Das Ende des Online Shoppings - Wijnand Jongen - E-Book

Das Ende des Online Shoppings E-Book

Wijnand Jongen

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Beschreibung

Die Digitalisierung dringt in alle unsere Lebensbereiche vor. Das Kaufverhalten der Menschen wandelt sich fundamental – im Geschäft und Online. Darauf muss der Handel reagieren. Das Ende des Onlineshoppings ist der Beginn einer neuen Ära, einer neuen Wirtschaft des vernetzten Einkaufens. Automatisierung und Roboter revolutionieren die Lagerhallen, während die Marktmacht globaler Tech-Konzerne unaufhörlich wächst. Gegen dieses Ungleichgewicht bildet sich jedoch zunehmend Widerstand. Nun sind Regierungen gefordert, Mut für einen "New Digital Deal" aufzubringen. Dieses Buch ist eine Pflichtlektüre für kritische Bürger und moderne Konsumenten ebenso wie für Politiker, Journalisten und Experten. Es bietet einen unverzichtbaren Einblick in die Zukunft des Handels, mit wertvollen Daten und Fakten. Das Standardwerk für den Handel der Zukunft und den digitalen Einkauf. Erstmals in deutscher Fassung mit umfassenden Daten & Fakten zum europäischen Markt.

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Über dieses Buch

Die Digitalisierung dringt in alle unsere Lebensbereiche vor. Das Kaufverhalten der Menschen wandelt sich fundamental – im Geschäft und Online. Darauf muss der Handel reagieren.

Das Ende des Onlineshoppings ist der Beginn einer neuen Ära, einer neuen Wirtschaft des vernetzten Einkaufens.

Automatisierung und Roboter revolutionieren die Lagerhallen, während die Marktmacht globaler Tech-Konzerne unaufhörlich wächst. Gegen dieses Ungleichgewicht bildet sich jedoch zunehmend Widerstand.

Nun sind Regierungen gefordert, Mut für einen “New Digital Deal” aufzubringen.

Dieses Buch ist eine Pflichtlektüre für kritische Bürger und moderne Konsumenten ebenso wie für Politiker, Journalisten und Experten. Es bietet einen unverzichtbaren Einblick in die Zukunft des Handels, mit wertvollen Daten und Fakten.

Das Standardwerk für den Handel der Zukunft und den digitalen Einkauf. Erstmals in deutscher Fassung mit umfassenden Daten & Fakten zum europäischen Markt.

Inhalt

Reaktionen

Vorwort zur Österreich-Edition

Einführung

1Die Onlification der Gesellschaft

2Onlife-Retail in der Smart Economy

3Verbraucher in der Sharing Economy

4Nachhaltiges Einkaufen in der Kreislaufwirtschaft

5In der Plattformwirtschaft gilt: The Winner Takes It All

6Mehr Einfluss für die Onlife-Verbraucher

7Orientierung: Der N=1-Effekt

8Auswahl – das neue Entscheidungsparadigma

9So bezahlt man morgen: Kaufen ohne Klicken in der Blockchain

10Auslieferung: Das Dilemma der letzten Meile

11Kundenbetreuung: Kundendienst wird Kundennähe

12Neue Geschäftsmodelle

13Arbeiten und Lernen im Onlife-Handel

14Der Aufstieg der vernetzten Gesellschaft

Danksagung von Wijnand Jongen

Danksagung von Rainer Will

Über die Autoren

Anmerkungen und Quellenangaben

Reaktionen

»Die Welt wandelt sich und auch der Handel befindet sich in einem Veränderungsprozess. Digitalisierung ist Chance und Herausforderung zugleich und der technische Fortschritt kommt in jedem Fall. Dieses Buch gibt einen umfassenden Einblick in den Wandel im eCommerce und die digitale Zukunft der Handelsbranche. Es behandelt die wichtigsten Technologien, die spannendsten Geschäftsmodelle und die größten Herausforderungen im Handel.«

Margarete Schramböck, Österreichische Bundesministerin fürDigitalisierung und Wirtschaftsstandort

»Dieses Buch vermittelt einen faszinierenden Überblick über künftige Entwicklungen in der Welt des Handels und den neuen Herausforderungen der Plattform-Ökonomie. Sehr empfehlenswert.«

Corinna Milborn, ProSieben.Sat1.PULS 4-Infochefin, Autorin,Journalistin, Moderatorin

»Ein geniales Buch über die Zukunft des Einkaufens, das jeden Leser auf intelligente und humorvolle Art fesselt. Absolut lesenswert!«

Johann „Hansi“ Hansmann, Business Angel,Präsident Austrian Angel Investors Association

»Ein großartiges Buch für Menschen im deutschsprachigen Raum, die sich für die Auswirkungen der Digitalisierung auf unser Einkaufsverhalten interessieren, die sowohl den Handel als auch unser Gesellschaft als Ganzes einem umfassenden Wandel unterwirft.«

Frank Hensel, Aufsichtsrat und ehem. Vorstandsvorsitzenderder REWE International AG

»Mit diesem Standardwerk des digitalen Handels zeigt Rainer Will auf, mit welchen neuen Technologien sich der Handel heute auseinandersetzen muss, um morgen noch wettbewerbsfähig zu sein. Der Blockchain kommt hierbei eine besondere Rolle zu. Wissenschaftlich fundiert und sehr lesenswert!«

Prof. Alfred Taudes, Vorstand des Instituts für Produktionsmanagement, Wirtschaftsuniversität Wien

»Auf provokante Weise führt das Buch aus, wie Händler sich in ihrem Denken von Online- und Offline-Vertriebskanälen lösen und eine kundenorientierte Sichtweise einnehmen müssen, die die Rolle der Technologie, ihre Auswirkungen auf das Verhalten der Verbraucher und die Notwendigkeit neuer disruptiver Geschäftsmodelle einbezieht. Das Buch ist eine wichtige Lektüre für alle, die in der einflussreichen und sich ständig verändernden weltweiten Handelsbranche tätig sind.«

Matthew Shay, President und CEO der National Retail Federation (USA)

»Ein fantastisches Buch für alle, die sich einen Einblick in den Wandel im E-Commerce und die Zukunft der Branche verschaffen wollen.«

Yasui Yoshiki, Gründer und CEO von Origami.com (Japan)

»Dies ist ein mitreißendes und mustergültig recherchiertes Werk für führende Kaufleute, die den Druck und die Trends, die unsere Branche durcheinanderwirbeln, verstehen und antizipieren wollen und denen es darum geht, von diesen Veränderungen im Handel zu profitieren.«

Ian Jindal, Mitbegründer und Chefredakteur von InternetRetailing (UK)

»Wenn wir wissen, wo wirsuchen müssen, können wir dasNeue sehen.«

Martin Luther King,BAPTISTENPASTOR UND BÜRGERRECHTLER

Vorwort zur Österreich-Edition

Sie haben es vermutlich schon gehört: Das Kaufverhalten der Menschen ist durch die Digitalisierung einem fundamentalen Wandel unterworfen. Neue Technologien und Kanäle ermöglichen Kauf und Konsum in jeder Lebenslage. Veränderungen scheinen immer rascher einzutreten und wir Menschen finden Werte wie Sicherheit und Vertrauen immer wichtiger, um der neuen Welt mit einem stabilen Fundament zu begegnen. Auch unserem eigenen Zuhause messen wir zunehmend mehr Wert bei, was dazu führt, dass sich Einkäufe und Produktsuchen in die eigenen vier Wände verlagern – wir nennen das »Couch-Commerce«.

Leistung spielt in einer globalisierten Arbeitswelt ebenfalls eine zentrale Rolle, die sich Konsumenten auch von ihrem Umfeld erwarten.1 Daher muss der Handel mit neuen Rezepten reagieren, um beim Kunden relevant zu bleiben. Neue Technologien bieten spannende Möglichkeiten, und deren Anwendung verändert die Art und Weise, wie wir leben, wie wir arbeiten und wie wir einkaufen. Das Menschliche – die Beratung durch das Verkaufspersonal im Geschäft – wird mit dem Unmenschlichen – dem vollautomatisierten Webshop – verglichen. Letzterer hat niemals einen schlechten Tag, es sei denn, das WiFi fällt aus.

»Transform or Die« lautet das Gebot der Stunde. Künstliche Intelligenz befasst sich mit der Automatisierung intelligenten Verhaltens und maschinellem Lernen, um uns Menschen bestmöglich zu unterstützen. Integriert in unseren Handys oder im Auto als Smart Assistants für jedes Anliegen. Die natürliche Intelligenz der einzelnen Menschen wird damit zusammengefasst, aus der Subjektivität werden objektivierbare Schlüsse gezogen. Kurzfristig nehmen wir die steigende Benutzerfreundlichkeit bei der Auswahl von Produkten und beim Einparken wahr, die langfristigen Wirkungen auf unsere Gesellschaft sind jedoch nicht absehbar und auch nicht umkehrbar. Logisches Handeln wird auf Maschinen übertragen. Humor, Kreativität, Spontanität, soziales Verhalten und die Gewichtung von Erfahrungen machen das Menschsein und das menschliche Miteinander aus, während Maschinen längst bewusst wahrnehmen und dank Algorithmen erinnerungsbasierte Entscheidungen treffen können.

Wir leben in einer Zeit, in der die digitale und die altbekannte physische Welt miteinander verschmelzen – mit unkalkulierbaren Folgen, welche die menschliche Bedürfnispyramide auf den Kopf stellen. Die positiven Entwicklungen in der Medizin oder der Verkehrssicherheit, die uns länger leben lassen, sind unbestritten. Es braucht jedoch auch eine moralische Instanz sowie klare Regularien, um die Leitplanken für den Megatrend Digitalisierung vorzugeben: Welche Funktionen sollen Maschinen künftig erfüllen und welche nicht? Wie wollen wir mit der automatisierten Verwendung von aggregierten, höchstpersönlichen Daten (Smart Data) umgehen? Eines ist klar: Der Mensch muss im Mittelpunkt des Treibens bleiben, auch in der virtuellen Realität. Dieser Begriff ist übrigens ein Oxymoron, eine Formulierung aus zwei einander widersprechenden Termini. Denn als real oder Realität wird etwas bezeichnet, das keine Illusion ist. Real ist, was in Wahrheit so ist, wie es erscheint. Die Anwendungen der virtual reality hingegen sind für unser Bewusstsein eine Illusion.

Die Digitalisierung ist heute allgegenwärtig, Online- und Smartphone-Shopping entwickeln sich dynamisch, Voice Commerce und Chatbots sind auf dem Vormarsch, die Robotik revolutioniert die Lagerhallen, der Lebensmittelhandel beschäftigt sich mit dem Trend zum Außer-Haus-Verzehr und dem Gegentrend der Regionalität, während die Marktmacht globaler Tech-Konzerne unaufhörlich wächst. Nie war das Spektrum innovativer Technologien breiter, aber: Don‘t Believe the Hype! Viele hochgejazzte Technologien werden sich in den nächsten Jahren nicht durchsetzen. Erfolgreich werden sich jene entwickeln, die Menschen durch Ökosysteme – also neue (digitale) Lebensräume – miteinander verbinden und Nutzen stiften. Diese Lösungen müssen aber nicht zuletzt aufgrund neuer Machtkonzentrationen auch kontrolliert werden. Nur: Wer beaufsichtigt eigentlich die Beaufsichtiger? Ein möglicher Lösungsweg liegt in dezentralen Ansätzen, so der Grundgedanke der Blockchain. Details dazu erfahren Sie ebenfalls in diesem großartigen Buch von Wijnand Jongen, welches ich für Österreich und die gesamte DACH-Region ergänzen und erweitern durfte.

Eines ist bereits klar: Das Internet und der digitale Wandel haben internationale Online-Händler wie Amazon oder Alibaba – auch dank mangelnder Regulierung – unter die erfolgreichsten Unternehmen der Welt katapultiert. Diese Digital Champions aus den USA und China genießen zurzeit wie zahlreiche andere multinationale Konzerne derart viele Wettbewerbsvorteile im Vergleich zu mittelständischen europäischen Unternehmen, dass dies in der Rückschau schon in wenigen Jahren als völlig unverständlich gelten wird. Neben einer potenziell marktbeherrschenden Stellung – durch die Kumulation unterschiedlichster Geschäftsbereiche wie Online-Handel, stationärer Handel, Marktplatz-Handel, Big Data, Streaming, Cloud Dienstleistungen, Mobility und personalisierte Werbung – dürfen sich digitale Mischkonzerne dieser Größenordnung auch über unzählige Steuergeschenke freuen. So bezahlte Amazon in den USA in den letzten zwei Jahren nicht einen einzigen Cent an Gewinnsteuern. Im Gegenteil, 2018 lag die Steuerrate des erfolgreichsten Online-Händlers der Welt bei -1 Prozent: Amazon erhielt eine Steuergutschrift von 129 Millionen Dollar, obwohl das Unternehmen seinen Gewinn von 5,6 auf 11,2 Milliarden Dollar verdoppelt hatte.2 Nationale Verbraucherrechte werden derzeit im Bereich der Preisauszeichnung bei Sprachassistenten umgangen, um in Preisvergleichen günstiger abzuschneiden. Mangelnder Vollzug ist auch auf dem Gebiet der Verpackungen ein Grund, weshalb die einen das Geschäft machen und die anderen dafür zahlen – in dem Falle die Entsorgung, aber dazu später mehr.

»Handel völlig neu denken« – das ist das Gebot der Stunde, so heißt es. Nicht nur von den Händlern auf unseren Einkaufsstraßen, sondern auch von der Politik, um nach langen Jahren wieder ein Fair Play herzustellen. Angesichts des rasanten Siegeszugs globaler Plattformen müssen sich traditionelle Händler mit analoger DNA dringend neue Konzepte überlegen. Dafür braucht es jedoch auch faire Spielregeln. Sind diese einmal etabliert, ist eine Kriegskasse wichtig, um innovative Landebahnen in die Zukunft bauen zu können. Trotz des eCommerce-Booms verzeichnet heute in Österreich nur noch ein Bruchteil der 9.000 Austro-Online-Shops Umsatzzuwächse. Die Konzentration und die Dominanz von Amazon steigen hingegen immer weiter. Alles scheint auf ein neues »binäres System der Macht« hinauszulaufen: Entweder hat man »0« – also nichts, oder »1« – also alles. Dazwischen gibt es kaum mehr Spielraum, weder in der Kundenrelevanz noch in der Erfolgsbilanz.

Mittlerweile wird in der Alpenrepublik fast jeder zweite Euro im eCommerce beim Marktführer aus Seattle ausgegeben, auch in Deutschland sieht die Lage ähnlich aus. Doch nun regt sich langsam Widerstand gegen Amazon und Co. Sowohl die EU-Kommission als auch zahlreiche nationale Regierungen etwa in Schweden, Deutschland und Österreich planen, ihre kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) – das Rückgrat der europäischen Wirtschaft – vor der Macht der Tech-Giganten zu schützen. Höchste Zeit, denn der internationale eCommerce sollte nicht länger als Steuerparadies für asiatische und US-amerikanische Online-Händler instrumentalisierbar sein.

In der Europäischen Union haften beispielsweise führende eCommerce-Plattformen wie Amazon, eBay, AliExpress (Alibaba) oder Wish in der Regel nicht für die korrekte Abführung der Mehrwertsteuer auf erzielte Umsätze von gelisteten Marktplatz-Händlern aus Drittstaaten. Aufgrund von Steuerumgehungs- und -hinterziehungsmaßnahmen kämpft die EU mit einer Mehrwertsteuerlücke von mehr als 12 Prozent, allein in Österreich liegt der Entgang bei mindestens sieben Prozent der gesamten MwSt-Einnahmen.3 Neben dem Steuerentgang für den europäischen und österreichischen Fiskus verschafft dieser Umstand multinationalen Konzernen einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil: Produkte können wesentlich billiger angeboten bzw. Gewinne durch das Nichtabführen der Steuer gesteigert werden.

Großbritannien und Deutschland haben daher bereits eine Plattformhaftung für nicht abgeführte Mehrwertsteuer eingeführt. Die britischen Finanzbehörden schätzen die Mehreinnahmen auf eine Milliarde Pfund pro Jahr. Auch das deutsche Modell verpflichtet Plattformen, bestimmte Informationen (z. B. die UID-Nummer) über die gelisteten Händler festzuhalten, aufzubewahren und auf Anforderung dem Finanzamt zu übermitteln. Dies ermöglicht es der Finanzverwaltung, zu prüfen, ob der liefernde Händler seinen steuerlichen Pflichten nachkommt. Ein erster Schritt Richtung »FairCommerce«, hoffentlich folgen viele weitere. Der österreichische Handelsverband verfolgt die Vision von digitalen Marktplätzen, auf denen Konsumenten zu transparenten, fairen Preisen von verschiedenen Händlern beziehen können. Letztere sollten aber ebenso faire vertragliche Rahmenbedingungen vorfinden. Daher haben wir im Dezember 2018 als erste Organisation in Österreich eine Beschwerde gegen Amazon bei der Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) eingebracht. Im Februar 2019 hat die BWB allen Punkten stattgegeben und offiziell ein Ermittlungsverfahren wegen mutmaßlich missbräuchlichen Geschäftsbedingungen und Verhaltensweisen auf dem Amazon Marketplace eingeleitet. Ein Schritt, der übrigens laut einer aktuellen Umfrage von 82 Prozent aller Österreicher positiv bewertet wird.4 Auslöser für das Verfahren der Bundeswettbewerbsbehörde waren zahlreiche Beschwerden von Händlern über die Geschäftspraxis von Amazon, die der Handelsverband als Interessenvertretung des gesamten österreichischen Handels über mehrere Jahre hinweg gesammelt hat. In Deutschland und Frankreich ermitteln die Behörden zurzeit ebenfalls gegen Amazon, auch die EU-Kommission untersucht die Doppelrolle des Konzerns im Kontext einer mutmaßlich wettbewerbswidrigen Dateneinsicht. An welchen Maßnahmen die OECD, die EU und die einzelnen Mitgliedsstaaten zurzeit sonst noch arbeiten und welche Lösungsvorschläge der österreichische Handelsverband hierzu entwickelt hat, erfahren Sie in den Kapiteln 10 und 12 dieses Buches.

Vor nicht allzu langer Zeit dachten viele in Europa bei Industrie 4.0 an Schraubenschlüssel, während die Innovatoren in Übersee längst auf Plattformen, Artificial Intelligence und Algorithmen setzten. Das hat sich geändert. Innovative neue Geschäftsmodelle werden entwickelt – auch in Europa, auch im Handel. Customer Centricity lautet das Ziel – der Weg dorthin führt über modernste Technologien. Der Wandel ist auch hierzulande spürbar. Überall in Österreich, Deutschland und der Schweiz sprießen Start-up-Acceleratoren aus dem Boden, Gründen gilt plötzlich als sexy, und Wien, Berlin und Zürich haben sich als Hotspots für New-Retail-Entwicklungen etabliert. Ein Hauch von Silicon Valley weht durch die DACH-Region – und das ist gut so.

Um künftig im globalen Wettbewerb noch relevant zu sein, investieren europäische Handelsunternehmen massiv in IT und Fachkräfte – irgendwer muss es ja auch umsetzen. Betriebe werden um erfolgskritische Funktionen organisiert, mit dem Chief Digital Officer (CDO) als entscheidendem Knoten. CDOs haben Führungskompetenz, technisches Wissen, verstehen Zusammenhänge und leiten Digitalisierungsprojekte. Einige Händler gehen sogar noch einen Schritt weiter und setzen auf den Chief Cyborg Officer (CCO). Häufig sind Unternehmen aber auf Selbsterhaltung programmiert und nicht auf Transformation. Gleichzeitig verschmelzen im Handel Einkauf und Verkauf zur Querschnittsmaterie. Alles, was automatisiert werden kann, wird automatisiert. Lehrlinge und Mitarbeiter müssen trainiert werden, damit sie auch künftig zur Wertschöpfung beitragen können – denn gute Mitarbeiter werden auch in der schönen neuen Retail-Welt immer gefragt sein.

Der Faktor Bildung ist hierfür entscheidend. In einer hochtechnologisierten Welt sind schlaue Köpfe und geniale Ideen die wichtigste Währung. Hier braucht es mehr Exzellenz, lebenslanges Lernen und ein durchlässiges, flexibleres Schulsystem, um mutige, neugierige und kreative junge Menschen hervorzubringen und Individualtalente zu fördern, unabhängig von deren Herkunft. Daher suchen die Handelsunternehmen dringend Persönlichkeiten mit Weitblick, die alte Hierarchien aufbrechen, einen Fuß in der physischen Welt und einen in der digitalen Welt haben wollen. Hier läuft gerade ein »War for Talents«, ein Wettbewerb um die besten Köpfe, denn Digitalisierung heißt auch Kulturwandel. »Stay hungry, stay foolish« – der Leitspruch von Apple-Gründer Steve Jobs, gilt heute mehr denn je. Wer bei diesem Wettbewerb die Nase vorne haben wird, welche Strategien zum Erfolg führen und was die vom Handelsverband initiierte E-Commerce-Lehre dazu beiträgt, können Sie in Kapitel 13 nachlesen.

Wussten Sie, dass Österreich in Relation zur Bevölkerung die meisten Weltmarktführer beherbergt? Mit seinen 8,8 Millionen Einwohnern zählt das Land im Zentrum Europas zu den lebenswertesten Regionen der Erde, und seine Unternehmen spielen in der Champions League. Allen Untergangsszenarien zum Trotz hat Österreich die Weltwirtschaftskrise hervorragend überstanden und vieles richtig gemacht. Wir sollten uns aber nicht darauf ausruhen, denn wer aufhört, besser zu werden, hat bekanntlich aufgehört, gut zu sein. Die internationale Konkurrenz schläft nicht. Hinzu kommt: Österreich ist ein Land mit extremer Regulierungsdichte und zu viel Bürokratie. Für den Handel – mit 600.000 Beschäftigten zweitgrößter Arbeitgeber und eine der wichtigsten Säulen der Volkswirtschaft – haben sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren kaum verbessert. Händler, die in Zeiten des digitalen Wandels in einem beinharten globalen Wettbewerb stehen, sehen sich mit immer neuen Auflagen und Gesetzen konfrontiert, die ihre Entwicklung behindern. So müssen sie ständig mit angezogener Handbremse fahren, während die Mitbewerber aus Drittstaaten mit Vollgas und fast unreguliert agieren können. Beispiele gefällig?

In den 1970er-Jahren entstanden in Österreich die ersten Shopping Center auf der grünen Wiese. Damit wurde auch eine rechtliche Entwicklung angestoßen: Raumordnungsgesetze sollten die negativen Auswirkungen der Einkaufszentren (EKZ) – etwa die Schwächung der Ortszentren – in Grenzen halten. Im Laufe der Jahre wurden diese Regelungen immer strenger, zum Leidwesen der heimischen Handelsunternehmen. Heute gelten für nahezu alle Geschäftsbauten des stationären Handels weitgehende Standortrestriktionen, die im Raumordnungsgesetz des jeweiligen Bundeslandes festgelegt sind. So dürfen etwa Supermärkte in manchen Bundesländern außerhalb von dicht bebauten Ortszentren nicht oder nur mehr sehr eingeschränkt errichtet werden. Das Problem: Standorte in Ortszentren sind oft aus betriebswirtschaftlicher Sicht ungeeignet. Hinzu kommt, dass etwa die Raumanforderungen und die Betriebsweise moderner Geschäfte – von der Warenanlieferung bis zu den Emissionen durch Kühlaggregate – eine Einbettung in die Ortskerne erschweren.

Regelungen wie die Verkaufsflächenbeschränkung oder die Beschränkung auf Ortszentren verhindern immer häufiger, dass Geschäftsbauten überhaupt noch errichtet werden können, und konterkarieren damit das Ziel, die Nahversorgung sicherzustellen und Zentren zu erhalten. In zahlreichen Gemeinden in Tirol, Kärnten oder Niederösterreich werden dadurch de facto alle geeigneten Standorte rechtlich ausgeschlossen. Darüber hinaus privilegiert die Raumordnung den Online-Handel, und zwar ohne vernünftigen Grund. Denn dessen Auslieferungslager sind nicht von den Beschränkungen betroffen. Durch die Raumordnung wird also der Druck auf den stationären Handel noch verstärkt, während Amazon und Co. ihre logistische Expansion im Großraum Wien vorantreiben. Die veraltete Raumordnung kostet Österreich bis zu 6.800 Arbeitsplätze und eine Bruttowertschöpfung von 493 Millionen Euro. Stadtkerne verlieren auch bei Omnichannel-Händlern – all jene, die neben der Verkaufsfläche, welche dem Konsumenten mit guten Parkmöglichkeiten zugängig sein sollte, auch Lagerflächen für die Warenlagerung und den Versand brauchen. In Zeiten der Smart Economy (Kapitel 2), der Sharing Economy (Kapitel 3) und der Circular Economy (Kapitel 4) ein absolutes No-Go.

Apropos Circular Economy: Auch in der Kreislaufwirtschaft haben globale E-Commerce-Plattformen derzeit in vielerlei Hinsicht Freifahrt. Der Online-Shopping-Trend bringt immer mehr Altpapiercontainer zum Überquellen. In Deutschland und Österreich sind sie mittlerweile zu rund 70 Prozent mit Kartons vollgestopft. Eine gesetzliche Verpflichtung, Kartons zu falten oder bei Übergröße am Recyclinghof abzuliefern, gibt es derzeit nicht. Doch wer zahlt eigentlich für die Entsorgung? Kleiner Tipp: Es sind nicht die Webshops und Marktplätze aus Drittstaaten. Grundsätzlich ist die Regelung in Österreich klar: Die Konsumenten zahlen per Abfallgebühr bei der Gemeinde für den anfallenden Müll und dessen Entsorgung. Für Verpackungen jeder Art muss aber nicht der Konsument bezahlen, sondern der sogenannte »In-Verkehr-Bringer«. Das ist bei österreichischen Produkten der Hersteller oder Verpacker, bei importierter Ware oder Eigenmarken der Händler.

Zwar sind theoretisch auch Online-Händler verpflichtet, für die Entsorgung ihrer Verpackungen zu bezahlen, in der Praxis gestaltet sich die Einhebung jedoch schwierig. Während also ein stationärer Händler für jede in seinen Regalen stehende Papierverpackung ein »Entpflichtungsentgelt« leisten muss (wenn dies der Produzent nicht nachweislich bereits getan hat), ist dies im Cross Border eCommerce kaum nachvollziehbar – und Sanktionen fehlen. Folglich bleibt am Ende mehr Verpackungsmaterial als bezahlt in der Tonne, und das erhöht wiederum die Gebühren für all jene, die in das System einzahlen. Österreichweit müssen rund 190 Millionen Euro jährlich an Entpflichtungsentgelt für Verpackungen bezahlt werden.5 Es kann doch nicht sein, dass die einen das Geschäft machen und die anderen dafür zahlen.

Die wachsende Paketlawine aus dem Online-Handel stellt auch für Logistikunternehmen und Kurier-, Express- und Paketdienste wie Post, DHL, DPD, GLS oder Hermes eine massive Herausforderung dar. 209 Millionen Pakete wurden 2017 in Österreich verschickt, 2018 dürften es bereits mehr als 230 Millionen gewesen sein. Die Zusteller reagieren darauf mit allerlei Innovationen – von intelligenten, vollautomatisierten Verteilerzentren über die Auslieferung per Roboter oder Drohne bis hin zu 3D-Druck und Social Delivery reicht die Palette. Welche Technologien die letzte Meile tatsächlich revolutionieren werden und was es mit dem berühmt-berüchtigten Weltpostvertrag auf sich hat, lesen Sie in Kapitel 10.

Sie sehen, Retail ist im Umbruch. Die Zahl der Geschäfte, die Kundenfrequenz und das Ausmaß der Verkaufsflächen stagnieren oder gehen zurück. Der E-Commerce ist in der gesamten DACH-Region die treibende Kraft hinter dem Umsatzwachstum im Handel. Zuletzt generierte der Vertriebskanal in Österreich um +14 Prozent höhere Privatausgaben als noch im Vorjahr. Der Online-Handel wächst zurzeit 10-mal so schnell wie der stationäre Handel, eine baldige Stagnation ist nicht in Sicht.6 Im Gegenteil: Künftig könnte jeder dritte Euro im österreichischen Handel online erwirtschaftet werden. Aktuell liegt der Online-Anteil an den gesamten einzelhandelsrelevanten Ausgaben hierzulande allerdings erst bei rund 8–10 Prozent. Auch die Ertragssituation im E-Commerce ist weniger dynamisch, hohe Retourenquoten nach erfolgter Zustellung und gewichtige Investition mit laufenden Kosten der Webshop-Optimierung zeigen. Das Geld liegt (noch) auf der Straße, nicht im Web. Wobei Online-Shopping eine Altersfrage ist: Je jünger die Konsumenten, desto häufiger shoppen sie im Netz – und zwar bevorzugt am Smartphone und auf den Marktplätzen von Amazon und Alibaba.

Die Konsequenz? Der Datenschatz der beiden weltgrößten Online-Händler wird immer umfangreicher. Amazon und Alibaba sind eigentlich keine Händler mehr, sie sind in erster Linie Datenkonzerne mit angeschlossenem Warenlager – digitale Mischkonzerne, die unsere physische Welt erobern. Mittlerweile besitzt allein Amazon die Kundendaten von 93 Prozent aller österreichischen Online-Shopper. Damit kann das Unternehmen sein Angebot noch zielgerichteter und personalisierter auf die heimischen Konsumenten ausrichten und so den Abstand zur Konkurrenz sukzessive erweitern. Bereits heute fließen rund 4 Milliarden Euro an Online-Umsätzen unmittelbar ins Ausland ab – der Großteil an den Konzern von Jeff Bezos, seines Zeichens reichster Mensch auf dem Planeten. Damit finanzieren österreichische Konsumenten mehr als 20.000 Arbeitsplätze in anderen Ländern, und die Zahl steigt progressiv.

Trotz aller Verschiebungen Richtung E-Commerce, M-Commerce und Voice-Commerce: Mehr als neun Zehntel der Umsätze im Handel werden nach wie vor auf der Fläche erwirtschaftet. Doch das dynamische Wachstum globaler E-Commerce-Plattformen (Kapitel 5) ist für den Mittelstand eine enorme Herausforderung. Die Digitalisierung verändert aber auch unser Einkaufsverhalten fundamental, das zeigt Wijnand Jongen im vorliegenden Buch eindringlich. Egal, ob stationärer Handel oder E-Commerce, wir Konsumenten wollen besten Service, breite Warenverfügbarkeit, Click&Collect und bequeme Zustellung mit Bestpreisgarantie.

Die sogenannte Customer Journey (Kapitel 6 bis 10) – also die Reise des Kunden vom Erstkontakt bis zum Kauf eines Produktes und darüber hinaus – ist so komplex wie nie zuvor. Waren die einzelnen Phasen des Kaufentscheidungsprozesses, die ein Kunde durchläuft, früher linear und auf wenige Berührungspunkte beschränkt, müssen Händler heute möglichst alle Touchpoints in Echtzeit bespielen. Moderne Kunden sind »Empowered Customers« oder »Onlife-Konsumenten«, die sich ihrer Selbstbestimmung auf dem Markt und der sich bietenden Auswahlmöglichkeiten klar bewusst sind. Umso entscheidender sind schnelle, zielsichere Erkenntnisse auf Unternehmerseite. Eine vollständige Journey beginnt noch bevor der Kunde überhaupt einen Bedarf entwickelt hat und geht über den Kauf eines Produktes oder die Inanspruchnahme einer Dienstleistung weit hinaus – weil der Kunde seine Erlebnisse mit anderen teilt oder bei Problemen wieder mit dem Händler in Kontakt treten möchte.

Der klassische Einzelhandel hat darauf reagiert: Neue Ladenkonzepte, innovative Beleuchtungssysteme, Instore-Navigation und Gamification-Elemente sollen ein Shopping-Erlebnis mit Wow-Effekt garantieren. Es geht jetzt darum, Flächen zu Smart Stores – zu digitalen Schaufenstern mit IoT-Sensoren und Kameras – zu machen. Investitionen in physische Shops zahlen sich aus, allein 2018 haben sich die Brutto-Umsätze im stationären Einzelhandel in Österreich um +1 Prozent auf 71,7 Milliarden Euro erhöht.7 Warum die Fläche in Österreich, in Deutschland und in ganz Europa Zukunft hat und wie die Neuerfindung des stationären Handels aussehen könnte, erfahren Sie in Kapitel 1.

Last but not least kommen wir zur Königsdisziplin im E-Commerce – dem Lebensmittel-Distanzhandel. Aktuell werden österreichweit weniger als 2 Prozent aller Lebensmittel online bestellt, bei frischen Lebensmitteln sind es lediglich 0,6 Prozent. Aber: In Großbritannien liegt der Anteil bereits bei einem Sechstel. Hierbei gilt: Je höher die Zufriedenheit mit der Zustellung, desto höher ist auch die Wiederkaufbereitschaft. Die größte Herausforderung liegt nach wie vor in der Frische, denn der Transport frischer Ware ist extrem anspruchsvoll. Läuft etwas schief, wirft das einen Schatten auf die gesamte Lieferkette. Hinzu kommt die Crux, mit Online-Shops für Lebensmittel tatsächlich Gewinne zu erwirtschaften – das gelingt zurzeit fast niemandem. Vermutlich werden wir uns die Wurstsemmel für die Mittagspause auch in Zukunft eher im Supermarkt ums Eck holen als im Netz.

Für global agierende Lebensmittel-Onlinehändler, die mit neuen Formen der Zustellbarkeit experimentieren, stellen die österreichischen Handelsstrukturen mit dem starken Fokus auf Filialen und den hochprofessionellen Webshops von Billa, Spar und Co übrigens eine heftige Markteintrittsbarriere dar. Das ist mit ein Grund dafür, dass etwa Amazon mit seinem Lebensmittel-Zustellservice Amazon Fresh noch nicht in Österreich aktiv ist. In Deutschland ist der Service seit zwei Jahren in ausgewählten Städten verfügbar – bislang mit überschaubarem Erfolg.

Wohin man auch sieht, die Herausforderungen der Digitalisierung sind gewaltig, die Chancen ebenso. Entscheidend ist, das eigene Geschäftsmodell zukunftsfähig zu gestalten, neue Konzepte zu entwickeln und die richtigen Fragen zu stellen: Wie lange können wir es uns angesichts der drohenden Klimakrise noch leisten, unser Wirtschaftssystem auf ständiges Wachstum zu trimmen? Kann die beschleunigte technologische Entwicklung Richtung Singularität unser gesamtes System verändern? Wird die Digitalisierung hierzulande tatsächlich rund 360.000 Jobs gefährden, wie das IHS prognostiziert?8 Laut ZEW sind mittelfristig 12 Prozent der Jobs in Deutschland und Österreich durch Automatisierung gefährdet. Österreich wird besonders stark betroffen sein, so eine aktuelle OECD-Studie, weil viele niedrig und mittel qualifizierte Arbeitskräfte aktuell noch leicht zu automatisierende Tätigkeiten ausüben.9 Eingedenk der Tatsache, dass Arbeitsplätze nach wie vor der wichtigste Mechanismus zur Schaffung von Kaufkraft in der Bevölkerung sind und die nächste Disruption in den Industriestaaten den Dienstleistungssektor betreffen wird, wo die meisten Arbeitnehmer beschäftigt sind: Wer wird künftig konsumieren? Roboter jedenfalls nicht. Und: Wie viele Arbeitsplätze würden verloren gehen, wenn wir nicht auf Digitalisierung setzen? Mehr dazu in Kapitel 13 und 14.

Der Handelsverband wird als freie Interessenvertretung aller österreichischen Handelsunternehmen weiterhin sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene für faire Spielregeln im Sinne der heimischen Händler kämpfen – die 600.000 Mitarbeiter beschäftigen, Steuern entrichten und sich an den Abgaben beteiligen, welche unseren Sozialstaat sowie die Infrastruktur unserer Städte und Regionen finanzieren. Der Handel will seiner Mission gerecht werden: dem Konsumenten nahe zu sein, um seine Bedürfnisse bestmöglich zu befriedigen. Ein konstruktiver Dialog ist die Basis – mit den Händlern, der Politik, der Wissenschaft, den globalen E-Commerce-Marktplätzen und nicht zuletzt mit den Verbrauchern. Wir konnten in den vergangenen Monaten zahlreiche Erfolge für den Handel und seine Beschäftigten erzielen. Doch vieles bleibt noch zu tun, und das geht nur gemeinsam, Arbeitnehmer und Arbeitgeber im Sinne des Arbeitsplatzes Österreich. »Think Retail Different« heißt das Credo – denn nur eines ist gewiss: die Veränderung. Die europäischen Handelsbetriebe haben ihre Wandlungsfähigkeit immer wieder bewiesen. Wir müssen uns mit der Digitalisierung auseinandersetzen, aber auch unseren kritischen Geist bewahren. Ich bin überzeugt, gemeinsam werden wir das Beste aus den neuen Herausforderungen machen. Wenn dieses Buch einen kleinen Beitrag hierzu leisten kann, dann ist ein erster wichtiger Schritt getan.

Rainer Will, Februar 2019

Einführung

Gegenwärtig zeichnet sich ein neues Wirtschaftsparadigma ab – eine Form des Handels, die Online und Offline zusammenführt: der Onlife-Handel. Der Onlife-Handel fußt auf vier neuen und sich gegenseitig verstärkenden Entwicklungen, die jeweils eine eigene Dynamik haben: die Smart Economy, die Sharing Economy, die Circular Economy und die Platform Economy. Es ist die Synergie dieser verschiedenen »Bewegungen«, die zu enormen sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen führen wird.

In den letzten Jahrzehnten haben wir zahllose Neuerungen mit offenen Armen willkommen geheißen, darunter etwa das World Wide Web, E-Mail, Social Media oder Big Data, um nur einige zu nennen. Wir haben uns mit Begeisterung auf das mobile Internet, Smartphones, die Cloud und Online-Shopping eingelassen – gerade Letzteres ist zum täglichen Zeitvertreib von Millionen Menschen auf der ganzen Welt geworden. Die Auswirkungen der Technologie auf den Handel sind beispiellos, und der Verkauf von Konsumgütern und Dienstleistungen hat sich nachhaltig verändert.1

Praktisch jedes Geschäftsfeld in der westlichen Welt steht am Beginn einer Transformation, die von der alten Wirtschaftsordnung wegführt und neue Realitäten schafft. Natürlich bleibt nichts und niemand von den Auswirkungen der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft verschont.

Ich beobachte die Entfaltung des Online-Shoppings bereits seit Mitte der 90er-Jahre – zunächst aus der Sicht eines Unternehmers, später dann als E-Commerce-Referent in den Niederlanden, Europa und der ganzen Welt.

Und von Anfang an habe ich die Skepsis traditionsbewusster Unternehmer und das Zögern von Regierungen und weiteren Interessengruppen erlebt. Gleichzeitig gab es immer viele zumeist junge Unternehmer, die Euphorie verströmten und einfach dafür brannten, über ihre Ideen für neue Projekte und Geschäftsmodelle zu sprechen.

Seither wurden maßgebliche Kräfte und (politische) Entscheidungsträger durch den Transformationsprozess und die Auswirkungen auf die Handelsbranche aufgeschreckt. Überall auf der Welt versuchen die Regierungen mutig, den Umbruch mittels verschiedenster Initiativen in den Griff zu bekommen. Schließlich sollten Regierungen, Händler, Reiseveranstalter, Banken und Versicherungen in der Lage sein, sich den rasant verändernden Bedürfnissen der Verbraucher anzupassen. Und zwar nicht nächstes Jahr oder nächste Woche, sondern möglichst heute und in diesem Moment.

Im vorliegenden Buch zeigen wir, wie die Handelsbranche derzeit umgekrempelt wird – als Teil der Gesellschaft und als Teil der Wirtschaft. Kapitel 1 bildet die Grundlage dieser Beschreibung: Hier wird die Onlification der Gesellschaft beschrieben. In den Kapiteln 2 bis 5 werden die vier neuen Wirtschaftsformen beleuchtet und verschiedene Chancen und Risiken behandelt, die sich daraus ergeben. Danach wenden wir uns dem neuen Onlife-Kunden und der neuen Customer Journey mit ihren Merkmalen zu, die unser gegenwärtiges Vorstellungsvermögen häufig überschreiten. Händler wie Dienstleister müssen sich neu erfinden – durch den Einsatz neuer Geschäftsmodelle und Organisationsstrukturen. Im letzten Kapitel wird schließlich ein Überblick über die vernetzte Gesellschaft gegeben und aufgezeigt, welche unendlichen Chancen sich dem Handel in der aufstrebenden Onlife-Welt bieten.

Machen wir uns an die Arbeit!

»Der reine E-Commerce wird zum traditionellen Geschäft gestutzt und durch das Konzept des New Retail ersetzt: die Integration von Online, Offline, Logistik und Daten im Rahmen einer einzigen Wertschöpfungskette.«

Jack Ma,

GRÜNDER VON ALIBABA1

1

Die Onlification der Gesellschaft

Ich erinnere mich noch genau an die erste E-Mail, die ich je verschickt habe, und an den Stolz, den ich jedes Mal empfand, wenn ich mir das neueste Nokia-Modell gekauft hatte. Als Apple das iPhone und später das iPad auf den Markt brachte, gehörte ich zu den Ersten, die sich dafür anstellten. Heute dagegen müssen Sie nur einen flüchtigen Blick in die Zeitung werfen, um zu erkennen, wie viele tief greifende Veränderungen uns bevorstehen.

In diesem Buch werden die Entwicklungen beschrieben, die auf den Einzelhandel zukommen. Sie sind – nebenbei bemerkt – Teil eines wesentlich breiter angelegten Musters: einer Transformation, die die gesamte Gesellschaft betrifft. Die überwältigende Akzeptanz und die flächendeckende Nutzung des Internets haben dazu geführt, dass das Leben der Menschen mehr denn je online stattfindet.2 In diesem Buch wird für dieses Phänomen der Begriff »onlife« verwendet.

Was also ist onlife?

Der Begriff wurde durch den italienischen Philosophen Luciano Floridi geprägt. 2012 machte die Europäische Kommission ihn zum Vorsitzenden eines europäischen Think Tanks, der sich mit den Auswirkungen der digitalen Revolution auf unsere Denkweise befassen sollte.3 In The Onlife Manifesto stellten Floridi und sein Team fest, dass die Unterscheidung zwischen Online- und realem Leben immer undeutlicher und irgendwann wohl ganz verschwinden wird.4 Das Hier (analog, offline) und das Dort (digital, online) werden zu einem einzigen Onlife-Erlebnis verschmelzen.5

Die Onlification Revolution

In den letzten Jahren hat praktisch jeder sein Festnetz- oder Mobiltelefon durch ein Smartphone ersetzt, wir nutzen in unseren Autos GPS-Navigationssysteme, um uns zurechtzufinden, die Wikipedia hat nach und nach die Enzyklopädie abgelöst und Google Earth Atlanten obsolet gemacht. Bankgeschäfte erledigen wir mit Apps, und ellenlange Texte übersetzen wir mit Google Translate, statt uns mit einem Wörterbuch daran abzuarbeiten. E-Reader und Tablets haben auf unserem Schoß ein bequemes Zuhause gefunden, und Musik, Filme und Fernsehsendungen streamen wir einfach auf Abruf, wann immer wir Lust dazu haben.

Aber in Wirklichkeit ist das erst der Anfang. In den letzten zehn Jahren haben wir unser soziales Leben völlig neu definiert. Wir nutzen neue Wege, um Probleme zu lösen, einander zu helfen oder Entscheidungen zu treffen.6 Die simple Tatsache, dass so viele Marken als Verben Eingang in die Sprache genommen haben, ist ein Hinweis darauf, wie viel sich verändert hat.7 Beispiele gefällig? Tweeten, Skypen, Snapchatten, WhatsAppen oder Instagrammen sind als umgangssprachliche Ausdrücke allgegenwärtig. Sogar meine Schwiegermutter – und sie ist mittlerweile 90 Jahre alt – weiß, wie man googelt, per Tablet mit den Kindern und Enkeln kommuniziert und Bankgeschäfte online erledigt. Jüngste Forschungen in den USA haben ergeben, dass Menschen, die online aktiv sind, länger leben.8 Das liegt nicht nur daran, dass ein aktives soziales Leben sich positiv auf den gesundheitlichen Allgemeinzustand auswirkt, sondern es hat sich auch gezeigt, dass Menschen, die mehr Freundschaftsanfragen stellen, noch länger leben.9

Soziale Netzwerke stellen offenbar eine Kommunikationsmöglichkeit dar, die den sehr menschlichen Drang befriedigt, sich zu präsentieren und Spuren zu hinterlassen.10 Der Soziologe Barry Wellman bezeichnet dies als vernetzten Individualismus: »Auch wenn wir unabhängiger denn je sind und immer stärker zum Individualismus neigen, wollen wir dennoch Teil einer Gemeinschaft sein.11 Menschen sind nicht süchtig nach dem Internet oder nach Gadgets, sondern nach anderen Menschen und der Erfüllung ihrer sozialen Bedürfnisse – hier und jetzt.«12

Online-Generationen

Für Millenials – die auch als Generation Y bezeichnet werden, also die 1980 und 1995 Geborenen – ist das Onlife-Erleben etwas mehr oder minder Alltägliches. Sie sind mit Computern, Handys, iPods und Videospielen aufgewachsen und waren die Ersten, die aus Gewohnheit online einkauften.

Die Angehörigen der Generation Z – d. h. die Jahrgänge nach 1995, die manchmal auch als »iGeneration« bezeichnet werden – sind schon einen Schritt weiter. Als »Verbraucher von morgen« können sie sich eine Welt ohne Internet nicht einmal vorstellen. Sie sind mit sozialen Netzwerken ebenso groß geworden wie mit den Spielen ihrer Kindheit, bei denen sie sich mit anderen Menschen auf der ganzen Welt vernetzt haben. Millennials und die Generation Z sind die Early Adopters neuer Technologien und Möglichkeiten. Sie verwenden Wörter wie »online« oder »Internet« kaum. Für sie ist es selbstverständlich, rund um die Uhr im Netz zu sein.

Die Generation X (die 35- bis 50-Jährigen) verbringt ebenso wie die Babyboomer (zwischen 45 und 65) mehr Zeit online als je zuvor und auch die jetzige Rentnergeneration (über 65 Jahre) ist dabei. Viele dieser Menschen, die mit Schreibmaschinen, Desktop-Computern, quälend langsamen Internetverbindungen per DFÜ und analogen Mobiltelefonen aufgewachsen sind, haben sich den geänderten Umständen und Möglichkeiten angepasst – und tun dies schneller als je zuvor.

Die Technologie wartet auf niemanden. Ohne zu überlegen, fangen die Leute einfach an, neue Maschinen und Geräte im Alltag einzusetzen. Veraltete Thermostate werden gegen »smarte« Geräte getauscht, mit denen sich der Energieverbrauch ferngesteuert anpassen lässt. Die alten Waschmaschinen müssen Platz für neue machen: Geräte, die quasi instinktiv wissen, wann die beste – weil kostengünstigste – Zeit zum Wäschewaschen ist. Altmodische Fernseher werden durch interaktive Smart-TVs ersetzt, die Online-Filme und -Musik, Zugang zu den sozialen Netzwerken und Möglichkeiten zur Kommunikation untereinander bieten.

All diese Technologien sind über das Internet vernetzt: mit den Menschen – also mit uns –, aber auch untereinander, mit anderen Technologien, anderen Geräten, elektronischen Gadgets und Heimgeräten wie etwa Smarthome-Laut- sprechern. Dies sind die ersten Anwendungen des Internet of Things (Internet der Dinge, IoT) in unseren Wohnungen. Für sie alle gilt, dass sie das Leben der Menschen einfacher, komfortabler und budgetfreundlicher machen.

Die künstliche Intelligenz (KI) ist das nächste große Ding. Sie wird unsere Zukunft gestalten und uns in vielen Situationen ein deutliches Mehr an kontextbezogener Personalisierung ermöglichen. Wir werden erleben, dass Verbesserungen in den Bereichen KI, Machine Learning und Deep Learning in unserer Welt für erhebliche Unruhe sorgen werden.13 Im Handel werden die Kunden dank der KI eine beispiellose Einkaufsqualität erleben, denn die KI trifft Vorhersagen über unser Verhalten, weiß schon vorher, welche Filme uns gefallen, und errät sogar, welches Essen wir nächste Woche auf dem Tisch haben werden wollen. Der Handel ist nur eine von vielen Branchen, die von der KI beeinflusst werden: Sie wird die Gesellschaft, wie wir sie kennen, vollkommen umkrempeln.14

In Zukunft werden wir vielleicht nicht mehr zwischen dem persönlichen Gespräch und digitalen Interaktionen unterscheiden, da wir unsere Erfahrungen mit unserem freundlichen Assistenzroboter austauschen können. Wir können die neueste Mode in einer virtuellen Umkleidekabine anprobieren, uns von neuen, als Augmented Reality generierten Informationsebenen auf unserem Smartphone oder Tablet begeistern lassen, unsere Autos fahren selbst, und wir verwenden Kryptowährungen genauso selbstverständlich zum Bezahlen wie reguläre Zahlungsmittel.

Es sind fünf Paradigmenwechsel, die die Onlification vorantreiben:15

1.Die Grenzen zwischen Online und Offline werden in unserem Alltag aufgehoben. Es besteht schlicht keine Notwendigkeit mehr, dazwischen zu unterscheiden. Online und Offline verschmelzen zu Onlife.

2.Es wird immer undeutlicher, was in unserem Leben real und was virtuell oder augmentiert ist. Wie gelingt es uns, auch in Zukunft zwischen dem, was real ist, und dem, was nicht real ist, zu unterscheiden?

3.Was natürlich und was künstlich ist, wird immer unbestimmter. 20 Jahre nach dem Schlaganfall, der bei der Amerikanerin Cathy Hutchinson zu einer fast vollständigen Lähmung des Körpers führte, ist sie heute in der Lage, nur über ihr Gehirn einen Roboterarm zu steuern.16 Wenn wir in der Lage sind, Organe zu replizieren oder zu verbessern und sie in den Körper zu implantieren, sind wir dann wirklich noch natürlich? Und spielt das überhaupt eine Rolle?

4.Auch die formalen Dimensionen werden immer unbestimmter. In Zukunft werden 4D-Drucker in der Lage sein, ohne menschlichen Eingriff Objekte herzustellen, die unter bestimmten Umständen – z. B. bei Temperaturanstieg oder -abfall – ihre Form ändern können.

5.Schließlich werden auch Zeit und Raum unbestimmter. VR, AR und neue Hologrammtechnologien können uns weismachen, dass wir an einem anderen Ort als dem sind, an dem wir uns physisch befinden. Zeit und Raum scheinen eins zu werden.

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Auch in sozialen und politischen Fragen und Diskursen hat das Internet mehr Einfluss denn je. Hunderte Millionen von Menschen nutzen die sozialen Medien als Kommunikationsmittel, um ihre Meinungen darzulegen, auf die Beiträge anderer Menschen zu antworten und Mitteilungen anderer zu teilen. Manche rufen zur Teilnahme an Wahlen auf oder greifen Themen auf, vergeben Likes für Politiker oder tun sich mit Gleichgesinnten zusammen.17 Der Einfluss des Onlife-Engagements wächst dabei in Zeiten globaler Katastrophen, nationaler Krisen oder auch lokal begrenzter Ereignisse. Der Arabische Frühling im Jahr 2011 wird oft als »Facebook-Revolution« bezeichnet. Die sozialen Medien spielen auch bei Flüchtlingskrisen eine wichtige Rolle: Die online geteilten Tweets, Fotos und Videos sind wichtige emotionale und sachbezogene Kriterien für Geflüchtete und Bürger wie auch für Politiker und Journalisten. Der amerikanische Präsident Donald Trump nutzt Twitter als bevorzugten Kommunikationskanal zur Reaktion auf (Fake-)News.

Work-Life-Balance

Angesichts der Tatsache, dass Online und Offline immer stärker zusammenwachsen, haben viele Menschen zunehmend Schwierigkeiten, strikte Grenzen zwischen dem Arbeitsleben und der Freizeit zu setzen. Der Wunsch von Arbeitnehmern nach flexiblen Arbeitszeiten führt ebenfalls zu Veränderungen beim Verhältnis von Berufs- und Privatleben. Abends oder am Wochenende noch eben schnell ein paar Arbeiten zu Ende bringen: Das ist mittlerweile eigentlich eine Selbstverständlichkeit geworden. Umgekehrt haben wir allerdings auch immer weniger Hemmungen, persönliche Angelegenheiten während der Bürozeiten zu erledigen. Zu Hause, unterwegs oder »jederzeit und überall« arbeiten zu können, sind Aspekte unseres Alltags, die sich mit neuen Arbeitsweisen verbinden.

Die neue industrielle Revolution

Die Ökonomen Jeremy Rifkin und Klaus Schwab glauben, dass wir am Beginn einer neuen industriellen Revolution stehen. In seinem Buch Die dritte industrielle Revolution18 hat Rifkin – Bestsellerautor und gern gesehener Berater von Staatsoberhäuptern auf der ganzen Welt – den Aufstieg des Internets und den Zugang zu neuen Energiequellen als Schlüsselfaktoren für die Transformation beschrieben. Schließlich hätten frühere industrielle Revolutionen bereits gezeigt, dass neue Kommunikationstechnologien (Bücher, Zeitungen und das Telegramm, gefolgt von Telefon, Radio und Fernsehen) und neue Energiequellen (erst Dampfmaschinen, dann Strom und Öl) Katalysatoren für einen immensen sozialen Wandel waren. Heute ist es der Aufstieg des Internets, verbunden mit erneuerbaren und nachhaltigen Energien wie aus Sonne, Wasser und Wind. All dies wird zu einer »mächtigen neuen Infrastruktur führen, die die Welt verändern wird«.19

Hunderte von Millionen Menschen werden in den nächsten Jahrzehnten mithilfe internetbasierter Technologie selbst Energie produzieren können (»Energie-Internet«). Und: Sie werden diese Energie nicht nur produzieren, sondern sie selbst nutzen, wiederverwenden und teilen. Gleichzeitig ermöglicht das Internet uns die Kommunikation über eine Vielzahl von Medien (Kommunikationsinternet) und hilft uns dabei, unaufhörlich Produkte und Dienstleistungen zu transportieren (Logistikinternet). Rifkin glaubt, dass es diese drei Systeme sind, die unsere zukünftige Gesellschaft für effektives Handeln braucht. Zudem sind die drei unlösbar miteinander verbunden.

Schwab, der Gründer des Weltwirtschaftsforums, vertritt sogar die Ansicht, dass wir nach der digitalen oder technologischen Revolution, die von den 1970er- bis 1990er-Jahren stattgefunden hat, besser von einer »vierten industriellen Revolution« sprechen sollten.20 Er meint, dass diese vierte Revolution gegenwärtig über uns hinwegbraust und dabei eine beispiellose Geschwindigkeit sowie Wirkungstiefe und -breite aufweist. Gewaltige technische Entwicklungen wie Robotisierung, 3D-Druck, selbstfahrende Fahrzeuge und Nanotechnologie sind ausgesprochen reale Herausforderungen für nahezu jede einzelne Branche in jedem Land, das man sich vorstellen kann. Was wir jetzt brauchen, sind neue wirtschaftliche Strukturen und Organisationen, was nach Ansicht Schwabs bedeutet, dass sich Anbieter und Verbraucher völlig neu erfinden müssen.

Die verschwimmenden Grenzen zwischen digitalem und echtem Leben, zwischen Offline und Online, zwischen Berufs- und Privatleben machen den gesamten Alltag zum Onlife-Erlebnis. Wie wir arbeiten, lernen, unsere Beziehungen pflegen, uns um andere kümmern, als Politiker im Dienste unseres Landes agieren und sogar Kriege führen: All das ändert sich grundlegend. Ganz zu schweigen davon, dass die Onlification der Gesellschaft sich darauf auswirkt, wie wir einkaufen. Der Handel verändert sich – langsam, aber stetig. Analog wird digital, vertikal wird horizontal, zentral wird lokal, Top-down wird Bottom-up, und Bürokratien werden durch Netzwerke ersetzt. All dies sind Ausdrucksformen dafür, wie sich die Struktur des Handels – und gleichzeitig auch die Machtverhältnisse im Handel – grundlegend ändern.

Das Ende des Online-Shoppings

Im nächsten Jahrzehnt werden Einzelhandel und Dienstleistungen von einer neuen Wirtschaftsordnung geschluckt werden, die wir als Onlife-Retail bezeichnen. Das Einkaufen wird für den Verbraucher zu einem ausgewachsenen Onlife-Erlebnis werden, bei dem das Vorhandensein von Online- und Offline-Vertriebskanälen überhaupt keine Rolle mehr spielt. Aus Sicht der Unternehmen werden Online- und Offline-Kanäle sich ineinander verschlingen, sobald die Grenzen zwischen Branchen und Geschäftsfeldern unter dem erheblichen Druck zusammenbrechen. Alle Handelsteilnehmer – Produzenten, Händler und Verbraucher – werden dazu verleitet, in neue Rollen zu schlüpfen.

Es sind im Wesentlichen fünf bedeutende Entwicklungen, die dem Online-Shopping, wie wir es heute kennen, den Garaus machen werden.

1.Online und Offline werden eins

Im Laufe des nächsten Jahrzehnts werden viele Millionen Handelshäuser und Dienstleistungsbetriebe traditionelle Geschäftsmodelle aufgeben und als Connected Stores Inspirations-, Erlebnis- und Präsentationsorte sowie Servicezentren werden. Neue 24/7-Ladenkonzepte und intelligente Apps werden es den Verbrauchern erlauben, alles, was ihnen im Alltag begegnet, zu scannen und zu kaufen. Der Sofortkunde kann das Kauferlebnis, das er online – etwa zu Hause oder unterwegs – begonnen hat, wahlweise auf der Einkaufsstraße oder online im Laden abschließen. Damit steht das Ende des Online-Shoppings in der Tat vor der Tür.

Wir können mit einem deutlichen Aufwärtstrend bei interaktiven Technologien rechnen, die Online- und Offline-Handel zusammenführen – die sogenannten All-in-One-Apps sind Vorzeigebeispiele für den Onlife-Handel. Da wäre etwa die chinesische Super-App WeChat, mit der Sie bereits praktisch alles regeln können: Urlaubsort finden und buchen, online und im Laden bezahlen, Konten verwalten, mit getrennter Rechnung im Restaurant bezahlen, einen Termin beim Friseur vereinbaren und Online-Bewertungen schreiben. Apps wie WeChat führen Online und Offline zusammen. Heute können sich mehr als eine Milliarde Chinesen ein Leben ohne WeChat nicht mehr vorstellen.21

New Retail in China

New Retail – der »neue Handel« – ist die Strategie, mit der Alibaba ein nahtloses Zusammenspiel zwischen der Online- und der Offline-Welt ermöglichen und Handel so neu definieren will. Es geht darum, das Beste der im Geschäft und online gemachten Erfahrungen zu vereinen. Mit dem Verweis darauf, dass die Zukunft des Handels keine Frage von Online vs. Offline sein wird, präsentierte Alibaba-Gründer Jack Ma das New-Retail-Konzept, das den Schwerpunkt auf die Erfüllung der persönlichen Bedürfnisse jedes Kunden in einer Welt legt, in der die Grenzen zwischen Online- und Offline-Handel aufgehoben sind.22

Es gibt zig E-Commerce-Akronyme – und in China ist vor einiger Zeit ein weiteres entstanden: »O2O« (englisch ausgesprochen »O-two-O«). Es bedeutet online to offline. Die Idee dahinter ist, mithilfe von Online-Kanälen das Offline-Shopping zu stärken. Eine App, ein Online-Shop oder eine Plattform ist der Ort, an dem Sie Waren und Dienstleistungen kaufen und bezahlen. Dann holen Sie das eigentliche Produkt in einem lokalen Geschäft ab oder nehmen die Leistungen eines lokalen Unternehmens in Anspruch. Wesentlich ist hier das Zusammenspiel von Online- und Offline-Verbraucherdaten, die zur Optimierung des gesamten Kundenerlebnisses genutzt werden können.

Der chinesische E-Commerce-Gigant Alibaba hat mit der Elektronikkette Suning Commerce Group einen Deal über 4,6 Mrd. US-Dollar abgeschlossen und setzt New Retail und O2O seitdem in die Praxis um. Mit dem Kauf mehrerer Discounter im Jahr 2016, einer Warenhauskette 2017 und einem Online-Essenslieferdienst 2018 hat Alibaba diesen Trend fortgesetzt.23 Die strategische Zusammenarbeit mit der BAILAN-Gruppe, einer Handelskette mit 4.700 Filialen in zweihundert Städten, ist ein weiteres Paradebeispiel. Übernahmen und strategische Partnerschaften helfen dem Unternehmen nicht nur dabei, sein Angebot an Elektronik- und sonstigen Gütern rasant zu erweitern, sondern auch beim Ausbau des Serviceniveaus im Logistikbereich.24 Durch die Fähigkeit, die bestellte Ware innerhalb von zwei Stunden liefern zu können – und zwar ganz gleich, in welchem der 2.800 Bezirke Chinas der Kunde sich gerade befindet –, wird dies zu einer Win-win-Situation für alle Beteiligten.25 Auf der anderen Seite können Offline-Shops auf Alibabas Marktplatz Tmall.com in die Online-Welt expandieren – auch das gehört zur New-Retail-Strategie des Konzerns. So können die Unternehmen ihre Reichweite ausbauen und sich die erfolgreiche Plattform zunutze machen, denn hier werden die Transaktionen für sie abgewickelt.26

Im Zuge der Neuerfindung des Handelskonzepts eröffnet Alibaba seit 2015 in rasantem Tempo Hema-Lebensmittelgeschäfte und Taobao-Cafés. Das Rückgrat der Hema-Shops bildet die vollständige Integration von Online-Bestellung, Filialabwicklung und schneller Lieferung (mit einem E-Bike). So ist garantiert, dass Bestellungen in einem Radius von 3 Kilometern innerhalb von 30 Minuten ausgeliefert werden können.27

Die Strategie von Alibaba besteht letztendlich darin, den Handel auf der Grundlage einer Integration von Online und Offline, Logistik und Daten zu verändern. »Wir wollen eine neue Wirtschaft schaffen, in der die Online-Welt mit der physischen Welt integriert ist«, erklärt Ma. »Wir entwickeln eine Wirtschaftseinheit – eine virtuelle Wirtschaft im Internet.«28

2. Vom Online-Store zum Offline-Laden

Warum eigentlich sollten große Online-Händler keine eigenen Läden aufmachen? Das Interesse vor allem aufseiten von Kommunalverwaltungen und Bauträgern wäre sicherlich riesig. Allerdings lässt sich das Geschäftsmodell von Online-Shops nicht über Nacht in ein Bricks-&-Clicks-Angebot umwandeln. Sicherlich werden wir in naher Zukunft immer häufiger sehen, wie Internetunternehmen eigene Läden eröffnen, doch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Leerstand in vielen Innenstädten auf diese Weise bekämpfen ließe, eher gering. Auch müsste das ja gar nicht im großen Stil passieren. Für den einen oder anderen Online-Händler wäre ein Ladengeschäft, strategisch gut in einer großen, national bekannten Einkaufsstraße platziert, sicherlich ausreichend. Andere werden buchstäblich vor Ort bleiben und etwa ein Geschäft als Ausstellungsraum im eigenen Vertriebszentrum oder am Unternehmenssitz eröffnen oder Pop-up-Stores in sorgfältig ausgewählten Städten einrichten.

In den USA hat die angesagte New Yorker Brillenmarke Warby Parker den Übergang zum echten Laden erfolgreich vollzogen. Die Marke hatte sich eine Online-Fangemeinde erworben und stellte kleinere Räumlichkeiten wie Ausstellungsräume, Shops-in-Shops und Pop-up-Shops bereit, wo die Fans experimentieren konnten. Sogar ein alter Schulbus wurde neu gestaltet: Hier können Kunden die Brillenfassungen ausprobieren, bevor sie sie online kaufen.29 Mittlerweile betreibt das Unternehmen in New York einen – wenn auch recht kleinen – Flagshipstore sowie mehrere weitere Niederlassungen an der US-Westküste, um authentische Kundenbeziehungen aufzubauen.

Auch der Online-Händler Amazon wird weitere (Buch-)Läden und Tausende kassenloser Convenience Stores eröffnen, um seinen Kunden ein neues Einkaufserlebnis zu vermitteln.30 Der wesentliche Beweggrund für diese neuen und revolutionären Ladenkonzepte besteht darin, Amazon-Kunden eine nahtlose und individuelle Customer Journey zu ermöglichen. Die Übernahme der amerikanischen Supermarktkette Whole Foods mit rund 460 Biosupermärkten in den USA, Großbritannien und Kanada ermöglicht es Amazon, die bestehenden digitalen Dienstleistungen in die physische Welt zu integrieren.31

Der (mittlerweile von Walmart übernommene) Online-Bekleidungshändler Bonobos eröffnet seit einiger Zeit sogenannte »Guideshops«, denn man vertritt in dem Unternehmen die Ansicht, dass das Sehen, Berühren und Ausprobieren von Produkten für die Kaufentscheidung ausschlaggebende Faktoren sind. Der eigentliche Nutzen für Bonobos: digital erfasste Informationen, im persönlichen Gespräch geknüpfte Beziehungen und die Senkung hoher Rücksendekosten.

In China orientiert sich JD.com am New-Retail-Trend von Alibaba, durch den physische Geschäfte und Online-Shopping vernetzt werden.32JD.com, Chinas zweitgrößtes E-Commerce-Unternehmen, erweitert seinen Online-Store nun zum Offline-Laden: Unter der anfänglich nur digitalen Lebensmittelmarke 7Fresh entstehen nun im ganzen Land Filialen mit – wie es JD.com bewirbt – grenzenlosem Retail-Service. In den kommenden Jahren sollen tausend neue Convenience Stores eröffnet werden. Die Integration von Kundenprofilen, Datenanalyse, Blockchain-Technologie und kassenlosem Bezahlen soll dabei für ein personalisiertes und nahtloses Einkaufserlebnis sorgen.33

Die deutsche Modeplattform Zalando hat im Rahmen ihres Connected Retail-Programms Outlet-Stores eröffnet, die online und offline zusammenführen sollen.34 Es ist sogar geplant, Flagshipstores in London, Paris und Berlin zu eröffnen, damit die Fans in einen Dialog mit der Marke Zalando treten können.35 All dies sollte dazu beitragen, Zalando in eine Handelsplattform nach dem Vorbild von Amazon zu verwandeln.36

Die Eröffnung von Flagshipstores in bester Lage in verschiedenen wichtigen Städten ist eine beliebte Option für verschiedene Online-Händler und wird in Zukunft wohl immer häufiger anzutreffen sein. Das Branding ist in der Tat der wesentliche Zweck des Betreibens von Flagship- oder Markenstores; hinzu kommen Marketing, Service und Kundenpflege. Mit diesen Stores erhalten die Unternehmen ein Mittel, um sich vom Wettbewerb zu unterscheiden, den Webshop als echte Marke zu präsentieren und dem Verbraucher ein individuelleres Einkaufserlebnis zu bieten. Trotzdem ist die Zahl der Webshops, die es sich leisten, einen Flagshipstore zu betreiben, nach wie vor sehr gering.

Auch andere flexible und zum Teil nur zeitweilige Formen des Einzelhandels gewinnen das Interesse von Online-Händlern. Pop-up-Stores werden hauptsächlich zu Branding- und Marketingzwecken genutzt, während ein Shop-in-Shop durchaus eine nützliche Verkaufsstelle ist. Amazon eröffnet in den USA und Europa bereits ständig neue Pop-up-Stores37, und Zalando experimentiert mit solchen Stores in verschiedenen europäischen Geschäften und Städten. Ein weiteres neues und insbesondere bei Großveranstaltungen immer beliebteres Phänomen im Handel sind On-Wheels-Shops. Was diese flexiblen Formate gemeinsam haben, ist ein Überraschungsmoment, gepaart mit einem stetigen Besucherstrom in den Filialen.

Aufgepasst: Hier kommt Amazon!

Amazon hat das Konzept der Treasure Trucks eingeführt. Die Treasure Trucks fahren durch die Straßen der großen Städte in den USA und Großbritannien und stellen die perfekte Verschmelzung von Online- und Offline-Shopping dar. Die zugehörige App sendet treuen Kunden, die sich in der Nähe eines solchen Trucks befinden, Sonderangebote vom saftigen Schnitzel bis hin zur Videokamera zu. Nach der Übernahme von Whole Foods rollten die Laster zwischen den Filialen der Kette – eine Maßnahme zur Integration der nun miteinander verbundenen Unternehmen.38 Auf diese Weise gelingt es Amazon, seine Kunden zu Impulskäufen aller Art zu verführen – mit etwas, das im Grunde genommen nichts anderes ist als ein mobiler Supermarkt!

3. Kontinuierliche Sortimentserweiterung

Dass Unternehmen ihren Absatz von Waren und Dienstleistungen nicht mehr auf die traditionellen Geschäftsfelder beschränken, ist ein Trend, der schon seit einiger Zeit in aller Munde ist. Händler bieten neuerdings auch Dienstleistungen an, und umgekehrt scheuen auch Dienstleister nicht mehr davor zurück, Waren zu verkaufen. Eine solche Diversifizierung ist übrigens gar nichts Neues. Seit Jahren verkaufen Supermärkte sowohl Lebensmittel als auch Non-Food-Produkte – ein Phänomen, das in Anlehnung an einen deutschen Discounter manchmal als »Aldifizierung« bezeichnet wird. Tatsächlich war es Aldi, das seinen Kunden in Deutschland mit dem neuen Service Aldi Life unbegrenzten Zugang zur Musikbibliothek der US-Marke Napster gewährte. Es gibt zahllose weitere Beispiele: LIDL-Reisen ist ein bekanntes Konzept in Deutschland: Der Discounter bietet auf seiner Website Pauschalreisen an. Der Buchhändler Barnes & Noble hat sein Sortiment um Drogerieartikel erweitert, die britische Supermarktkette Morrisons verkauft Mode heute online, LEGO stellt jetzt Computerspiele und Filme her, der Elektronikriese Media Markt bietet seinen eigenen Streamingdienst Juke an, Versicherungsgesellschaften haben mit dem Verkauf von Einbruchschutzsystemen begonnen, Zalando verkauft mittlerweile auch Schönheits- und Kosmetikprodukte, und Amazon plant, Gesundheitsprodukte und (Versicherungs-)Dienstleistungen in die Angebotspalette aufzunehmen.39

Aber auch online findet Diversifizierung statt. Mitte der 90er-Jahre hat eBay mit der Erweiterung seines Angebots auf alle erdenklichen Waren und Dienstleistungen die Weichen gestellt. Alibaba verkauft seit der Gründung des Unternehmens im Jahr 1997 alle Arten von Waren und Dienstleistungen. Amazon verwandelte sich schnell vom Online-Buchhändler in einen Alleskönner mit einem schier unendlichen Warenangebot.

Wenn Diversifizierung alltäglich wird, schafft sie Raum und Chancen für neue Marktteilnehmer. Diese tauchen oft in unerwarteten Nischen auf, weil sie gar keine andere Chance hatten, häufig erwischen sie etablierte Konkurrenten aber auch auf dem falschen Fuß. In China hat die zweitgrößte Regierungsbank des Landes, die Industrial and Commercial Bank of China (ICBC), einen Marktplatz für den Direktverkauf von Waren an Endverbraucher eingerichtet. Dies war die einzige Möglichkeit gewesen, sich zu retten, da die Bank jeden Tag Millionen von Transaktionen an Alibabas Alipay verlor.

4. Zusammenströmende Kanäle

Die gängige Unterscheidung zwischen Business-to-Consumer (B2C) und Business-to-Business (B2B) wird sich in den kommenden Jahren voraussichtlich auflösen. Künftig wird jeder an jeden verkaufen. Die Sharing Economy beispielsweise hat neue Kanäle erschlossen, darunter auch Consumer-to-Consumer (C2C) und Consumer-to-Business (C2B).

Der Handel konzentriert sich nicht mehr nur auf die Verbraucher. Webshops sind heute gleichermaßen bereit, an Unternehmen zu verkaufen, und richten zu diesem Zweck häufig eigene B2B-Online-Shops ein. Langsam, aber sicher strecken auch Unternehmen, die sich bislang ausschließlich dem Verkauf von Waren und Dienstleistungen an andere Unternehmen gewidmet haben, ihre Fühler aus und verlagern den Fokus auf den Verbrauchermarkt. Diese Vorgehensweise beschränkt sich nicht auf die großen Marken – selbst der Großhandel vollzieht diesen Wandel. Denn mal im Ernst: Warum sollte man davon absehen, seine Waren oder Dienstleistungen direkt an die Verbraucher zu verkaufen?

Auch Verbraucher, die an andere Verbraucher verkaufen, sind seit Jahren Mainstream. Auf Online-Marktplätzen wie eBay und Alibabas Taobao finden Tag für Tag Millionen von Transaktionen statt. Man weiß auch, dass Endverbraucher ihrerseits Waren an Unternehmen verkaufen – über Online-Marktplätze, Plattformen oder Auktions-Webshops. Selbst traditionelle Geschäfte haben festgestellt, dass dies ein profitabler Kanal ist, um überschüssige Ware loszuwerden und mit neuen Produkten oder Dienstleistungen zu experimentieren.

Die Marktplätze der chinesischen E-Commerce-Supermacht Alibaba haben die Trennung zwischen verschiedenen Kanälen und Geschäftsfeldern im Grunde genommen sogar aufgehoben. Möchte man wirklich ein passendes Modell definieren, dann müsste dies ein B2B2C2C2C2C2B-Modell sein. Mit anderen Worten: Alle Kanäle strömen zusammen, um eins zu werden. Und das ist nur eine Vorahnung dessen, wie die Einzelhandelswelt in einigen Jahren aussehen wird.

5. Integration weiterer Rollen aus der Wertschöpfungskette

Die Diversifizierung ist die eine Sache; Fakt ist jedoch, dass viele Unternehmen neue Rollen übernehmen müssen – und zwar solche, die bisher von anderen Teilnehmern der Wertschöpfungskette im Handel gespielt wurden.

Giganten wie Amazon und Alibaba haben eine lange Tradition darin, Handel, Technologie, Logistik und Dienstleistungen zusammenzubringen. Dabei haben sie alle möglichen Rollen innerhalb der Wertschöpfungskette selbst übernommen und bieten mittlerweile Fulfillment-Leistungen wie Lagerung, Kommissionierung und Verpackung von Waren für externe Händler an. Sie vermitteln logistische Unterstützung für Dritte, stellen Webhosting für Unternehmen in der Cloud bereit usw. Noch bis vor Kurzem wurden alle diese Rollen von spezialisierten Unternehmen besetzt und ausgefüllt.

Auch die Hersteller stellen sich neuen Aufgaben. Marken wie Adidas, Miele, Nike, Philips und Sony haben sich vorgenommen, ihre Waren direkt an die Verbraucher zu verkaufen. Allerdings geschieht dies oft mit angezogener Handbremse – in der Sorge, dass die traditionellen Vertriebskanäle untergraben werden könnten. Doch immer häufiger werden die Skrupel einfach beiseitegelassen. Hersteller wie Unilever haben inzwischen damit begonnen, erfolgreiche Online-Händler wie den Dollar Shave Club zu akquirieren, nur um einen direkten Vertriebskanal zum Verbraucher zu finden. Zweifellos kostet das eine ganze Stange Geld.40

Eine ebenso interessante Veränderung vollzieht sich gerade im Luftverkehr. Auch hier übernehmen Unternehmen neue Rollen: Delta Airlines hat eine Ölraffinerie erworben, und zwar nicht nur, um eine ausreichende Versorgung mit günstigem Kerosin zu gewährleisten, sondern tatsächlich mit dem Ziel, Ölhandel zu betreiben. AirAsia bietet jetzt eine eigene Kreditkarte an, mit der Kunden sehr viel mehr machen können, als nur AirAsia-bezogene Artikel zu kaufen. Die norwegische Fluggesellschaft Wideroe hat ein neues Standbein im Versicherungsgeschäft, und die deutsche Lufthansa Technik ist zu einem angesehenen Softwareanbieter geworden.

2015 war ich in Tokio und traf mich mit Yasui Yoshiki, dem jungen Gründer und CEO von Origami, einem japanischen Portal für Lifestyleprodukte. Erwartet hatte ich ein Gespräch mit einem jungen und ambitionierten Einzelhändler. Ich hätte kaum weiter danebenliegen können: Yoshiki informierte mich kurzerhand, dass sein Hauptziel darin bestehe, eine Online-Plattform für Mobile Payment einzuführen. Verbraucher können damit (schon jetzt) Online-Zahlungen durchführen und auch offline 1-Klick-Zahlungen auf dem Smartphone leisten. Als ich ihn nach seiner Vision und seinen langfristigen Zielen fragte, meinte er, sein größter Wunsch wäre es, eine echte Bank zu werden.41

In Kenia hat der Telekommunikationsanbieter Safaricom sein Portfolio in einem Land ohne große Bankeninfrastruktur um Finanzdienstleistungen erweitert. Verbraucher in über zehn Ländern können auf seiner M-PESA-Plattform Geld überweisen, Sparkonten anlegen, Kleinkredite aufnehmen oder Geld weltweit versenden und empfangen. Mittlerweile nutzen mehr als 20 Mio. Menschen – die meisten davon ohne Bankkonto – M-PESA auf ihrem Smartphone.42 Als ich 2017 nach Kenia reiste, war ich erstaunt zu sehen, wie durch die Übernahme einer neuen Rolle in der Wertschöpfungskette eines der erfolgreichsten Zahlungssysteme der Welt entstanden war, das Verbrauchern, die (sehr) wenig Geld haben, dabei hilft, die bei der Anschaffung von Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs entstehenden Kosten für (sehr) kleine Händler einzusparen. Die Smartphone-Durchdringung in Afrika ist ein idealtypisches Beispiel für Leapfrogging – das Überspringen einzelner Stufen in einem wirtschaftlichen Entwicklungsprozess.

Der Goldfisch und die Neuerfindung des stationären Handels

Haben Sie auch manchmal das Gefühl, die Welt drehe sich immer schneller und alles sei im Umbruch? Nun, Sie sind nicht allein. Technologische Innovationen wie das Internet oder Smartphones haben unsere Wahrnehmung und unser gesamtes Sozialverhalten fundamental verändert. Damit nicht genug: Artificial Intelligence, Virtual Reality, Internet of Things, Blockchain, Beacons, Conversational Commerce, 3D-Druck, Drohnen, Anticipatory Shipping, Hologramme – die Liste disruptiver Technologien, die den Handel und die Handelslogistik in den nächsten Jahren massiv verändern werden, wird immer länger (dazu mehr im nächsten Kapitel). Gleichzeitig wird die Aufmerksamkeitsspanne der Onlife-Konsumenten immer kürzer – sie liegt mittlerweile unter dem Goldfisch-Niveau von 9 Sekunden. In Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie wird also die Zeit selbst zum kostbarsten Gut.

Was bedeutet das für den Handel? Ganz einfach, es erfordert Schnelligkeit, Agilität, Kundenfokus und eine effektivere, möglichst personalisierte Ansprache des Onlife-Konsumenten. Geschwindigkeit ist online alles. Die weltweit erfolgreichsten Marktplätze Amazon und Alibaba – beide absolute Vorreiter im Bereich Big Data – haben dies dank modernster Algorithmen perfektioniert. Sie dürfen sich Jahr für Jahr über Milliardengewinne und Rekordumsätze freuen. So wächst der US-Handelsriese Amazon aktuell um 150 Millionen Dollar Umsatz – pro Tag!

Auch die Ausgaben der österreichischen Haushalte für Online-Shopping wachsen zurzeit rasant – im Schnitt zehnmal schneller als die gesamten Einzelhandelsausgaben. Daher braucht es immer weniger stationäre Flächen. Manche Prognosen erwarten einen Flächenrückgang von 10 Prozent im nächsten Jahrzehnt, aber auch höhere Zahlen sind zu hören. Während in den USA längst vom »Death of Retail« die Rede ist, sind derartigen Untergangsszenarien in Österreich glücklicherweise nicht zu beobachten. Im Gegenteil, die Umsätze steigen auch auf der Fläche nach wie vor leicht an, und viele stationäre Händler setzen mutig auf Digitalisierung.

In den vergangenen zehn Jahren ist die Anzahl der Geschäfte in Österreich zwar deutlich zurückgegangen: um 20 Prozent auf 37.400 im Jahr 2018. Allerdings ist die Fläche im gleichen Zeitraum nur um 2,8 Prozent geschrumpft und zuletzt sogar stabil geblieben.43 Der erste massive Kahlschlag fand überdies nicht im Zuge der Digitalisierung statt, sondern bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren mit dem Greißlersterben. Kleine Händler wurden durch große Ketten mit Filialen ersetzt, die Fläche der einzelnen Geschäftslokale hat seither deutlich zugelegt.

Einen starken Rückgang verzeichnet Österreich vor allem in wenig frequentierten Nebenlagen. Dieser wird durch ein Flächenwachstum bei Einkaufs- und Fachmarktzentren aufgefangen, wo es zuletzt ein Wachstum von rund 100.000 Quadratmetern pro Jahr gegeben hat. Die Verbraucher kaufen also vermehrt dort ein, wo es bereits viel Angebot gibt. A-Lagen mit viel Frequenz legen weiter zu, die anderen verlieren. In den B und C-Lagen wird der Leerstand weiter steigen. Ein tatsächlicher Strukturwandel aufgrund des boomenden E-Commerce ist derzeit allerdings nur in einigen ausgewählten Branchen erkennbar.

An vorderster Front: die Mode. Im Bekleidungshandel liegt die Online-Quote in Österreich bei 22 Prozent, ein TopWert im digitalen Bereich. Modegeschäfte in den Innenstädten kommen durch den E-Commerce unter Beschuss, ihr Flächenanteil ist seit Jahren rückläufig. Kompensiert wird der Rückgang durch mehr Dienstleistungs- und Gastronomieangebote, zudem steigt der Leerstand. Spannend ist in diesem Zusammenhang der sogenannte Halo-Effekt: So führt eine starke stationäre Präsenz im Handel dazu, dass die Kunden in derselben Region auch online verstärkt bei diesem Händler einkaufen. Der Effekt gilt aber auch umgekehrt: Wer seine stationären Geschäfte schließt, muss auch mit Umsatzeinbußen im Webshop rechnen.

In den USA stellt sich die Situation völlig anders dar. Dort gibt es einen dramatischen Strukturwandel, der insbesondere veraltete Einkaufszentren betrifft. Der Hintergrund: Viele dieser Shopping Center setzen als Ankermieter auf Department Stores, welche einen breiten Mix an Sortimenten bieten, von Elektro über Bekleidung bis zu Lebensmitteln. In den einzelnen Sortimenten entstanden zuletzt vermehrt Spezialisten, die als Category Killer