Das Erbe der Macht - Band 12: Allmacht - Andreas Suchanek - E-Book

Das Erbe der Macht - Band 12: Allmacht E-Book

Andreas Suchanek

5,0

Beschreibung

Das Finale ist da! Max hat einen waghalsigen Plan gefasst. Zusammen mit seinen Freunden tritt er eine Reise an, um einen geheimnisvollen Plan auszuführen. Doch schon ein falscher Schritt kann das Ende bedeuten. Unterdessen sammelt Johanna ihre Armee, um Iria Kon anzugreifen. Doch die Schattenfrau erwartet sie bereits. Das Ende des ersten Zyklus wird alles verändern. Sei dabei, wenn Streitmacht und Allmacht aufeinander treffen und die Weichen für die Zukunft neu gestellt werden. Das Erbe der Macht ... ... Platz 3 als Buchliebling 2016 bei "Was liest du?"! ... Silber- und Bronze-Gewinner beim Lovelybooks Lesepreis 2017! ... Nominiert für den Skoutz-Award 2017! ... Nominiert für den Deutschen Phantastrik Preis 2017 in "Beste Serie"! Das Erbe der Macht erscheint monatlich als E-Book und alle drei Monate als Hardcover-Sammelband.

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Table of Contents

Titelseite

Was bisher geschah

Prolog

Ein Kreis vollendet

1. Ein verwegener Plan

2. Sucht euch was aus

3. Ein Angebot, das du nicht ausschlagen kannst

4. Das schreckliche Wirken des Alexander Kent

5. Das Retro-Team

6. Dancing Queen

7. Ankunft

8. Eine Spinne im Netz

9. Die Arbeit und das Vergnügen

10. Elvis lebt

11. Der Blutstein

12. Ein großartiger Lehrer

13. Team Alfie

14. Drei Engel für Moriarty

15. Déjà-vu

16. Der Weg ist das Ziel

17. Der Schmerz des Anbeginns

18. Über den Wolken

19. Parthenope

20. Claras Ankunft

21. Vom Winde verweht

22. Alles oder nichts

23. Aus dem Schatten in das Licht

24. Dornröschen in London

25. Home sweet home

Allmacht

26. On stage

27. Die Opferrolle

28. Der Übergang

29. Spieglein, Spieglein an der Wand

30. Auferstanden

31. Unter der schwarzen Sonne

32. Traumfeuer

33. Was ist hier passiert?

34. Die Gebrüder Kent

35. Eine alte Rechnung

36. Krieg kennt keine Gewinner

37. Vertrauen

38. Ein Opfer für die Ewigkeit

39. Der Überraschungsgast

40. Team-up

41. Der Plan

42. Die Wahrheit

43. Die alte Ordnung fällt

44. Der erste Zauber

45. Das letzte Opfer

46. Die Ruhe nach dem Sturm

47. Ein Hauch der Zukunft

Epilog

Vorschau

Seriennews

Glossar

Neue Personen in Band 12

Zauber in Band 12

Die Prophezeiungen von Joshua

Impressum

Das Erbe der Macht

Band 12

»Allmacht«

von Andreas Suchanek

 

Was bisher geschah

 

Da fühlt man sich direkt wieder wie ein Nimag. Mein Name ist Alexander Kent, und ich schreibe diese Zeilen für die Nachwelt, während hier im Castillo alle herumrennen wie aufgescheuchte Hühner. Da die Mentigloben nicht mehr funktionieren, musste ich zu einem Füller greifen. Einstein jagt vermutlich jeden Lichtkämpfer aus seinem Büro, der noch einmal nach einem solchen fragt. Die Papiervorräte sind ebenfalls geplündert. In Kürze wechselt Teresa hinüber ins Archiv, um all unsere niedergeschriebenen Worte zu übergeben. Für die Nachwelt – falls es die geben sollte.

Vor einigen Monaten wurde ich durch ein Sigil zum Magier. Seitdem habe ich viel erlebt. Ich habe neue Freunde gefunden, wurde mit Essenzstäben, Wechselbälgern und Feuerblut-Splittern konfrontiert. Einen Großteil des Chaos durchlebte ich mit Jen – Jennifer Danvers. Zuerst hielt ich sie für arrogant und besserwisserisch, aber das hat sich geändert. Eigentlich ist sie ganz nett. Okay, ich mag sie ziemlich. Wehe, das hier darf jemand lesen, während ich noch am Leben bin.

Wir kämpften also gegen die Schattenfrau, eine bösartige Person hinter einem Schattenschleier. Am Ende stellte sich heraus, dass es sich dabei um Clara handelt. Mal ehrlich, das ist so, als öffne man die Wohnungstür und ein Killerclown steht davor. Wer rechnet denn damit? Entsetzen! Geschrei! Herzinfarkt!

Clara wurde durch ein Zeitportal in die Vergangenheit geschleudert und dort durch einen magischen Trank richtig böse. Böse ist untertrieben, sie wurde zu einem Monster. Ihr Ziel: drei Essenzsplitter zu vereinen, die bei der Erschaffung des Walls davongeschleudert wurden. Laut der Prophezeiung Joshuas – das war der letzte Seher – entsteht dadurch die Allmacht. Allein das Wort ist fies.

Nach einem Höllentrip unter das Meer und nach Antarktika, wo ich ein paar lustige Albträume durchleben durfte, hat sie es geschafft. Und mit einem gemeinen Trick natürlich alle drei Splitter zusammengefügt. Damit sitzen wir in der Scheiße.

Und als wäre das nicht genug, liegen mir alle paar Wochen irgendwelche Idioten damit im Ohr, dass ich eigentlich gar kein Magier sein dürfte. Gut, in mir ist ein Wildes Sigil, aber das ist doch ziemlich egal!

Wieso das also alle sagen, weiß ich nicht. Denn mein Vorgänger Mark war so schlau, alle Infos auf zwei Kryptexe aufzuteilen, und wir haben nur das erste gefunden. Wo das zweite ist? Gute Frage.

Alles sehr wirr. Ich vermisse Alfie, meinen kleinen Bruder. Und meine Mum. Was geschieht wohl mit ihnen, sollten wir verlieren? Die Schattenfrau wird über Nimags und Magier herrschen – eine ungekrönte Königin. Magier sein ist toll. Aber es bedeutet auch Verantwortung. Und das heißt in unserem Fall: Krieg und Kampf. Ich habe Angst um meine Freunde.

Jen, Chloe, Max, Kevin und Chris sind für mich längst Familie. Wenn ich morgens mein Sandwich esse, tue ich das am liebsten in der Küche des Castillos. Wenn ich gerade von London über das Portal ankomme, stürme ich hinein, was mir immer einen tadelnden Blick von Tilda einbringt. Aber das Sandwich liegt schon bereit. Und der Kaffee steht daneben.

Jen lässt morgens direkt die Motivatorin heraushängen, krempelt die Ärmel hoch und bringt den ersten Pepptalk des Tages. Meist schaue ich müde über den Tassenrand hinweg zu Chris, der die Augen verdreht und seinen Kaffee schlürft. Chloe krault sowieso die ganze Zeit ihren Ataciaru. Kevin und Max turteln. Man könnte meinen, die beiden sind frisch verliebt.

Ich vermisse diese Momente mittlerweile.

Derzeit spricht jeder nur über Angriffszauber, Artefakte und Iria Kon.

Die Angst ist mit den Händen greifbar.

Was wird wohl sein, wenn alles vorbei ist?

 

Alexander Kent

(vor dem Angriff auf Iria Kon)

 

 

 

Nach ewigen, ehrnen,

Großen Gesetzen

Müssen wir alle

Unseres Daseins

Kreise vollenden.

 

(Johann Wolfgang von Goethe)

 

 

 

 

Prolog

 

Vor vielen Jahren

 

Geschrei und Geplapper verstummten schlagartig. So war es immer, wenn Thomas Alva Edison den Raum betrat.

Clara mochte ihn nicht. Er war groß, ernst und erinnerte sie an eine Sprungfeder, wie sie aus den Matratzen auf dem Speicher daheim hervorlugten.

Chris stupste sie und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

Clara kicherte.

Sofort fixierte Edison sie mit seinem Blick. Ihr wurde übel. Wenn ihre Mutter davon erfuhr, drohte ihr Leseverbot.

»Ich begrüße euch zu eurer ersten Stunde der Kampfmagie. Trotz eurer Jugend werde ich euch zur Seite stehen, wenn ihr heute jenen Zauber lernt, den ihr sowieso längst beherrscht.«

Ein Kichern ging durch die Reihe, verstummte jedoch sofort, als Edison die Lippen schürzte.

»Wer kann mir sagen, welcher Zauber das ist?«, fragte er.

Chris’ Hand schoss in die Höhe. Bevor er aufgerufen wurde, brüllte er: »Potesta.«

Edison bedachte ihn mit hochgezogenen Brauen. Er musste nichts sagen, Chris wurde rot und zog den Kopf zwischen die Schultern.

»In der Tat. Ihr benutzt ihn bereits, obwohl eure Eltern euch regelmäßig die Ohren langziehen. Ein gefährlicher Zauber. Wenn ich jemanden hier erwische, der ihn außerhalb des Unterrichts gegen einen Klassenkameraden einsetzt, wird derjenige das Castillo verlassen!«

Clara erschauderte. Ihren Klassenkameraden ging es nicht anders, sogar Chris blickte betreten zu Boden.

Edison schwang seinen Stab. Ein magisches Symbol entstand. »Aportate Übungsfigur.«

Die Tür öffnete sich und eine Hexenholzfigur aus dem Trainingsraum kam herein. Sie nahm gegenüber der Tür Aufstellung.

»Ihr werdet nun einer nach dem anderen vortreten.«

Und so geschah es.

Mit kleinen Trippelschritten marschierten sie zum Pult, wo Edison ihnen genau erklärte, wie der Kraftschlag auszuführen war. Fast alle brachten die Figur zum Wanken, nur Clara nicht. Edisons Blick glitt über sie, mahnend, strafend, abwertend. Er erinnerte sie an ihre Mutter.

Der Rest der Vorlesung zog an ihr vorbei. Ihre Wangen brannten, die Scham schmerzte.

»Clara, bleibst du bitte noch einen Moment.«

Die anderen verließen den Raum. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie das Ende der Übungsstunde erreicht hatten.

Edison bat sie, noch einmal nach vorne zu kommen.

Seine Augen blickten gutmütig auf sie herab. Seltsam. »Du musst keine Angst haben. Weißt du, der Potesta-Zauber ist einer der einfachsten, aber auch wichtigsten Zauber. Seine Stärke leitet sich von dem Willen des Magiers ab, zu zerstören, zu verletzten, zu schlagen.«

»Aber das möchte ich alles nicht«, piepste Clara.

Edison lächelte. Es war das erste Mal, dass er das tat, und nun würde Clara Judy Miller sagen, dass der Unsterbliche es doch konnte. Es gab Wetten zu diesem Thema.

»Das ist gut«, sagte er. »Denn einen anderen Menschen zu verletzen, sollte immer das letzte Mittel der Wahl sein. Doch der Zauber hilft dir auch, Türen zu öffnen, dich in höchster Not zu befreien.«

»Ich kann es nicht.«

»Doch, das kannst du. Du bist anders als alle anderen, das habe ich begriffen. Hast du einen besten Freund?«

Clara spitzte die Lippen. »Chris. Aber Mum findet das nicht gut.«

»Christian Grant ist ein guter Junge. Entscheide selbst über deine Freunde, Clara.« Edison wandte sich um und schwang den Stab. Am Boden entstand ein Bild von Chris. Er blutete. Die Holzfigur stand über ihm, richtete den Stab auf seine Brust.

Clara erschrak. »Potesta!«

Der Kraftschlag zerfetzte die Hexenholzfigur.

Stille senkte sich herab.

»Es tut mir leid«, presste sie hervor. Tränen rannen über ihre Wangen.

»Das muss es nicht«, sagte Edison sanft. »Du wolltest deinen Freund beschützen. Die Antriebskraft für dein Handeln ist Liebe, nicht Hass oder Wut. Vergiss das nie, Clara.«

Sie nickte zaghaft.

Edison verabschiedete sich.

Clara starrte noch lange auf die Splitter der Hexenholzfigur. An jenem Tag hatte sie ihren allerersten Zauber gelernt. Potesta. Viele Jahre später dachte sie an diesen Moment zurück, …

… obwohl es längst zu spät war.

 

 

 

 

 

I

 

 

Ein Kreis vollendet

 

 

 

 

1. Ein verwegener Plan

 

»Du bist ein Einhorn.« Alex grinste frech.

Jen erwiderte seinen Blick mürrisch. »Was?«

»Ein Pummeleinhorn. Du weißt schon: flauschig, groß …«

»Bezeichnest du mich gerade als fettes Plüschtier?«, hakte Jen nach. Ihre Stimme vibrierte gespannt wie ein Kraftschlag.

Alex ließ seinen Blick über ihre Lederjacke gleiten, die einen künstlichen Pelzkragen besaß. Er hatte ihn gerade befühlt. »Das war ein Kompliment. Vielleicht mache ich es zu deinem Spitznamen.«

Der Schlag auf den Hinterkopf traf ihn unvorbereitet. Verwirrt sah er sich um.

»Hör auf, Jen zu ärgern«, verlangte Tilda, bevor sie wieder an ihren Herd trat und die Sandwiches belegte. Überhaupt entwickelte sie momentan eine ungeahnte Agilität, wenn es darum ging, Brote zu schmieren und Essenspakete zu schnüren.

Alex schob die Unterlippe vor und schmollte ein bisschen, sagte aber nichts. Hier in der Küche herrschte fast so etwas wie Normalität. Es war surreal. Gleichzeitig wollte er sich daran festhalten. Sollte die Welt außerhalb doch untergehen.

Jen saß auf der Couch und schlürfte Kaffee, Nikki lag daneben und döste. Nach den zahlreichen Sprüngen der letzten Zeit sollte sie sich ausruhen. Chris und Kevin würden heute Morgen aus dem Krankenflügel entlassen werden, Teresa hatte es versprochen. Auf dem Tisch stand ein kleiner Kuchen mit zwei identischen Kerzen darauf. Chloe war irgendwo mit Ataciaru unterwegs, und Max … Wo der sich gerade herumtrieb, wusste Alex nicht.

Der Schock saß noch immer tief. Die Schattenfrau hatte die Sprungportale mit einer Handbewegung versiegelt und die Kontaktsteine zerstört. Mit ein wenig Verzögerung hatte die Bibliothekarin festgestellt, dass Mentigloben nicht mehr ausgelesen oder mit Gedanken befüllt werden konnten.

Deshalb waren sie alle dazu aufgefordert worden, ein paar Zeilen für die Nachwelt festzuhalten, die ins Archiv gebracht wurden.

Was kommt als Nächstes?

Er wollte nicht daran denken.

Der Kaffee war nur noch lauwarm. Er trank ihn trotzdem. Jedes Stück Normalität tat gut, erdete, gab Kraft. Jen ließ sich nichts anmerken, wie immer. Trotzdem sah er in ihrem Blick die Hoffnungslosigkeit. Die Moral aller lag am Boden. Der Pepptalk Johannas war von der Schattenfrau mit einem Fingerschnippen ins Gegenteil verkehrt worden.

»Du lässt dich nicht aus der Ruhe bringen, oder?«, fragte Alex an Tilda gewandt.

»Ich saß einhundertsechsundsechzig Jahre in einem Castillo fest. Alleine.« Die Köchin unterbrach ihre Arbeit nicht. »Es gab nur mich und meine Bratpfannen. Da lernt man, dass es immer irgendwie weitergeht.«

Bei ihrer ersten Begegnung hatte Tilda kurzerhand eine jener Bratpfannen benutzt und sie Alex ins Gesicht gedonnert. Seither hatte er Respekt vor diesen Dingern. »Gutes Argument.«

Nikki schnarchte leise. Sie war vor einigen Minuten aufgetaucht, nachdem Max und sie verschwunden gewesen waren.

Sie wirkte jung und unschuldig wie eh und je. Vor einigen Stunden war ihm der Spitzname ›Bambi‹ entfahren. Nikki hatte ihn nur böse angefunkelt, worauf er beschlossen hatte, sie ab jetzt immer so zu nennen.

»Was hast du deiner Mum gesagt?«, fragte Jen.

»Geschäftsreise. Und du Dylan?«

»Geschäftsreise.«

Sie grinsten einander an, wenn auch mit einer Spur Bitterkeit im Blick. Überhaupt waren Freude und Unbeschwertheit in diesen Tagen rar gesät.

Vermutlich tanzte die Schattenfrau gerade freudig durch ihren Turm und brachte zur Feier des Tages ein paar Leute um, rottete eine Tierart aus oder versenkte einen Kontinent.

Polternde Schritte erklangen.

Max schoss in die Küche, die dunklen Haare zerzaust, die Wangen knallrot. »Ihr müsst mitkommen!« In der Hand hielt er eine Schatulle, in deren Holz ein Siegel geprägt war.

Alex sprang auf. »Was ist passiert?«

»Ich habe einen Plan. Und euch brauche ich dazu!«

»Worum geht es?«, fragte Jen neugierig.

»Um Clara«, ließ er die Bombe platzen. »Ich habe eine Idee, wie wir sie retten können.«

Alex, Jen und sogar Tilda starrten ihn an.

»Hä?«, entfuhr es Alex geistreich. Aber, was sollte man in einer derartigen Situation auch sagen?

Stille senkte sich herab.

Nikki fuhr hoch. »Was, wieso streitet niemand? Ist was passiert?«

»Das ignorieren wir jetzt einfach mal«, kommentierte Alex.

»Max, ich weiß, dass du mit Clara gut befreundet warst, genau wie Chris. Aber irgendwann musst du loslassen. Sie war meine beste Freundin und der Gedanke tut mir immer noch weh. Aber es gibt nun einmal keinen Ausweg …«

»Hört auf zu reden und kommt mit.« Damit wandte Max sich um und raste wieder hinaus.

Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Neugierige Blicke huschten ihnen hinterher, als sie die Eingangshalle durchquerten und in die kalte Winterluft traten. Die Bäume reckten ihre Äste kahl gen Himmel, der See lag einsam da, Wolken verdeckten die Sonne. Der Regen stand in den Startlöchern und würde bald über sie hereinbrechen, das konnte er als Londoner am Geruch der Luft erkennen.

Max führte sie in den angrenzenden Wald, auf den heruntergekommenen Spielplatz, der sich noch innerhalb der Ländereien des Castillos befand.

»Es wird auch Zeit«, motzte Chris. »Wir stehen hier herum und frieren uns zu Tode. Willst du, dass wir direkt wieder auf den Krankenflügel müssen?«

Das war maßlos übertrieben, trug Chris doch nichts außer einem schwarzen Muskelshirt und verschlissenen Jeans. Er fror kein bisschen und seine Muskeln zeichneten sich hart auf den Oberarmen und den Schultern ab.

Alex begrüßte die Freunde zufrieden. Zwischen ihm und Chris hatte sich eine intensive Männerfreundschaft entwickelt, was oftmals Spott von Jen hervorrief. Er glaubte allerdings, dass sie nur neidisch war.

Die Zwillinge wirkten erholt, aber in ihren Augen entdeckte Alex den Schein des erlebten Schreckens. Die Gewissheit, dass sie beide durch Todesangst zu einem Monster mutierten – dem dritten Zwilling –, stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

»Wir haben leider wenig Zeit«, haspelte Max. »In den letzten Monaten habe ich mich oft mit Nostradamus unterhalten.«

»Ach?«, sagte Jen.

»Ich hatte einen Plan, aber dafür benötigte ich seine Hilfe«, erklärte Max weiter. »Mittlerweile habe ich auch mit Kleopatra und Edison gesprochen. Wir haben ein ›Go‹.«

»Das ist toll«, kommentierte Alex fröhlich. »Wofür?«

»Also, das ist jetzt etwas komplizierter.« Max holte einmal tief Luft.

Dann berichtete er von seinem Vorhaben.

»Du bist wahnsinnig«, stellte Jen fest, als er zum Ende gekommen war.

»Genial«, hauchte Alex, was ihm einen vernichtenden Blick von Jen einbrachte.

»Alter, um wie viele Ecken kann man denken.« Chris kratzte sich am Kopf, schürzte die Lippen und verschränkte die Arme. »Aber es könnte klappen.«

Kevin stand augenscheinlich kurz davor, sich die Haare zu raufen. »Wie kommt es eigentlich, dass immer dir solche absurden Ideen einfallen?!«

»Es ist eine Gabe«, erwiderte Max mit einem frechen Grinsen.

»Dabei kann alles schiefgehen.« Jen zog den Reißverschluss ihrer Jacke in die Höhe und ging auf und ab.

»Es geht um Clara.« Max blickte in die Runde. »Unsere Freundin Clara. Was gibt es da zu überlegen?«

»Du meinst: abgesehen davon, dass wir nur einen falschen Schritt machen müssen und alle sterben werden?«

»Genau das meint er. Ich bin dabei«, rief Alex sofort. »Das wird ein Spaß.«

Jen verdrehte die Augen. »Du wärst im Stande, die zivilisierte Welt zu zerstören. Egal, ob das theoretisch möglich ist oder nicht. Ich bin also gezwungenermaßen dabei.«

Die Zwillinge warfen sich einen Blick zu und nickten synchron. »Okay«, sagte Chris. »Wir sind dabei«, ergänzte Kevin.

»Ich habe ja schon zugesagt!«, rief Nikki.

Max schien verblüfft, als habe er mit größerem Widerstand gerechnet.

»Was ist mit Chloe?«, fragte Alex.

»Edison hat verboten, dass sie mitgeht. Chloe und Ataciaru werden hierbleiben müssen. Keine Ahnung, warum.« Er klatschte in die Hände. »Wir müssen zu Kleopatra.«

»Oh.« Alex spürte, wie seine Wangen sich röteten. »Dann sollten wir sie nicht warten lassen.«

Jen bedachte ihn mit einem mürrischen Blick.

2. Sucht euch was aus

 

Es waren keine privaten Räume, es war ein Palast.

Mit offenem Mund starrte Alex auf die verzierten Säulen, die von Hieroglyphen bedeckt waren. Im Boden war ein Pool eingelassen, befüllt mit dampfendem Wasser. Der Duft ätherischer Öle stieg ihm in die Nase.

»Was steht denn da?«. Er deutete auf ein rot umrandetes Rechteck und vermisste einmal mehr die Kontaktsteine.

»Zutritt für Römer verboten«, erwiderte Jen leise. »Diese Frau ist rassistisch.«

»Es sind lediglich schlechte Erfahrungen.« Eine Teenagerin mit schwarzen Haaren und edlen Gesichtszügen betrat den Raum.

Sie trug enge Shorts, ein Top und Sandalen. Die Sonnenbrille hatte sie nach oben geschoben. Während vor dem Castillo Kälte herrschte, war es hier drinnen sommerlich warm.

»Hi.« Alex wurde heiß. »Sie hat das nicht so gemeint.«

Kleopatra maß Jen berechnend von oben bis unten. »Sie kann nichts dafür. Jungen Menschen fehlt es an Weisheit.«

»Stimmt«, blaffte Jen zurück. »Die kommt erst mit dem hohen Alter.«

Die jugendliche Königin warf die Haare zurück und lachte glockenhell. Sofort stimmten Chris und Alex mit ein.

Gemeinerweise verdrehte Jen die Augen. Nikki war eindeutig beeindruckt und musterte sowohl die Umgebung als auch Kleopatra mit großen Augen. Kevin und Max wirkten, als würden sie das Schauspiel genießen und lediglich das Popcorn vermissen.

»Können wir uns dann bitte beeilen!«, fauchte Jen. »Oder wollt ihr vielleicht noch eine Liebeserklärung abgeben?«

Alex konnte nicht verhindern, dass seine Wangen brannten.

Chris zwinkerte Kleopatra freudig zu.

Die Unsterbliche glitt auf ihn zu wie ein wunderschöner Delphin im Wasser. Sie schob die Hand unter Chris’ Muskelshirt und zog ihm selbiges über den Kopf. »Hast du trainiert?«

»Wir sollten uns wirklich beeilen!«, brüllte Alex so laut, dass Jen zusammenzuckte. Zog Kleopatra seinen besten Kumpel hier tatsächlich aus? Wie unfair … unangebracht war das denn?

»Ich kann die Kraft spüren.« Kleopatras Finger glitten über das Tattoo auf Chris’ Rücken. »Die Magie vom Anbeginn, verwoben mit deinen Muskeln.«

Vermutlich hätte Chris im nächsten Augenblick gesabbert, wenn Jen nicht einfach den Zugang zum nächsten Raum angesteuert hätte.

Kleopatra hatte, wie jeder Unsterbliche, ein eigenes Büro mit angeschlossenem Raum. In diesem war durch ein Konstrukt aus Dimensionsfalten ein wahrer Palast untergebracht worden. Die Unsterbliche ließ sich nur ungern in die Karten schauen, doch Alex hatte aufmerksam die Phiolen registriert, die auf einem Regal aufgereiht lagen. Sie schien die Kunst der Zaubertrankzubereitung perfektioniert zu haben und konnte – wie er dank Chris und Chloe wusste – mit ihrem Essenzkampfstab ausgezeichnet umgehen.

Jen stieß das Portal auf. »Ich schaue mich dann mal um.«

Sofort ließ Kleopatra von Chris ab und stapfte ihr hinterher, die Wangen wütend gerötet.

Überhaupt war es Kleopatra zu verdanken, dass sie sich alle noch untereinander verstanden. Nachdem die Kontaktsteine fort gewesen waren und damit niemand mehr übersetzten konnte, wechselten sie ins Englische. Das beherrschten jedoch nicht alle. Dank eines Tranks von ihr wurde die Sprachbarriere überwunden, allerdings mussten alle paar Stunden ein paar Tropfen davon eingenommen werden. Die Übersetzung funktionierte außerdem nur bei gesprochenen Worten. Jeder von ihnen hatte eine kleine Phiole mit Pipette erhalten.

Der angrenzende Raum entpuppte sich als Ankleidezimmer. Mit Diamanten behangene Büsten standen überall, Kleidung hing an Bügeln oder lag zusammengelegt in Schrankfächern. Ringe, Armreife, verzierte Kampfstäbe – hier schien es alles zu geben. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Alex, dass die Kleidung unterschiedlichen Epochen zugeordnet werden konnte.

»Ich werfe Dinge nur ungern weg«, säuselte Kleopatra. »Ihr könnt euch gerne etwas aussuchen.« Ihre Miene gefror, als Jen nach einem Kleid griff. »Nein, das nicht.« Jen ging weiter. »Nein, das auch nicht. Wieso suche ich euch nicht einfach etwas aus?« Sie rempelte Jen förmlich beiseite.

»Pubertät«, zischte diese leise.

Alex nahm sie sachte am Arm und dirigierte sie an das andere Ende des Raumes. Weit fort von Kleopatra.

»Warum hängen hier auch Hosen und Hemden von Männern?«, fragte Nikki.

»Erinnerungen an meine Liebhaber.« Kleopatra strahlte. »Sie sahen ausgesprochen gut aus.«

Alex ließ seinen Blick über die Berge aus Männerkleidung schweifen. »Das sind aber viele.«

»Nicht, wenn man es herunterrechnet.« Kleopatra drehte gedankenverloren eine Haarlocke zwischen ihren Fingern. »Ein langes Leben bringt Einsamkeit mit sich.«

Plötzlich wirkte sie traurig. Er hätte sie gerne in den Arm genommen.

Ein Klatschen ließ ihn zusammenzucken. »Also schön.« Max sah in die Runde. »Wir brauchen alle Kleidung aus den 1970er-Jahren. Der fixierte Tunnel führt immer genau vier Dekaden zurück. Das ist unser erster Zwischenstopp.«

Kleopatra wirbelte durch die Regalreihen und brachte Hemden, Schuhe und Schlaghosen mit.

Am Ende trugen Jen und Nikki einteilige Miniröcke, die mit einem bunten Muster versehen waren, und kniehohe Boots.

Alex bekam orange Schlaghosen, ein marineblaues Hemd und darüber eine orangefarbene Jacke. Kevin und Chris ein eher rotes Outfit, Max ein grünes. Scheußlich! Kleopatra setzte noch einen drauf, indem sie ihren Zauberstab schwang und ihnen allen buschige Locken verpasste.

»Ich mag die Siebziger nicht«, murrte Alex. »Das sieht aus, als hätte ich einen Clown gegessen und er würde sich nun rächen.«

Chris klopfte Alex auf die Schulter. »Denk nicht an uns, schau dir die Klamotten der Frauen an.«

»Irgendwie habe ich bei dieser Sache ein total ungutes Gefühl«, sprach Kevin leise zu Max. »Bist du sicher, dass es in den Siebzigern keine große Katastrophe gab, in die ein Team aus vier Magiern und zwei Magierinnen verwickelt war?«

Max kicherte. »Wundern würde es mich nicht.«

Die beiden begannen zu turteln. Jen und Nikki redeten auf Chris ein und erklärten ihm etwas von Emanzipation, was ihn ziemlich kleinlaut werden ließ. Kleopatra stand vor dem Spiegel und hielt sich ein Diadem vor den Hals. Alles wirkte irgendwie chaotisch, also normal. Als stünden sie nicht vor der größten Niederlage aller Zeiten.

Alex wich zurück und betrachtete die Szene.

Egal, wie das Ganze ausging: Er wollte es so in Erinnerung behalten. Chaotisch. Lustig. Schön.

Er lehnte sich an eines der tieferen Regale. Kurz darauf fuhr er erschrocken hoch. »Aua!«

Auf dem Regal lagen Scherben.

Kleopatra kam mit wütend funkelnden Augen herbei. »Eines meiner liebsten Stücke. Eine Büste, die einer meiner Liebhaber für mich gefertigt hat.«

»Was ist damit passiert?« Große und kleine Bruchstücke lagen dicht beieinander.

»Ich weiß es nicht. Jemand ist hier eingebrochen und hat sie zerstört. Eines Morgens fand ich sie so vor.« Ein Seufzen. »Kein Zauber könnte die Perfektion wiederherstellen. Vermutlich war Eifersucht der Grund«, sinnierte sie. »Manchmal lieben mich die Männer zu sehr.« Sie schaute zu ihm auf, griff nach seinem Kragen. »Dieses Hemd gehörte einem besonders leidenschaftlichen Liebhaber.«

Alex stöhnte auf.

Jen grinste natürlich frech. »Was für eine Ehre. Da freust du dich, Alex, oder?«

»Total. Können wir jetzt gehen? Die Welt retten und so?«

Jen hatte Erbarmen.

Und so verließen sie den Raum, das Castillo und Alicante, um die wichtigste Reise anzutreten, die jemals getan worden war.

3. Ein Angebot, das du nicht ausschlagen kannst

 

Vor einigen Wochen

 

Die Dielen knarzten bei jedem seiner Schritte. Sicherheitshalber zwickte er sich in den Arm. Nein, kein Traum. All das hier war echt. Die Steinblöcke, auf denen Vitrinen seltsame Apparaturen beherbergten; Zahnräder, Bernstein, dunkel schimmerndes Holz. Eine geschwungene Treppe führte auf eine Galerie voller Regale. Bücher standen darin, akkurat aufgereiht. Sie wirkten alt.

Hohe Fenster boten den Blick auf dichtes Grün. Die Sonne schien.

»Wo sind wir?«

»Nicht mehr in London«, erwiderte der bärtige Mann, der sich ihm als Markus vorgestellt hatte.

Doch das war nicht sein wahrer Name.

Alfie ging staunend zwischen den Vitrinen umher. »Und das alles hier ist …«

»Magie«, unterbrach ihn Moriarty. »Apparaturen, die wahre Wunder vollbringen können.«

Er hatte es ihm erzählt. Alles. Dass der Wall das Wissen um die Magie ausgelöscht hatte. Machtgierige Magier hatten die Kontrolle an sich gerissen und überwachten die Nimags aus dem Verborgenen heraus. Hunger, Krankheiten, Armut – all das würde es ohne den Wall nicht geben. Denn mit Magie ließ sich die Ungerechtigkeit der Welt aufheben.

Diese machthungrigen Magier hatten auch die Geschichtsschreibung verändert. Moriarty war gar kein fiktiver Verbrecher gewesen. Er hatte lediglich gegen den Wall gekämpft. Und nun wollte er Alfie dabei helfen, ebenfalls Magie zu wirken.

Zuerst hatte er den bärtigen Mann für einen Irren gehalten, als der ihn an der Bushaltestelle angesprochen hatte. Auch, als der ihm eine Brille in die Hand gedrückt und schließlich einen Holzstab geschwungen hatte, wäre er beinahe davongelaufen.

Doch dann hatte der Regen sie nicht mehr erreicht, war an einem unsichtbaren Schild abgeprallt. Und der mitgeführte Hund hatte sich plötzlich in einen Menschen verwandelt.

Magie existierte.

»Warum ich?«, fragte er zum wiederholten Male.

»Du bist etwas Besonderes.«

Alfie lachte bitter auf. »Das nehme ich dir nicht ab.«

»Ich habe zeit meines Lebens Informationen gesammelt. Über Abstammungen, Blutlinien und Prophezeiungen, die diese betreffen. Du bist wichtig.«

»Damit gibt es offiziell genau einen Menschen, der das glaubt.« Alfie spürte den altbekannten Schmerz in sich auflodern. Traurigkeit, die längst in Bitterkeit und Wut übergegangen war.

Er erinnerte sich an die Abende daheim, vor dem Fernseher. Wie stolz Mum und Dad gewesen waren. Auf Alex. Den tollen großen Bruder, der immer alles richtigmachte. Zumindest glaubten sie das. Dann war Dad gestorben. Und Alex war schuld gewesen.

Kaum hatte sein Bruder einen guten Job, warf er mit Geld um sich und ließ sich kaum noch blicken. Dieser miese Verräter.

»Ich kann dich auch wieder nach Hause bringen«, schlug Moriarty vor. »Du wirst das alles hier vergessen und wieder ein ganz normaler Nimag sein.«

»Nein!« Etwas leiser ergänzte Alfie: »So war das nicht gemeint.«

»Gut, dann verlieren wir nicht länger Zeit. Komm mit!«

Moriarty öffnete eine unscheinbare Tür und führte Alfie hinab in ein Gewölbe. In einem gewaltigen Raum standen Figuren aus Holz, Trainingsmatten lagen aus und in einem Steinbecken kräuselte sich Wasser. Daneben gab es eine kreisrunde Feuerstelle.

»Der Übungsraum«, erklärte Moriarty.

Eine gesamte Wand wurde von Gerätschaften dominiert. Gürtel, Armreife, Ringe, Brillen, rüstungsähnliche Ledermonturen. Alles versehen mit Bernstein- und Chrom-Ornamenten, dazwischen lagen Glasfläschchen.

»All dies sind Artefakte, die es dir ermöglichen werden, Magie zu wirken.« Moriarty deutete mit einem Lächeln auf die Utensilien.

Daneben standen weitere Apparaturen. Metalleier, klobige Pistolen, sogar ein Degen. Dahinter gab es Kisten, die mit Bernsteinen gefüllt waren.

»Da du selbst kein Sigil besitzt und damit auch keine Essenz produzieren kannst, musst du diese aus Speichern abziehen. Es handelt sich dabei um ganz besondere Essenz, die aus dem Blut von Magiern gewonnen wird. Aber dazu später mehr. Das Wichtigste zuerst.« Er griff nach einer Schatulle und öffnete sie.

Ehrfurchtsvoll griff Alfie nach dem unterarmlangen Holzstab, der darin lag. In die Oberfläche waren magische Symbole eingebrannt und mit Metall ausgegossen worden. An verschiedenen Stellen ragte die gewölbte Oberfläche von geschliffenem Bernstein hervor. Chromfäden überzogen das Gebilde, bis hin zum Griff. Daneben lag ein Ring.

»Streife ihn über«, befahl Moriarty.

Alfie kam der Aufforderung nach und nahm den Essenzstab hervor. Er wog schwer in seiner Hand.

»Sobald die Essenz im Stab zur Neige geht, wird der Ring sich erwärmen. Du musst den Zauber dann beenden und frische Essenz in den Stab leiten. Entweder durch einen Speicher oder indem du dich bei einem Magier in deiner Nähe bedienst.«

Alfie riss die Augen auf. »Ich muss jemanden verletzen?«

»Oder jemand gibt dir freiwillig etwas von seiner Essenz.«

»Ich komme mir vor wie ein Vampir.«

Die Antwort bestand aus einem leisen Lachen. »Mit dem Unterschied, dass du gegen das Böse kämpfst.« Moriarty reichte ihm Augengläser, die wie eine der Fliegerbrillen aus dem Ersten Weltkrieg anmuteten. »Aufsetzen. Andernfalls kannst du deine eigenen Zauber nicht sehen, der Wall würde das unterdrücken.«

Der Unsterbliche führte Alfie zu dem Steinpodest, auf dem Holzscheite lagen. »Du wirst diese nun entflammen. Schau mir zu.«

Er vollführte Armbewegungen und erschuf eine grauweiße Spur, die an Ascheflocken erinnerte.

Alfie benötigte fünfzehn Anläufe, bis er endlich rufen konnte: »Ignis Aemulatio!«

Die Scheite vergingen in einer grellen Stichflamme.

»Ausgezeichnet«, flüsterte Moriarty.

»Wirklich?«

»Aber ja. Du hast den Zauber mit so viel Nachdruck vollführt, dass das Feuer alles zerfressen hat. Vorzüglich. Die Symbole werden dir in Fleisch und Blut übergehen.«

Und so lernte Alfie in jeder freien Minute Angriffs- und Verteidigungszauber. Er atmete unter Wasser, imprägnierte seinen Körper gegen Feuer und wechselte die Form von Mensch zu Tier. Mit Contego-Armbändern erschuf er Schutzsphären und dank des Sprunggürtels konnte er blitzschnelle Ortswechsel vollziehen.

Moriarty war ein ausgezeichneter Fechtmeister. Innerhalb kürzester Zeit führten sie einen gefährlichen Klingentanz auf, bestehend aus Battuta, Coupé, Finten und Riposten. Dann kam der Übergang zum Essenzstab, sie nutzten nicht länger Degen.

Essenzfunken sprühten, als Holz auf Holz traf und Magie wirkte.

Irgendwann sagte Moriarty: »Du bist soweit!«

»Wofür?«

»Für die Wahrheit.« Sein Blick nahm einen traurigen Zug an. »Es geht um deinen Bruder.«

4. Das schreckliche Wirken des Alexander Kent

 

Verletzte Menschen rannten durch die Straßen.

Verblüfft blickte Alfie sich um. »Was ist hier los?«

Moriarty bedeutete ihm schweigend, dem Magier zu folgen, in dessen Mentiglobus sie eingetaucht waren. Es handelte sich um einen Mittzwanziger mit rotblonden Haaren und lustigen Sommersprossen auf der bleichen Haut. »Das ist Jason. Er war vor Ort.«

Die Menschen besaßen alle einen südländischen Einschlag.

»Wir sind in der Türkei«, bestätigte Moriarty seine Vermutung. »Und das da war einst eine Bibliothek.«

Das Gebäude war aus hellem Sandstein gebaut und wirkte einladend mit seinen großen Fenstern. Oder hatte es zumindest getan. Denn das Taxi, das oben aus dem Dach herausragte, passte so gar nicht ins Bild.

»Dein Bruder und seine Gefährten hatten Angst, dass wir ein Artefakt bergen, das in der Bibliothek verborgen liegt«, erklärte Moriarty. »Es kam zu einem Kampf. Dass dabei auch Nimags verletzt wurden, hat keinen der sogenannten ›Lichtkämpfer‹ gekümmert.«

Alfie bebte innerlich, als er die panisch geweiteten Augen der Menschen ringsum bemerkte. Sie steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten.

»Man wird das Ganze einer Terrorvereinigung in die Schuhe schieben«, konstatierte Moriarty. »Der Lauf des Lebens.«

»Das glaube ich nicht.« Alfie schüttelte den Kopf. »Alex würde so was nicht tun. Niemals.«

»Ach nein?«

»Nein! Das war jemand anderes. Und alle glauben nur, dass er es war.« Tief in seinem Inneren wurde die Wut zu einem schmerzenden Geschwür. Er wollte Alex packen und vermöbeln, seit er wusste, warum ihr Vater gestorben war. Erst kürzlich war die Wahrheit ans Licht gekommen, als er den Zettel gefunden hatte.

Aber ein Mörder? Nein, das war er nicht.

Moriarty bewegte seine Hände.

Die Aschespur ließ die Erinnerung vergehen. Sie fanden sich unter Wasser wieder und im ersten Augenblick fuchtelte Alfie panisch mit den Händen.

»Jason kann atmen, also beruhige dich«, sagte Moriarty. »Es ist nur eine Erinnerung.«

Sie glitten auf eine Kuppel zu. Sie war wunderschön, geschaffen aus Gold, Silber und Glas. Der Eingang öffnete sich vor ihnen – eine Luke. Der erste Tote lag im Gang. Es waren prächtige Geschöpfe, die in ihrer Form Delphinen mit Armen und Beinen ähnelten.

Jason erbrach sich.

Beinahe wäre es Alfie ebenso ergangen.

»Dieses Massaker …«

»Das war er nicht«, flüsterte Alfie.

Doch Jason ging gnadenlos weiter. In einer gewaltigen Halle voller Eier stand Alex. Er schoss um sich, wie ein Verrückter, neben ihm stand eine Inderin mit hassverzerrtem Gesicht. Die kleinen Delphine, die aus den Eiern krochen, wurden zerfetzt.

»Nein!« Tränen verschleierten Alfies Sicht.

»Schau hin!«, brüllte Moriarty. »Das ist dein Bruder. Er zerstört und vernichtet. Leben bedeutet ihm und seinen Kumpanen nichts. Das hier waren friedliche Geschöpfe, die seit dem Anbeginn existierten. Doch wer den Wall nicht akzeptiert, wer dagegen vorgeht, der wird eliminiert. Es spielt keine Rolle, ob Nimag, Magier oder magisches Wesen.«

Moriarty ließ den Traum verwehen.

Alfie sank schluchzend zu Boden, direkt neben seine Sporttasche. Eigentlich sollte er beim Boxen sein. Boxen! Noch vor ein paar Wochen war ihm das wichtig erschienen. Medaillen erringen, seine Gegner fertigmachen. An die Spitze gelangen, damit sie ihn endlich wahrnahmen, ihn sahen.