Das Erbe der Macht - Schattenchronik 2: Feuerblut - Andreas Suchanek - E-Book

Das Erbe der Macht - Schattenchronik 2: Feuerblut E-Book

Andreas Suchanek

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Beschreibung

Endlich kann Jen den Folianten lesbar machen und erfährt den Inhalt von Joshuas Prophezeiung. Geschockt realisieren die Freunde, dass der Wall in größerer Gefahr schwebt, als bisher gedacht. Ein Rennen gegen die Zeit beginnt. Unterdessen stellt Leonardo ein Team zusammen, das die Identität der Schattenfrau aufdecken soll. Die erste Spur führt zu den Ashwells – und für Clara zu einer Konfrontation mit ihrer Vergangenheit. Machtvolle Zauber, gefährliche Artefakte, uralte Katakomben und geheime Archive. Kämpfe mit den Lichtkämpfern und dem Rat des Lichts - Johanna von Orleans, Leonardo da Vinci und viele mehr –, um den Erhalt der Menschheit. Das Erbe der Macht ... ... Gewinner des Deutschen Phantastik Preis 2019 in "Beste Serie"! ... Gewinner des Lovelybooks Lesepreis 2018! ... Gewinner des Skoutz-Award 2018!

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Table of Contents

Schattenchronik 2

Feuerblut

Prolog

1. Heiße Schokolade mit Plätzchen

2. Kriegsrat

3. Alles, was vom Leben blieb

4. Eine Spur im Schatten?

5. Home Sweet Home

6. Ein Hauch von Zimt und Morgenröte

7. Zieh eine Karte

8. Eine frustrierende Suche

9. Familie

10. Eine Schande

11. Das Pergament

12. Der Glanz vergangener Zeiten

13. Feuerblut

 14. Den Tod im Angesicht

15. Vie dans la Mortalité

16. Ein Comte, ein Schatten und ein Mord

17. Im Schein der Pyramide

18. Der Feind im Schatten

19. Ein Hauch von Schicksal

20. Wie naiv bist du eigentlich?

21. Geteiltes Leid ist halbes Leid

22. Unter Geschwistern

23. Hoffnung aus Lehm

24. Ein Regen aus Feuer

25. Remember, remember

26. Quo vadis?

27. Am Ende eines langen Tages

28. Was ist, wird nie mehr sein

29. Ein Echo aus dem Gestern

Silberregen

Prolog

1. Das Erwachen

2. Keine Widerrede

3. Das ist kein Spiel!

4. Tief unter den Gassen von …

5. Ein Bauwerk aus Chrom und Stahl

6. Ein Augenblick, ein Stundenschlag …

7. Eine Welt ohne Wall

8. Im Haus der Lady

9. Lagerfeuer und Marshmallows

10. Ein unerwarteter Besuch

11. Das Recht auf Wut

12. Der erste Schritt

13. Stören wir?

14. Nur ein Schritt

15. … tausend Jahre sind ein Tag

16. Let’s go

17. Das Monster von Whitechapel

18. Der Tower mal ganz anders

19. Eine Zuflucht

20. Wer manipuliert hier wen?

21. Ein Gespräch unter Feinden

22. Im Schatten der Macht

23. Ein Regen aus Silber

24. Habt ihr mich vermisst?

25. Abschied

26. Das Opfer

27. Kriegsrat

28. Was die Zukunft bringen mag?

29. Das letzte Sandkorn

Schattenfrau

Prolog

1. Begreifst du, was das ist?

2. Seife und Suppe

3. Nur ein Tropfen

4. Familie

5. Ein Unwetter zieht auf

6. Fehlschlag

7. Das ändert alles

8. Die Stadt der Rosinen

9. Wie ungezogen

10. Taxi gefällig?

11. Die Macht des Geistes

 12. Das Familiengeheimnis

13. Vertauschte Rollen

14. Staub und Spinnweben

15. Was ist hier passiert?

16. Ein letzter Versuch

17. Was nie hätte geschehen dürfen

18. Das Schicksal entscheidet

19. Leid hat mich zerbrochen

20. Über dunkle Ebenen

21. Ein Pakt mit dem Teufel

22. Ein Siegel bricht

23. Wer du jetzt bist, das war ich einst …

24. … Wer ich jetzt bin, das wirst du sein!

Glossar

Impressum

Das Erbe der Macht

 

Schattenchronik 2

Feuerblut

von Andreas Suchanek

 

 

 

 

 

 

IV

 

Feuerblut

Prolog

 

Die Wahrheit offenbarte sich.

Tausend Ameisen und mehr krochen über ihren Körper, den Nacken hinauf, das Rückgrat entlang, überzogen Arme und Beine. Nein, es waren keine Tiere. Mit schwarzer Tinte geschriebene Buchstaben durchdrangen Haut und Poren, als habe ein irrer Tätowierer seinen Wahn an Jen ausgelebt.

Sie taumelte. Der Foliant blieb aufgeschlagen auf dem Tisch des Turmzimmers zurück, während sie nur mühevoll ihre Balance halten konnte. Das Mondlicht fiel durch die Fenster in den Raum, verströmte einen sphärischen Glanz. Ein Schimmer silbernen Lichts bedeckte Regale, Couch, Stühle und die von ihren Freunden liegengelassenen Kleinigkeiten.

Deine Augen bestanden aus purem Quecksilber, erinnerte sie sich an das, was Alex nach dem Zwischenfall in der unterirdischen Zitadelle des Sehenden Auges erzählt hatte.

Sie war damals unvorbereitet gewesen. Doch heute nicht. Hitze schoss durch Jens Adern, ihr Körper wurde federleicht, erhob sich in die Luft. Sie schwebte genau im Zentrum, zwischen den Wänden, der Decke und dem Boden. Silberner Rauch drang aus ihrem Mund, eine uralte Stimme formte Worte mit ihren Lippen.

 

Dreimal dreht sich der Schlüssel,

Verrat, Feuer, Tod.

Im Licht des Avakat-Sterns,

die Erde getränkt in Blut.

 

Die Zeit ist es,

verbirgt vor euch, was euch lieb ist.

Ein Riss, ein Netz, ein Bruch.

 

Was einst war, wird wieder sein.

Was nun ist, wird nie mehr sein.

Feuerblut, Silberregen, Ascheatem.

 

Aus Licht wird Schatten,

Schatten erstarkt.

Getrennt durch gestern, heute, morgen,

wird Licht zu Dunkelheit.

 

Ein Krieg am Anfang, am Ende, immerdar.

Zwei Seiten im ewigen Streit.

Schnee und Asche, Asche und Schnee.

Ein Zyklus für die Ewigkeit.

 

Die Schwere kehrte zurück. Jen sank zu Boden. Der Rauch verwehte. Obgleich sie ihm niemals begegnet war, so wusste sie doch, dass es Joshuas Stimme gewesen war. Er hatte durch sie gesprochen. Der letzte Seher, der gestorben war, als der Wall entstand, hatte die Zukunft gesehen und sie mit seiner Erbin über ein Jahrhundert später geteilt.

Wie ferngesteuert schritt Jen zurück zu dem Folianten. Ihr Blick wurde wieder klar, das Silber verschwand. Erneut legte sie eine Hand auf die brüchigen Seiten des Werkes. Die Buchstaben krochen auf das Papier, setzten sich neu zusammen und bildeten lesbare Sätze.

Doch es war nicht die Prophezeiung, die dort geschrieben stand. Stirnrunzelnd beugte sie sich über die gelbstichigen Seiten. Gedankenverloren zeichnete Jen ein magisches Symbol in die Luft und murmelte: »Fiat Lux.«

Drei Kugeln erschienen. Geboren aus ihrer Essenz schwebten sie über dem Folianten und vertrieben mit ihrem warmen Licht die Schatten.

Jens Blick glitt die Zeilen entlang, nahm die Informationen auf, die – endlich – offenbart wurden. Natürlich begriff sie sofort, dass das Werk nur einen Bruchteil des Wissens freigab, das in ihm niedergeschrieben stand. Da war mehr. Sie konnte es spüren. Etwas von Joshua haftete an den Seiten, dem Leder des Einbands, den uralten Worten. Der Foliant entschied selbst, welche Informationen er wann preisgab.

Mochten die Prophezeiungen auch einstweilen ein Rätsel bleiben, so war der Text vor ihr doch in glasklaren Sätzen verfasst. Sie erreichte das Ende. Während die Tinte erneut einen Reigen tanzte und die Schrift unleserlich wurde, begriff Jen endlich, was die Schattenfrau plante.

1. Heiße Schokolade mit Plätzchen

 

Einige Tage später

 

Kalter Wind fegte durch die Straßen. Männer rannten mit hochgezogenen Schultern die Bürgersteige entlang, Frauen machten sich unter Regenschirmen so klein wie möglich. Jugendliche trabten im Cool-Modus vorbei, schlugen einander auf den Rücken und lachten. Keine Spur von einem Schutz gegen das Unwetter, wozu auch? Kinder rannten, eingepackt in dicke Wollmützen, Jacken und Gummistiefel, ihren Müttern davon.

Bisher war es nur ein Nieselregen, doch heraufziehende Wolken kündeten einen Sturm an. Der Wind trieb leere Süßigkeitenpackungen umher, Plastiktüten tanzten mit Müllresten um die Wette, Donner grollte.

Alex kuschelte sich tiefer in den Sessel, nahm einen kleinen Schluck heiße Schokolade und griff nach einem Plätzchen. Das Café lag in einer vergessenen Seitenstraße in Shoreditch, im East End Londons. Während sich in der Old Street die angesagten Clubs, Pubs und Cafés dicht an dicht drängten, die von Touristen wie Ortsansässigen aufgesucht wurden, hatte Alex dieses Café erst vor wenigen Tagen entdeckt.

Er grinste. Ein weiterer Keks zerkrümelte zwischen seinen Zähnen. Niemals hätte er zu träumen gewagt, eines Tages einfach so vor einem Fenster zu sitzen, um die Leute zu beobachten und es sich gut gehen zu lassen. Das Geld, das die Lichtkämpfer-Holding ihm monatlich auf das Konto überwies, machte es möglich. Das Café hatte er durch einen Lokalisierungsspruch entdeckt, den er ein wenig zweckentfremdet hatte. Normalerweise konnte man damit verlorene Gegenstände oder Schattenkrieger aufspüren. Da die Weihnachtszeit mit großen Schritten nahte, hatte er einen Ort gesucht, an dem es gute Plätzchen gab. Er wollte seine Mum und Alfie überraschen.

»Nett hast du es hier«, erklang eine Stimme.

»Jen?!«

»So in Gedanken, dass du sogar das Klingeln überhörst?« Sie deutete auf das Messingglöckchen, das über der Tür angebracht war. »Sprachlos? Da müssen die Neuronen ja heftig feuern. Versuchst du wieder bis drei zu zählen?« Sie zwinkerte ihm frech zu.

»Ich komme bereits auf vier«, gab er zurück. »Reicht aber nicht, um deine Falten zu zählen, es sind eindeutig mehr. Waren die schon immer da?«

Jen schürzte die Lippen. Ohne weitere Worte trat sie an die Theke, ließ den Blick über die Karte mit Cookies und Getränken gleiten. Eigentlich hatte er nur einen Witz machen wollen, doch sie wirkte tatsächlich ein wenig gestresst. Das dunkelblonde Haar fiel ihr leicht gelockt auf die Schultern, war jedoch nicht so samtig-glänzend wie sonst. Ihre Augen erinnerten ihn stets an zwei Smaragde, die heute jedoch eingetrübt wirkten.

Sie ließ sich links von ihm an dem runden Tisch nieder. Der zweite Teller mit Plätzchen hatte gerade noch Platz, die Tassen stießen zusammen.

Er schnupperte. »Zimt-Cappuccino und Pistazien-Cookies. Gute Wahl.«

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Alex betrachtete sie aus dem Augenwinkel. In den Tagen nach der Infiltration des Castillos und Gryffs Tod hatte er Jen nur selten gesehen. Seltsamerweise zog sie sich zurück, tauchte kaum noch im Turmzimmer auf. Da Kevin ständig im Krankenflügel an Max’ Bett saß, wo er die Hand seines Freundes hielt und sich mit Selbstvorwürfen zerfleischte, und Clara in der Trauer um Gryff gefangen war, blieb das Zimmer recht leer. Chloe vergrub sich in Recherchematerial zur Schattenfrau, versuchte alles, um deren Identität zu offenbaren. Chris turnte in der Sporthalle umher, ging auf Solomissionen und half den Neuerweckten bei der Einfindung.

»Du hast da einen Rußfleck.« Alex deutete auf ihre Stirn. »Bist du in einem Schornstein herumgeklettert?«

Jen, die gerade genussvoll die Augen geschlossen hatte, warf den Keks auf den Teller, zog ein Taschentuch hervor und rubbelte den Fleck fort. »Diese verdammten Neuerweckten! Heute Morgen kamen schon wieder ein paar auf die Idee, Wasser in Bier zu verwandeln. Natürlich haben sie die Zwischentransformation vergeigt. Weißt du, was dann passiert?«

»Ähm.« Er hätte ihr selbstverständlich sagen können, dass ihm das durchaus klar war. Immerhin hatte er es bereits dreimal versucht. Andererseits … »Nein, keine Ahnung.«

»Bumm.« Sie hob beide Hände, um die Explosion zu verdeutlichen. »Zweimal. Nach der ersten war der gesamte Raum voll mit Gerstenschmiere. Ich kam hinzu, dachte natürlich, dass etwas passiert ist. In dem Augenblick ging der zweite Rums los. Schwarzer Rauch und Ruß.«

Alex schmunzelte. »So sind sie halt, diese Neuerweckten.«

»Lass gut sein, Kent, du bist auch noch in der Windelphase, egal, wie viele Neue es außer dir gibt.«

»Pfff, iss deinen Keks.«

Sie biss tatsächlich herzhaft zu. »Wirklich klasse.«

»Woher wusstest du, wo ich bin?«

Sie deutete auf seinen Kontaktstein. »Lokalisierung. Du hast in letzter Zeit ja echt keine Vorlesung ausgelassen, sehr gut. Einstein sagt, du bist richtig pfiffig in magischer Geschichte.«

»Ziemlich easy, vermutlich durch das Vorwissen von Mark. Kampfmagie läuft auch geschmeidig. Recherche weniger. Und mit Ingenieursmagie fangen wir gar nicht erst an.« Er seufzte. »Auf jeden Fall habe ich einfach mal wieder eine Auszeit gebraucht. Ist alles gerade etwas chaotisch. Und Chris ist seltsam.«

Jen horchte auf. »Inwiefern?«

»Vor zwei Tagen kam er zusammen mit ein paar Neuerweckten aus einer Vorlesung. Plötzlich ist er stehen geblieben, hat sich panisch umgeschaut und gerufen ›Kevin!‹. Dann ist er ›ohnmächtig‹ geworden.«

Jen kicherte. »Ach, das. Das ist eine alte Neckerei zwischen ihm und Kev. Er hat die Szene aus den Filmen nachgespielt. Ist wohl so ’ne Weihnachtstradition, dass sie die jedes Jahr schauen.«

»Wovon sprichst du?«

»Kennst du die nicht? Eine Familie fliegt in Urlaub und vergisst das Kind daheim. Kevin.«

»Oh, das ist ja traurig.«

»Nein, eigentlich sogar total lustig. Er ist alleine, und dann kommen Einbrecher.«

Alex wartete vergeblich auf weitere Erklärungen. »Ihr Amerikaner seid wirklich seltsam. Was ist an so einer Geschichte denn lustig? Furchtbar.« Er schüttelte den Kopf. »Eine Familie, die ihr Kind daheim vergisst.«

»Aha. Wir sind also komisch. Das musst du gerade sagen, London-Boy. Schwarztee anstelle von Kaffee und Würstchen zum Frühstück. Ich traue mich nicht zu fragen, aber was für eine Weihnachtstradition hast du denn?« Ihr Kontaktstein rettete ihn vor einer Antwort. Das magentafarbene Artefakt, eingeflochten in ein Lederband, pulsierte. »Erzähl es mir auf dem Weg. Wir müssen los.«

»Was? Wohin? Habe ich eine Vorlesung vergessen?« Panisch zog er ein Papier aus der Tasche. »Nein, heute ist nichts mehr.«

»Wir springen nicht zurück ins Castillo.« Jen stand auf. »Unser Ziel liegt in der Londoner City. Ein kleiner Plausch mit Johanna und Leonardo.«

Das Glöckchen bimmelte, als sie in den Regen hinaustraten. Der Wind fegte ihm jedes Wort von den Lippen. Und er hatte eine Menge davon, hauptsächlich mit Fragezeichen dahinter.

Jen hob ihren Essenzstab in die Höhe und ließ eine halbe Contego-Sphäre entstehen, die die Regentropfen abhielt. Die Menschen ringsum schienen keine Notiz davon zu nehmen.

»Was sehen die?«, fragte Alex. Mittlerweile wusste er durch die Vorlesungen, dass der Wall Nimags immer ein anderes Bild vorgaukelte, sobald Magie sichtbar eingesetzt wurde.

»Vermutlich einen ziemlich hässlichen Regenschirm.« Jen zuckte mit den Schultern. »Irgendwann machst du dir keine Gedanken mehr darüber. Obwohl manchmal lustige Dinge dabei herauskommen.«

Er realisierte, dass die Sphäre auch den Wind abhielt. Sie konnten sich also unterhalten.

»Und, willst du es mir nicht sagen?«

»Hm?«

Jen grinste. »Deine Weihnachtstradition.«

Gemeinsam strebten sie dem Ziel entgegen. 

2. Kriegsrat

 

»Halt! Hier entlang.« Jen deutete auf einen heruntergekommenen Holzzaun. Die einzelnen Latten hingen schief an den Streben, die aufgesprayten Sprüche wimmelten vor Rechtschreibfehlern, angeschlagene Plakate hatten sich längst in Fetzen verwandelt.

Sie hatte ihn vom nordöstlich gelegenen Shoreditch weiter durch das East End geführt, die Brick Lane entlang nach Süden, bis sie schließlich Whitechapel erreichten. Die Straßen waren trotz des schlechten Wetters mit Touristen aller Couleur gefüllt.

»Unser Ziel ist ein Lattenzaun?«

»Eher das, was dahinter liegt«, erwiderte Jen grinsend. Sie zog ihren Essenzstab und zeichnete ein magisches Symbol auf das Holz. Die magentafarbene Essenz blieb sichtbar, bis der Zauber vollendet war. »Aditorum.«

Ein Teil der Latten verwehte, als bestünde er aus Nebel. Gemeinsam traten sie durch die Öffnung, die sich hinter ihnen wieder schloss. Sie standen in einer schmalen Gasse, die von alten Gaslaternen gesäumt wurde. Zu beiden Seiten wuchsen Backsteinwände in die Höhe, an denen magische Zeichen angebracht worden waren.

»Was ist das hier?«, fragte Alex flüsternd.

»Du kannst normal sprechen«, erwiderte Jen. »Dieser Teil stammt noch aus der Zeit, als die Brick Lane Whitechapel Lane hieß. Die Gebäude wurden im 19. Jahrhundert gebaut. Damals immigrierten viele Iren hierher, die Einwohnerzahl stieg sprunghaft an. Zu dem Zeitpunkt errichtete der Rat weitere sichere Häuser überall auf der Welt. Sie nutzten Illusionierungen, um das Areal weitläufig zu verbergen.«

»Aber Nimags können Magie doch sowieso nicht sehen, oder?«

Jen nickte. »Magie nicht. Areale, Häuser und Personen jedoch schon. Daher wurde quasi das Gesamtpaket verpackt. Natürlich soll es auch vor Schattenkriegern verborgen bleiben.«

Sie erreichten eine Holztür, die so schmal war, dass Alex sich seitlich hindurchzwängen musste. Die Treppenstufen waren hoch und niedrig, breit und schmal. Es wirkte, als habe ein unfähiger Architekt aus nicht zueinanderpassenden Bausteinen ein abstruses Gesamtwerk erschaffen. Die Stufen knarzten. In der Luft lag der Geruch von Staub.

Jen führte ihn durch eine weitere Tür. Ein ausladender Raum nahm Alex auf. Die Dielen waren von einem dicken Teppichboden bedeckt. An den Wänden wuchsen Regale mit alten Büchern darin krumm in die Höhe. Eine verschlissene Sitzcouch würde vermutlich zusammenbrechen, wenn er sich darauf niederließe. Die gesamte gegenüberliegende Front war mit eckigen und runden Fenstern ausgekleidet, die direkt nebeneinander und übereinander lagen.

Ein Mann und eine Frau betraten den Raum.

Leonardo da Vincis Hemd spannte sich über der breiten Brust. Seine dunklen Locken fielen ihm bis auf die Schultern. An einem Lederband hing der kobaltblaue Kontaktstein um den Hals des Unsterblichen, in die Ledermanschette am Arm war das Permit eingepasst. »Ah, ihr habt euch Zeit gelassen.«

Johanna verdrehte genervt die Augen. »Heute bist du wirklich unausstehlich.« Sie trug das blonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Es fiel ihm immer wieder schwer, in der vierzigjährigen Frau das Mädchen zu sehen, das auf dem Scheiterhaufen gelandet war.

»Ich habe schlecht geschlafen«, verkündete Leonardo.

»Ja, klar. Dir fehlt nur dein widerliches Gummibärchenzeug.«

Er würdigte die Bemerkung nicht mit einer Antwort. Stattdessen ging er zum Bücherschrank, zog einen Folianten hervor und knallte ihn auf den Tisch. Er wackelte bedrohlich, hielt der Last jedoch stand.

Erst beim zweiten Hinschauen realisierte Alex, was da lag. »Der Foliant!«

»Du kleiner Blitzmerker«, sagte Jen.

»Du hast ihn lesbar gemacht!« Er warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. »Deshalb warst du in den letzten Tagen so beschäftigt. Ständig hast du mich vertröstet, dabei hast du Nostradamus' Anweisung schon längst umgesetzt.«

»Schuldig im Sinne der Anklage. Es tut mir leid. Ich wollte … weißt du, es ist mein Erbe. Im Beisein aller anderen wieder silberne Schwebemaid zu spielen, hat sich nicht richtig angefühlt.«

Alex überlegte kurz. »Okay, das verstehe ich.«

»Wie bitte? Einfach so?«

»Jeder hat seine kleinen Geheimnisse. Aber warum sagst du es mir jetzt? Wo sind die anderen?« Alex blickte zwischen den Unsterblichen hin und her.

»Setzen wir uns.« Johanna deutete in Richtung Tisch.

Es war ein wenig seltsam. Vier Menschen quetschten sich auf viel zu kleine Stühle, die bei jeder Bewegung wackelten.

»Zuerst einmal das Wichtigste«, begann Leonardo. »Alles, was wir hier besprechen, darf diesen Raum niemals verlassen. Das Haus ist nicht nur ein sicherer Rückzugsort, es gehört auch zu den wenigen Arealen, die in keiner offiziellen Karte verzeichnet sind.«

»Toll, noch mehr Geheimnisse«, grummelte Alex.

Leonardo funkelte ihn böse an. »Vielleicht ist mir etwas entgangen, aber vor Kurzem sind einige unserer Freunde gestorben, ich selbst wäre beinahe fällig gewesen. Wir hatten einen Wechselbalg im Castillo und die Schattenfrau fand nicht nur Zugang, sie hat auch das Archiv versiegelt. Bis jetzt haben wir noch keinen Weg hineingefunden. Das verdammte Weib ist intelligent und hinterhältig. Willst du das Risiko eingehen, dass sie an die Informationen aus diesem Folianten kommt?« Er legte die Hand auf den Einband.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Alex kleinlaut.

»Wir haben unsere Gründe für die Geheimniskrämerei, wie du gleich begreifen wirst«, warf Johanna ein. »Der Kreis der Eingeweihten muss so klein wie möglich gehalten werden.«

Ein Tablett schwebte ins Zimmer, auf dem eine Tasse Tee für ihn, ein Kaffee für Jen, ein Energydrink für Leonardo und eine Limonade für Johanna standen.

»Also gut. Du warst ja dabei, als Nostradamus mir gezeigt hat, wie man den Folianten lesbar macht«, erklärte Jen. »Vor einigen Tagen habe ich es tatsächlich versucht. Es hat funktioniert.«

»Silberne Schwebemaid?«

»So was von. Die Prophezeiungen haben sich in meinem Kopf gebildet und dieses Mal sind sie auch geblieben. Ich erinnere mich an jedes Wort. Außerdem wurde ein Teil des Folianten lesbar.«

»Nur ein Teil?«, fragte Alex.

»Scheinbar entscheidet das Buch selbst, was wann wichtig ist. Die Prophezeiungen beziehen sich definitiv auf das Kapitel, das ich lesen konnte. Es geht um den Wall. Damals kamen sechs Lichtkämpfer und sechs Schattenkrieger zusammen, um ihn zu erschaffen.«

»Soweit bekannt«, warf Alex ein. Ein böser Blick von Leonardo brachte ihn sofort wieder zum Schweigen.

»Dem Ganzen gingen lange Verhandlungen voraus, bevor man die zwölf Mächtigsten überzeugen konnte. Es gab Vorbehalte auf beiden Seiten. Außerdem mussten diverse Utensilien beschafft werden, uralte Artefakte, darunter auch der Onyxquader. Kurz und gut: Im Augenblick der Entstehung kam es zu einer Rückkopplung, die die Erschaffer erfasste. Möglicherweise ein Problem mit einem Artefakt, vielleicht ein Fehler im Spruch, ich weiß es nicht. Doch das Resultat bestand darin, dass sich bei jedem ein Teil seines Sigils löste und außerhalb des Körpers manifestierte.«

Jen hielt inne.

Leonardo ließ ein paar Leuchtkugeln entstehen, die unter die Zimmerdecke glitten und die immer größer werdenden Schatten vertrieben. Regen prasselte gegen die Fenster.

»So etwas gibt es? Sigile, die außerhalb des Körpers Form annehmen?«

»Eigentlich nicht«, antwortete Johanna. »Das ist das Problem. Wir wissen nicht, was genau damals geschah. Die Sigilsplitter verschwanden. Wir dachten alle, dass sie sich mit dem Tod der Magier einfach in einem neuen Erben manifestieren würden. Doch dem war offensichtlich nicht so. Sie erhielten eine physische Form.«

»Das zumindest besagt Joshuas Text«, ergänzte Jen. »Drei Sigilsplitter entstanden, die in ihrer materiellen Manifestation überall auf der Erde versteckt sind. Jeder einzelne trägt ein gewaltiges Machtpotenzial in sich, da ein Magier ihn mit seinem eigenen Sigil verbinden könnte. Dadurch würde er viel mächtiger werden.«

»Ich habe da eine ziemlich böse Ahnung«, murmelte Alex.

»Oh, wir auch, sei dir da gewiss«, kam es von Leonardo. »Die Vermutung liegt nahe, dass die Schattenfrau genau danach sucht.«

»Warum? Woher soll sie davon erfahren haben?«

»Joshua schreibt mehrfach, dass ein Schatten nach den Sigilsplittern greift«, antwortete Jen an Leonardos Stelle. »Vergessen wir nicht, dass sie damals dabei war, als ich zum ersten Mal Bruchstücke der Prophezeiung verkündet habe. Und das ist nicht alles. Jede der Manifestationen trägt neben dem normalen magischen Potenzial eine Besonderheit in sich. Welche, wird nicht erwähnt. Aber in einer Sache war der letzte Seher ziemlich deutlich.« Sie schluckte schwer. »Werden die drei Splitter vereint, entsteht ein neues Sigil daraus. Joshua nennt es: Allmacht. Mit ihm könnte die Schattenfrau den Wall zerstören.«

»Shit«, entfuhr es Alex. »Kein Wunder, dass sie das Archiv versiegelt hat. Vermutlich hätten wir darin Informationen finden können. Hinweise darauf, wo und wie die Splitter zurückgekehrt sind, wo sie sich befinden.«

»Davon gehen wir ebenfalls aus«, gestand Johanna. »Glücklicherweise konnte Leonardo zumindest einen Hinweis aufspüren. Die Details findet ihr in dieser Mappe.« Sie erschuf ein magisches Zeichen, worauf besagte Aktenmappe direkt auf dem Tisch erschien. »Geht der Spur nach. Der Splitter muss sichergestellt werden.«

Alex warf einen Blick auf den vordersten Papierbogen. »Indien?«

»So ist es«, bestätigte Leonardo. »Euer erster Anlaufpunkt ist ein sicheres Haus. Dort wartet Unterstützung. Behaltet euren wahren Auftrag für euch. Offiziell geht es um eine Artefaktbergung.«

»Aye, Sir.« Alex vollführte einen militärischen Gruß.

Leonardo seufzte. »Neuerweckte.«

»Apropos.« Alex wurde sofort wieder ernst. »Warum ich? Die letzten Tage habe ich zwar ziemlich viel Neues gelernt, aber wäre jemand anderes aus dem Team nicht geeigneter?«

»Nun«, erwiderte der Unsterbliche zögerlich, »grundsätzlich hast du da recht. Im Gegensatz zu den anderen hast du jedoch scheinbar eine besondere Gabe.«

»Wie bitte?«

»Du hast davon erzählt, dass das Artefakt im ersten Castillo vor dir zurückgeschreckt ist«, warf Jen ein.

Bei der Erinnerung an die Ereignisse in dem alten Kasten wurde Alex übel. Er hatte seinen Geist in eine uralte Artefaktwaffe versenkt, in der eine bösartige Kreatur gelauert hatte. Noch heute spürte er das gierige Tasten schwarzer Tentakel, sobald er die Augen schloss. Doch aus welchem Grund auch immer: Sein Sigil war verschmäht worden.

»Wir hoffen darauf, dass dein Sigil einen speziellen Schutz besitzt«, erklärte Leonardo. »Daher wärst du für die Bergung der Splitter am besten geeignet. So können wir Nebenwirkungen ausschließen.«

Alex nickte nur. Er wollte nicht weiter darüber nachdenken, warum das Ding in dem Artefakt so auf die Quelle seiner Macht reagiert hatte. Was war an ihm anders? Dass es da etwas gab, hatte er längst kapiert. »Okay, legen wir los.«

Der Foliant wurde sicher verstaut, die Akte nahm er mit. Minuten später traten sie in das Sprungportal unter dem Haus. 

3. Alles, was vom Leben blieb

 

Eine weitere Kiste schwebte in den Gang. Sie würde den Weg alleine finden; zu den anderen, die darauf warteten, an seine Familie geschickt zu werden. Clara schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter.

Gryffs Eltern und Geschwister waren Nimags. Sie stammten aus Irland. Offiziell hatte er eine Stelle bei Europol innegehabt und europaweit Kriminelle gejagt. So weit von der Wahrheit lag das gar nicht entfernt.

Im Sommer hätte sie ihn nach Hause begleitet, um seine Familie kennenzulernen. Kurz vor der Ermordung durch den Wechselbalg hatten sie zaghaft erste Pläne geschmiedet. Doch es war anders gekommen. Niemals würde sie das Bild vergessen: Johanna, die sich über Gryff beugte. Der leblose Körper, der in einer Blutlache lag.

Tränen rannen heiß Claras Wangen hinab. Fahrig wischte sie sie beiseite. Das Mantra ihrer Mutter entstieg den Tiefen ihrer Erinnerung: »Für Schwäche ist kein Platz in dieser Welt.«

Ausnahmsweise gab sie ihr recht. Zu viel geschah. Clara musste Stärke beweisen, jetzt mehr denn je. Dass der Wechselbalg wochenlang Max ersetzt und Kevin nichts davon bemerkt hatte, hatte den Freund völlig aus der Bahn geworfen. Max, auf der anderen Seite, lag noch immer im Heilschlaf.

Sie griff nach den letzten Büchern, verstaute sie im verbliebenen Pappkarton und ließ auch diesen hinausschweben. Das Zimmer war leer. Nichts war von Gryff geblieben. Einzig ein paar Kartons. Nur der Abdruck, den er in ihrer Erinnerung hinterlassen hatte, würde überdauern.

Einen letzten Blick in die Runde werfend, verließ sie den Raum und wandte sich dem Turmzimmer zu. Kurz überlegte Clara, einen Umweg über den Krankenflügel zu machen, doch nach heute Morgen ließ sie das besser. Kevin würde sowieso nicht von Max’ Bett weichen, egal, was sie sagte. Ihre Schritte führten sie automatisch hin zur Küche. Von Weitem schon konnte sie Tildas Kichern hören.

Die essenzlose Magierin hatte sich gut eingelebt. Die Lichtkämpfer liebten sie für ihre Kochkünste. Sie tischte längst vergessene Speisen aus aller Welt auf, trug stets ein Lächeln auf den Lippen und plauderte mit jedem. Nach dem ersten Kulturschock, immerhin hatte Tilda über einhundert Jahre in Isolation verbracht, genoss sie die Neuerungen der Jetztzeit. Chloe war es zu verdanken, dass Tilda wusste, was ein Smartphone, ein Computer und das Internet waren. Alex hatte prompt einen draufgesetzt und der Köchin erklärt, was YouTube war.

»Hallo, Tilda.«

»Oh, Clara.« Die kugelrunde Frau sah auf. »Kennst du das hier schon?« Sie hielt ein Smartphone in die Höhe, auf dessen Display gerade ein Katzenvideo ablief. Sie kicherte. »So goldig.«

»Ja, total süß.« Es gelang ihr nicht ganz, die notwendige Euphorie vorzutäuschen, weshalb Tilda das Gerät sinken ließ. »Soll ich dir ein Sandwich machen?«

»Das kann ich selbst, danke.«

»Finger weg von meiner Küche!« Sie schob Clara energisch beiseite. »Wofür bin ich da, wenn ich nicht einmal mehr das tun darf? Eine Magierin ohne Essenz.«

»Oh. Hm. Natürlich. Mach nur.« Der Schalk in Tildas Augen verriet sie. »Du lässt dich zu leicht manipulieren.«

»Das war gemein.«

»Ich weiß.« Die Köchin legte Brot, Salat, Käse und Wurst zurecht. »Nimm Platz, das dauert einen Moment.«

Clara lehnte sich an die Anrichte. Die Küche des Castillos war ein ruhiger Ort. Eine Tür führte hinaus zu einem Kräutergarten, von wo der Duft nach Thymian in den Raum zog. Eine Wärmesphäre ermöglichte eine ganzjährige Blütezeit. Es gab keine gefrorenen Böden oder Kräuter, die im Hagelschauer kaputtgingen.

Ein alter Gasherd bildete das Zentrum des Raumes, drum herum an den Wänden gab es Ablageflächen, wuchsen Schränke in die Höhe und waren Wandhalterungen angebracht. Auf dem Herd stand ein großer Kessel, in dem es blubberte. Aufgrund der Ereignisse im ersten Castillo hatte Tilda etwas kreiert, was sie ›Essenzstabsuppe‹ nannte. Als Jen erstmals davon gehört hatte, war ihr Lächeln ein wenig gefroren. Mittlerweile kannte so ziemlich jeder Lichtkämpfer die Geschichte von Tildas Bratpfannen-K.o. gegenüber Alex und ihrem Versuch, die Essenzstäbe in einem Kochtopf anzuzünden.

Die Suppe war der Renner.

»Du hast die Sachen von Gryff verpackt?«

Clara zuckte zusammen. »Stimmt. Jemand musste es ja tun.«

Tilda legte ein Salatblatt auf das Brot. »Ja, so ist es immer. Wir tun, was wir tun müssen.«

Erst jetzt begriff Clara: Während sie selbst einen Menschen verloren hatte, würde die essenzlose Magierin all ihre Freunde und Familienmitglieder nie wiedersehen. »Und wie geht es dir?«

»Oh.« Tilda winkte ab. »Ausgezeichnet. Ehrlich gesagt komme ich kaum zum Nachdenken. Es gibt so viel zu tun. Neue Lichtkämpfer überall, das Castillo quillt über vor Leben. Es ist wunderbar. Gestern kam Einstein auf einen Plausch vorbei. Er war wohl Zeit seines Lebens eine kleine Berühmtheit?«

»Kann man so sagen.«

»Ein netter Mann. Ein wenig wirr. Aber sehr gute Manieren.« Ein zarter Rotton entstand auf ihren Wangen.

»Hast du denn schon alle Unsterblichen kennengelernt?«

Tilda lachte auf. »Tomoe Gozen, Johanna von Orléans und Leonardo da Vinci kannte ich ja bereits. Mit Thomas Edison hatte ich nur kurz zu tun, er ist …«

»Oh ja, ich weiß, was du meinst.«

Sie nickte eifrig. »Einstein kam aber nach meiner Zeit, daher war er neu für mich. Ich habe mir seine Bücher durchgelesen. Sie waren sehr seicht.«

»Ja, für einen … seicht?« Clara starrte die Köchin verblüfft an.

»Oh, das sollte nicht beleidigend klingen. Als Lektüre zwischendurch durchaus angenehm. Aber nichts gegen Platon, Euklid oder diesen neuen Gelehrten, wie heißt er noch gleich, Hawkins?«

Clara war stolz darauf, dass ihr Mund nicht nach unten klappte. »Ja, doch, das sind natürlich andere Kaliber.«

Tilda legte die obere Brotseite auf und schnitt die Kruste ab. Mit ein paar gezielten Griffen verpackte sie die Hälften in Brotpapier. »So, fertig. Lass es dir schmecken.«

»Danke.«

»Und Clara?«

»Ja?«

»Lächle. Am meisten Kraft kosten uns die Dinge, die wir nicht ändern können, aber akzeptieren müssen. Ich weiß, wovon ich spreche.« Ein Schatten legte sich auf Tildas Gesicht, wurde jedoch eine Sekunde später von einem Schmunzeln vertrieben. »Es geht immer weiter. Du bist nicht alleine. Deine Freunde werden dir helfen. Verloren habt ihr nur, wenn ihr nicht aufeinander achtgebt, nicht füreinander da seid. Vergiss das nie.«

Clara nickte. »Danke.«

»Du musst dich nicht dauernd bedanken.«

»Entschuldigung.«

»Du musst dich auch nicht dauernd entschuldigen.«

»Tut mir l… Nun ja, d…« Clara wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Unweigerlich musste sie lachen.

»Besser.«

»Ich geh dann mal.«

»Tu das. Und kannst du Alex bitte sagen, dass ich auf ihn warte? Er wollte mir bereits vor zwei Tagen zeigen, wie ich auf diesem kleinen Wundergerät Theaterstücke anschauen kann.«

»Theaterstücke? Oh, du meinst Fernsehen. Warte.« Sie schnappte sich das Smartphone und erklärte Tilda in kurzen Worten, wie sie Filme und TV-Serien streamen konnte. »Alles klar?«

»Aber ja, den Rest finde ich alleine heraus.«

Während Clara die Küche verließ, begann die Köchin, eifrig zu tippen. 

4. Eine Spur im Schatten?

 

»Na, Bibliotheks-Girl, hast du wieder Wissen inhaliert?« Chloe begrüßte sie mit einem frechen Grinsen, wie meist. Sie hatte sich auf die Couch gefläzt, die Füße in den Boots waren auf dem Tisch drapiert, das neongrüne Haar leuchtete Clara einem Fanal gleich entgegen. In Griffweite lag der unterarmlange Essenzstab, daneben stand ein Latte Macchiato.

»Wie denn, ohne eine brauchbare Bibliothek?«

Die Aufräumarbeiten gingen voran, doch die Attacke durch die Schattenfrau hatte nicht viel übrig gelassen. Die Regale mussten vollständig ausgetauscht werden und abgesehen von einer Handvoll Bücher hatte keines der Werke das magische Feuer überlebt. Da momentan aber alle mit Wichtigerem beschäftigt waren, hatte die Bibliothek das Nachsehen.

Johanna versuchte hartnäckig, das Siegel zu brechen, das über dem Archiv lag. Leonardo andererseits war vollständig auf die Schattenfrau fixiert. Er ging sogar auf Solo-Abenteuer, um in vergessenen Archiven oder privaten Sammlungen nach Hinweisen auf sie zu suchen. Die Ordnungsmagier waren dabei, die Überprüfung des Castillos abzuschließen. Es gab – nach jetzigem Stand – keine weiteren Geheimräume. Der Rat hatte Eliot Sarin tatsächlich zum Nachfolger Gryffs gemacht, was Chloe mit ein paar ziemlich eindeutigen Bemerkungen über den Geisteszustand der Unsterblichen bedacht hatte.

Ein Keuchen von der Tür her ließ Clara herumfahren.

»Sind wir ein wenig schreckhaft?«, kommentierte Chloe.

»Vor mir brauchst du keine Angst zu haben«, beruhigte sie Chris. Er schleppte sich zur Couch und plumpste in die Kissen.

»Du hast ein blaues Auge.« Clara betrachtete ihn stirnrunzelnd. »Warum ist dein Shirt eingerissen? Warst du auf einer Mission?!«

»Sozusagen«, erwiderte er. »Eine Erziehungsmission. Diese Neuerweckten sind rotzfrech. Also, wir waren nie so.«

Chloe kicherte in ihren Latte macchiato.

»Echt!« Chris funkelte sie böse an. »Auf jeden Fall werden sie zukünftig respektvoll mit mir umgehen. Ich habe ihnen eine kleine Lektion in Kampfmagie verpasst.«

»Wie bitte?« Clara riss entsetzt die Augen auf. »Weiß Leonardo davon? Und Johanna? Leben die Neuen noch?«

»Himmel, Bücherratte«, seufzte Chloe. »Jetzt chill mal. So ’ne kleine Abreibung hat noch niemandem geschadet. Wobei, wenn ich mir dich so anschaue, war nicht jeder mit deinen Lektionen einverstanden.«

»Hm«, sagte Chris.

»Los, raus damit!«, verlangte Chloe beharrlich.

»Na ja, einer hatte noch ererbte Erinnerungen. Scheinbar von einem Magier aus dem 16. Jahrhundert, der ziemlich viel über Kampfzauber wusste. Ich habe am Ende trotzdem gewonnen.«

Clara sank in den Sessel. »Dann muss er der Erbe von einem der Sigile sein, die Alex aus dem Artefakt befreit hat. Das ergibt Sinn.«

»Ach ja?« Chloe starrte sie verdutzt an. »Inwiefern?«

»Na ja, damals hatten die Lichtkämpfer wohl so etwas wie ein Spezialteam. Eines der tödlichen Art. Die sollten hochrangige Schattenkrieger ausschalten – endgültig.«

»So was gab es?« Chris schien beeindruckt.

»Oh, wir hatten viele gemeine Sachen. Na ja, damals hielt man das für völlig in Ordnung. Die ethischen und moralischen Werte waren etwas anders als heute.«

»Schön.« Chloe klatschte in die Hände. »Genug des Müßiggangs, meine lieben Mitmagier, wir haben einen Auftrag. Direkt von Leo, unserem kleinen Universalmuskelgenie.«

»Aha.« Chris verschränkte die Arme. »Jetzt bin ich gespannt.«

»Es geht um die Schattenfrau«, erklärte sie. »Schaut euch das an.« Sie legte einen rundgeschliffenen Kristall ab, der problemlos in Claras Handfläche gepasst hätte, und tippte mit der Spitze ihres Essenzstabes auf die Oberfläche.

Über dem Tisch flimmerte es kurz. Eine Szene spielte sich ab, in der Clara die Hauptrolle gab. Die Schattenfrau schleuderte sie mit einem Kraftschlag über die Brüstung auf der ersten Leseebene der Bibliothek, kurz darauf sorgte sie mit einem Zauber dafür, dass Clara weich aufkam.

»Sie hat mich gerettet.«

»Scheinbar«, bestätigte Chloe. »Und diese Tat hat Sherlock da Vinci Holmes dazu gebracht, weiter nachzuforschen. Es sieht so aus, als sei einer deiner Vorfahren beim Bau des Castillos anwesend gewesen.«

»Aha«, sagte Chris nur.

»Leo glaubt, dass die Schattenfrau eine Vorfahrin von Clara ist, die es irgendwie geschafft hat, unsterblich zu werden. Alles deutet darauf hin, dass sie mal ein Lichtkämpfer war. Sie hat gegenüber Johanna auch Andeutungen gemacht, dass sie schon einmal im Castillo gewesen ist.«

»Wundern würde mich das nicht.« Die Worte waren heraus, bevor Clara sie zurückhalten konnte.

»Bitte?« Chloe richtete verdutzt ihren Blick auf sie.

»Na ja, meine Familie ist speziell.«

»Inwiefern?«, fragte Chris neugierig.

Doch Chloe ließ sie nicht zu Wort kommen. »Leo hat die letzten Wochen versucht, deine Mum zur Zusammenarbeit zu bewegen. Sie hat jedoch abgelehnt. Nun hat der Rat gemeinsam interveniert. Sie musste quasi zustimmen, ein Team in die Villa zu lassen. Vorausgesetzt, du bist dabei.«

Clara schloss die Augen.

Die Welt im Castillo war strukturiert, klar, übersichtlich. Außerhalb sah das anders aus. Ein neuerweckter Magier besaß verschiedene Möglichkeiten. Nach den Vorlesungen im Castillo konnte er hierbleiben und als Agent, Lehrer, in der Verwaltung oder bei den Ordnungsmagiern eingesetzt werden. Auch die übrigen Niederlassungen in aller Welt standen ihm offen. Die meisten ergriffen diese Chance. Einige kehrten zurück in ihr Nimag-Leben, zu ihrer alten Tätigkeit.

Es gab durchaus auch Nimags – Partner von Magiern –, die eine Freigabe erhielten, wodurch der jeweilige Lichtkämpfer sich ihnen offenbaren durfte. Anders war eine Ehe oder langjährige Partnerschaft nur schwer aufrechtzuerhalten.

Natürlich gab es die Sache mit dem Kinderkriegen. Kamen ein Magier und ein Nimag zusammen, standen die Chancen 50:50, dass ihr Kind automatisch ein Sigil bildete und magisch begabt war. Man ging davon aus, dass dadurch auch auf der dunklen Seite ein Nachwuchs entstand. Verlässliche Quellen existierten logischerweise nicht.

Taten sich zwei Magier zusammen, besaß das Kind von Geburt an ebenfalls ein Sigil. Die Fähigkeiten traten anfangs nur sehr schwach zutage, was sich mit dem Erreichen der Pubertät änderte. Solche magischen Familien gab es einige. Meist brachten sie es zu Wohlstand und Einfluss. Häufig jedoch bildeten sie sich etwas darauf ein, dass sie gebürtige Magier waren.

Letztlich existierte so etwas wie eine zentrale Regierung aber nicht. Die Regeln waren vor langer Zeit von den Unsterblichen vorgegeben worden und jeder hielt sich daran. Falls doch einmal jemand dagegen verstieß, gab es die Ordnungsmagier.

Ein paar der mächtigeren Familien testeten ab und an aus, wie weit sie gehen konnten. Fiel es auf, falls sie die Regeln brachen? Das war nicht ohne Risiko. Je nach Schwere des Vergehens drohten Strafen. Tatsächlich war es in der Geschichte auch schon dazu gekommen, dass Magiern die Erinnerung genommen und ihr Sigil eingekapselt worden war. Etwas Derartiges konnte allerdings nur vom gesamten Rat einstimmig beschlossen werden. Außerdem gab es natürlich den Immortalis-Kerker.

»Wir sollen also bei meinen Eltern reinspazieren und dann was genau tun?«, fragte Clara.

»Eure Familienbibliothek nach Hinweisen durchsuchen«, erklärte Chloe. »Falls die Schattenfrau der Ashwell-Linie entstammt, muss sie schon mal irgendwo aufgetaucht sein.

»Toll. Bringen wir es hinter uns.«

Chris sprang in die Höhe. »Road Trip! Yeah!«

»Ja, total. Wir gehen nach unten, hüpfen in das Portal und kommen direkt in Chicago wieder heraus.« Chloe tätschelte ihm den Arm. »Aber wenn’s dich glücklich macht: Road Trip!«

Das Haus ihrer Eltern war an das Portalnetzwerk angebunden. Es sprach für sich, dass die Portalmagier sich darauf eingelassen hatten, war es doch ein langer und komplizierter Prozess, einen neuen stabilen Ausgang anzubinden.

Während Chris und Chloe sich in eine Diskussion über das sinnvollste Vorgehen vertieften, trottete Clara voraus. Der Tag konnte nur schlechter werden. 

5. Home Sweet Home

 

Clara glitt elegant aus dem Portal.

Ihre Eltern hatten sie schon als kleines Kind darauf vorbereitet, auf diese magische Art zu reisen. Die Gouvernante der Familie vergab sogar Haltungsnoten darauf, wie sie und ihre Geschwister das Portal verließen. Auf dieser Basis wurde das Taschengeld festgelegt. Unnötig zu erwähnen, dass sie stets fabelhaft abgeschnitten hatte. Gleiches konnte man von ihren Brüdern nicht behaupten. Dafür waren sie zu Assen in Kampfmagie geworden.

Chloe und Chris taumelten noch, fingen sich aber recht schnell.

»Wie machst du das immer?«, fragte die Freundin. »Wenn ich versuche, mit Eleganz und Grazie anzukommen, krache ich stattdessen gegen die nächstbeste Wand.«

Chris kicherte. »Du bist halt mehr der natürliche Typ.«

»Der natürliche Typ verpasst dir gleich einen Kraftschlag, Grant.«

Ein Räuspern erklang.

An der Eingangstür des Sprungraums stand Edwin. Der ältliche Butler fiel längst in die Kategorie ›Faktotum‹. Er hielt sich kerzengerade, als habe jemand sein Rückgrat in einen Essenzstab verwandelt. Natürlich war er in eine Livree gekleidet, die Hände steckten in weißen Handschuhen. »Miss Ashwell. Willkommen daheim.«

Clara neigte leicht ihren Kopf. »Edwin.«

Der Sprungraum war mit hellen Marmorfliesen ausgekleidet, aus der Wand ragten protzige Leuchter neben wertvollen Gemälden. Ihre Eltern zeigten nach außen gerne, wer sie waren.

»Das sind Chloe O’Sullivan und Christian Grant.« Sie deutete auf die beiden Freunde.

»Wie geht’s?« Chloe nickte lächelnd. Eine Freundlichkeit, die verpuffte, als Edwin seinen Blick von ihren grünen Haarspitzen bis zu den Boots wandern ließ.

»Hi«, kam es von Chris.

»Wenn Sie mir dann bitte folgen wollen«, sagte Edwin nur. In einer fließenden Bewegung wandte er sich um und glitt lautlos aus dem Raum.

»Tut mir leid«, murmelte Clara. »Willkommen in meiner Kindheit.«

Sie stiegen die Treppen empor zum Foyer. Dämmerlicht fiel durch den transparenten Stein der Wand. In Alicante war es längst Mittag, hier aber noch früher Morgen. Der Zeitunterschied lag bei sieben Stunden. Trotz ihrer zahlreichen Reisen um die Welt benötigte Clara stets ein wenig Zeit, sich auf den abrupten Wechsel einzustellen.

Edwin führte sie über Marmorböden und edle Teppiche, vorbei an Dimensionsfalten, in denen zusätzliche Räume angelegt waren. In manchen Bereichen des Hauses war die Steinwand von innen transparent – ein Nimag sah von außen natürlich nur gewöhnlichen Stein –, in anderen vertrieben schwebende Lichtkugeln die Schatten.

Edwin bezog vor einer gewaltigen Flügeltür Position. »Ihre Mutter erwartet Sie bereits, Lady Ashwell.«

»Himmel, jetzt weiß ich, warum du immer so steif bist«, murmelte Chloe.

Clara ignorierte die Bemerkung. Chris schob sich voran, griff nach der Klinke und krachte prompt gegen die Tür, die nicht aufgehen wollte.

»Das alte Spiel«, seufzte sie. »Geh mal zur Seite.« Clara zeichnete mit ihrem Essenzstab das Öffnungssymbol auf das Holz und erweiterte es um das Familienschlüsselwort. Das helle Orange blieb für einige Augenblicke bestehen. »Apertus!«

Die Tür schwang nach innen auf. Jen hatte einmal gesagt, Claras Spur sei ein wunderschönes Orange, das an eine aufgehende Sonne erinnere. Vermutlich hatte sie sie aufmuntern wollen. Als Kind hatten ihre Brüder sich immer über die Farbe lustig gemacht.

Sie setzte sich an die Spitze und betrat das Arbeitszimmer. Es wirkte noch genau so einschüchternd wie früher. Gewaltige Regale aus dunklem Holz ragten bis zur Decke, dazwischen gab es Erker, die mit Statuen großer Magier gefüllt waren.

»Ah, die verlorene Tochter kehrt heim.« Ihre Mutter erhob sich. Das schulterlange schwarze Haar umrahmte ein schmales Gesicht mit spitzer Nase. Auf ihre bleiche Haut war sie stolz. »Miss O’Sullivan, wie immer geben Sie nichts auf die Wahl angemessener Kleidung. Nun, wenigstens bleiben Sie sich treu. Und Mister Grant, mit ihren Eltern stecke ich gerade in schwierigen Verhandlungen. Bitte.«

Sie deutete auf drei Sessel, die nebeneinander vor dem breiten Schreibtisch standen. An den vier Ecken der dem Besucher zugewandten Seite war jeweils ein großes geschichtliches Ereignis in das Holz geschnitzt.

»Darf ich vorstellen.« Clara zeigte auf ihre Mum. »Patricia Ashwell. Schließlich wollen wir die Form wahren, nicht wahr, Mutter?«

»Du warst schon immer ein schwieriges Kind. Es schmerzt mich, dass die Unsterblichen dich zu ihrer Marionette gemacht haben. Aber lassen wir das. Ihr drei seid heute als Vertreter des Rates hier. Ich habe die Bibliothek für euch geöffnet. Leonardo sprach von wichtigen Recherchen, die im Castillo nicht mehr möglich sind, weil die Schattenfrau sich Zugang verschaffen konnte. Ich enthalte mich eines Kommentars diesbezüglich. Möglicherweise sollte ich dem Rat unsere Sicherheitsmagier ausleihen. Von ihnen könnten die Ordnungsmagier noch etwas lernen.«

»Auch du hättest kaum etwas gegen einen Wechselbalg der alten Art tun können«, ereiferte sich Clara.

»Ah, und ich hatte mich schon gefragt, wie sie das gemacht hat.«

Verdammt! Clara verfluchte sich selbst. Ihrer Mutter gelang es immer wieder, sie zu unüberlegten Äußerungen zu bringen. So kam sie mit Leichtigkeit an Informationen. »Die Bibliothek ist zerstört. Daher müssen wir für Recherchen auf private Sammlungen zurückgreifen.«

»Und Ihre soll eine der Besten sein«, warf Chris ein.

»Mit Schmeicheleien kommen Sie bei mir nicht weit, Mister Grant«, parierte ihre Mutter die Attacke. »Um was geht es denn bei diesen Recherchen?«

»Das …«, begann Clara.

»… geht Sie nichts an«, unterbrach Chloe. »Nichts für ungut, Mrs. Ashwell, aber wie Sie bereits sagten, wir sind als Vertreter des Rates hier. Danke, dass Sie uns die Bibliothek zugänglich machen. Zum Wohl aller Magier. Details zu unserer Arbeit können wir trotzdem nicht mit Ihnen teilen.« Ein zuckersüßes, wenn auch ganz und gar falsches Lächeln lag wie angeknipst auf Chloes Gesicht. »Das verstehen Sie doch?«

Claras Mutter erwiderte das Lächeln nicht minder falsch. »Danke für diese Erklärung, Miss O’Sullivan. Nun wissen wir alle, wo wir stehen.«

Beide Frauen maßen einander mit Blicken.

Chris sank etwas tiefer in den Sitz, Clara hätte sich gerne verkochen.

»Gut.« Ihre Mutter schlug mit den Handflächen auf die Tischplatte. »Die Bibliothek steht euch jederzeit offen. Du weißt ja, wo es langgeht, Clara. Viel Erfolg bei eurer Recherche.«

Damit waren sie entlassen.

Bevor Chloe oder Chris noch etwas sagen konnten, schob Clara sie aus dem Büro. Der Knall, mit dem die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, hatte etwas Erlösendes.

Chloes Hand lag plötzlich auf Claras Schulter. »Du hast mein absolutes Mitleid. Wieso hast du nur nie etwas davon erzählt? Kein Wunder, dass du ständig den Kopf einziehst. Wir müssen wirklich mehr an dir arbeiten.«

Chris schlug ihr kurzerhand kumpelhaft auf die andere Schulter. »Ich bin gerade ziemlich glücklich über meine Eltern. Tut mir echt leid für dich.«

»Ach, ihr wisst noch gar nichts«, erklärte Clara. »Sie war eben echt gut drauf. Wartet, bis das mal anders ist. Und jetzt hopp, hopp, ab in die Bibliothek. Je schneller wir etwas finden, desto schneller kommen wir hier wieder weg.«

Einen letzten Blick auf die Bürotür werfend, ging Clara davon. 

6. Ein Hauch von Zimt und Morgenröte

 

Jen hatte am Morgen noch die wichtigsten Informationen über Arunachal Pradesh recherchiert, bevor sie Alex abgeholt hatte. Sie erreichten nur Sekunden nach ihrem Aufbruch das sichere Haus in Itanagar, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates.

Alex sah sich um. »Nett.«

Sie waren im ersten Stockwerk eines einfachen Lehmbaus herausgekommen. Die Fenster waren verglast, was aber auch schon alles an Komfort darstellte.

Jen trat an einen Schrank heran, in dem sich Trekking-Ausrüstung befand. »Umziehen.«

»Du lässt dir aber eine Menge Tricks einfallen, um mich nackt zu sehen.« Er grinste frech. »Dabei musst du doch nur fragen.«

»Gut zu wissen. Damit weiß ich, was ich niemals tun werde.« Sie warf eine Hose, einen Gürtel – mit integrierter Essenzstabhalterung – und eine Steppweste zu ihm hinüber. Sie zogen sich um.

Die Treppen knarzten. Kurz darauf trat eine junge Frau ein. Jen blieb der Atem weg, während Alex’ Augen aus den Höhlen quollen.

»Willkommen in Arunachal Pradesh. Ich bin Sunita Singh Khalsa. Aber ihr könnt mich Suni nennen.« Sie lächelte freundlich. Dunkles geflochtenes Haar fiel ihr unter einem eleganten Kopfschal über die Schultern. Auch sie trug Trekking-Kleidung und einen Rucksack.

»Hi, ich bin Lalex … äh, Alex.«

Jen verdrehte die Augen. »Jennifer Danvers, aber Jen reicht. Das hier ist Alexander Kent. Wenn er frech wird, darfst du ihn schlagen.«

»Hey!«, protestierte er.

Suni lächelte. »Ich freue mich, euch kennenzulernen. Das hier ist für euch.« Sie reichte ihnen zwei dunkle Ausweisetuis. »Zwei Sondergenehmigungen. Ihr befindet euch auf umstrittenem Territorium. China erhebt Ansprüche, obgleich Arunachal Pradesh zu Indien gehört. Daher brauchen Ausländer eine solche Genehmigung. Sollten wir kontrolliert werden, zeigt ihr sie einfach vor.«

»Danke.« Alex ließ das Etui in seiner Hosentasche verschwinden.

»Falls ihr noch etwas essen wollt …«

»Danke«, lehnte Jen ab, »aber wir sollten sofort aufbrechen. Unsere Mission ist heikel.« Vor dem Fenster überzog Abendröte den Himmel. »Und da es schon dunkel wird, müssten wir andernfalls bis morgen warten.«

»In Ordnung.« Suni griff nach ihrem Rucksack und förderte eine eingerollte Karte zutage. Sie platzierte sie auf einem wackligen Holztisch. »Die Unterlagen, die Leonardo mir hat zukommen lassen, waren sehr hilfreich. Ich konnte unser Zielgebiet eingrenzen. Es scheint sich um einen Tempel in direkter Nähe von Roing zu handeln. Ein ländliches Gebiet, das in dichte Wälder übergeht. Wir werden ein Stück weiter östlich in unbebautes Territorium vordringen, allerdings nicht bis zur Grenze nach Myanmar vorstoßen.« Sie deutete mit dem Finger auf die verschiedenen Punkte auf der Karte. »Wir können in wenigen Stunden dort sein.«

Vor dem Haus stand ein Landrover, der seine besten Tage bereits hinter sich hatte. Sie stiegen ein. Während der Abend in die Nacht überging, steuerte Suni mit halsbrecherischem Tempo das Ziel an. Jen verfluchte Leonardo und Johanna für die Geheimnistuerei. Andernfalls hätten sie mit einem Sprungmagier direkt das Ziel anpeilen können.

Alex schaute mit großen Augen durch die Scheiben und beobachtete zuerst das Treiben auf der Straße, später die dichten Wälder, die an ihnen vorbeizogen. Für ihn war es der erste Ausflug außerhalb Europas, das wusste sie. Einen Urlaub hatten seine Mum, sein Bruder und er sich nie leisten können. Diese Welt war etwas völlig Neues für ihn.

Jen erinnerte sich gerne an ihren ersten Einsatz in Indien zurück. Ein Schattenkrieger hatte sich als wiederauferstandener Gott ausgegeben und durch eine Illusionierung das Äußere der Göttin Kali angenommen. Eine unschöne Sache. Für ihn. Der Kampf war heftig gewesen und hatte einen Tempel zum Einsturz gebracht. Ein ziemlich großer Stein war auf ihm gelandet, was ein kurzes grelles Aurafeuer ausgelöst hatte. Die Sekte war am Ende zerschlagen, der angebliche Gott entzaubert und der Schattenkrieger erledigt gewesen. Netterweise hatte Johanna zugestimmt, dass sie den Einsatz um zwei Tage verlängern durfte. Jen hatte einen Abend dazu genutzt, sich in einer Menschenmasse durch Delhi treiben zu lassen.

»Lebst du gerne hier?«, begann sie ein Gespräch mit Sunita.

Die Lichtkämpferin lachte. »Natürlich. Das ist meine Heimat. Sie hat ihre Schwächen, besonders, wenn du eine Frau bist. Aber ich kann auf mich aufpassen. Und seit einigen Tagen geht es wieder sehr lebhaft im Tempel zu.«

»Tempel?«, fragte Alex vom Rücksitz.

»Das ist sozusagen ihr Castillo«, erklärte Jen.

»Genau. Wir hatten zahlreiche Neuerweckte in Sicherheit zu bringen. Soweit ich weiß, seid ihr beiden dafür verantwortlich.«

»Ein wenig«, sagte Alex bescheiden. »Nun ja, genau genommen war es ein heftiger Kampf zwischen …«

»Was ist mit den Schattenkriegern?«, unterbrach ihn Jen.

»Oh.« Sunis Gesicht verdüsterte sich. »Die haben auch Nachwuchs bekommen. Seitdem gehen sie wieder in die Offensive. Es gibt mehr zu tun als vorher.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile, während vor dem Fenster die Landschaft im Scheinwerferlicht vorbeizog. Teils fuhren sie über geteerte Straßen, jedoch mehrheitlich über Trampelpfade oder querfeldein. Es war nach Mitternacht, als sie ihr Ziel erreichten. Suni steuerte den Landrover nahe Roing in das dichter bewaldete Gebiet. »Ab hier müssen wir zu Fuß weiter.«

Sie stiegen aus.

Jen beschwor ein paar Leuchtkugeln, die ihnen den Weg erhellten. »Was ist das für ein Tempel?«

»Oh, das kann ich euch nicht sagen. Die Nimags haben ihn noch nicht entdeckt. Er liegt in der Nähe eines Dorfes, unterirdisch. Wir werden den Zugang erst finden müssen.«

»Jetzt bräuchte ich noch einen Hut und eine Peitsche, dann dürftet ihr mich Indy nennen«, verkündete Alex, wobei er seinen Essenzstab schwang wie eine Peitsche. Es krachte, und ein Baum kippte um. »Oh. War der heilig oder so?«

»Das war er nicht.« Sunis Lippen kräuselten sich. »Wir haben auch noch ein paar mehr davon. Holze sie bitte trotzdem nicht alle auf einmal ab.«

»Kent!« Jen stand kurz davor, sich die Haare zu raufen. »Ein Essenzstab kann bei starker Euphorie oder Trauer durchaus den einen oder anderen unkontrollierten Kraftschlag aussenden, wie der arme Baum gerade feststellen durfte. Vielleicht steckst du ihn lieber weg.«

»Gute Idee.« Alex war ein wenig rot geworden, was wohl der Anwesenheit von Suni geschuldet war. Fehlte nur noch, dass er anfing zu sabbern.

»Schön. Vermutlich hat die indische Regierung nämlich etwas dagegen, wenn du ihr Land rodest.« Jen warf Suni ein Lächeln zu. »Irgendwelche Kulturdenkmäler in der Nähe? Nein? Gut!«

»Ich gehe voran.« Suni setzte sich an die Spitze.

Gemeinsam stießen sie tiefer in die Wälder vor. Außerhalb des klimatisierten Autos schlug die hohe Luftfeuchtigkeit über ihnen zusammen. Nicht umsonst galt Arunachal Pradesh neben seinen fantastischen Sonnenaufgängen als ausgesprochenes Regengebiet. Die Luft roch ständig nach einem herannahenden Schauer. Die Erde war feucht. Mehrfach rutschte Jen aus, fing sich aber rechtzeitig ab. Immer wieder legten sie kurze Pausen ein und tranken. Geräusche drangen an ihre Ohren, die ihr Verstand nicht zuzuordnen vermochte; vermutlich wilde Tiere. Natürlich war jeder Lichtkämpfer gegen so ziemlich alles geimpft, wogegen es Impfungen gab. Und natürlich beherrschte Jen die wichtigsten Heilzauber. Alex mittlerweile auch, so hoffte sie.

»Warum riechst du so stark nach Zimt?«, fragte sie Suni nach einer Weile.

Die andere Lichtkämpferin lächelte. »Meine Eltern haben eine Plantage mit Zimtbäumen. Sie verkaufen Ceylon-Zimt an westliche Händler.«

Alex seufzte. »Das erinnert mich an Weihnachtsplätzchen. Letzte Woche habe ich mit meinem Bruder für Weihnachten welche gebacken. Er liebt Zimtsterne.«

Suni lächelte. »Du magst deinen Bruder sehr. Das sieht man in deinen Augen. Familie ist wichtig.«

Ein Stromstoß schien durch Jens Adern zur rasen. Sie kannte das Gefühl nur zu gut. Familie. Kein gutes Thema für sie. Alex und seine Familie hatten schwere Zeiten hinter sich, doch immerhin besaß er eine. »Wie weit ist es noch?«

Suni kramte die Karte hervor und ließ ihren Essenzstab darübergleiten. Ein ausgefüllter Punkt erschien am Ziel, während ihre aktuelle Position durch einen Kreis markiert wurde. »Nur noch ein paar Meter. Hinter dem nächsten Berg ist das Dorf zu finden. Der Tempel muss in unmittelbarer Nähe sein.«

Die paar Meter erwiesen sich als äußerst anstrengend, mussten sie doch zuerst durch ein Gebiet aus dichtem Farn und Bäumen, über eine Hängebrücke mit durchgebrochenen Holzstreben und schließlich wieder eine Anhöhe hinauf.

Es war weit nach Mitternacht, als sie die ersten Ausläufer des Dorfes erreichten. Stille lag über der kleinen Ansammlung aus einfachen Lehmhütten. Der Mond stand hoch am Himmel und warf seinen fahlen Schein auf die Gebäude herab. Dazwischen gab es nur Wege aus festgetretener Erde, keinen Beton oder gar Teer.

Alex sog tief die Luft in die Lungen. »Was ist das? Irgendwas riecht hier seltsam.«

»Blut«, erwiderte Jen.

Blitzschnell zog sie ihren Essenzstab, Suni hielt ihren bereits in der Hand.

Alex tat es ihnen gleich, sah sich mit geweiteten Augen um. Jen blieb beherrscht, doch sie spürte, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Der Geruch war nur ein Indiz. Zwischen den Lehmhütten waren Fackeln aufgestellt, aber nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen.

Dann fanden sie den ersten Toten. 

7. Zieh eine Karte

 

Alex trat neben Jen. Während sie sich über den Toten beugte – ein Inder mittleren Alters –, suchte er die Umgebung ab. Sunita hielt den Essenzstab ausgestreckt, ihr Körper war gespannt wie eine Bogensehne.

»Agnosco«, flüsterte Jen, nachdem sie das zugehörige Zeichen in die Luft gemalt hatte. Die magentafarbene Essenz zerstob, rieselte flirrend zu Boden, als hätte Jen Sternenstaub gestreut. »Sie sind durch Magie gestorben. Allerdings kann ich nicht zuordnen, wann es passierte oder welcher Spruch benutzt wurde. Es gibt keine äußerlichen Verletzungen. Ein Kraftschlag scheidet also aus.« Sie kam wieder in die Höhe.

Alex war sich der zahlreichen Hütten bewusst, die im Schein der Fackeln emporragten. Hinter jedem Eingang konnte ein Feind lauern. »Meinst du, das war sie?«

»Möglich.« Jen vervollständigte das Dreieck, das ihre kleine Truppe bildete. »Vorausgesetzt, sie sucht nicht nur nach dem gleichen Artefakt wie wir, sondern hat auch eine erste Spur. Auf ihren Informanten im Castillo kann sie ja kaum zurückgreifen.«

»Wonach genau sucht ihr eigentlich?«, wollte Suni wissen.

»Hochgefährlich«, erwiderte Jen kurz angebunden. »Und streng geheim. Tut mir leid. Anordnung vom Rat.«

»Ja, dieser Leonardo.« Alex schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich würde dir ja mehr verraten, aber er ist sehr aggressiv.«

»Kent«, sagte Jen nur.

»Okay, okay. Also, was jetzt?«

Sie standen zwischen den Hütten, die Schutz boten, aber auch als Hinterhalt für einen Gegner herhalten konnten.

»Wir suchen weiter«, flüsterte Jen.

Leise schlichen sie zwischen den Behausungen umher, schauten in manche hinein und prüften mit Indikatorsprüchen die Umgebung. Nach einer guten Stunde war klar, dass keiner der Dorfbewohner noch lebte. Wer oder was auch immer an diesem Ort gewütet hatte – niemand war verschont worden.

Natürlich ließ Alex sich nach außen hin nichts anmerken, doch war ihm speiübel. Wer tat so etwas? All diese Leben, weggeworfen für ein größeres Ziel. Den Glauben an die Allmacht und die eigene Erhabenheit.

»Geht’s?«, fragte Jen.

Er räusperte sich. »Klar.«

Sie legte ihm kurz den Arm auf die Schulter. Eine Geste, die er zu würdigen wusste. Doch mit einem weiteren nachdrücklichen Nicken wehrte er jede zusätzliche Frage ab.

»Oh nein!« Suni hatte eine tote Frau herumgedreht. Nun deutete sie mit schreckgeweiteten Augen auf deren Nacken. »Ich kenne dieses Zeichen.«

Alex ging neben ihr in die Knie. Jemand hatte ein Pentagramm in die Haut geritzt, das von winzigen Symbolen umgeben war. »Na ja, solche Dinger kennt wohl jeder Nimag.«

»Wir müssen hier weg!« Suni sprang auf. »Ich erkläre es euch auf dem Weg. Schnell!«

Verdutzt stolperte Alex hinter den beiden Frauen her. Sie kamen allerdings nur wenige Schritte weit. Ein Stöhnen erklang ringsum, die Körper zuckten. »Das ist jetzt ein Joke. Sind das etwa …«

»Sag es nicht«, forderte Jen.

Vor ihnen brach die Erde auf. Halbnackte Leiber schoben sich daraus hervor, die Haut von Wunden übersät, die Knochen teilweise gebrochen.

»Contego!«, brüllte Jen. Die Sphäre entstand. Alex und Suni leiteten ebenfalls Essenz hinein, verstärkten den Schutz dadurch.

Der Ring aus seelenlosen Leibern schloss sich immer enger um sie. Tote Augen starrten zu ihnen herüber, Finger kratzten über die Sphäre. Ein trügerischer Schutz. Bei jeder Berührung der Angreifer züngelten Blitze darüber.

»Was geht hier vor?!«, rief Jen.

»Er ist es«, erwiderte Suni. »All das trägt seine Handschrift.«

»Wer?«, fragte Alex.

Die Menge teilte sich, was Sunita die Antwort ersparte. Ein Mann im dunklen Anzug kam herbeigeschlendert. Das Jackett spannte über seinem Bauch, der Fackelschein spiegelte sich in seiner Glatze. Äußerlich war er um die vierzig. Er ließ seinen Essenzstab um die Finger kreisen. »Wen haben wir denn da?«

Jen keuchte auf. Sunis Haut hatte sich deutlich heller verfärbt.

»Okay, wir sind alle total entsetzt.« Alex ließ seinen Blick zwischen den beiden Frauen schweifen. »Wer ist das?!«

»Jetzt bin ich echt enttäuscht«, kam es von dem Unbekannten. »Wird den Neuerweckten heutzutage kein Best-of mehr präsentiert? Kein Most-wanted? Ich stehe doch bestimmt recht weit oben, hm? Kommt schon, welcher Platz ist es? Vor Saint Germain und Khan?« Er grinste böse.

»Du bist ein Unsterblicher.«

»Der hier ist ein Blitzmerker, zweifellos. Mein Name ist Crowley.«

Alex zuckte zusammen. »Aleister Crowley? Der mit dem Kartenspiel?«

»Der mit … Ich fasse es nicht. Kartenspiel?! Tarot, du dämlicher Gossenjunge. Den Kundigen gewährt es einen Blick in die Zukunft.« Er förderte einen Stapel Karten aus seiner Jacketttasche zutage. »Ziehe eine. Oh, Moment.« Er tippte die Schutzsphäre mit dem Essenzstab an, die daraufhin einfach verwehte. »So, jetzt.«

Alex konnte die Angst, ja, Panik spüren, die von Jen und Suni ausging. Dieser Mann bewegte sich geschmeidig wie eine Schlange, plauderte leger und lächelte. Er machte sich keine Illusionen: Crowley war brandgefährlich. Er kam der Aufforderung nach und zog eine Karte.

»Und?«

»Der Tod«, antwortete Alex.

»Ah, eine wunderbare Karte. Sie steht für das Ablassen vom Alten, für einen Neubeginn. Nun, in deinem Fall symbolisiert sie natürlich schlicht und ergreifend ein langsames, grauenvolles Ableben durch meine Hand.« Er nahm ihm die Tarotkarte wieder ab. »Aber ich bin neugierig: Was treibt drei Lichtkämpfer in die unberührte Natur? Camping? Team building?«

»Ein Auftrag«, erwiderte Jen.

»Stell dumme Fragen und du bekommst dumme Antworten«, seufzte Crowley. »Versuchen wir es noch mal.« Er gab einem der Untoten einen Wink, worauf dieser Suni am Haar packte und zu Boden riss.

Alex dachte nicht groß nach, er handelte. In einer fließenden Bewegung erschuf er das Symbol und rief: »Ignis aemulatio.« Der seelenlose Körper wurde zu einer lebenden Fackel, taumelte zurück und ließ Suni los.