Das Ende des Lebens -  - E-Book

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  • Herausgeber: DVA
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Wie Tod und Leben zusammengehören

Die Endlichkeit unserer Existenz ist eine Tatsache, die viele lieber verdrängen. Dabei spricht alles dafür, dass die Angst vor dem Tod umso größer wird, je weniger wir die Grenzen des Lebens in unser Denken lassen. Das Ende des Lebens nähert sich diesem sensiblen Thema von verschiedenen Seiten und behandelt ein breites Spektrum von Fragen. Neuere Entwicklungen wie die Hospizbewegung und die Palliativmedizin werden ebenso geschildert und diskutiert wie die Veränderungen in der Bestattungskultur. Streitfragen wie die Sterbehilfe kommen so offen zur Sprache wie die Ratsamkeit vorausschauender Planung (Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung, Testament). Was bewegt Menschen, die in ihrem Beruf als Arzt, Polizist oder Leichenwäscher, als professionelle oder ehrenamtliche Sterbebegleiter ständig mit dem Tod zu tun haben? Wie gehen Angehörige mit dem Verlust um? Was machen wir mit der Trauer, was macht sie mit uns? In Porträts, Interviews und persönlichen Geschichten setzen sich SPIEGEL-Autoren und Mediziner, Psychologen und Soziologen mit diesen und anderen Problemen auseinander und machen so das schwierige Thema Sterben fassbar.

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Seitenzahl: 289

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Annette Großbongardt und Rainer Traub (Hg.)

Das Ende des Lebens

Ein Buch über das Sterben

Nicola Abé, Lars-Olav Beier, Stefan Berg, Annette Bruhns, Annette Dieing, Manfred Dworschak, Angela Gatterburg, Özlem Gezer, Jens Glüsing, Reimer Gronemeyer, Veronika Hackenbroch, Charlotte Haunhorst, Laura Höflinger, Simone Kaiser, Patrick Kremers, Alexander Kühn, Beate Lakotta, Malte Laub, Juliane von Mittelstaedt, Joachim Mohr, Sarah Mühlberger, Bettina Musall, Conny Neumann, Dietmar Pieper, Johannes Saltzwedel, Eva-Maria Schnurr, Sandra Schulz, Thilo Thielke, Martin Walser

Deutsche Verlags-Anstalt

Die Texte dieses Buches sind erstmals im Heft »Abschied nehmen. Vom Umgang mit dem Sterben« (Heft 4/2012)aus der Reihe SPIEGEL WISSEN erschienen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. 1. Auflage

Copyright © 2013 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. und SPIEGEL-Verlag, Hamburg

Alle Rechte vorbehalten

Typografie und Satz: DVA/Brigitte Müller

Gesetzt aus der Dante

ISBN 978-3-641-10181-7V003

www.dva.de

Inhalt

Vorwort

TEIL I AM ENDE DES LEBENS

Auf der Suche nach dem guten Ende

Was Sterbende bereuen

»Reden, reden, reden«

Getragen durch die Zeit

Choreografie zum Abschied

Ein unzeitgemäßes Gefühl

»Der Tod ist der größte Lehrer«

TEIL II DER TOD ALS BERUF

Gärten der Erinnerung

Barfuß auf dem letzten Weg

Das Geld kriegt Willi

Im Auge des Tigers

Dürfen wir reinkommen?

Ein Rucksack für die letzte Last

TEIL III KRANKHEIT UND STERBLICHKEIT

Asche auf Dotterblumen

»Mitten in uns«

Rosen für Onkel Kadir

Ein Sarg für die Hummel

Tröstende Bilder

Sieben Minuten

Zur Hölle mit dem Tod

Keine Angst vor Sterbezimmern

Heikle Grenze

TEIL IV SUIZID UND STERBEHILFE

Wie ein Krebs der Seele

»Allerletzter Ausweg«

»Sterben lassen ist kein Töten«

Wem gehören wir eigentlich?

TEIL V KULTUR UND RITUALE

Adiós Amigos

Das Atmen der Dinge

Digitales Herbstlaub

Der Toten Tatenruhm

Projekt Lebensende

ANHANG

Buchhinweise

Hilfe im Internet

Autorenverzeichnis

Dank

Sach- und Personenregister

Vorwort

Todesanzeigen haben einen merkwürdigen Reiz. Viele Zeitungsleser studieren die Meldungen vom Ende eines Lebensweges mit großer Neugier. Wie alt ist der Verstorbene geworden? War er krank? Wie betrauern ihn seine Angehörigen? Der Tod ist ein großes Faszinosum – und doch etwas, das man lieber auf Distanz hält. Jeder Mensch muss sterben, das wissen wir und können es doch nicht fassen, nicht wirklich begreifen. Der Tod ist immer eine Nachricht, über die man spricht, aber: Bitte nicht zu viel. Denn wenn jemand stirbt, packt einen immer auch die Angst vor der eigenen Endlichkeit, die viele lieber verdrängen – verständlicherweise. Wer mag sich schon das Verschwinden des eigenen Ichs vorstellen? Und wer kann das wirklich?

In einer Zeit, in der die Menschen immer länger leben, die Medizin schwerste Krankheiten heilen, Unfallopfer retten, kranke Organe durch gesunde ersetzen kann, wird die Auseinandersetzung mit dem Tod meist auf den allerletzten Moment verschoben, in dem es nicht mehr anders geht, wenn man im Familien- oder Freundeskreis direkt damit konfrontiert ist.

Die meisten Menschen möchten gerne zu Hause sterben, so wie sie es vielleicht noch bei ihren Großeltern erlebt haben. Tatsächlich aber sterben heute 75 Prozent im Krankenhaus oder Pflegeheim. Zug um Zug wurde das Sterben im Verlauf der Moderne ausgelagert und in öffentliche Institutionen abgeschoben. Das soziale Ereignis verwandelte sich in einen individuellen Unglücksfall. Der Tod wurde so gründlich aus dem Alltag vertrieben, dass heute mancher Erwachsene noch nie eine Leiche gesehen hat.

»Wir brauchen einen gesellschaftlichen Wandel: weg vom Schweigen, hin zum Reden über den Tod«, fordert deshalb der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio. Dass sein Buch über das Sterben zum Bestseller wurde, zeigt vielleicht schon, dass sich da gerade etwas verändert und ein Bedürfnis nach mehr Offenheit und Austausch Bahn bricht.

Tatsächlich gibt es gute Gründe, sich frühzeitig mit dem Ende des Lebens zu befassen. Denn nur wer sich mit der eigenen Sterblichkeit beschäftigt, kann das Ende so gestalten, wie es ihm wichtig ist. Wer etwa am Sterbebett nicht alleine sein will, braucht Menschen, die bereit sind und vorbereitet, ihn auf dem schwierigen Weg zu begleiten.

Diese Auseinandersetzung zu befördern, ist Ziel dieses Buches. Es macht das Sterben zum Thema in einem breiten Spektrum von Geschichten: SPIEGEL-Redakteure haben Hospize und Palliativdienste besucht, um zu erfahren, wie sie ein friedliches und schmerzfreies Ende ermöglichen. Die Autoren sprachen mit Angehörigen über ihren Trauerprozess, porträtieren Menschen, für die der Tod zum Beruf gehört: Bestatter, Polizisten, Ärzte, Sterbebegleiter. Der prominente Bestatter Fritz Roth, der sich für eine neue, liberalere Friedhofskultur einsetzte, war bereits an Krebs erkrankt, als er Redakteurin Annette Bruhns zum Interview traf; er starb noch vor Erscheinen dieses Buches.

Dass viel Reden und die bewusste Begleitung eines Sterbenden helfen, danach den Verlust zu überwinden, zeigt das Beispiel des langjährigen Asien-Korrespondenten und Buchautors, Tiziano Terzani. Bereits todkrank führte er mit seinem Sohn Folco lange Gespräche über die letzte große Frage des Lebens und sein eigenes Hinscheiden. »Normalerweise bringt dir dein Vater bei, wie du das Leben meisterst. Mein Vater hat mir auch gezeigt, wie man stirbt«, sagt Folco Terzani, der heute versöhnt und heiter auf den Tod seines Vaters zurückblickt.

Berührungsängste mit dem Sterben resultieren häufig aus Unsicherheit und mangelndem Wissen. Hier möchte das Buch Aufklärung und Informationsdienst leisten. Etwa in der Frage: Kann man es schaffen, einen Sterbenden zu Hause zu pflegen, und was ist dabei wichtig? Die Berliner Annette Dieing antwortet darauf mit Erfahrungen aus ihrer eigenen Arbeit. »Keine Angst vorm Sterbezimmer!«, sagt die Krebsärztin.

Zum Tod gehören viele strittige Debatten, etwa darüber, wann und wie Sterbehilfe statthaft ist. Simone Kaiser hat die Schweizer Sterbehilfeorganisation Exit besucht und einige der dort betreuten Sterbefälle nachgezeichnet. Zu den Sympathisanten dieses Weges gehört der Schriftsteller Martin Walser, der auch für sich selbst nicht ausschließt, sich einmal einem Sterbehelfer anzuvertrauen. In seinem Essay fordert er mehr Selbstbestimmung am Lebensende.

Besondere Erfahrungen mit diesem Thema hat der Münchner Medizinrechtanwalt Wolfgang Putz, der bereits in mehreren hundert Fällen Patientenverfügungen durchsetzte. Er selbst musste sich schon vor Gericht verantworten, weil er einer Mandantin geraten hatte, die Magensonde ihrer Mutter durchzuschneiden, die seit Jahren im Koma lag.

Der Blick auf das Ende kann auch helfen, das Leben bewusster auszuschöpfen. Zu den Dingen, die Sterbende häufig bereuen, gehört das Bedauern, zu viel gearbeitet und zu wenig Zeit für Familie und Freunde gehabt zu haben. Die Nummer Eins des Bereuens aber, so die Erfahrung der australischen Sterbebegleiterin Bronnie Ware, ist diese: »Ich wünschte, ich hätte mich getraut, mein Leben zu leben und nicht das, was andere von mir erwartet haben.«

Hamburg, im März 2012 Annette Großbongardt, Rainer Traub

TEIL I AM ENDE DES LEBENS

Auf der Suche nach dem guten Ende

Die moderne Welt tut sich schwer im Umgang mit dem Tod. Wunsch und Wirklichkeit klaffen auseinander.

Von Rainer Traub

Ein ausgezehrter Patient, 64 Jahre, blass und hüstelnd, im letzten Stadium einer Tumorerkrankung, wird von der Notaufnahme eines Krankenhauses an die Station für Innere Medizin überwiesen. Doch da ist nichts frei. Keine Chance, den Todkranken in einem Einzelzimmer unterzubringen, wie es der Aufnahmearzt telefonisch angeraten hat. Wohin mit dem Alleinstehenden? Nur im einzigen Sechsbettzimmer der Station ist ein Platz verfügbar.

Der Stationsarzt zögert. Darf er fünf Kranken die Gemeinschaft mit einem Unheilbaren zumuten? Ja, beschließt er, das Sterben gehört ins Leben – nicht in die Verlassenheit eines Einzelzimmers. In intensivem Gespräch schafft er es, Beklommenheit und Bedenken der anderen Patienten zu zerstreuen. »Stell dir vor«, sagt einer von ihnen schließlich halb zu sich selbst, halb zu den Zimmergefährten, »du hättest Krebs im Endstadium wie er.« Und zum Arzt gewandt, unter zustimmendem Nicken der anderen: »Wir nehmen den, Herr Doktor, er kriegt einen Fensterplatz!«

Aus dem jungen Stationsarzt von damals ist der renommierte Intensivmediziner Michael de Ridder geworden. Den Fortgang der Geschichte schildert er in seinem aufrüttelnden Buch »Wie wollen wir sterben?« so: »Die Patienten des Sechsbettzimmers organisierten untereinander für den Todkranken eine 24-Stunden-Sitzwache, sie saßen an seinem Bett, fütterten und wuschen ihn und lasen ihm aus der Zeitung vor. Fünf Tage später starb er, in ihrer aller Anwesenheit. Einer seiner Mitpatienten sagte bei der Entlassung zu mir: ›Diese fünf Tage meines Lebens waren wichtig, ich werde sie nie vergessen.‹«

Die kleine Geschichte ist nicht nur bewegend. Sie ist auch lehrreich. Die Beteiligten, denen der Tod auf den Leib rückt, haben sich bewusst gemacht, dass sie jederzeit in die gleiche Lage wie der neue Mitpatient geraten können. Weil sie die Sterblichkeit als menschliches Schicksal annehmen, können sie mit dem Lebensende eines anderen gemeinsam so menschlich umgehen, wie sie es einmal für sich selbst wünschen.

Es scheint einfach – und ist doch so schwer. Denn eine Erfahrung wie diese ist die absolute Ausnahme in unserer Gesellschaft, in der drei von vier Menschen, nicht selten einsam, in Krankenhäusern und Pflegeheimen sterben. Dabei nennen in Umfragen gerade vier Prozent das Krankenhaus oder ein Pflegeheim als bevorzugten Sterbeort. Wunsch und Realität klaffen am Lebensende in Deutschland extrem weit auseinander. Die überwältigende Mehrheit würde ihre letzten Tage gern zu Hause verbringen: in der Geborgenheit einer vertrauten Umgebung, im Kreis der Nächsten. Diesem Bedürfnis steht jedoch ein mächtiger kultureller und sozialer Druck entgegen.

»Tod der Crescentia Pirckheimer«, Kopie eines Dürer-Gemäldes von Georg Gärtner d. J. (1624)

AKG

Zu Beginn war es die Säkularisierung, die bewirkte, dass Sterben und Tod aus der Mitte der Gesellschaft gedrängt wurden. Sie hatte mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert eingesetzt und sich in den folgenden Jahrhunderten beschleunigt. Der französische Historiker Philippe Ariès hat diesen Wandel in seiner großen »Geschichte des Todes« eindrucksvoll nachgezeichnet. Mit der Erosion des Glaubens schwand die alte christliche Heilserwartung, ein gottgefälliges Leben werde nach der flüchtigen, oft beschwerlichen Existenz im Diesseits mit dem Weiterleben im Jenseits belohnt. Der Tod wurde immer weniger als Durchgangstor wahrgenommen – und immer mehr als grausiger Verhau am Ende.

Viele Jahrhunderte hindurch war das Lebensende ein soziales Ereignis gewesen wie Geburt, Taufe oder Hochzeit. Nicht nur nahe Angehörige umstanden Todgeweihte. Wenn der Priester, an Kleidung und Utensilien unschwer zu erkennen, unterwegs zu einem Sterbenden war, durften sogar Außenstehende ihm folgen und Anteil nehmen. »Memento mori« lautete das Motto – bedenke, dass auch du sterben wirst. Seit dem 15. Jahrhundert lehrte eine eigene Gattung religiöser Trostfibeln die »Kunst des Sterbens« (»ars moriendi«).

Im Verlauf der Moderne aber wurde das Sterben Zug um Zug ausgelagert und in öffentliche Institutionen abgeschoben. Das soziale Ereignis verwandelte sich in einen individuellen Unglücksfall. Immer häufiger trugen Traueranzeigen distanzierende Zusätze wie »Es wird gebeten, von Beileidsbekundungen abzusehen«. Die häusliche Aufbahrung Verstorbener, noch bis ins frühe 20. Jahrhundert in weiten Teilen Europas verbreitet und für Nachbarn, Freunde und Bekannte frei zugänglich, wich der diskreten, gern bei Dunkelheit durchgeführten Abholung von Leichen. Der Tod wurde so gründlich aus dem Alltag vertrieben, dass heute mancher Erwachsene noch nie eine Leiche gesehen hat.

Mit der Erosion des religiösen Grundes schwand auch immer mehr die alte Hoffnung, der Tod werde sich ankündigen und langsam nahen – nur so war ein wohlgeordneter Abschied vom Diesseits, im Reinen mit Gott und der Welt, möglich. Heute, wo die meisten im Sterben keinen tieferen Sinn, sondern nur mehr die unbegreifliche Auslöschung ihrer Existenz sehen, herrscht die entgegengesetzte Einstellung: Wenn es schon sein muss, dann bitte blitzschnell und am besten, ohne es zu spüren.

Mehr als zwei Drittel der Befragten antworteten im Mai 2012 bei einer Umfrage, welche Sterbeart sie bevorzugen würden, wenn sie wählen könnten: »Plötzlich aus guter gesundheitlicher Verfassung.« Der überfallartige Tod aus heiterem Himmel wird erhofft: jene unbewusste Art umzukommen, die viele Jahrhunderte lang als »mors repentina« gefürchtet wurde – und als schlimmste Art zu sterben galt. Die Wirklichkeit durchkreuzt auch hier die Wünsche: Nur ein kleiner Teil der über 800000 jährlich in Deutschland versterbenden Menschen wird jählings vom Tod ereilt.

Der zweite soziale Großtrend neben der Säkularisierung, der den Umgang mit dem Tod radikal verändert hat, ist die demografische Umwälzung infolge der Industrialisierung: die Einbeziehung von Frauen ins Berufsleben, der Rückgang der Geburtenzahl und die Vereinzelung, die der Verstädterung folgte. Immer weniger Hinfällige und Sterbende haben heute Angehörige, die in der Lage wären, sie zu Hause zu betreuen. Die Wahrscheinlichkeit eines mehr oder weniger fremdbestimmten Lebensendes in einer staatlichen oder privatwirtschaftlichen Institution wächst weiter.

Die dritte Ursache sind die Erfolge der modernen Hochleistungsmedizin. Sie ermöglichten es dem Arzt, in schwerste Krankheiten einzugreifen. Vom Dialyseverfahren, das versagende Nieren ersetzte, über die Intubationsbeatmung bis hin zu Organtransplantation, Herzschrittmacher und künstlicher Ernährung reicht die Skala der Errungenschaften. Heute haben viele Patienten, die noch vor fünf oder sechs Jahrzehnten keine Überlebenschance gehabt hätten, Aussichten auf ein erheblich verlängertes Dasein in guter Verfassung.

Diese an sich erfreuliche Entwicklung hatte jedoch eine prekäre Kehrseite, die in der Euphorie über die epochalen Innovationen aus dem Blick geriet. Sie betraf besonders Menschen am Lebensende. Nicht der Patient als körperlich-seelische Einheit war der Ausgangspunkt der neuen Intensivmedizin. Deren Vertreter richteten ihren Ehrgeiz zunehmend darauf, noch bis in den Sterbeprozess alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Funktion einzelner Organe oder Organsysteme wiederherzustellen. Der kritische Mediziner de Ridder klagt, heute stehe oft nicht der Patient selbst im Zentrum, »sondern die Technologie, die für die Behandlung seiner Organe und Körperfunktionen geeignet erscheint«.

Effiziente Apparate können versagende menschliche Organe ersetzen – am Lebensende den Tod aber nur hinauszögern. Wenn keine Aussicht auf Heilung mehr besteht, wollen jedoch die wenigsten bewusstlos im Intensivbett dahindämmern, »eingezwängt zwischen den sogenannten Bäumen der Spritzenpumpen, mit Kabeln und Schläuchen angeschlossen an effiziente, intelligente Maschinen«. So anschaulich hat der Arzt und Medizinethiker Ralf J. Jox (»Sterben lassen. Über Entscheidungen am Ende des Lebens«) die Auswüchse der Intensivmedizin beschrieben. Als vorsorglicher Schutz gegen sie wurde die »Patientenverfügung« erfunden, mit der jedermann ungewollte Behandlungsarten schriftlich verbieten kann. Auch wenn die Willensbekundung seit 2009 Gesetzeskraft hat, war und ist allein mit individuellen Notbehelfen dem Ausmaß der gesellschaftlichen Misere nicht beizukommen.

»Sterben heißt abstöpseln« – so hat der Gießener Soziologe Reimer Gronemeyer in einer scharfsichtigen Analyse (»Sterben in Deutschland«) einen häufigen Krankenhaustod beschrieben. Eine immer größere Anzahl von Patienten und Angehörigen empfand den technischen Umgang mit dem Sterben gegen Ende des 20. Jahrhunderts als unerträglich. In spontaner Gegenwehr bildeten sich lokale Bürgerinitiativen. Ihr Ziel war ein menschenwürdiges Sterben und eine neue, der ganzen Person zugewandte, lindernde ärztliche Fürsorge am Lebensende – die Palliativmedizin. Als Vorbild diente das St. Christopher’s Hospice in London, das die große britische Ärztin und Sozialarbeiterin Cicely Saunders (1918 bis 2005) 1967 eröffnet hatte. Hier wurde vorgemacht, dass ein humanes Lebensende, begleitet von einfühlsamer Zuwendung und ohne Schmerzen, auch für diejenigen möglich war, die nicht zu Hause sterben konnten.

Einer der Pioniere der deutschen Hospizbewegung, die sich daran orientierte, ist der Arzt und Psychotherapeut Christoph Student, 69. In seiner Freiburger Praxis erinnert sich der schmale, lebhafte Mann an die Anfänge: »Bis in die achtziger Jahre starben bei uns die Menschen in Krankenhäusern buchstäblich im Badezimmer. Man bemerkte die Nähe von Sterbenden daran, dass die Türklinke mit einem Handtuch umwickelt war. Sie wurden nicht nur ihrer Einsamkeit, sondern auch ihren Schmerzen überlassen.« Die Mitglieder der frühen Hospizbewegung hätten »mit einem Bein im Gefängnis« gestanden »wegen des Verdachtes, beim Einsatz gegen unnötige Schmerzen Schwerkranke mit Morphium umzubringen«.

Zur intensiven Beschäftigung mit dem Sterben brachten Student persönliche Tragödien: Früh verlor er erst seine kleine Tochter, dann seinen besten Freund. »Das Thema hat sich mich ausgesucht, nicht ich habe es gewählt«, sagt er. Mit seinem Leid suchte er Rat in den Seminaren, die die Ärztin und Nahtod-Forscherin Elisabeth Kübler-Ross (1926 bis 2004) gab. Ihre Interviews mit Sterbenden, die zum internationalen Bestseller wurden (»On Death & Dying«) sprachen dafür, dass das Lebensende nicht unbedingt als Schrecknis erlebt werden muss. Mit ihrer charismatischen, sehr mediengewandten Persönlichkeit habe Kübler-Ross »wie ein Schneepflug viele Hindernisse aus dem Weg geräumt«, die einem neuen Umgang mit dem Sterben im Weg standen.

Die Widerstände in der Bundesrepublik waren jedoch enorm. »Wer damals in Bus oder Bahn ein Buch las, das sich mit Sterben und Tod befasste, versteckte es lieber in einem neutralen Schutzumschlag«, berichtet Student. In Hannover, wo er Sozialmedizin lehrte, richtete er 1984 Deutschlands ersten ambulanten Hospizdienst ein. »Aber meine Kollegen haben sich daraufhin von mir distanziert, als wäre ich vom Tod kontaminiert.« Der größte Widerstand gegen eine Broschüre mit dem Titel »Zu Hause sterben« sei ausgerechnet von Pfarrern gekommen, sagt er: Standen sie schon in der Krankenhaushierarchie weit unten, so fürchteten sie nun einen weiteren Bedeutungsverlust.

Das Bedürfnis nach Veränderung war jedoch so massiv, dass die Hospizbewegung sich rasch ausbreitete. Heute gibt es in Deutschland über 170 stationäre Hospize. Hinzu kommt die ambulante häusliche Betreuung unheilbar Kranker durch Teams der »spezialisierten ambulanten Palliativversorgung« (SAPV).

Immer mehr Krankenhäuser verfügen über Palliativstationen, Zustände wie in den achtziger Jahren sind kaum noch anzutreffen. Der Deutsche Hospiz-und PalliativVerband hat gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin und der Bundesärztekammer eine »Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland« herausgegeben, deren erster Leitsatz so beginnt: »Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Sterben unter würdigen Bedingungen. Er muss darauf vertrauen können, dass er in seiner letzten Lebensphase mit seinen Vorstellungen, Wünschen und Werten respektiert wird und dass Entscheidungen unter Achtung seines Willens getroffen werden.«

An den Sterbeorten hat die Hospiz-Alternative wenig geändert. Dass nur zwei von hundert Menschen in einem Hospiz sterben, erklärt sich auch mit ökonomischen Aspekten: Die Versorgung in einem Sterbehaus kann mit 7000 Euro im Monat doppelt so viel kosten wie die in einem Pflegeheim. Die Kassen lehnen ärztlich verordnete Überweisungen in Hospize schon mal mit fadenscheinigen Begründungen ab. Aber auch in Krankenhäusern ist das Sterben so teuer wie noch nie: Zwei Drittel der Krankenhauskosten, die ein Mensch lebenslang verursacht, fallen in den letzten Monaten seines Daseins an.

Den Bemühungen, ein Lebensende in Würde und Frieden zu ermöglichen, steht freilich eine zunehmende Tendenz zur technischen Bannung und versuchten Überlistung des Todes gegenüber – nicht nur in der Medizin. Althergebrachte Rituale und Normen wie die Friedhofsbeerdigung verlieren ihre soziale Verbindlichkeit. Individualismus ist Trumpf, über den Tod hinaus.

Die Angebote postumer Ascheverwendung reichen von der Pressung zum Diamanten bis zur raketenförmigen »Weltraum-Bestattung«. Der eigene Leichnam kann in minus 196 Grad kaltem Stickstoff »kryokonserviert« werden, zwecks Reanimation nach dem erhofften medizinischen Fortschritt. Oder man lässt ihn als Plastinat ausstellen. Ein kaltschnäuziger Werbeslogan verheißt für diesen Fall: »Willst du wirklich ewig leben, musst du deinen Körper geben«. Solche Entwicklungen spiegeln, wie der Medizinethiker Dominik Groß schreibt, eine postmoderne Tendenz zur »Grenzverschiebung zwischen Leben und Tod«: »Der Tote wird zum Weiter-Lebenden umdefiniert.«

Die Entwicklung ist also widersprüchlich. Aber immerhin versteht sich die Verdrängung unserer Endlichkeit nicht mehr von selbst. Bei einer repräsentativen Erhebung erklärten 58 Prozent der Befragten im Juni 2012, die Gesellschaft befasse sich zu wenig mit Sterben und Tod. Kürzlich feierte der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband sein 20-jähriges Jubiläum mit politischer Prominenz in Berlin. Die Zahl der ehrenamtlichen Mitarbeiter wird in einer soeben erschienenen »Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland« auf bis zu 100000 beziffert. Jeder kann sich engagieren, doch de facto tun das zu mehr als 90 Prozent Frauen. Auch wenn die überkommenen Rollenbilder ins Wanken geraten sind, gelten Fürsorge und Mitgefühl nach wie vor als weibliche Domäne.

Die Begleitung von Sterbenden ist kein reines Elysium der Menschenfreundlichkeit, sondern auch eine psychische und mentale Herausforderung. Student, der von 1997 bis 2006 das Stuttgarter Hospiz leitete, erinnert sich etwa, die rund 30 Mitarbeiterinnen seien manchmal ruppig miteinander umgegangen. »Auch wenn sie sich gegenüber den ihnen anvertrauten Sterbenden beherrschten, entlud sich der Druck durch die ständige Begegnung mit dem Tod gelegentlich in gegenseitiger Aggressivität.«

Es ist nicht leicht, dauernd an seine Sterblichkeit erinnert zu werden. Die dem Menschen ureigene Angst vor dem Tod kann, so die von amerikanischen Sozialpsychologen entwickelte »terror management theory«, durch zwei Puffer gemildert werden: durch soziale Normen wie Sinn oder Transzendenz und durch ein stabiles Selbstwertgefühl. Doch gemildert heißt nicht überwunden. Psychotherapeut Student, für den Selbstreflexion zum Beruf gehört, bekennt, er habe auch nach lebenslangem Umgang mit dem Tod die Angst vor ihm nicht völlig verloren: »Was abnimmt, ist die bewusste Angst. Aber die unbewusste Angst ist nach wie vor groß.«

Nur rund die Hälfte derer, die sich spontan für die ehrenamtliche Begleitung Sterbender interessieren, bleiben übrig, wenn die verantwortlichen Psychologen ihnen in langen Gesprächen erklärt haben, was sie erwartet. Sie werden in Kursen vorbereitet. Bei ihrem Einsatz auftretende Probleme können und müssen sie in einer parallelen psychologischen Supervision verarbeiten.

Die Belastungen beim regelmäßigen Umgang mit Sterbenden werden jedoch, wie die professionellen und ehrenamtlichen Begleiter berichten, mehr als wettgemacht durch das, was ihnen an Dankbarkeit und Vertrauen entgegengebracht wird. Hauptamtliche Hospizmitarbeiter seien zufriedener als das Personal in gewöhnlichen Krankenhäusern, weil sie mehr Zeit für ihre Patienten haben und mehr von ihnen zurückbekommen, sagt Martina Kuhn, Leiterin der Koordinierungsstelle für Hospiz- und Palliativarbeit in Hamburg-Uhlenhorst. Und die Freiwilligen suchen und finden im Ehrenamt viel von dem, wofür im konkurrenz- und karrieregetriebenen Hamsterrad des globalisierten Kapitalismus kaum Platz ist: die Erfahrung, gebraucht zu werden, Reflexion über den Sinn des Lebens und emotionale Intensität.

Zu keiner Zeit ist die Sehnsucht nach menschlicher Nähe so groß wie am Lebensende. Selbst wenn Sterbende unruhig zwischen den Schläuchen und Maschinen der Intensivstation liegen und kaum noch bei Bewusstsein sind, beruhigen sie sich, sobald sich jemand zu ihnen setzt, vielleicht ihre Hand berührt. Diese von Ärzten bestätigte Erfahrung hat die Hamburgerin Nicole Strauch, 42, häufig gemacht. »Puls und Blutdruck sinken, die Patienten brauchen weniger Schmerzmittel.« Sie ist verheiratet mit einem Pfleger auf einer Intensivstation, der darunter litt, dass er sich im ständigen Zeitdruck seiner Arbeit den Patienten nicht so lange widmen konnte, wie er wollte. Da sprang seine Frau spontan als Sterbebegleiterin auf der Station ein.

Durch schwere Krankheiten war sie früh gezwungen, sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen: Dreimal, mit 18, 26 und 37, überwand sie Krebserkrankungen. »Heute bin ich gesund«, sagt die energische Frau mit der Oberarmtätowierung und dem raspelkurzen Blondhaar, »ich bin eine starke Frau.« Die frühere Juristin bei der Zahnärztekammer meint das nicht nur mental – man sieht es ihren Muskeln an. Vom Kunstturnen, das sie als Mädchen praktizierte, kam sie über Karate zum Bodybuilding, das sie noch immer mehrere Stunden pro Woche betreibt.

Nach ihrer letzten Krebserkrankung vor fünf Jahren, erzählt sie, habe sie ihr Leben völlig umgekrempelt und nur an ihrem Mann festgehalten. Weil sie keine Perücke tragen wollte, suchte sie sich eine Arbeit, die sie auch kahlköpfig ausüben konnte: Vier Jahre lang war sie Türsteherin auf der Reeperbahn. Die Psychologin, auf die sie dann bei ihrer Bewerbung als ehrenamtliche Sterbebegleiterin traf, störte sich nicht an ihrem Äußeren und ihrer Art. »Die war sogar froh, dass gerade eine wie ich mitmachen wollte – die älteren Damen, die oft die Sterbebegleitung übernehmen, sind mit dem Ton von Hamburger Kiez-Bewohnern leicht überfordert.« Ein halbes Jahr lang drei Stunden pro Woche und vier Wochenenden umfasste die Ausbildung zur ambulanten Sterbebegleiterin.

Einmal in der Woche besucht sie nun einen Menschen zu Hause, der meist vom Hausarzt auf das Angebot hingewiesen wurde. Wenn man sich versteht, begleitet sie die ihr Anvertrauten bis zum Ende. »Wir kommen als weißes Blatt, die Sterbenden dürfen uns beschreiben«, sagt sie. Die eigenwillige Rheinländerin, die inzwischen, weil ihr die Juristerei zu steril wurde, Psychologie studiert, nimmt den Tod wie einen unvermeidlichen Vorgesetzten hin: »Ich kenne ihn. Ich werde ihm nicht entgehen, so wie ich manchen Chefs nicht entgehen konnte. Er ist doch ein Idiot wie jeder andere.«

So viel Nonchalance ist den wenigsten gegeben. »Alle einzelnen Verluste, die uns im Leben vielleicht treffen könnten, sind, wenn wir sterben, zu einem einzigen, überwältigenden Verlust zusammengefasst – wie kann es daher verwundern, wenn jemand, der unter dem Eindruck dieser Erfahrung steht, manchmal traurig, in Panik oder zornig ist?« Das schreibt Sogyal Rinpoche in seiner – in der Hospizbewegung einflussreichen – Einführung »Das tibetische Buch vom Leben und Sterben«. In Tibet geboren, lebt und lehrt der Meditationsmeister seit Jahrzehnten im Westen; er ist mit dem Denken des Westens so vertraut wie mit dem des Ostens.

Aber bis heute fällt es ihm schwer, die hiesige Verdrängung des Todes und den »fast vollständigen Mangel an spiritueller Hilfe für Sterbende in der modernen Welt« zu verstehen. »Spirituelle Fürsorge ist kein Luxus für wenige; sie ist das Grundrecht eines jeden Menschen, so wichtig wie politische Freiheit, medizinische Versorgung und Chancengleichheit.« Das ist ein sympathischer Gedanke. Aber wer und was befähigt Menschen zu »spiritueller Fürsorge«? Kann wirklich die Palliativmedizin diese Zuständigkeit beanspruchen, wie sie es zunehmend tut?

Vieles, was der Tibeter über die Möglichkeit eines ganz anderen Umgangs mit unserer Endlichkeit schreibt, ist bedenkenswert. Eine massenhafte Hinwendung zum Buddhismus steht im Westen gewiss nicht an. Aber das Bedürfnis, die metaphysische Leere zu füllen, die sich nach der Verdunstung der Religion in weiten Teilen Europas ausgebreitet hat, scheint zu wachsen. Letztlich muss jeder selbst entscheiden, ob er sich mit dem Tod befassen will, bevor der sich mit ihm befasst.

Was Sterbende bereuen

Eine Australierin sammelte in einem einfühlsamen Buch selbstkritische Lebensbilanzen.

Von Rainer Traub

Ihr Erfahrungsbericht über das, was Menschen im Angesicht des Todes als Versäumnisse ihres Lebens bedauern, löste eine millionenfache Reaktion aus. Was die Australierin Bronnie Ware, 45, da unter dem etwas reißerisch klingenden Titel »The Top Five Regrets of the Dying« ins Internet gestellt hatte, fand international so viel Aufmerksamkeit und Zustimmung, dass die Autorin ihren Blog 2011 zu einem gleichnamigen Buch ausbaute, das zum Bestseller wurde. Tatsächlich wirkt dieser subjektive Bericht, der warmherzigen Scharfblick mit ehrlichem Realismus verbindet, nützlicher als so manches akademische Werk, das die Psyche sterbender Menschen zum Forschungsobjekt macht.

Eine pfeilgerade Karriere ist nichts für Bronnie Ware. Der Job in der Bank füllt sie nicht aus. Mit Gefühlen, den eigenen und denen anderer, kann sie mehr anfangen als mit Zahlen. Und es zieht sie zum persönlicheren Kontakt mit Menschen. Sie kündigt, finanziert einige Jahre mit wechselnden Gelegenheitsarbeiten ein ungebundenes Reiseleben außerhalb ihrer Heimat, lässt sich von ihrer Aufgeschlossenheit für Neues treiben. Zurück in Australien, sucht sie eine Aufgabe, die ihren Neigungen entspricht und sie ernährt.

So kommt die junge Frau an ihre erste Stelle als Betreuerin einer Schwerkranken. Die alte Dame wurde bewusstlos in ihrer Küche gefunden und ist nach einem Krankenhausaufenthalt unter der Bedingung einer häuslichen 24-Stunden-Betreuung entlassen worden. Gegenüber der vermittelnden Agentur hat die Bewerberin kein Hehl daraus gemacht, dass sie keine pflegerische Ausbildung besitzt. Doch die stört sich daran nicht.

Was die Helferin mitbringt, ist Zugewandtheit, Empathie und Hingabe an ihre Arbeit. »Ich behandelte sie wie meine eigene Großmutter, an der ich sehr hing.« Auch nachts eilt sie, sobald ihre Klientin klingelt, jederzeit an deren Bett. Sie verwöhnt sie mit Kosmetik und Fußmassagen oder mit Maniküre und lässt sich in langen Gesprächen deren Leben erzählen. Trotz wachsender Erschöpfung durch den Dauereinsatz bleibt sie bis zum friedlichen Ende an der Seite der Sterbenden. Deren Angehörige sind hochzufrieden mit ihr, die Agentur vermittelt ihr nun auch Kurse zum Erwerb fehlender Pflegekenntnisse. Fortan begleitet und versorgt sie Sterbende.

Zu ihren liebsten Klienten gehört eine reizende alte Dame, die sie Grace nennt. Mehr als ein halbes Jahrhundert hatte diese, wie es von Frauen ihrer Generation erwartet wurde, die Tyrannei ihres Mannes ertragen – seit kurzem lebt er im Pflegeheim –, ihre Kinder großgezogen und sich am Aufwachsen der Enkel gefreut. Nun aber, am Ende ihres allzu gehorsamen Lebens, macht sie sich bittere Vorwürfe: »Warum habe ich nicht das getan, was ich wollte? Warum habe ich mich von ihm beherrschen lassen? Warum war ich nicht stark genug?« Feierlich nimmt sie ihrer jungen Begleiterin das Versprechen ab, wenigstens sie solle sich immer treu bleiben, »ganz egal, was andere Leute sagen«.

Das Motiv, schreibt Ware, kehrte vielfach wieder: Wenn die ihr Anvertrauten etwas bereuten, dann am häufigsten den Fehler, sich selbst nicht treu geblieben zu sein. Auf der Liste der Lebensirrtümer folgt an zweiter Stelle die übermäßige Konzentration auf die Berufsarbeit – zu Lasten einer erfüllten Zeit mit Familie und Freunden.

Der fast 90-jährige John, den Tod vor Augen, erzählt von seiner geliebten Frau Margret, mit der er fünf Kinder großzog: Als das letzte von ihnen aus dem Haus war, bat sie den erfolgreichen Geschäftsmann, den Beruf zu quittieren und die ihnen verbleibende Zeit gemeinsam zu genießen, am liebsten auf Reisen. Am Geld fehlte es nicht, davon hatten sie längst genug.

Aber John hing am Status, an der gesellschaftlichen Rolle, die mit seiner Arbeit verbunden war. Und so vertröstete er seine Frau, die immer neue Reisepläne schmiedete, 15 Jahre lang. Endlich versprach er ihr: nur noch ein einziges Jahr. Vier Monate danach erkrankte sie schwer – und starb wenig später. »Warum hängt der Wert, den wir uns zuschreiben, so sehr von der materiellen Welt ab?« fragt sich der Witwer am Ende seines einsam verbrachten Alters ratlos. Er bereut, dass er es nicht geschafft hat, die richtige Balance zwischen dem Beruf und dem gelebten Zusammensein mit dem ihm liebsten Menschen zu finden.

Der 94-jährige Jozsef leidet nicht nur darunter, dass er vor lauter Arbeit zu wenig Zeit für seine Familie gehabt hat. Er bereut, dass er nicht fähig war, seine Nächsten spüren zu lassen, wie viel sie ihm bedeuten: Er habe sie ernährt – aber nicht mit genug Liebe. Dieses dritte der fünf Reue-Motive, »Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle zu zeigen«, ist nahe am vierten: »Ich wünschte, ich wäre mit meinen Freunden in Verbindung geblieben.« Nichts scheint im Rückblick so viel zu wiegen wie Glück und Erfüllung in menschlichen Beziehungen – oder der Mangel an beidem.

Und schließlich: »Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein«: Alles Bedauern über verfehlte Chancen fällt in diesem letzten Konjunktiv zusammen. Lebenszufriedenheit, so resümiert Bronnie Ware, hängt weniger von äußeren Umständen ab, als wir gewöhnlich denken: Wir müssen das Glück wollen und wählen.

»Reden, reden, reden«

Der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio über natürliches Sterben, schwierige Entscheidungen und Hilfe am Lebensende

Das Gespräch führten Annette Großbongardt und Rainer Traub.

SPIEGEL: Herr Professor Borasio, Sie betreuen unheilbar kranke Menschen bis in den Tod – kann der moderne Mensch nicht mehr ohne ärztlichen Beistand sterben?

BORASIO: Ganz im Gegenteil. Eine der wichtigsten Lehren aus unserer Arbeit ist die Erkenntnis, dass es am Lebensende oft – wenn auch nicht immer – auf das liebevolle Unterlassen ankommt.

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

BORASIO: Wenn der Arzt feststellt, dass der Sterbeprozess eingesetzt hat, ist es seine Aufgabe, diesen Prozess zu begleiten, ohne ihn unnötig zu stören.

SPIEGEL: Sie haben die Palliativärzte »Hebammen für das Sterben« genannt. Das ist aber nicht als Sterbehilfe gemeint?

BORASIO: Nein. Gerade Hebammen wissen, dass man bei den meisten Geburten – wenn auch nicht bei allen – gut daran tut, in den natürlichen Prozess so wenig wie möglich einzugreifen, ihn allenfalls punktuell zu unterstützen. Die meisten Sterbeverläufe kann ein geschulter Hausarzt ohne viel Intervention begleiten.

SPIEGEL: Tatsächlich kommt der Tod aber in mehr als 40 Prozent der Fälle im Krankenhaus, weitere 25 Prozent sterben in Pflegeheimen.

BORASIO: Das hat viele Gründe, ein sehr wichtiger ist der soziale Wandel. In Großstädten ist die Großfamilie zur Rarität geworden. In München etwa finden Sie über 50 Prozent Single-Haushalte. In ländlichen Gebieten ist die Familienstruktur noch anders und die Chance, zu Hause zu sterben, deshalb größer.

SPIEGEL: Umfragen zufolge würde die Mehrheit der Menschen am liebsten genau dort sterben: in vertrauter Umgebung.

BORASIO: Aber dann brauchen Sie jemanden, der sie da pflegt. Die wichtigste Voraussetzung dafür, zu Hause zu sterben, ist die, eine Tochter oder Schwiegertochter zu haben. Denn die Statistik zeigt: In aller Regel pflegen Frauen, nicht Männer.

SPIEGEL: Für medizinisch notwendig halten Sie das Krankenhaus also meist nicht?

BORASIO: Bei mindestens 80 Prozent der jährlich rund 850000 Sterbefälle in Deutschland nicht. Bei den meisten Patienten würde eine gute hausärztliche Behandlung ausreichen, um Schmerzen, Atemnot oder andere Leiden zu stillen. Hier setzt die allgemeine Palliativmedizin an. Bei 10 bis 20 Prozent der Patienten muss der Palliativmediziner zumindest beratend hinzugeholt werden. Und schließlich gibt es eine kleine Gruppe von Patienten, bei der nur die Aufnahme auf eine Palliativstation schlimme Qualen am Lebensende verhindern oder lindern kann.

GIAN DOMENICO BORASIO

Der Facharzt für Neurologie, Jahrgang 1962, ist Autor des Bestsellers »Über das Sterben« (Verlag C. H. Beck). An der Universitätsklinik Lausanne leitet er die Abteilung für Palliativmedizin. Der Name des relativ jungen Fachs kommt vom lateinischen Wort »pallium« (Mantel); es umfasst die ganzheitliche Fürsorge für unheilbar Kranke, medizinisch wie psychosozial und spirituell.

SPIEGEL: Der Rettungsmediziner Michael de Ridder klagt, der Tod habe längst seine Natürlichkeit verloren: »Es stirbt kaum jemand ohne Infusion oder künstliche Ernährung.« Hat er recht?

BORASIO: Es stimmt: Weniger wäre oft mehr. Leider wird heute in der letzten Lebensphase noch häufig übertherapiert. Nicht selten werden Schwerstkranken Medikamente verordnet, auf die man besser verzichten sollte.

SPIEGEL: Weil sie nicht helfen?

BORASIO: Weil ein krasses Missverhältnis zwischen den geringfügigen positiven Wirkungen und den zum Teil schweren Nebenwirkungen besteht, die die Lebensqualität des Sterbenden deutlich verschlechtern können. Die wirtschaftlichen Interessen der Pharmaindustrie spielen da eine zentrale Rolle.

SPIEGEL: Das ist recht pauschal, hätten Sie da ein konkretes Beispiel?

BORASIO: Ein kürzlich zugelassener Antikörper gegen eine seltene Krebsart verlängert das Leben um drei Monate, kostet pro Behandlung 100000 Euro und hat häufig schwere Nebenwirkungen. Darum erstattet das englische Gesundheitssystem, das weniger pharmahörig ist als das deutsche, die Kosten dafür nicht.

SPIEGEL: Darf man denn, wenn es um Lebensverlängerung geht, wirklich mit den Kosten argumentieren?

BORASIO: Würden alle 2000 Patienten, die an dieser Krebsart pro Jahr in Deutschland sterben (also weniger als ein Prozent der Krebstoten), mit diesem Antikörper behandelt, kostete dies die Krankenkassen 200 Millionen Euro jährlich – und die Patienten haben einen Anspruch darauf. Ließe man ähnliche Medikamente für alle tödlichen Krebserkrankungen zu, woran die Pharmaindustrie kräftig arbeitet, führte das zu Ausgaben von über 20 Milliarden Euro jährlich. Dieses Geld fehlt dann woanders: Für die ambulante Palliativversorgung im gesamten Bundesgebiet haben die Kassen im Jahr 2010 gerade einmal 56 Millionen Euro ausgegeben. Dabei verlängert die Palliativmedizin nach einer neueren Studie das Leben der Patienten ebenfalls um drei Monate – und das bei gleichzeitiger Erhöhung der Lebensqualität.

SPIEGEL: Wo ziehen Sie die Grenze, an der man aufhören sollte, Todkranke medizinisch zu behandeln – was Sie »liebevolles Unterlassen« nennen?

BORASIO: Alle Patienten sollten selbstverständlich bis zum Schluss medizinisch behandelt werden – die Frage ist nur, wie. Was sich am Lebensende ändert, ist das Behandlungsziel. Es kommt im Leben eines jeden Menschen der Punkt, ab dem es keinen Sinn mehr macht, auf eine Lebensverlängerung zu zielen. Dafür rückt die Erhaltung der Lebensqualität ganz in den Vordergrund. Diese Grenze kann durch den Krankheitsverlauf oder durch die Patienten selbst gezogen werden. Sie können zu jeder Zeit alles ablehnen, was sie nicht wollen. Nie darf der Arzt sie zu etwas nötigen. Das zu akzeptieren, fällt aber auch Angehörigen manchmal schwer. Die drängeln zum Beispiel: »Du musst etwas essen, sonst wirst du schwach« – und die armen Sterbenden zwingen sich, nicht selten der Familie zuliebe, zu essen.

SPIEGEL: Das klingt absurd.

BORASIO