Das Erbe der Macht - Band 20: Seelensplitter - Andreas Suchanek - E-Book

Das Erbe der Macht - Band 20: Seelensplitter E-Book

Andreas Suchanek

4,7

Beschreibung

Immer mehr Verfolgte erreichen die Zuflucht. Alex, Jen und Max suchen nach einem Weg, in das Reich der Aquarianer vorzudringen, um ihre Freunde zu retten. Gleichzeitig müssen sie den Schmerz über den Verlust eines der ihren bewältigen. Unterdessen kann Grace Humiston dem Untergang des Archivs entgehen, findet sich aber in einem albtraumhaften Splitterreich wieder. Handelt es sich um einen letzten Hinweis der Archivarin? Das Erbe der Macht ... ... Nominiert für den Deutschen Phantastik Preis 2019 in "Beste Serie"! ... Gewinner des Lovelybooks Lesepreis 2018! ... Gewinner des Skoutz-Award 2018! ... Silber- und Bronze-Gewinner beim Lovelybooks Lesepreis 2017! ... Platz 3 als Buchliebling 2016 bei "Was liest du?"! Das Erbe der Macht erscheint monatlich als E-Book und alle drei Monate als Hardcover-Sammelband.

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Table of Contents

Seelensplitter

Was bisher geschah

Prolog

1. Nach dem Fall der Ordnung

2. Die eine Klinge teilt die Wirklichkeit

3. Im Licht des Bernsteins

4. Das Kabinett des Grauens

5. Unter der Kuppel

6. In die Tiefe

7. Leid, gegossen in Stein

8. Der ewige Gelehrte

9. Das Wispern vom Anbeginn

10. Wohin soll das führen?

11. Die ewige Jagd

12. Der Fall der Tessa McDougal

13. Das Wiedersehen

14. Ich werde dich immer halten

15. Die Sünden der Väter

16. Ein Opfer für die Ewigkeit

17. Der alte Mann und die Kerze

18. Ein Mosaik aus Seelen

19. Das Infernale vom Anbeginn

20. Das Ende eines Unsterblichen

21. Die Tragik der Geschichte

22. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft

23. Gemeinsam gegen den Anbeginn

24. Im Lichte des Bernsteins

25. Tee und Gebäck

26. Abschied

Epilog I

Vorschau

Seriennews

Glossar

Impressum

Das Erbe der Macht

Band 20

»Seelensplitter«

von Andreas Suchanek

 

Was bisher geschah

 

Die alte Ordnung ist gefallen.

Bran holt zum großen Schlag aus und fegt das Castillo, die Lichtkämpfer und die Schattenkrieger hinweg. Hinter der Maske des Gegners von Leonardo und Johanna verbirgt sich in Wahrheit Merlin von Avalon, der im Onyxquader heranreifte, um mit der Macht vom Anbeginn das ewige Leben und die absolute Herrschaft zu erlangen.

Auch Alex und Jen sind mit der Geschichte verwoben. In ihnen wohnen die Seelen von Guinevere und Lancelot, wiedergeboren in jeder Generation. Während Alex von Morgane Le Fay in die Hintergründe eingeweiht wird, die in Dark London die Sigile um sich geschart hat, erfährt Jen die Wahrheit von Artus. Dieser wurde nach seinem Tod zum Unsterblichen. Sie kennt ihn als Dylan.

Im Castillo gelingt es Merlin, jeden Widerstand zu brechen. Nur dank Max, Annora, Nils und Kevin wird das Verlorene Castillo zu einer Zuflucht ausgebaut. Hier finden die magischen Familien, Unsterblichen und alle übrigen, von Merlin Gejagten, Unterschlupf.

Bevor die Freunde aus dem Castillo fliehen können, aktiviert Merlin den Zwillingsfluch. Es kommt zu einem dramatischen Kampf, an dessen Ende Chris stirbt. Kevin wird durch einen Dimensionsriss in die Unterwasserwelt der Aquarianer gezogen, wo das Schicksal von Nemo und Nikki noch immer ungewiss ist.

Im Verlorenen Castillo lecken unsere Freunde ihre Wunden. Doch wie können sie gegen einen übermächtigen Feind wie Merlin dauerhaft bestehen?

 

Wir haben es getan.« In den dunklen Augen von Angrel lag Angst.

»Dann geht es um alles«, stellte Nemo noch einmal klar, den Rücken durchgestreckt. »Ein Riss für wenige Sekunden wird genügen.«

Es war der letzte Ausweg. Der Verrat von Chloe hatte ein ganzes Volk zum Untergang verdammt, falls sie keinen Fluchtweg fanden. Das Splitterreich war verschlossen, das Zugangspermit fort.

Am liebsten wäre Nikki selbst gegangen, um Zeit zu sparen. Doch der Kragen aus Holz und Metall lag noch immer schwer auf ihrer Schulter und umschloss ihren Hals. Bisher widersetzte das Artefakt sich jedem Zauber. Damit war ihre besondere Fähigkeit des Springens neutralisiert.

»Ich bin schon groß, weißt du.« Chris strich mit seinen Fingern langsam über ihre Wange.

Die Wahrheit war simpel. Chloe hatte den Trank aus Chris‘ Körper herausgesaugt, den er benötigte, um unter Wasser zu atmen. Nur mit knapper Not hatten sie ihn stabilisiert und hielten gemeinsam eine kleine Sauerstoffsphäre aufrecht. Doch wenn Chris durch den Spalt verschwand, war das Problem gelöst, er war in Sicherheit.

»Du bist alles, aber nicht groß.« Nikki lächelte ihrem Freund zu und genoss die Berührung seiner Fingerspitzen auf ihrer Wange.

Da waren sie wieder: die Schmetterlinge, die in ihrem Magen aufstoben und Glücksgefühle flirrend durch ihre Adern schickten.

»Ich liebe dich.« Ihre Stimme war nur ein Hauch.

»Ich dich auch.«

Chris küsste sie sanft auf die Lippen. Es schmeckte salzig, was sie zum Lachen brachte.

»Was ist?«

»Ich musste nur gerade an unseren Ausflug denken.«

»Neuseeland?«

»Heimat.« Nikki wollte dorthin zurück. Mit Chris. »Das nächste Mal bekommst du Badehosenverbot.«

»Die hatte ich doch sowieso nie an. Das ist der Vorteil, wenn man einfach verborgene Strände anspringen kann.«

»Pass auf dich auf, ja? Chloe wird mittlerweile zurückgekehrt sein und mit Bran gesprochen haben. Geh auf direktem Weg zu Johanna. Oder Tomoe. Von mir aus auch Kleopatra.«

»Aye, Ma’am.« Chris salutierte.

»Kindskopf. Dabei bin ich doch die Jüngere.«

Ein letzter Kuss, dann trat er einen Schritt zurück. »Ich bin bereit.«

Nemo, der still abgewartet hatte, gab dem Aquarianer einen Wink.

Die Essenz war aus den Batterien der Schutzsphäre abgezogen worden, um einen Riss zu öffnen, ein Portal direkt ins Castillo. Ein gewaltiges Areal voller Korallenhäuser lag nun außerhalb der Sphäre und wurde von den Wesen des Anbeginns zerstört.

In einem kurzen Aufwabern bildete sich der Riss. »Bis gleich.«

Chris verschwand.

In gespannter Erwartung standen Nemo, Nikki und Angrel vor der Passage. Das geschlechtslose Wesen schaute immer wieder zu der feindlichen Armee, bevor sein Blick auf den Riss zurückkehrte. Sie alle hofften auf die Hilfe der Unsterblichen.

Wenn einer von diesen mit einem Permit zurückkehrte, das die Passage erneut öffnete, konnten sie die Aquarianer in den Ozean auf der Erde evakuieren.

Doch es kehrte kein Unsterblicher durch den Riss zurück.

Es war Kevin.

Am Boden kauernd, mit tränenverschleiertem Blick. Die Sphäre umhüllte ihn und spendete Sauerstoff, doch er sah so aus, als hätte er sie am liebsten gelöscht, um der Realität für immer zu entkommen und zu ertrinken.

Nikkis Magen verkrampfte.

Die Schmetterlinge fielen tot herab.

»Was ist passiert?«, fragte sie, obwohl sie es längst wusste. Als Kevin nicht antwortete, rief sie: »Was ist passiert?!«

Vorsichtig sah er auf.

Der Schmerz in seinem Blick war das Spiegelbild ihres eigenen.

»Chris ist tot.«

Und Nikkis Glück starb in drei Worten voller Endgültigkeit.

 

Gedankenverloren stand Alex auf den Zinnen und ließ seinen Blick über die umgebende Wüste schweifen. Das Verlorene Castillo war Zufluchtsort und Falle zugleich. Es gab nichts, was die Mauern und Zinnen vor wachen Augen verbarg. Nimags mochten durch eine Illusionierung getäuscht werden, nicht jedoch die Jäger, die in Merlins Auftrag nach ihnen allen suchten. Wann würde einer von ihnen die alten Mentigloben prüfen und sich auf die Suche nach diesem Ort machen?

In der Ferne erkannte er die Silhouetten von Frau Franke, die Saatgut ausbrachte; magische Pflanzen, die im Notfall als Verteidigungswall genutzt werden konnten und deren Wurzeln so weit reichten, dass sie selbst ferne Beobachter zurückmelden konnten.

»Was machst du hier?« Arme umschlangen seine Hüften, Lippen berührten sanft seinen Nacken.

»Das ist gut, mehr.«

Jen kicherte in sein Ohr, ignorierte die Bitte jedoch. »Vorbereitungen für die Abwehr?« Sie legte ihr Kinn auf seine rechte Schulter.

»Wohl eher ein Placebo. Wenn Merlin wirklich hier auftaucht, fegt er das alles nieder. Er besitzt immerhin die Macht des Walls.«

»Du meinst, sie lenken sich ab, genau wie du?« Jen drehte ihn zu sich herum. »Du bist doch nur hier heraufgekommen, um ihn im Blick zu behalten.« Sie deutete in die Höhe.

Über den Zinnen der Burg schwebte der Zeppelin von Moriarty, in dem sich auch Alfie befand. Alex‘ Bruder hatte sich bisher geweigert, nach unten in das Castillo zu kommen und Madison verboten, Alex hinaufzubringen.

»Ich will doch nur mit ihm sprechen!«

»Bei eurer letzten Unterhaltung hätte er dich beinahe umgebracht«, merkte Jen an. »Moriarty hat ihn mit seinen Lügen vergiftet.«

»Eben. Ich will das klarstellen. Dann können wir Moriarty gemeinsam vor die Tür setzen.«

Jen seufzte. »So einfach wird das nicht. Die East End ist wichtig. Außerdem haben die Magier, die ehemals Schattenkrieger waren, auch ein Recht auf Schutz. Immerhin hatten sie mit ihrer Wut auf den Wall recht.«

»Das ist doch nicht dein Ernst!«

»Nicht mit ihren Methoden«, wiegelte Jen ab, »aber mit ihrer Vermutung, dass der Wall etwas Schreckliches auslösen wird.«

Ihre Worte machten einmal mehr deutlich, wie sehr sich alles verändert hatte. Jen war stets versessen darauf gewesen, die Regeln einzuhalten. Heute besaßen genau diese Regeln keine Bedeutung mehr, hatten sich sogar als fataler Fehler entpuppt.

»Gehen wir runter«, bat sie ihn. »Tilda hat gekocht, und da viel zu wenig Nahrungsmittel vorhanden sind, solltest du lieber zuschlagen, bevor alles weg ist.«

Hand in Hand verließen sie die Zinnen.

Ein neues Gefühl. Seltsam und doch vertraut. Wie oft waren sie in ihren früheren Leben bereits Hand in Hand über Straßen geschlendert, auf Promenaden entlang oder Berge hinauf? So viel Erlebnisse, gemeinsame Geschichten, doch keiner von ihnen konnte sich daran erinnern. Bei Jen würde es wohl losgehen, jetzt, wo der Anfang gemacht war. In seinem Fall gab es da jedoch das kleine Problem, dass er in diesem Leben ein Magier war und es nicht hätte sein dürfen.

»Du bist ein wandelnder Regelbruch«, hatte Jen gestern Nacht in sein Ohr geflüstert. »Das ist sexy, aber gefährlich.«

Es war der beste Sex gewesen, den er jemals gehabt hatte. Seit Jen den Drachen in sich entdeckt hatte, war sie wilder geworden. Es schien, als akzeptierte sie zu einem gewissen Grad, dass sie das Tier bändigen musste. Gleichzeitig spielte sie damit, ihm Raum zu geben. Was eine einzelne Stunde bei Wesley Mandeville doch auslösen konnte.

Danach hatten sie stundenlang geredet, geweint und noch mehr geredet. So viele Freunde waren während des Aufstands gestorben, allen voran Chris.

Immer wieder kamen Erinnerungen an gemeinsame Abende mit dem Freund an die Oberfläche, getestete Zauber und ausgeheckte Streiche. Sein Tod lag zwei Tage zurück, der Schmerz war noch frisch. Gemeinsam mit Annora hatten sie beschlossen, eine Beerdigung abzuhalten, jedoch erst, wenn Nikki und Kevin wohlbehalten zurückgekehrt waren.

Jen und er stiegen die unebenen Stufen hinab und eilten durch die Gänge der neuen Zuflucht. Um sie herum herrschte formvollendetes Chaos. Licht- und Schattenkrieger brüllten einander an, andere wirkten apathisch, wieder andere brannten darauf, zurückzuschlagen. Vor allem jene, die nicht mit Merlin selbst konfrontiert worden waren, sprachen von einem Gegenschlag. Immerhin waren es ihre eigenen Leute gewesen, die sie verraten hatten.

Glücklicherweise schien es eine deutliche Überzahl an ehemaligen Lichtkriegern zu geben, andernfalls befänden sie sich schon mitten im Kampfgeschehen.

Im Speiseraum, der aus langen Bänken und Tischen bestand, saßen unzufriedene Magier und starrten in ihre Schüsseln.

»Der Garten von Frau Franke gibt eine Menge her und die Früchte sind durchaus nahrhaft, aber viele akzeptieren die Veränderungen nicht«, flüsterte Jen.

Brot gab es keines, ebenso wenig Fleisch. Die gesamte Nahrung, die Tilda für sie alle zubereitete, basierte auf den Pflanzen des Gartens. Das passte nicht jedem. Die Unzufriedenheit war bei allen groß, über ehemalige Zugehörigkeiten hinweg. Alex konnte vor sich sehen, wie neue Allianzen entstanden und alte vergingen. Das leitende Element fehlte, da die Unsterblichen alle fort waren.

Sah man von einem ab.

Moriarty saß still in der Ecke und beobachtete alles, umgeben von einer Handvoll getreuer Schattenkrieger.

»Was heckt er jetzt wieder aus?«, flüsterte Alex.

»Wir behalten ihn ihm Auge.« Jen schob Alex nachdrücklich in Richtung Durchgang zur Küche.

Im nächsten Augenblick fand er sich in einer Umarmung wieder, die jede Luft aus seiner Lunge presste.

»Tilda … ich … Luft«, keuchte er.

»Entschuldige.« Prompt kniff sie ihn in die Wange. »Aber ich habe erfahren, dass du beinahe gestorben wärst.«

Bevor sie aufkommen konnten, verbannte Alex die Erinnerungen an seine Verletzungen in Dark London. Ohne Morganas Hilfe wäre er tatsächlich daran gestorben. Einer von vielen.

»Hier, iss!« Sie deutete auf einen kleinen Tisch, auf dem zwei Schüsseln standen. »Für dich ist auch etwas dabei, Jen.«

Sie bedankten sich bei Tilda und nahmen Platz. Weit weg von Chaos und Trubel.

Am liebsten hätte Alex sich zurückgezogen, um gemeinsam mit Jen die Welt auszusperren. Eine Insel oder eine abgelegene Hütte in den Himalaya-Bergen, Hauptsache weg. Der Tod von Chris, der Verlust von Chloe, der vergebliche Versuch, einen Weg zu Nikki, Nemo und Kevin zu finden – all das schien sich einem Berg gleich über ihm aufzutürmen. Einem Berg, der jederzeit einstürzen konnte.

»Hör auf damit«, sagte Jen bestimmt.

»Aber es schmeckt so gut.« Was eine glatte Lüge war.

»Du weißt sehr genau, was ich meine.« Sie ließ ihren Löffel sinken. »Vor uns liegen so viele Herausforderungen. Ein Problem nach dem anderen.«

Und prompt betrat eines die Küche.

»Ah, du«, sagte Dylan, nachdem sein Blick auf Alex gefallen war.

»Ah, Dylan.« Alex nickte mürrisch.

»Ich heiße Artus.«

»Wenn ich mein Königreich in den Sand gesetzt hätte, wäre mir mein Fake-Name lieber.«

»Manche von uns stehen eben zu ihrem Lebenswerk, auch wenn es durch Verrat zerstört wurde. Falls du irgendwann auch mal etwas zustande bringst, wirst du das verstehen.«

Alex packte Jen an der Hüfte und zog sie ruckartig heran. »Immerhin habe ich das Mädchen.« Er schenkte Dylan ein gemeines Grinsen, bis er Jens Blick bemerkte. »Was? Stimmt doch?«

»Was hast du nur je an diesem Gassenjungen gefunden?« Dylan schüttelte den Kopf.

»Schluss jetzt!«, befahl Jen. »Vielleicht ist es euch nicht aufgefallen, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für ein Duell.«

Ein Zweikampf war eine ausgezeichnete Idee, wie Alex fand. Er schwieg jedoch, um Dylan diesbezüglich unter vier Augen anzusprechen.

»Wir müssen einen Weg in dieses Unterwasserreich finden, um unsere Freunde zu retten. Alles andere muss zurückstehen!«

»Deshalb bin ich hier.« Dylan verschränkte die Arme. »Hättet ihr mich früher eingeweiht, wäre das alles noch einfacher gewesen. Folgt mir.«

Ohne einen Blick zurück verließ er den Raum.

Eine ganz miese Taktik, die Alex selbst schon einige Male angewandt hatte. Wenn man die Antwort wollte, musste man folgen. Und genau das taten Jen und er.

 

Hinter Jen betrat Alex die Bibliothek.

Während er an manchen Orten das Castillo erkannte, in dem er bisher gelebt hatte, so war der Ort doch an anderer Stelle völlig fremd. Die Mauern waren lange vor dem Zentrum in Alicante errichtet worden, im Zuge der Erschaffung des Walls jedoch der bekannten Tragödie zum Opfer gefallen.

Die Bibliothek entpuppte sich als gewaltiger Raum, an dessen Stirnseite ein Kamin in die Wand eingelassen war. Die Regale zogen sich in langen Reihen durch den Raum und bestanden aus verziertem Gestein, in das Fresken geschlagen worden waren. So entstanden lange Reihen, unterteilt in Fächer, voller Werke. Gleichzeitig wirkte der Raum kühler, als es sein Pedant im Castillo getan hatte.

»Da seid ihr ja endlich.« Max saß auf einem Stuhl, dunkle Ränder lagen unter Max‘ Augen, sein verstrubbeltes Haar definierte das Wort ›Chaos‹ neu.

Bei jeder seiner Bewegungen knarzte der Stuhl bedenklich, was bei einem Leichtgewicht wie Max einiges über die Stabilität der Bauweise aussagte.

Vor dem Kamin stand ein Tisch aus dunklem Holz, der einen gewaltigen Stapel Bücher beherbergte. Darüber schwebten Luxsphären, die goldenen Schein herabwarfen.

»Was gibt es?«, erklang eine weitere Stimme.

Mit schnellen Schritten kam Annora Grant herbeigeeilt.

»Das würde ich auch gerne wissen.« Jen nahm die Bücher in Augenschein. »Es wundert mich, dass es hier überhaupt noch Schriften gibt. Sollten die nicht alle weggebracht werden?«

Alex erinnerte sich nur ungern an das Intermezzo an diesem Ort zurück. Gemeinsam mit Jen war er hier gelandet, nachdem die Schattenfrau eines der Sprungportale manipuliert hatte. Ursprünglich hatten alle Schriften und Artefakte ins neue Castillo gebracht werden sollen. Doch eine gewaltige Attacke der Schattenkrieger hatte das Vorhaben zunichtegemacht. Einige Artefakte – und wie es aussah auch Bücher – waren zurückgeblieben.

Die verbliebenen Lichtkämpfer hatten vor der Übermacht der Schattenkrieger die Wahl zwischen zwei Lösungen gehabt, bedauerlicherweise hatten sie die falsche gewählt. Als Folge waren alle innerhalb der Mauern gestorben, und in den Katakomben schwirrte ein Geist namens von Thunebeck herum.

»Wir haben eine Lösung gefunden«, erklärte Max, wobei er auf Dylan deutete. »Artus und ich.«

Der ehemalige König von Camelot verschränkte die Arme.

Alex ballte still die Hände zu Fäusten. Sobald er Dylan anblickte, spürte er eine Mischung aus Eifersucht und unbändiger Wut in sich aufsteigen.

»Dieses ewige Siegel, das auf dem Splitterreich liegt«, sprach Max weiter, »konnte von Chloe nur durch ein Artefakt aufgebrochen werden, das Merlin aus einem geheimen Teil der Verbotenen Katakomben entwendet hat. So weit konnten wir alles rekonstruieren. Bedauerlicherweise fehlt uns ein solcher Siegelbrecher.«

Annora betrat die Bibliothek und rieb sich die müden Augen. Sie half beständig dabei, das Überleben aller Geflüchteten zu schützen. Dazu gehörte es auch, Streit zu schlichten, die Nahrungsversorgung und die Räume zu organisieren. All das hinterließ seine Spuren, unter anderem in Form dunkler Augenringe.

»Ich wusste, dass ich dir vertrauen kann, Max.« Die alte Dame sank auf einen Stuhl des Tisches. »Was habt ihr gefunden?«

Alex trat neben Annora und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. Sie ließ sich nichts anmerken, doch er konnte den Schmerz spüren, der sie wie eine düstere Wolke umgab. Sie nutzte die Arbeit, um sich abzulenken, stellte sich den unmittelbaren Herausforderungen. Trotzdem hatte sie ihre Tochter, deren Mann und Chris verloren.

Manchmal, wenn er Annora betrachtete, sah Alex wieder die junge Ordnungsmagiern, die er in den 1970er-Jahren kennengelernt hatte. Sie hatte auf dem Weg so viele Menschen verloren. Trotzdem gab sie niemals auf.

Dankend griff Annora nach seiner Hand und drückte sie.

»Das ewige Siegel wurde auf die gleiche Art erschaffen wie auch das Zeitreiseportal im Refugium des Ersten Stabmachers«, erklärte Max. »Zwölf Unsterbliche mussten es vereint erschaffen. Ein normaler Magier kann es nicht lösen, selbst elf Unsterbliche gemeinsam würde es nicht gelingen.«

»Einzig zwölf.« Annora nickte und griff nach einem der Bücher. »Ich kenne dieses Werk. Popows Abhandlung über die Struktur magischer Siegel. Ein Standardwerk für Ordnungsmagier bis in die 1980er. Da wurde es abgelöst.« Sie betrachtete die Skizze, ein magischer Kreis mit allerlei lateinischen Worten ringsum. »Bedauerlicherweise sagt uns das lediglich, was wir nicht können.«

Dylan trat nach vorne und griff nach einem anderen Buch. »Popow geht aber darauf ein, dass Siegel durch die Macht des Anbeginns geschwächt werden. Je nach Intensität sogar massiv, bis hin zur vollständigen Destabilisierung. Chloe O’Sullivan verweigert jede Kooperation, doch sie berichtete von einer Bedrohung des Anbeginns auf der anderen Seite.«

»Deshalb musste auch ein ewiges Siegel genutzt werden«, schloss Annora. »Ein gewöhnliches wäre durch die Bedrohung vernichtet worden, doch ein ewiges Siegel ist stabil. Ms O’Sullivan war darüber hinaus aber nicht sehr kooperativ. Als ich mit ihr sprach, erwähnte sie lediglich, dass das Seelenmosaik bewahrt wurde.«

»Auch danach haben wir gesucht.« Max schüttelte den Kopf. »Vergeblich. Was auch immer dieses Seelenmosaik ist – in keinem der Bücher steht etwas dazu. Dafür fanden wir in einer Abhandlung aus dem 13. Jahrhundert aber eine Lösung.« Er grinste triumphierend, was jedoch eher an ein sterbendes Irrlicht erinnerte. Von der sonstigen Euphorie und Quirligkeit war auch bei Max nichts geblieben. Er sorgte sich um seinen Verlobten.

»Die Abschrift hat irgendwie den Weg von Iria Kon in eine alte Mönchsabtei gefunden«, ergänzte Dylan. »In ihr steht: ›Die eine Klinge teilt die Wirklichkeit. Geschmiedet in den Feuern, die keine sind. Erschaffen von dem Schmied, der keiner war. Bewahrt von der Göttin, die niemand kennt.‹ Was nur eines bedeuten kann …«

Auf die verwirrten Blicke von Jen, Alex und Annora hin zog Dylan Excalibur aus der Lederscheide an seinem Gürtel. Der Essenzstab verströmte tatsächlich den berühmten Hauch des Grauens, der jedes Artefakt vom Anbeginn umgab. »Geschmiedet in den Feuern des Anbeginns, die jedoch nicht das sind, was wir unter Feuer verstehen. Von einer Kreatur aus alten Zeiten. Gestohlen von der Herrin vom See.«

»Eine Macht des Anbeginns, so stark wie keine andere.« Annora nickte. »Excalibur könnte in der Tat der Schlüssel sein, doch nehmt euch in Acht. Ihr dürft nur einen Riss öffnen, um auf die andere Seite zu wechseln. Holt unsere Freunde zurück, aber beschädigt das Siegel nicht dauerhaft. Was auch immer dort verborgen wurde: Es war so gefährlich, dass zwölf Unsterbliche zusammenfanden und alle der Meinung waren, dass es getan werden musste.«

»Die guten alten Peptalks.« Alex nickte in Richtung Excalibur. »Wenn Dylan keinen Mist baut, kriegen wir das sauber hin.«

»Mein Name ist Artus von Camelot«, blaffte er. »Für dich ›Eure Majestät‹, du Verräter.«

»Artus vom verlorenen Königreich, kann ich mir merken«, gab Alex zurück. »Und da du Jen und mich ja so gerne inkognito aufsuchst, bleiben wir doch dabei. Wie war eigentlich sein Fake-Nachname?«

Jen lächelte verschmitzt.

»Das tut nichts zur Sache«, stellte Dylan klar.

»Dylan King«, erwiderte Jen.

»Oh Mann, ich sehe so viele Minderwertigkeitskomplexe.« Alex sonnte sich in dem Gefühl des Triumphs, denn Dylan kochte vor Wut. »Wir haben einen tollen Psychologen hier. Wesley Mandeville. Er kann dich zurückschicken in deine eigene Lebenszeit. So ein kleiner Ausflug in die Vergangenheit tut dir bestimmt gut.«

Zugegeben, es hatte etwas Beängstigendes, wenn ein breitschultriger Berg wie Dylan mit Mordlust im Blick die Fingergelenke knacken ließ. Mit dem dunklen Haar und dem Vollbart wirkte er so gar nicht mehr wie ein Chirurg.

»Schluss jetzt«, warf Jen ein. »Wir gehen auf eine Mission, da können wir dieses Alphatierchen-Gehabe nicht brauchen.«

»Hör auf sie«, blaffte Dylan.

»Das gilt besonders für dich«, brüllte Jen. »Du hast mich belogen, und so weit ich weiß, wolltest du mich in einem früheren Leben heiraten?!«

»Also das ist jetzt wirklich …«

»Schluss«, unterbrach sie Dylan.

»Ich stimme Jen zu.« Annora erhob sich. »Es geht um das Leben meines Enkels. Max wird euch begleiten, doch ihr seid kein eingespieltes Team. Das alleine ist bereits gefährlich. Macht es nicht noch schlimmer.« Sie ließ ihren Blick über ihre Gesichter wandern. »Bringt mir meinen Enkel zurück.«

Mit einem Mal lag so viel Schmerz in Annoras Stimme, dass niemand mehr ein Wort zu sagen wagte.

 

Etwas zerbrach.