die USA oder Großbritannien. Diese Tatsache ließ sich auch schon messen. In den 1930er-Jahren entstanden die ersten Versuche, das Nationaleinkommen zu berechnen. Führend war der junge Australier Colin Clark, der 1938 zu dem Ergebnis kam, dass das Pro-Kopf-Einkommen gerade einmal halb so hoch war wie in den USA – und mindestens ein Drittel niedriger anzusetzen war als in Großbritannien. Auch die Schweiz, die Niederlande, Frankreich und Dänemark waren damals pro Kopf reicher als Deutschland. Ärmer waren hingegen unter anderem Österreich, Griechenland und Italien.9

Das Pro-Kopf-Einkommen zu Hitlers Zeiten lag etwa so hoch, wie es heute in Südafrika, im Iran oder in Tunesien ist. Allerdings geht es den Menschen dort besser, weil sie von der technologischen Entwicklung im Westen profitieren, die seither stattgefunden hat. Bei Bedarf können die Südafrikaner Computer, Atomkraftwerke oder Flugzeuge importieren, was in Hitler-Deutschland nicht möglich war. Tooze kommt daher zu dem Schluss: Der Vergleich mit Südafrika sei sogar noch »schmeichelhaft für die deutsche Situation« zu Hitlers Zeiten.10

Das Deutsche Reich war schlicht zu arm, um einen Weltkrieg zu gewinnen. Dennoch wollte Hitler von Anfang den Krieg, und sofort nach seiner Machtübernahme 1933 begann er aufzurüsten. Umfang und Geschwindigkeit waren einmalig: Nie zuvor waren in einem kapitalistischen Land in Friedenszeiten so große Teile des Nationaleinkommens in das Militär geflossen. In der Weimarer Republik hatten die Rüstungsausgaben weniger als ein Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung ausgemacht; unter Hitler stiegen die Militäraufwendungen bis 1939 auf 23 Prozent des Volkseinkommens.11

Binnen weniger Jahre wurden daher die Arbeitskräfte knapp. Wo eben noch Arbeitslosigkeit grassiert hatte, herrschte plötzlich Vollbeschäftigung. Im Januar 1933 hatte man noch knapp sechs Millionen Arbeitslose gezählt, 1934 waren es im Jahresdurchschnitt nur noch 2,7 Millionen. Ab 1937 meldeten alle Branchen, dass es an Beschäftigten fehlte – während die Arbeitslosenquote in den USA 1938 immer noch bei 19 Prozent lag. Nicht nur in Deutschland, auch im Ausland sprach man von einem »deutschen Wirtschaftswunder«. Selbst die Begriffe der Nachkriegszeit sind also nicht immer neu, sondern stammen zum Teil aus der NS-Zeit.12

Von diesem Wachstum profitierten die Arbeitnehmer allerdings kaum. Bereits 1933 wurden die Löhne eingefroren – und zwar auf dem sehr niedrigen Niveau der Weltwirtschaftskrise. Obwohl Vollbeschäftigung herrschte, ging es den Deutschen schlechter als in der Weimarer Republik: Der Konsum pro Kopf lag zu NS-Zeiten durchweg niedriger als 1928, während sich gleichzeitig die wöchentliche Arbeitszeit verlängerte.13

Das Wachstum kam vor allem den Unternehmern zugute: Zu NS-Zeiten explodierten ihre Gewinne, wobei die Jahre 1935 bis 1941 besonders lukrativ waren. Die Eigenkapitalrendite nach Steuern lag damals bei sensationellen 14 Prozent – was in der Bundesrepublik nie wieder verzeichnet wurde.14

Protest musste Hitler nicht befürchten: Die Arbeiter verglichen ihre Lage nicht mit den »goldenen Jahren« der Weimarer Republik, sondern mit den Entbehrungen der Weltwirtschaftskrise, als jeder Dritte arbeitslos war. Auch ein schlechter Lohn war besser als gar keiner. Die Vollbeschäftigung vermittelte ein Gefühl der Sicherheit, das viele Deutsche seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr gekannt hatten. Endlich glaubte man, sich keine Sorgen mehr machen zu müssen, ob der eigene Job morgen noch existieren würde.

Allerdings handelte es sich um einen Pseudo-Boom: Schon 1936 geriet die NS-Wirtschaft in einen Teufelskreis, aus dem sie nicht mehr herausfinden sollte. Die Aufrüstung verschlang Devisen, weil viele Rohstoffe importiert werden mussten. Um dieses Geld zu verdienen, hätte Deutschland seine Exporte steigern müssen – doch dann hätten die Industriekapazitäten gefehlt, um weiterhin aufzurüsten und Waffen herzustellen. Also blieb, zumindest aus Hitlers Sicht, nur der Eroberungskrieg, um den permanenten Mangel an Rohstoffen, Devisen und Arbeitskräften zu beheben.

Da alle Ressourcen in die Aufrüstung flossen, wurden selbst banalste Konsumgüter knapp. Bereits im Herbst 1936 bildeten sich »lange Schlangen unzufriedener Menschen vor den Lebensmittelgeschäften«, wie der amerikanische Journalist William Shirer berichtete: »Es gibt Mangelerscheinungen bei Fleisch und Butter, bei Obst und Fett. Schlagsahne ist verboten. Herren- und Damenbekleidung wird zunehmend aus Zellstoff hergestellt.«15

Normalerweise hätte es jetzt zu einer Inflation kommen müssen, weil die Nachfrage viel zu groß für das knappe Angebot war. Doch das NS-Regime verhängte 1936 kurzerhand einen generellen Preisstopp und diese Preise galten dann bis zur Währungsreform 1948. Die Inflation war damit aber nicht verschwunden, sondern wurde nur kaschiert.

Die meisten Deutschen befanden sich in einer seltsamen Situation: Sie hatten zwar Arbeit und damit Lohn, konnten ihr Geld aber nicht ausgeben, weil es in den Geschäften fast nichts zu kaufen gab. Also mussten sie sparen. Milliarden Reichsmark flossen jedes Jahr auf die Bankkonten. Hatten die Kundengelder bei den Kreditinstituten Ende 1939 bei nur 51 Milliarden Reichsmark gelegen, waren die Einlagen bis Herbst 1944 schon auf 160 Milliarden Mark angeschwollen.16

Die Banken hatten jedoch keine Möglichkeit, diese Geldfluten anzulegen – außer beim Staat. Investiert wurde nur noch in die Rüstung, andere Kreditnehmer gab es kaum. Es setzte eine geräuschlose Kriegsfinanzierung ein: Ahnungslos trugen die Sparer ihr Geld zur Bank, die die gleiche Summe an das Deutsche Reich verlieh, das damit Waffen produzierte. Von Anfang an war klar, dass die deutschen Sparer ihr Geld nur wiedersehen würden, falls Deutschland den Krieg gewann.

Zu Fuß in den Krieg

Doch so fanatisch Hitler den Krieg befahl – ein Sieg war nicht möglich. Deutschland verfügte zu keinem Zeitpunkt über genug Stahl und Rohstoffe wie Kupfer, als dass es gleichzeitig ausreichend Panzer, Schiffe, Flugzeuge und Munition hätte herstellen können.

Anfangs konnte diese strukturelle Schwäche noch durch »Blitzkriege« überdeckt werden: Deutschland begann den Zweiten Weltkrieg, indem es am 1. September 1939 Polen überfiel, das sich schon nach wenigen Wochen ergeben musste. Ähnlich rasant wurden 1940 Dänemark, Norwegen, die Benelux-Staaten und Frankreich unterworfen. Jugoslawien und Griechenland folgten im Frühjahr 1941.

Diese Siege bedeuteten strategisch jedoch nichts. Wie Hitler genau wusste, war der Krieg nur zu gewinnen, wenn es Deutschland gelang, die damalige Weltmacht Großbritannien zu erobern. Im Juli 1940 gab er daher den Befehl zur »Luftschlacht um England«, die zum ersten großen Fehlschlag geriet und schon nach zwei Monaten abgebrochen wurde. Zwar flogen die Deutschen weiterhin Bombenangriffe auf englische Städte, aber die geplante Invasion musste auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Hitler hatte eingesehen, dass er Großbritannien nicht einnehmen konnte.

Es war kein Zufall, dass Hitler ausgerechnet an Großbritannien scheiterte. Deutschland fehlte schlicht die Wirtschaftskraft, um die Briten zu besiegen. Deren maritime Übermacht war so erdrückend, dass die britischen Admiräle selbst in den dramatischen Sommermonaten von 1940 nicht die gesamte Flotte mobilisierten: Etwa die Hälfte der Schiffe blieb in Gibraltar, um bei Bedarf im Mittelmeer gegen die Italiener zu kämpfen, die mit Deutschland verbündet waren.17

Im Herbst 1940 herrschten die Deutschen zwar von Narvik bis zu den Pyrenäen und von Brest bis Warschau, aber selbst diese riesige Landmasse reichte nicht, um sich zu einer Weltmacht aufzuschwingen und England niederzuringen. Öl war weiterhin verheerend knapp – und es gab noch nicht einmal genug Lebensmittel. Hungern mussten allerdings nicht die Deutschen, die täglich mit 2 570 Kalorien18 versorgt wurden, sondern es traf die Menschen in den besetzten Gebieten. In Belgien und Frankreich betrugen die Rationen für »normale Konsumenten« ganze 1 300 Kalorien pro Tag, in Polen gab es 938 und für Juden nur 369 Kalorien.19 Mangel und Rassenwahn verquickten sich: Das Massensterben im Osten war gewollt, denn dort führte Hitler einen erbarmungslosen »Vernichtungskrieg«, wie er es ungeschminkt nannte.

Die Lebensmittel wurden unter anderem knapp, weil die Briten eine Seeblockade gegen den europäischen Kontinent verhängt hatten. Doch noch banaler war eine weitere Ursache: Nicht nur Menschen zogen in den Krieg – sondern auch Pferde, die dann auf den Feldern und bei der Ernte fehlten. Die deutschen Streitkräfte waren kaum motorisiert; es mangelte an Autos und Lastfahrzeugen, sodass Pferde die Munition und Waffen transportieren mussten. Allein am deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 waren nicht nur drei Millionen Soldaten beteiligt, sondern auch geschätzte 750 000 Pferde.20 Der Zweite Weltkrieg war der größte Pferdekrieg aller Zeiten.

Vollständig motorisiert waren allein die Amerikaner, die 1944 in der Normandie landeten. Die deutschen Soldaten hingegen saßen meist nicht in Panzern oder Autos, sondern gingen schlicht zu Fuß. Es war ein »Einmarsch« im wahrsten Sinne des Wortes.

Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion hatte das erklärte Nahziel, die eigene Versorgung mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln zu verbessern. Die Idee war so simpel wie grausam: Geschätzte 30 Millionen Russen sollten verhungern, damit die Wehrmacht und die Deutschen in der Heimat ernährt werden konnten. Dieser »Hungerplan« war kein Geheimnis, sondern wurde ab Mai 1941 breit diskutiert: im Kreise der Staatssekretäre und mit den Generälen der Wehrmacht. Per Broschüre wurden auch die nachrangigen Befehlsempfänger informiert, dass die Ernte der Russen zu konfiszieren sei. Einwände hatte niemand: Die Slawen galten als minderwertige Rasse, und die Flächen bis zum Ural waren sowieso schon als deutscher »Lebensraum« eingeplant.21

Anfangs war die Wehrmacht optimistisch, dass sie die Sowjets in einem weiteren »Blitzkrieg« besiegen könnte. Generalstabschef Franz Halder war am 3. Juli 1941 sogar so euphorisch, dass er prognostizierte: »Es ist wohl nicht zu viel gesagt …, dass der Krieg im Prinzip bereits innerhalb von 14 Tagen gewonnen werden« könne.22 Es kam bekanntlich anders. Die deutsche Offensive geriet bereits Anfang August ins Stocken; ab Herbst blieb sie dann im Schlamm stecken, und im Winter erfroren viele Soldaten bei minus 40 Grad. Ende 1941 zählte die Wehrmacht fast eine Million Tote, Verwundete und Vermisste.

Wieder hatte Deutschland die eigene ökonomische Potenz überschätzt; die Sowjetunion war genauso wenig zu besiegen wie England. Der »Hungerplan« konnte daher nicht vollständig umgesetzt werden, dennoch kostete er Millionen von Ukrainern und Russen das Leben. Bereits in den ersten Wochen ihres »Unternehmens Barbarossa« hatten die Deutschen rund 3,3 Millionen Soldaten der Roten Armee gefangen genommen, die dann auf offenem Feld eingesperrt und nicht verpflegt wurden. Die meisten Kriegsgefangenen starben an Seuchen oder einen langsamen, qualvollen Hungertod.

Generalleutnant Friedrich Freiherr von Broich hat später in britischer Gefangenschaft plastisch beschrieben, wie die russischen Soldaten misshandelt und ermordet wurden: »Wir … kamen an einem Lager vorbei, wo 20 000 Gefangene saßen. Die heulten nachts wie die wilden Tiere. Hatten nichts zu fressen … Dann marschierten wir die Straße runter, da ging eine Kolonne von 6 000 völlig wankenden Gestalten, völlig ausgemergelt, sich gegenseitig stützend. Alle 100 bis 200 Meter blieb einer bis drei liegen. Nebenher fuhren Radfahrer, Soldaten von uns, mit der Pistole; jeder, der liegen blieb, kriegte einen Genickschuss und wurde in den Graben geschmissen. Alle 100 Meter war das.«23

Oberstleutnant Hans Reimann hatte einen Soldatentransport in der Ukraine miterlebt: »(Da) waren sechzig bis siebzig Mann in einem Viehwagen! Auf jedem Halt haben sie zehn Tote herausgezogen, weil die Leute aus Sauerstoffmangel erstickten … Auf den Stationen schauten die Russen aus diesen schmalen Luken heraus und brüllten wie die Tiere auf Russisch zu diesen russischen Einwohnern, die da standen: ›Brot! Gott wird euch segnen‹ und so weiter und schmissen ihre alten Hemden und ihre letzten Strümpfe und Schuhe heraus, und da kamen Kinder und brachten ihnen Kürbisse zu fressen. Die Kürbisse wurden hereingeworfen, und dann hörte man in dem Wagen nur noch ein Gepolter und ein tierisches Gebrüll, da haben sie sich gegenseitig wahrscheinlich erschlagen. Ich war fertig, ich habe mich in eine Ecke gesetzt und mir den Mantel über den Kopf gezogen. Ich fragte den Wachfeldwebel: ›Ja, habt ihr denn nichts zu fressen?‹ Er sagte zu mir: ›Herr Oberstleutnant, wo sollen wir was haben? Es war ja nichts vorbereitet!‹«24

Bis Februar 1942 waren weit mehr als zwei Millionen russische Soldaten umgekommen; bis zum Kriegsende stieg die Zahl auf 3,3 Millionen Tote – von insgesamt 5,7 Millionen Gefangenen.25 Hinzu kamen die vielen russischen Zivilisten, die in den besetzten und belagerten Städten starben, weil sie systematisch ausgehungert wurden. Allein in Leningrad kamen mindestens 700 000 Menschen um. Neben dem Massenmord an den Juden war die Hungerpolitik in der Sowjetunion das deutsche Kriegsverbrechen, das die meisten Opfer gekostet hat.

Der Untergang

Strategisch war der Krieg schon seit Sommer 1940 verloren, als es nicht gelang, England zu erobern. Doch erst Anfang 1943 erkannten auch die meisten Deutschen, dass mit einer Niederlage zu rechnen war. Die Schlacht um Stalingrad ist bis heute ins kollektive Gedächtnis eingebrannt und steht für das Ende der deutschen Großraum-Träume. Aus der Offensive wurde der Rückzug.

Im Osten verfolgte die Wehrmacht das Prinzip der »verbrannten Erde«. Tausende von Ortschaften und die gesamte Infrastruktur wurden zerstört, während sich die deutschen Soldaten aus der Sowjetunion zurückzogen. Zudem wurden etwa zwei Millionen Zivilisten verschleppt. SS-Führer Heinrich Himmler hatte im April 1943 die Losung ausgegeben, dass sich für die deutschen Truppen jetzt nur noch eine Frage stellte: »Wie nehmen wir dem Russen am meisten – tot oder lebendig – Menschen weg?« Seine Antwort lautete: »Wir tun das, indem wir sie totschlagen oder indem wir sie in Gefangenschaft bringen und wirklich der Arbeit zuführen.«26

Die sowjetischen Truppen marschierten daher auf ihrem Weg nach Westen fast zwei Jahre lang und 1 500 Kilometer weit durch Gebiete, die die Deutschen komplett verwüstet zurückgelassen hatten. Dann endlich war Ostpreußen erreicht – und die Russen fanden ein blühendes, unzerstörtes Land vor.27 Die spontane Rache der Roten Armee war furchtbar. Es kam zu Plünderungen, Massenvergewaltigungen und Brandschatzungen. Millionen Deutsche traten panisch die Flucht an und mussten ihre Heimat für immer verlassen. Doch so barbarisch sich die sowjetischen Soldaten verhielten – anders als Nazi-Deutschland hatten sie niemals einen Völkermord im Sinn.

Während die Wehrmacht im Osten von der Roten Armee zerrieben wurde, setzte im Westen die strategische Bombardierung der deutschen Städte ein. Auf der Konferenz von Casablanca hatten sich die USA und Großbritannien im Januar 1943 darauf verständigt, dass die Amerikaner tagsüber zielgenau Industrie und Infrastruktur attackieren sollten, während die Briten nachts großflächig die Wohngebiete der Deutschen zerstören würden.

Dieses Flächenbombardement war keine alliierte Erfindung. Die deutsche Luftwaffe hatte als Erste angefangen, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren. Guernica, Warschau, Rotterdam oder Coventry waren bombardiert worden, obwohl dies militärisch wirkungslos war.

Die amerikanischen und englischen Luftflotten warfen im Zweiten Weltkrieg insgesamt 2 698 Millionen Tonnen an Bomben ab; die Hälfte fiel auf Deutschland.28 Trotzdem konnte das NS-Regime seine Rüstungsproduktion noch bis Mitte 1944 steigern, denn es erwies sich als schwierig, die deutschen Fabriken zielgenau zu treffen, weil sie durch Flugabwehrkanonen (Flak) meist gut geschützt waren.

Ein lehrreicher Fehlschlag war die Bombardierung von Schweinfurt, dessen Kugellagerindustrie die Alliierten unbedingt ausschalten wollten. Vom ersten Luftangriff am 17. August 1943 kehrten 36 der 200 US-Bomber nicht zurück. Noch desaströser verlief die zweite Attacke am 14. Oktober, in der die US-Luftwaffe 62 von 228 Flugzeugen verlor und weitere 138 Bomber zum Teil irreparabel beschädigt wurden. Das Fazit der Amerikaner war nüchtern: »Wiederholte Verluste in dieser Größenordnung ließen sich nicht durchhalten.« Zudem war es nicht gelungen, die Fabriken dauerhaft stillzulegen: Der Rüstungsausstoß in Schweinfurt sank zwar zwischenzeitlich auf nur noch 35 Prozent, doch 1944 erreichte die Produktion wieder ihr altes Niveau.29

Nach diesem Misserfolg setzte die US-Luftwaffe auf eine neue Strategie: Sie bombardierte vor allem die Transportwege, die durch die Flak weniger gut gesichert waren. Ab Ende 1944 standen selbst intakte Fabriken still, weil keine Kohle mehr geliefert werden konnte. Zufrieden konstatierten die Amerikaner: »Der Angriff auf die Transportwege war der entscheidende Schlag, der die deutsche Wirtschaft ins Chaos gestürzt hat.«30

Bei Kriegsende waren 1,86 Millionen Wohnungen völlig zerstört, weitere 3,6 Millionen beschädigt. Fast ein Drittel der Deutschen hatte damit seine Bleibe ganz verloren oder musste in einer Ruine hausen. Am schlimmsten traf es einige westdeutsche Mittelstädte wie Hanau, Bocholt, Paderborn oder Düren, die zu 89 oder gar 99 Prozent zerstört worden waren. Von den Großstädten war Köln am stärksten beschädigt worden, das 70 Prozent seiner Wohnungen verloren hatte.31

Dennoch machten viele Deutsche einen gesunden Eindruck, wie die alliierten Beobachter erstaunt feststellten, als sie deutschen Boden betraten. Der jüdische Berliner Julius Posener, der seit 1941 freiwillig mit den Briten gekämpft hatte, berichtete: »Die Leute entsprachen der Zerstörung nicht. Sie sahen gut aus, rosig, munter, gepflegt und recht gut gekleidet.«32

Die solide Kleidung der Deutschen faszinierte auch andere Beobachter. Der amerikanische Historiker und Geheimdienstoffizier Saul K. Padover meldete im Dezember 1944 aus dem weitgehend zerstörten Aachen: Die Bewohner seien »erstaunlich gut gekleidet, oft besser als die Engländer«.33 Daniel Lerner, für die US-Regierung im Rheinland unterwegs, schrieb in seinem Bericht: »Die meisten Deutschen … sind anständig gekleidet … und viele tragen eine Aktentasche mit sich – eilen geschäftig hin und her, als ob sie eine Vorstandssitzung aufsuchen wollten.«34

Am 8. Mai 1945 kapitulierte das Deutsche Reich. 4,5 Millionen deutsche Soldaten waren tot, weitere 1,71 Millionen Deutsche waren bei Flucht und Vertreibung umgekommen, 540 000 durch Bomben gestorben. Allein der Krieg und seine direkten Folgen hatten mehr als sechs Millionen Reichsbewohner getötet – fast ein Zehntel der Bevölkerung.

Insgesamt starben rund 34 Millionen Menschen während des Zweiten Weltkriegs. Erschreckend viele waren jedoch keine Soldaten oder Opfer von Kämpfen – sondern Zivilisten, die von den Nationalsozialisten vorsätzlich ermordet worden waren. Neben 5,7 Millionen Juden kamen 200 000 Sinti und Roma um; 3,3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene verhungerten; eine Millionen nicht-jüdische Polen sowie drei bis vier Millionen sowjetische Zivilisten starben ebenfalls an Hunger oder wurden erschossen. Hinzu kamen die Euthanasieopfer, die nicht-jüdischen KZ-Toten sowie die Terroropfer in den von Deutschland kontrollierten Gebieten. Es wird geschätzt, dass zwölf bis 14 Millionen Menschen umgebracht wurden, die mit den Kriegshandlungen nichts zu tun hatten.35 Das Dritte Reich war eine Orgie der Gewalt. Als Täter betrachtete sich jedoch niemand, wie die Alliierten konstatieren mussten, als sie in Deutschland eintrafen. Die Deutschen hatten zwar Millionen umgebracht – aber fast jeder Deutsche fühlte sich selbst als Opfer. Padover interviewte Hunderte von Reichsbewohnern, vom Bischof bis zur Stenotypistin, um Stimmungsberichte für die US-Armee zu verfassen. Sein Resümee war: »Ich bin nur zwei Deutschen begegnet, die nicht vor Selbstmitleid troffen und die sich nicht als unschuldig und völlig bedeutungslos hinstellten.«36

US-Leutnant Daniel Lerner berichtete im Frühjahr 1945: »Jetzt heißt es, man ›musste‹ Nazi sein. Beharrliches Befragen all der ›Muss‹- und ›Zwangs‹-Nazis … ergibt, man habe Nazi ›sein müssen‹, um seine wirtschaftliche Stellung zu verbessern, seine Stelle zu behalten oder um Beziehungen zu haben.«37 Nicht untypisch war der Bürgermeister von Dudweiler, der Lerner erklärte: »Natürlich war ich Nazi, sonst hätte ich nicht Bürgermeister sein können.«38

Wie Padover begegnete auch Lerner keinen Deutschen, die sich für die Geschehnisse zu NS-Zeiten verantwortlich fühlten: »Dieses ausgeklügelte System psychologischer Ausflüchte gründet auf einem tiefsitzenden Schuldgefühl. Fast jeder Deutsche hat etwas von den Gräueln, die in Deutschland und im Ausland begangen wurden, gewusst. Eine überraschend große Zahl gibt zu, von den Gaswagen und deren Verwendungszweck gewusst zu haben.«39

Der Hunger erreicht Deutschland

Der Krieg verwüstete ganz Europa, aber für die Deutschen gab es unter Hitler stets genug zu essen. Selbst im Frühjahr 1945 reichten die Rationen noch, wie Lerner von seinen Reisen berichten konnte. Ob in Krefeld, Saarbrücken oder Mainz: »Nirgendwo habe ich Anzeichen akuten Lebensmittelmangels oder weitverbreiteter gesundheitlicher Probleme gefunden«, schrieb er an seine US-Vorgesetzten. »Die meisten Deutschen halten anscheinend einen ausreichenden Lebensmittelvorrat in ihren Kellern versteckt, und in vielen Städten wurden Lager voller noch nicht verteilter Nahrungsmittelbestände gefunden.«

Allerdings wurde schon im Frühjahr deutlich, dass die Deutschen bald hungern würden, wie Lerner notierte: »Die meisten Offiziere der Militärregierung sagten jedoch – und das klang wie einstudiert – sie hätten nur für ›ungefähr zwei Wochen‹ Nahrungsmittelvorräte zur Verfügung.«40 Abramovitz prognostizierte zeitgleich, dass ab dem 1. Juli »umfangreiche Importe in das Rhein-Ruhr-Gebiet nötig« würden. Denn mit einer vernünftigen Ernte sei nicht zu rechnen: »Die Aussaat im Herbst wurde durch die Kämpfe im Aachener Raum beeinträchtigt, die Aussaat im Frühjahr 1945 durch Kämpfe im gesamten linksrheinischen Gebiet.«41

Es kam wie befürchtet: Die Ernten in der britischen und amerikanischen Besatzungszone lagen 1945 nur bei etwa 60 Prozent der normalen Erträge. Zudem waren die nächsten Winter extrem hart, und es fehlte an Düngemitteln, sodass die Ernten erst 1949 wieder ihr Vorkriegsniveau erreichten.

Allerdings hätten selbst Rekordernten die Not in den besetzten Gebieten nicht völlig verhindert: Das Deutsche Reich war noch nie autark gewesen und hatte auch in Friedenszeiten etwa 20 Prozent seiner Lebensmittel importieren müssen. Diese Nahrungslücke wurde nun noch größer, weil durch den Krieg so wichtige Agrargebiete wie Ostpreußen oder Hinterpommern verloren gegangen waren, die bisher die Industrieregionen ernährt hatten. Rund 25 Prozent der einstigen Nutzflächen fehlten.

Am schlimmsten traf es die britische Besatzungszone, die mit Rhein und Ruhr besonders viele Industriegebiete hatte: Die eigene landwirtschaftliche Produktion hätte im Winter 1945/46 nur für 400 Kalorien pro Kopf und Tag gereicht. Die amerikanische und die französische Besatzungszone kamen je auf 940 Kalorien.42

Zudem gab es Verteilungsprobleme. Naturgemäß verfügten die ländlichen Regionen über mehr Lebensmittel als die Städte, waren aber nur bereit, sich von ihren Schätzen zu trennen, wenn es dafür Gegenleistungen gab. Aus Stuttgart wurde bereits im Mai 1945 gemeldet: »Kreise mit Nahrungsmittelüberschuss (die oberschwäbischen Kreise) wollen Lebensmittel nur abgeben gegen Benzin, Wasserleitungsrohre, Maschinen, die aber in Stuttgart auch nicht verfügbar sind.« Jedes Dorf dachte nur noch an sich selbst und betrieb seine eigene Autarkiepolitik, wie man in Stuttgart erbittert feststellte: »In Kreisen mit Milchüberschuss wird Milch an Schweine verfüttert.«43

Verzweifelte Städter griffen daher zur Selbsthilfe: Nachts stürmten sie auf die Felder und gruben die Saatkartoffeln wieder aus. Den Dieben war es egal, dass es dann keine Ernte geben würde. Sie hatten jetzt Hunger. Allein in der britischen Zone waren bis zum 1. März 1946 etwa 120 000 Tonnen Saatkartoffeln verschwunden, sodass die Kartoffelernte um geschätzte 900 000 Tonnen geringer ausfiel.44

Millionen von Menschen wären verhungert, wenn die Alliierten nicht eingegriffen und zusätzliche Nahrungsmittel importiert hätten. Die Besatzungsmächte verzichteten auf Rache und versorgten die Deutschen, obwohl das NS-Regime eine tödliche Hungerpolitik betrieben hatte. Von 1945 bis 1949 schafften Amerikaner und Briten 18,5 Millionen Tonnen Lebensmittel in ihre Besatzungszonen und gaben dafür mehr als 2,5 Milliarden Dollar aus. Diese gigantische Hilfsaktion war historisch beispiellos.45

Hinzu kamen die Initiativen von Privatpersonen, Verbänden und Kirchen aus dem westlichen Ausland. Sehr bekannt wurde etwa die »Schwedenspeisung«, die Suppen an Kleinkinder im Ruhrgebiet sowie in Hamburg, Berlin und Wien verteilte. Die schwedischen Bürger spendeten für Deutschland, obwohl auch bei ihnen die Lebensmittel bis 1948 rationiert waren.

Die CARE-Pakete aus den USA46 wurden ebenfalls zu einem kollektiven Mythos, obwohl nur etwa jeder zehnte Westdeutsche ein Paket erhielt. Psychologisch waren diese privaten Hilfsleistungen jedoch unschätzbar, weil sie den Deutschen zeigten, dass sie trotz der Kriegsverbrechen nicht ganz aus der Weltgemeinschaft ausgeschlossen waren.

Allerdings war der Mangel in Deutschland so groß, dass Importe den Hunger nur lindern, nicht aber verhindern konnten. In der britischen Besatzungszone gab es für jeden Bewohner nicht viel mehr als zwei Scheiben Brot mit etwas Margarine sowie einen Löffel Milchsuppe und zwei kleine Kartoffeln, wie der Manchester Guardian seinen Lesern vorrechnete.47

Vor allem die Großstädter litten: Zehn Prozent waren »hungerkrank«, weitere 20 bis 30 Prozent waren krankhaft unterernährt, und 50 bis 60 Prozent nicht voll arbeitsfähig. Wie die deutsche Verwaltung den Alliierten pointiert vorrechnete, sei »es vom gesundheitlichen Standpunkt Selbstmord zu arbeiten«, denn die Rationen würden ja »noch nicht einmal den Bedarf eines liegenden Menschen decken«.48 Biologisch sei der permanente Hunger eine »Art von Kannibalismus«. Die Deutschen würden »leben und arbeiten, indem sie sich selbst verzehren«.49

Die »Magenfrage« dominierte das gesamte deutsche Leben. Im Frühjahr war der Mangel stets am größten, wenn die Ernten aufgebraucht und die Frühkartoffeln noch nicht reif waren. Im März 1946 mussten die Briten die Rationen auf 1 030 Kalorien pro Tag senken, was die Deutschen enorm empörte. Julius Posener notierte damals, dass die Meinung weitverbreitet sei, »man habe es auf die Ausrottung des deutschen Volkes abgesehen«.50

Viele Deutsche wollten einfach nicht zur Kenntnis nehmen, dass Nahrung in ganz Europa knapp und rationiert war. Ende Oktober 1945 erhielten die Niederländer im Durchschnitt 2 110 Kalorien pro Tag, die Belgier 2 025 Kalorien, die Norweger 1 760 Kalorien, die Franzosen 1 600, die Tschechen 1 360 Kalorien und die Finnen nur 1 250 Kalorien.51 In Wien lag die Ration bei 800 Kalorien am Tag und in Ungarn bei 556 Kalorien.52

Auch die Briten hatten keine Überschüsse, sondern verfügten nur über genügend Nahrungsmittel, um sich selbst zu versorgen. Im Juli 1946 griffen sie daher zu einer Maßnahme, die selbst im Krieg nicht nötig gewesen war: Die Briten dehnten ihre Rationierung nun auch auf Brot, Bier, Mehl und Futtermittel aus – um Getreide für die Deutschen frei zu schaufeln.53

Die Briten schränkten sich ein, damit die Deutschen versorgt werden konnten. Diese Großzügigkeit wurde im besetzten Deutschland jedoch kaum zur Kenntnis genommen, wie Posener feststellen musste. Stattdessen blühten die Gerüchte, dass die Briten heimlich deutsche Butter nach England verschiffen würden. »In jeder Stadt nannte man die Meierei in der nächsten Stadt, wo dies ganz bestimmt geschehe.«54

Die Realität war schlicht und grausam: Der Weltkrieg hatte viele Agrarflächen zerstört, und zwar nicht nur in Europa, sondern auch in Asien. 1945 lag die Weltweizenproduktion bei nur 69,5 Prozent einer durchschnittlichen Vorkriegsernte, sodass man allein für das erste Halbjahr 1946 mit einem globalen Weizendefizit von mindestens fünf Millionen Tonnen rechnete – und da war Deutschland noch gar nicht berücksichtigt.

Deutschland erwies sich als ein Fass ohne Boden: Selbst magere Rationen von 1 550 Kalorien täglich hätten es erfordert, allein im ersten Halbjahr 1946 weit mehr als zwei Millionen Tonnen Weizen nach Westdeutschland zu importieren. Diese Überschüsse gab es nicht, und zwar nirgends auf der Welt.55

Die amerikanische Militärregierung ließ 1948 extra einen knapp zwölfminütigen Dokumentarfilm mit dem Titel »Hunger« drehen, um den Deutschen zu erklären, dass auch in Lodz, Neapel, Athen und Paris gedarbt wurde. Dieser Film lief jedoch nicht lange in den westdeutschen Kinos, weil sich schon bei den ersten Aufführungen geballte Wut entlud. Empörte Zuschauer riefen: »Hermann (Göring) hätte uns nicht verhungern lassen!«56

Das deutsche Selbstmitleid zerrte an den Nerven der ausländischen Helfer. Der Vorsitzende der Quäker-Organisation Friends Relief Service reiste im Herbst 1945 durch Deutschland und berichtete anschließend: »Alle Teams belastet die Gleichgültigkeit der deutschen Bevölkerung gegenüber der Not in Europa.«57

US-General Lucius D. Clay war bereits im Juni 1945 überzeugt, dass »ein gewisses Maß an Hunger und Kälte notwendig sein wird, damit das deutsche Volk versteht, welche Folgen der Krieg hatte, den es angezettelt hat.« An Rache dachte er dabei nicht. Niemand solle sterben, betonte Clay: »Das Leiden darf nicht den Punkt erreichen, an dem es zu massenhaftem Hungertod oder zu Epidemien kommt.«58

Durch ihre Lebensmittellieferungen ist es den Alliierten tatsächlich gelungen, ein Massensterben zu verhindern. Zwar nahmen die Infektionskrankheiten deutlich zu, aber die Zahlen blieben überschaubar. In der britischen Zone erkrankten 1946 auf 10 000 Einwohner knapp 42 Menschen an Diphtherie, 21 bekamen Tuberkulose und neun steckten sich mit Typhus an.59 Der Historiker Hans-Ulrich Wehler urteilt, es sei »ein kleines Wunder«, dass es »zu keiner einzigen Epidemie gekommen ist«.60

Dieses Wunder ist vor allem den Amerikanern zu verdanken, denn die Briten waren zunehmend damit überfordert, ihre Besatzungszone zu versorgen. Durch den Krieg war die britische Wirtschaft ohnehin geschwächt, und nun musste man auch noch knappe Ressourcen nach Deutschland pumpen. Anfangs hatten sich die Briten noch umfangreiche Reparationen erhofft, doch stattdessen mussten sie verbittert erkennen, dass vor allem das Ruhrgebiet eine extreme Belastung darstellte: »a mill stone round our necks« (ein Mühlstein um unsere Hälse).61

Das Ergebnis war die Bizone: Ab dem 1. Januar 1947 wurden die amerikanische und die britische Zone gemeinsam verwaltet, wobei die Amerikaner letztlich das Sagen hatten, weil sie ab November 1947 alle Importe bezahlten, die nicht aus den Sterling-Gebieten stammten. Die Briten waren zu einer Pro-Forma-Besatzungsmacht abgestiegen, weil sie die Kosten für ihre Zone allein nicht mehr tragen konnten.

Gleichzeitig wurden die Westdeutschen stärker einbezogen, weil man hoffte, dass ihre Kenntnisse vielleicht dazu beitragen könnten, die Nachkriegsprobleme zu ordnen. Die Bizone erhielt daher ein rudimentäres Parlament namens »Wirtschaftsrat«, der aus 52 Mitgliedern bestand, die von den Landtagen in der Bizone gewählt wurden. Zudem gab es eine erste Exekutive: Fünf deutsche Direktoren waren für Wirtschaft, Ernährung, Finanzen, Post und Verkehr zuständig. Die Bizone war eigentlich nur als Provisorium gedacht, doch sollte sie sich schon bald zur Vorläuferin der Bundesrepublik entwickeln. An der extremen Not konnte allerdings auch die Bizone zunächst nichts ändern: Der Winter 1946/47 war kalt und lang – im Sommer 1947 folgte eine Dürre. Die Ernte fiel daher nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa erneut sehr mager aus. Wieder fehlten die Überschüsse, um die hungernden Massen in den Besatzungszonen zu ernähren.

Im Frühjahr 1947 waren die Deutschen so verzweifelt, dass es in fast allen Städten des Ruhrgebiets, aber auch in Kiel, Hannover und Braunschweig zu Hungerstreiks und Massendemonstrationen kam. Rund eine Million Arbeiter beteiligte sich an diesen spontanen Aktionen, die für die Alliierten völlig überraschend kamen. Auf den Transparenten stand überall das gleiche: Die Menschen forderten mehr Brot und mehr Kohle – und »Tod allen Schiebern«. Der Schwarzmarkt war zum Symbol der Not geworden; er stand für Mangel, Chaos und Betrug.

Wenn Geld nichts mehr wert ist: Der Schwarzmarkt

Der Schwarzmarkt war keine Erfindung der Nachkriegszeit, sondern hatte sich bereits während des Krieges entwickelt. Denn in den Geschäften fand sich nur noch das Allernötigste; selbst die Reichskleiderkarte wurde im August 1943 für Erwachsene gesperrt. Neue Bekleidung gab es nur noch, wenn man einen Bombenschaden nachweisen konnte.62

Auch dem NS-Regime entging nicht, dass reger Schwarzhandel eingesetzt hatte. Der Sicherheitsdienst (SD) meldete bereits im Mai 1942, dass Schwarzmarktdelikte von der Bevölkerung nicht mehr unbedingt als ehrenrührig angesehen würden. Ein Jahr später hieß es, dass der illegale Handel ständig zunehme: Die »Bereitschaft zahlreicher Volksgenossen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit Tauschgeschäfte einzugehen, sei ganz allgemein festzustellen«.63

Der Schwarzmarkt wurde nämlich nicht nur genutzt, um Mangelwaren wie Schuhe oder Wintermäntel aufzutreiben. Er stellte auch ein beliebtes Mittel dar, um sich gegen eine kommende Inflation abzusichern. Spätestens seit Anfang 1943, seit Stalingrad, war vielen Deutschen bewusst, dass der Krieg verloren war – und ihre Ersparnisse vernichtet würden.64 Waren und Dienstleistungen wurden daher lieber nicht mehr gegen Geld, sondern nur noch gegen andere Güter verkauft. Ob Bauern, Handwerker, Firmen oder kleine Ladenbesitzer: Sie alle versuchten, ihre Lagerbestände zu erhöhen, denn diese Waren würden ihren Wert auch nach dem Krieg behalten. Die Preise auf dem Schwarzmarkt stiegen daher kontinuierlich an. Ende 1944 waren sie schon 50-mal höher als die legalen Preise, im April 1945 lagen sie dann 100- bis 200-mal darüber.65

Dennoch gelang es dem NS-Regime, eine offene Geldentwertung zu verhindern. Terror und Kontrollen reichten aus, um die allermeisten Betriebe zu zwingen, ihre Waren abzuliefern und zu den vorgeschriebenen Preisen zu verkaufen. Doch kaum war die NS-Herrschaft vorbei, degenerierten die normalen Geschäfte endgültig zu Kuriositätensammlungen. Dort fand sich nur noch, was niemand haben wollte: Lampenschirme, bemalte Holzteller, Aschenbecher oder Rasierklingenschärfer.66

Stattdessen wurden Straßen und Plätze zu »schwarzen Börsen«, wo sich nun die wahren Preise zeigten. In der britischen Zone kostete im April 1947 ein Pfund Butter 230 Reichsmark – was dem Monatsverdienst eines Facharbeiters entsprach. Ein Kilogramm Fleisch war für 60 bis 80 Mark zu haben, Zucker für 70 bis 90 Mark, und ein Dreipfundbrot kostete 25 bis 100 Mark.67 In Hamburg wurden im Mai 1948 acht Reichsmark für ein Ei gezahlt, während der offizielle Preis nur 13 Pfennig betrug.68

Oft wurde aber gar nicht in Reichsmark abgerechnet, sondern in Zigaretten. Sie eigneten sich bestens, weil sie handlich, haltbar und international genormt waren.69 Das Ersatzgeld Zigarette wurde für die alliierten Soldaten zu einem lukrativen Geschäft. Im Militärladen kauften sie die Stange für fünf Dollar ein, die dann auf dem Schwarzmarkt mindestens 1 000 Reichsmark brachte.70 Die Nachfrage war so groß, dass sie sogar bis nach Übersee reichte. Firmen in den USA spezialisierten sich darauf, Zigarettenstangen an die Besatzungstruppen in Deutschland zu schicken. Der Umsatz blühte: Monatlich gingen Pakete mit einem Gewicht von 1 500 Tonnen aus den USA nach Deutschland ab; mehr als die Hälfte dürften Zigaretten enthalten haben.71 In Wahrheit war der Schwarzmarkt also gar nicht »schwarz«, sondern die Besatzungsmächte mischten kräftig mit.

Zudem entstand ein »grauer Markt«. Da Geld weitgehend wertlos war, verlangten die Arbeiter, dass ihr Lohn zumindest teilweise in Form von Lebensmitteln oder anderen Gütern ausgezahlt würde. Diese Lohn-Waren wurden dann weiter getauscht – oft während der Arbeitszeit. Durchschnittlich fehlte mehr als ein Viertel der Beschäftigten, weil sie irgendwo Schlange standen, Holz schlugen oder illegalen Geschäften nachgingen.72 Damals lief der zynische Spruch um: »Ich kann es mir nicht leisten, arbeiten zu gehen; ich muss meine Familie ernähren.«

Der »graue Markt« war zwar offiziell verboten, praktisch aber nicht zu verhindern. Bereits im Sommer 1946 schrieb der SPD-Politiker Viktor Agartz an die britische Militärregierung: »Dieses ganze Tausch- und Kompensationssystem spielt sich in aller Öffentlichkeit ab, sodass es von weiten Kreisen als absolut ordnungsgemäß angesehen wird.« Agartz leitete für die Briten das Verwaltungsamt für Wirtschaft, das in Minden angesiedelt war, und berichtete weiter: »Es gibt einen festen Tauschsatz: 1 Zentner Kartoffeln gegen 15 Zentner Kohle.« Von Strafaktionen riet Agartz ab. Der illegale Tauschhandel habe »einen solchen Umfang angenommen, dass man von der Verfolgung einzelner Fälle keinen Erfolg mehr erwarten kann«.73

Parallel bürgerten sich »Hamsterfahrten« in die Dörfer ein. Ausgehungerte Städter reisten aufs Land, um ihren Besitz gegen Lebensmittel einzutauschen. Bei den Landwirten stapelten sich bald Laken, Silberbestecke und Pelzmäntel, und es ging der böse Spruch um, dass selbst Kühe auf Perserteppichen schlafen würden.

Der Schwarzmarkt wurde Teil des Alltags: In Bremen inserierte ein Friseur seine Preise für Rasur und Haarschnitte gar nicht mehr in Geld, sondern gleich in Eiern.74 Es wird geschätzt, dass bis zu 30 Prozent aller landwirtschaftlichen Produkte auf den Schwarzmarkt flossen, obwohl die Bauern ihre Ernte eigentlich abliefern sollten.75

Der Schwarzmarkt konnte die Not jedoch nicht lindern – sie wurde nur umverteilt. Es profitierte, wer noch tauschbaren Besitz hatte, Lebensmittel anbaute oder in einer Fabrik beschäftigt war, die begehrte Güter herstellte. Es verlor, wer schon alles verloren hatte. Vor allem Flüchtlinge und ihre Kinder waren auf die öffentlichen Rationen angewiesen, die nun noch niedriger ausfielen als eigentlich nötig, weil große Teile der Ernte für den Schwarzmarkt abgezweigt wurden.76

Bereits im ersten Nachkriegswinter berichteten auswärtige Beobachter, dass viele ältere Menschen »gelbe, faltige Gesichter« hätten und dass die Kinder »teigig« und »apathisch« aussähen. Diese Not war politisch gefährlich, wie der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher warnte. Er hatte unter Hitler fast zehn Jahre lang in verschiedenen Konzentrationslagern gelitten und wusste genau, dass sich eine Demokratie in Deutschland nur halten würde, wenn sie ökonomisch überzeugte. Die Deutschen dürften nicht noch einmal die Erfahrung machen, wie schon in der Weimarer Republik, »dass Demokratie das ist, was immer dann eintritt, wenn Trümmer, Hunger, Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit« herrschten.77

Zum Glück hat sich die Geschichte nicht wiederholt. Schon bald setzte ein Aufschwung ein, der zum Gründungsmythos der neuen Bundesrepublik werden sollte. Die Legende, die sich damals herausbildete, wird noch heute gern erzählt: Westdeutschland habe angeblich ein einzigartiges »Wirtschaftswunder« erlebt, beispiellos in der ganzen Welt, das allein der Währungsreform 1948 zu verdanken sei. Nichts davon stimmt.

II Kein Wunder: Das »Wirtschaftswunder«

Es ist kein Wunder, dass die Zeitgenossen glaubten, es müsse sich um ein »Wunder« handeln, dass Nachkriegsdeutschland so schnell wuchs. Die zerbombten Städte sahen deprimierend aus. Im Februar 1947 prognostizierte der berühmte Ökonom Gustav Stolper, dass die meisten Deutschen »noch für viele Jahre in Schutt und Ruinen leben müssen«. Selbst für die Zeit nach 1980 sah er schwarz: Die Jugendlichen würden auswandern, um ihren Lebensunterhalt anderswo zu suchen, sodass die Deutschen in West und Ost auf weniger als 40 Millionen schrumpfen würden. Die einstige Großmacht Deutschland – sie wäre dann »kleiner als Italien«.1

Stolper war nicht der einzige Pessimist. Andere Ökonomen hatten ausgerechnet, dass jeder Deutsche fortan nur alle fünf Jahre einen Teller erwerben könnte, alle zwölf Jahre ein Paar Schuhe und alle fünfzig Jahre einen Anzug, und dass nur jeder dritte Deutsche die Chance haben würde, in seinem eigenen Sarg beerdigt zu werden.2

Doch die Optik täuschte: Trotz der gewaltigen Bombenschäden gab es 1948 immer noch ungefähr genauso viele Fabriken und Maschinen wie zu Kriegsbeginn 1939.3 Denn Hitler hatte kräftig aufgerüstet und neue Industrieanlagen aufgebaut; gleichzeitig war es den Alliierten kaum gelungen, die Betriebe zielgenau zu treffen.

Auch die Demontagen fielen kaum ins Gewicht. In Westdeutschland transportierten die Alliierten zwar mehr als 600 Fabriken ab4, aber dieser Verlust machte nur etwa vier Prozent der Industrieleistung von 1938 aus.5 Zudem wurden vor allem ehemalige Rüstungsbetriebe verschifft, und Deutschland hatte sowieso zu viele Waffenschmieden, sodass oft nur Überkapazitäten abgebaut wurden. Der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser urteilt daher, es sei »wenig wahrscheinlich, dass Demontagen den industriellen Kapitalstock … belastet haben.«6

Der Engpass waren die zerstörten Transportwege; allein in der britischen Zone waren im Mai 1945 nur noch rund 1 000 von 13 000 Straßenkilometern befahrbar.7 Auch Schienen und Wasserwege waren durch Bombentreffer blockiert, sodass es zu einer »Kohlenkrise« kam: Obwohl die Bergwerke eigentlich intakt waren, lagen sie weitgehend brach, weil die Kohle nicht verteilt werden konnte. Ohne Kohle konnte aber auch die Produktion in den Fabriken nicht wieder anlaufen.

Sobald aber die ersten Züge wieder rollten, erholte sich auch die Wirtschaft. Die Betriebe kamen schneller in Gang, als es damals von vielen Zeitgenossen wahrgenommen wurde. Bereits im Herbst 1946 hatte die Produktion in der amerikanischen Zone wieder die Hälfte ihres Vorkriegsstandes erreicht.8