Das Erbe der Macht - Schattenloge 3: Die neue Ordnung - Andreas Suchanek - E-Book

Das Erbe der Macht - Schattenloge 3: Die neue Ordnung E-Book

Andreas Suchanek

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Beschreibung

Machtvolle Zauber, gefährliche Artefakte, uralte Katakomben und geheime Archive. Kämpfe mit den Lichtkämpfern und dem Rat des Lichts - Johanna von Orleans, Leonardo da Vinci und viele mehr –, um den Erhalt der Menschheit. Die alte Ordnung liegt in Trümmern. Während die Jagd nach den Überlebenden der blutigen Nacht beginnt, tauchen Jen, Alex und Kevin ein in eine längst vergangene Zeit. Bran, die alte Dame und der Verräter berichten von den tragischen Ereignissen aus der Dämmerung des Anbeginns. Das Erbe der Macht ... ... Gewinner des Deutschen Phantastik Preis 2019 in "Beste Serie"! ... Gewinner des Lovelybooks Lesepreis 2018! ... Gewinner des Skoutz-Award 2018!

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Table of Contents

Titelseite

Blutzeit

Was bisher geschah

Prolog

1. Eine neue Zeit

2. Excalibur

3. Ich sehe alles

4. Ein ganz besonderer Ring

5. Ansturm der Dunkelheit

6. Eine Brücke nach Avalon

7. Das Feuer des Drachen

8. Über den Dächern von London

9. Eine Armee

10. Gnadenlos

11. Die Pfeiler der Ewigkeit

12. Ein See vom Anbeginn

13. Vor der Schlacht

14. Drachenjagen leicht gemacht

15. Kralle um Kralle

16. Der nächste Schritt

17. Wo alles seinen Anfang nahm

18. Alles für das Reich

19. Ein Schluck bittersüße Wahrheit

20. Aus freien Stücken

21. Vor langer Zeit

22. Ein Schluck vom Anbeginn

23. Kraft und Gegenkraft

24. Ein Fluch, zu binden

25. Eine alte Freundin sagt Hallo

26. Um zu überleben

27. Am Ende der Welt

28. Der erste Kampf

29. Quelle Surprise

30. Machtlos

31. Minuten der Stille

Epilog

Seelensplitter

Prolog

1. Nach dem Fall der Ordnung

2. Die eine Klinge teilt die Wirklichkeit

3. Im Licht des Bernsteins

4. Das Kabinett des Grauens

5. Unter der Kuppel

6. In die Tiefe

7. Leid, gegossen in Stein

8. Der ewige Gelehrte

9. Das Wispern vom Anbeginn

10. Wohin soll das führen?

11. Die ewige Jagd

12. Der Fall der Tessa McDougal

13. Das Wiedersehen

14. Ich werde dich immer halten

15. Die Sünden der Väter

16. Ein Opfer für die Ewigkeit

17. Der alte Mann und die Kerze

18. Ein Mosaik aus Seelen

19. Das Infernale vom Anbeginn

20. Das Ende eines Unsterblichen

21. Die Tragik der Geschichte

22. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft

23. Gemeinsam gegen den Anbeginn

24. Im Lichte des Bernsteins

25. Tee und Gebäck

26. Abschied

Epilog I

Vorschau

Schattentanz

Prolog

1. Vor dem Sturm

2. Eine zweite Chance

3. Ein verzerrter Schatten

4. Merlins Bastion

5. Im ewigen Eis

6. Das erloschene Tor

7. Dem Feind im Angesicht

8. Ein Phönix aus Blut

9. Unter den Augen des Anbeginns

10. Wo die Silberknochen ruhn

11. Wer hat mich getötet?

12. Rundflug inklusive

13. Verzweiflung

14. Schatten gegen Licht

15. Das Gesicht des Jüngers

16. Zwischen Wahrheit und Lüge

17. Silberlicht und Schattentanz

18. Dieser heldenhafte Mistkerl

19. Den Wind gesät …

20. … den Sturm geerntet

21. Der Rettungsanker

22. Die Noxanith-Mühle

23. Kriegsrat

24. Ein Mitbringsel

Vorschau

Seriennews

Glossar

Impressum

Das Erbe der Macht

Schattenloge 3

»Die neue Ordnung«

von Andreas Suchanek

 

 

 

 

 

XIX

 

»Blutzeit«

 

 

Was bisher geschah

 

Bran tritt aus dem Schatten.

Herangereift im Inneren des Onyxquaders, sammelte der alte Widersacher von Leonardo und Johanna seine Kraft. Ränke wurden geschmiedet, Artefakte geborgen, die Krallen tief in den Leib von Lichtkämpfern und Schattenkriegern geschlagen.

Nachdem Chloe das Artefakt mit der Bezeichnung ›Seelenmosaik‹ bergen konnte – wobei Chris, Nikki und Nemo im Unterwasserreich der Aquarianer zurückblieben –, leitet Bran die Blutnacht ein. Seine ihm treu ergebenen Helfer beginnen den Kampf. Die Unsterblichen sollen gestürzt werden, alle Gegner sterben. Auch die magischen Familien sind nicht länger sicher.

Die Archivarin wird in ewigem Bernstein eingeschlossen. Grace liegt im Sterben, Eliot tötet alle anwesenden Gelehrten.

Alex und Jen haben das Archiv kurz zuvor verlassen und werden von einem letzten Zauber der Archivarin gewarnt.

Jen eilt zu Dylans Rettung und kann den Nimag gerade noch vor einem Angriff der Schattenkrieger in Sicherheit bringen. Sie fliehen in das geheime Haus in London, wo Crowley plötzlich auftaucht. Er erklärt Jen, dass Dylan in Wahrheit der Verräter ist – der Unsterbliche Artus von Camelot. Daraufhin verliert Jen erneut die Kontrolle über ihre Macht, die Artus auch als den ›Drachen‹ bezeichnet.

Unterdessen erreicht Alex über das Splitterreich von Paris das Haus von Lady Morgause, jedoch wird er dabei schwer verletzt. Nachdem er gesund gepflegt wurde, entpuppt Morgause sich als Morgana Le Fay. Im alten Thronsaal von Schloss Camelot, der sich unter ihrem Haus befindet, berichtet sie Alex von den Ereignissen aus vergangener Zeit.

Im Castillo ist der Umsturz im Gange, bei dem die Eltern von Chris und Kevin getötet werden. Zwar können Max und Kevin Chloe gefangen nehmen, doch am Ende fällt Kevin in Brans Hände, der sich als Merlin offenbart. Auch er berichtet von den Ereignissen aus tiefster Vergangenheit.

Das Schicksal von Johanna und Kleopatra ist ungewiss, werden beide doch von Merlin und Patricia Ashwell in den Immortalis-Kerker geworfen. Einzig Tomoe kann entkommen. Die Machtübernahme durch Bran schreitet unaufhaltsam voran.

Prolog

 

Ein neues Zeitalter begann, doch die wenigsten wussten davon. Ich, Morgana Le Fay, war die erste Unsterbliche und wandelte bereits eine Ewigkeit über das Antlitz der Erde. Als der erste Wall erschaffen wurde, verzichtete auch ich auf einen Teil meiner Erinnerungen, und das mit Freude.

Die dunkle Zeit des Anbeginns, der Götter und finsteren Kreaturen blieb endgültig zurück. Natürlich hinterließ der Anbeginn seine Spuren, doch das Grauen selbst verblasste.

Wenn auch nicht für alle.

Es gab Schlupflöcher, die manch ein machtgieriger Magier sich zunutze machte. So entstanden zwei Seiten. Jene, die die neue Zeit verteidigten und jene, die die alte Macht zurückholen wollten – ohne wahrlich zu wissen, was das bedeutet hätte.

Doch ich werde dir heute nicht vom Anbeginn erzählen, Alexander Kent. Das könnte ich gar nicht, besitze ich doch längst keine Erinnerung mehr daran. Nur ein vages Gefühl des absoluten Grauens ist geblieben. Alle wissen heute, dass diese Zeit niemals zurückkehren darf, selbst die Schattenkrieger.

Nein, ich erzähle dir von der Dämmerung des Anbeginns, als die letzten Reste zurückgedrängt wurden, der Wall seine gesamte Macht entfaltete und die Basis für all das gelegt wurde, was bis heute überdauerte. Der erste Wall versiegelte den Anbeginn hinter einer Mauer aus Vergessen, doch nicht vollkommen. Die Welt balancierte am Abgrund, aber keiner wusste davon.

Wie soll man einen Feind besiegen, an den sich niemand mehr erinnert? Vor jener Frage standen wir damals. Die Zitadelle, Merlin, ich und viele mehr.

In den Geschichten der Nimags ist Camelot längst ein Mythos, die Tafelrunde ein Sinnbild für tugendhafte Ritter. Die Wahrheit sah völlig anders aus, waren jene Ritter doch in Wahrheit die stärksten der starken Magier und keinesfalls droschen sie tumb mit Schwertern aufeinander ein.

Derjenige, der heute als einziger Magier in der Geschichte verewigt ist, war damals nur einer von vielen – wenn auch von Klugheit geleitet. Merlin von Avalon war der erste Magier, der nach der Erschaffung des Walls geboren wurde.

Du siehst die Trinität des Seins, Alexander Kent. Der erste Magier – Merlin. Der erste König einer neuen Zeit – Artus. Die erste Unsterbliche – ich. Das Gleichgewicht besteht niemals nur aus zwei Seiten, bedenke das jetzt und immer.

Die Geschichte von Camelot begann in einer Sommernacht zwischen dem dichten Grün eines geheimen Ortes, wo zwei Menschen das Beste für die Menschheit wollten und das Furchtbarste in Gang setzten.

1. Eine neue Zeit

 

Schwer atmend rollte Merlin sich zur Seite.

Der Silberschein des Mondes bedeckte ihre beiden nackten Körper wie ein Tuch aus hauchdünner Seide. Das Gestirn schickte seine mystische Kraft herab, um sie beide zu schützen. Hier, in diesen Stunden zwischen Abendlicht und Morgenschwärze, konnten sie sicher sein, es würde keine Attacke erfolgen.

»Sie planen etwas.« Merlin lag auf dem Rücken, hatte den Kopf auf die verschränkten Arme gebettet und blickte in die sternenklare Nacht. Er hielt sich nie mit Liebesgeplänkel auf, obgleich Morgana seine Verbundenheit ihr gegenüber spürte.

»Tun sie das nicht immer?«

»So mag es wohl sein, doch es fällt mir schwerer und schwerer, ihre Attacken vorauszusehen. Der letzte Angriff hat das Dorf Calowell völlig zerstört, weil ich nicht genug Helfer versammeln konnte. Die Geschichte wird es vergessen. Sie glaubten nicht an eine ernste Gefahr, weil der Wall ihre Erinnerungen genommen hat!«

Damit sprach er aus, was möglicherweise den Untergang einleiten konnte. Im Gegensatz zu vielen anderen trug Morgana mehr Wissen in sich. Ihre Erinnerungen reichten weit zurück, wurden jedoch mit jedem Tag verwaschener.

Die Macht des Anbeginns war nicht gebrochen worden, wie sie dereinst geglaubt hatten. Das Vergessen hatte die Wesen zurückgedrängt, doch sie klammerten sich an ihre Existenz auf dieser Daseinsebene.

»Sie werden wieder und wieder angreifen«, sprach Merlin leise. »Jeder Riss ist ein Geschwür in den Fasern der Realität, als habe eine Weberin eine Lücke übersehen.«

»Denkst du nicht, die Zitadelle wird uns warnen, wenn das Gleichgewicht zu entgleiten droht?«

»Waren es nicht jene in ihrem Schutz, die die Idee des ersten Walls in unsere Ohren flüsterten?«

Morgana richtete sich auf, die Stirn gerunzelt und Grimm im Herzen. »Ohne den Wall würden die Steppen brennen, die Seen wären mit flüssigem Metall gefüllt und am Himmel würden schwarze Drachen kreisen. Mythen und Legenden erscheinen fern, doch hast du das wahre Ausmaß dessen schon jetzt vergessen, was die Kreaturen erschufen?«

»Natürlich nicht«, versicherte Merlin schnell.

Sein Blick suchte den ihren. Das dunkle Haar, das ihr Geliebter normalerweise mit einem Lederband schnürte, umrahmte offen sein Haupt. Auf der nackten Haut zeichneten sich dichte Muskeln ab, ein sanftes Lächeln lag auf seinem Gesicht. Äußerlich glich er einem Mann, der etwas mehr als zwanzig Sommer erlebt hatte, doch er war älter. Jugend und Stärke waren Merlin wichtig, deshalb hatte er bereits früh mit lebensverlängernder Magie experimentiert.

»Trotzdem glaube ich, dass sie nicht vorausgesehen haben, was auf uns zukommt«, erklärte er seine Worte. »Überall auf der Welt sind die mächtigen Artefakte des Anbeginns verstreut. Es sind so viele, dass jene, die vergessen haben, nur noch die verlorene Macht sehen. Es werden täglich mehr jener dunklen Krieger.«

»Sie können den Anbeginn nicht zurückholen«, erwiderte Morgana sanft.

»Bist du da sicher?«

Die Frage hallte in ihrem Inneren nach und schürte Zweifel. Niemand kannte die Magie hinter dem Wall. Er war erschaffen worden durch den Zusammenschluss mächtiger Magier, die in die Zitadelle getreten waren. Dort hatten sie ihr Leben gegeben, um etwas zu tun. Natürlich gab es Gerüchte. Sie hätten einen Anker erschaffen, eine Verbindung … Doch es blieben gewisperte Worte, die wahr sein mochten oder auch nicht.

Morgana wusste nur zu gut, dass alles rückgängig gemacht werden konnte. Jeder Weg war in beide Richtungen begehbar. Letztlich vermochte sie die Schatten der Zukunft nur zu erahnen. Nun, manch einer konnte mehr. In diesem Augenblick begriff sie, was Merlin zu tun gedachte.

»Du willst sie befragen?«

Er zögerte, nickte dann aber. »Wir müssen damit beginnen, eine Gegenkraft aufzubauen. Nicht einzelne kleine Gruppen, sondern ein Bollwerk des Friedens.«

»An was denkst du?«

»Ein Königreich«, flüsterte er. »In dem Sicherheit durch starke Magie einer neuen Ordnung garantiert wird.«

»Doch wer stünde an der Spitze? Du?« Sie konnte sich Merlin durchaus in dieser Position vorstellen, er brachte alles Gute mit sich, das einem solchen König innewohnen musste.

»Nein«, erwiderte er kategorisch. »Ich und ein König? Mein Weg ist ein anderer. Doch ich helfe gerne bei der Formung. Es gibt einen Mann, der dafür geeignet erscheint, doch er benötigt ein Werkzeug.« Auf ihren neugierigen Blick hin ergänzte er: »Eine Waffe.«

Morgana fuhr in die Höhe. »Bist du von Sinnen?! Excalibur?«

»Es ist die einzige Möglichkeit.«

»Eine solche Macht in die Hände eines gewöhnlichen Magiers zu legen, wäre gefährlich. Die Macht in Excalibur könnte ihn verderben.«

»Deshalb wird es kein Magier sein.«

Morgana schlüpfte in ihr Kleid und gürtete es, legte ihren Essenzstab an. »Dann könnte er die innewohnende Macht des Artefaktes nicht nutzen.«

»Dieser schon«, widersprach Merlin.

Er lächelte sphinxhaft, schlüpfte in seine Hose und das weiße Hemd. Mit ein paar gezielten Fingergriffen band er das Haar zu einem Pferdeschwanz. »Dieser kann mit Magie umgehen, besitzt aber kein eigenes Sigil. Seine Macht ist anders. Er ist wie ein Leiter, der die Essenz anderer kanalisiert. Wir beide wissen, dass Excalibur voll davon ist.«

Morgana atmete scharf ein, erwiderte Merlins erwartungsvollen Blick dann aber mit einem Nicken. »Er könnte die Magie nutzen, würde sie aber nicht in sich aufnehmen. Das könnte verhindern, dass seine Seele Schaden nimmt.«

»Er ist der einzige Nimag, der dazu imstande wäre. Ich beobachte ihn bereits seit einigen Jahren, er ist zum Jüngling herangereift. Jetzt wäre die Zeit. Niemand sonst könnte Excalibur führen, doch um den Anbeginn zurückzudrängen, muss es genutzt werden.«

»So weit mir bekannt ist, wurde dafür gesorgt, dass niemand sich des Artefaktes bemächtigen kann.«

»Du magst recht haben«, gestand Merlin ein, »doch sollte es mir gelingen, sie zu überzeugen, könnte sich das ändern.«

Ein Lachen stieg aus Morganas Brust empor. »Du wirst dich niemals ändern. Stellt sich dir eine Mauer in den Weg, reißt du sie ein. Deine Leidenschaft wird dir noch eines Tages zum Verhängnis, doch möglicherweise ist es unsere größte Hoffnung.« Sie trat ganz nah an ihn heran, legte die Hand auf sein Herz. »Möge das Glück mit dir sein.«

»Glück.« Er lachte auf. »Schwache Menschen verlassen sich auf Glück, ich halte nichts davon. Es werden meine Worte und meine Überzeugungskraft sein, die ein Königreich erschaffen. Eine neue Ordnung. Warte nur ab.«

Sie sah in seine Augen und erblickte ein Feuer darin, das seinesgleichen suchte. Es stand außer Frage, dass Merlin Großes vorherbestimmt war, ja: Möglicherweise war er die Lösung für ihrer aller Problem.

»Nimm mein Glück trotzdem.«

»So sei es.« Er lächelte sanft.

Ihre Lippen berührten sich zu einem zaghaften Kuss, wie es stets geschah, wenn die Leidenschaft abgekühlt war.

Merlin löste sich von ihr, bestieg sein Pferd und ritt davon. Der Morgen graute und mit ihm erhob sich die Gefahr. Auch Morgana würde sich in Sicherheit begeben.

Sie blickte Merlin hinterher, die Hand lächelnd auf ihren Unterleib gelegt. Sein Samen war in ihr, das Werk war vollendet.

»Unsere Macht wird geboren in einem Kind. Möge es der Welt den Frieden bringen.«

 

An jenem Tag begingen wir beide Fehler. Merlin, der ein Königreich gründen wollte. Und ich, die Mordred das Leben schenkte.

2. Excalibur

 

»Was ist das hier?«

Merlin betrachtete Artus. Der Junge war wie ein Welpe, der mit großen Augen das unvertraute Terrain erkundete. Mochte er auch auf einer gewissen Ebene Magier sein, so war sein bisheriges Leben doch als Nimag erfolgt.

»Ein vergessener Ort«, erklärte Merlin freundlich. »Es sind blinde Flecken in der Realität, die niemand jemals finden kann, der nicht weiß, wonach er sucht. Dieser hier wurde erschaffen, um ein Artefakt zu verbergen.«

Er deutete auf einen Punkt in Sichtweite.

Mitten auf einer weiten grünen Ebene lag ein Felsbrocken. Er hätte gewirkt wie ein gewöhnlicher Stein, wäre er nicht von schwarzer Farbe gewesen. Dunkel wie Onyx schimmerte die Oberfläche.

»Da steckt etwas drin«, stellte der Jüngling das Offensichtliche fest. »Ist das …«

»Ein Essenzstab, ja.«

Die eine Hälfte von Excalibur schien mit dem Stein verschmolzen zu sein, die andere ragte daraus hervor. Der Essenzstab war länger als ein gewöhnlicher und verziert mit dunklem Metall. Nur wenige kannten das Geheimnis dieses Artefaktes, sogleich würde ein weiterer Wissender hinzukommen.

»Unter Nimags und Magiern kursiert eine Legende«, erklärte Merlin. »Sie besagt, dass der, der würdig ist, Excalibur aus dem Stein zu ziehen, ein Königreich regieren wird. Zugegeben, diese Legende habe ich gesät. In Wahrheit muss es wohl heißen, dass jenem die Bürde auferlegt wird, eine Gemeinschaft zu formen, der einen Blick auf die Wahrheit erhascht.«

Verwirrt sah Artus zu ihm auf. »Aha.«

»Probiere es.«

»Ich? Aber ich bin kein Magier.«

»Das spielt keine Rolle. Du bist zu Höherem bestimmt, Artus. Zieh den Essenzstab aus dem Stein.«

Merlin verzichtete darauf, den Jüngling zu warnen. Es gab keine Worte, die diesen auf das vorbereiten konnten, was gleich geschah. Die Geschichte würde lebendig werden.

Sie hatten den Stein erreicht und Artus kletterte darauf. In seinem Blick war Stolz zu lesen, aber auch Hochmut. Der Wille, etwas Großes zu erschaffen, aber auch, dass das Schicksal ihm genau das schuldete. Er beherbergte alle Facetten in sich, die einen König ausmachten. Seine Finger schlossen sich um den Essenzstab.

»Sprich die Worte, die ich dich gelehrt habe«, forderte Merlin.

»Revelatio Aeternum.«

Der Himmel öffnete sich und eine gleißende Lohe aus reiner Essenz schoss herab, die von Excalibur aufgenommen wurde. Ein magischer Sturm tobte, in dessen Zentrum Artus stand, die rechte Hand noch immer um den Essenzstab gelegt. Er zitterte, Tränen rannen aus seinen Augen.

Merlin bedauerte ihn, konnte jedoch nichts tun. Die Kraft musste aus dem Jüngling selbst an die Oberfläche gelangen, doch erst, wenn ihm die Wahrheit enthüllt worden war – keinesfalls zuvor. Denn wer König sein wollte, musste die Schatten kennen.

Excalibur zerfetzte den Zauber, der durch den Wall gewoben worden war, und erlaubte Artus einen Blick auf die Vergangenheit. Er sah die Zeit des Anbeginns und durch sie hindurch. Uralten Kreaturen und Götter wurde für ihn lebendig, er sah Siege wie Niederlagen. Flüsse aus Metall, Meere aus Lava, grauenvolle Wesen von der Größe ganzer Berge.

Irgendwann endete der Sturm.

Artus brüllte, doch er ließ nicht los. Mit letzter Kraft zog er Excalibur aus dem Onyxgestein, dann brach er wimmernd in die Knie.

»Was … war das?«

»Du weißt, was das war.«

»Der Anbeginn.« Artus kam keuchend auf die Beine.

»Was einst war, doch wieder sein könnte, wenn du versagst.« Merlin deutete auf Excalibur. »Der Essenzstab ist jetzt ein Teil von dir. Doch während andere Magier die Essenz in ihrem Sigil erzeugen und durch den Stab wirken, wird deine Macht durch den Essenzstab produziert und durch deinen Körper gewirkt. Der Weg ist umgekehrt. Aber durch diese besondere Art der Magie kann Excalibur dir nichts nehmen, nichts aus dir herausreißen.«

Voller Abscheu betrachtete Artus das Artefakt. »Was ist, wenn ich es nicht will?«

»Es ist das Werkzeug, das dir ermöglichen wird, ein Reich des Lichts zu erschaffen«, erwiderte Merlin. »Doch vergiss dabei niemals, dass in ihm auch die Kraft zu zerstören wohnt. Dieser Essenzstab wurde einst in der Schmiede des Anbeginns erschaffen, doch eine große Kriegerin drang dorthin vor, barg das Artefakt und brachte es zur Quelle des Schicksals. Die Herrin vom See veränderte Excalibur und machte es zu einer Waffe gegen seine Herren.«

Der Widerstreit in Artus war offensichtlich. Er betrachtete das Artefakt und strich schließlich vorsichtig darüber. »Es ist warm.«

»Niemand weiß, woraus es besteht«, erklärte Merlin. »Doch es wird dir seine Dienste erweisen, bis der Tag gekommen ist, an dem es zurückgebracht wird.«

»Wer ist diese ›Herrin des Sees‹?«, fragte Artus.

»Es ist nur einer ihrer Namen«, erklärte Merlin. »Sie schaut in die Schatten des Schicksals, die verästelnden Flüsse, und greift hier und da lenkend ein. Sie … korrigiert winzige Dinge, doch wir merken nichts davon. Wir glauben, dass es schon immer so war, nur wenige Auserwählte sehen die Dinge so, wie sie tatsächlich gewesen sind.«

Artus war nach dem ersten Satz gedanklich ausgestiegen, das erkannte Merlin. Der Krieger in dem Jüngling begriff, dass er dank des Essenzstabes Zauber würde wirken können. Er sollte König werden.

»Wann …«

»… wir anfangen können?«, unterbrach Merlin ihn trocken. »Ich werde gar nicht erst versuchen, dich durch allerlei Manuskripte zu quälen, dafür kannst du nicht lange genug still sitzen.«

»Du bist ein weiser Mann.« Artus grinste frech.

»Stattdessen werde ich dich Magie in ihrer Anwendung lehren. Das ist zum Beispiel ein Kraftschlag.«

Ein ausgesprochenes Wort später lag Artus verwirrt am Boden, Excalibur einen Steinwurf entfernt.

»Selbst die beste Waffe ist nur so stark wie jener, der sie führt«, kommentierte Merlin. »Momentan ist Excalibur also schwach wie ein Welpe.«

»Ich bin nicht schwach!«, brüllte Artus und nahm das Artefakt wieder auf.

Im nächsten Moment hing er kopfüber im Himmel, der Essenzstab flog davon.

»Wir haben einen langen Weg vor uns.« Merlin seufzte,

kurz darauf spiegelte er das freche Grinsen von Artus. »Aber zumindest ich werde dabei eine Menge Spaß haben. Gravitate Negum!«

Der zukünftige König stürzte zu Boden. Natürlich passte Merlin den Sturz dahingehend an, dass er nicht tödlich endete. Nur ein paar blaue Flecken, damit der Heißsporn ein wenig abkühlte.

Auf diese Art erlernte Artus die Magie und Merlin musste ihm zugestehen, dass er die magischen Sprüche und Symbole rasend schnell erfasste. Seine Achillesferse blieben das Temperament und Excalibur. Denn sobald das Artefakt nicht mehr in seiner Hand lag, verlor er die Fähigkeit, Magie zu wirken. Letztlich war Artus ein Nimag, der die Welt verändern sollte.

 

Ich hätte diesem elenden Emporkömmling das Genick brechen sollen. Stattdessen verhalf ich ihm zur Gründung eines Königreichs! Alles für die Zitadelle, doch gedankt hat sie es mir nicht. Die Geschichte nahm ihren Lauf und die Schatten des Anbeginns regten sich. Sie hatten bemerkt, was wir taten, und richteten ihre tückischen Augen auf uns.

3. Ich sehe alles

 

Aus Sicherheitsgründen überprüfte Max Chloes Fesseln, obgleich die Freundin tief und fest schlummerte.

»Der Schlafzauber wirkt.« Annora Grant blickte mit Bedauern auf die von Bran mit falschem Glück vergiftete Magierin. »Aber ich verstehe, dass du auf Nummer sicher gehen möchtest.«

Max schluckte. Er fühlte sich wie eine Schaluppe auf dem Meer, von Wellen und Sturm herumgeschleudert, ohne die notwendige Kraft, das eigene Schicksal zu bestimmen. Der Mann, den er liebte, befand sich in Gefangenschaft von Bran und eine ihrer besten Freundinnen lag gefesselt vor Max.

Er wusste, dass auch Annora sich so gut es ging beherrschte. Ihre Tochter und ihr Schwiegersohn waren vor ihren Augen quasi im Vorbeigehen getötet worden.

»Sofern der Zauber wirkt – und davon gehe ich aus –, werde ich Zeit zur Regeneration benötigen«, erklärte Max noch einmal. »Sollte Chloe in diesem Augenblick fliehen, könnte ich nichts tun. Und du wirst beschäftigt sein.«

Sie befanden sich in der kleinen geheimen Kammer, die Nils als sein Versteck auserkoren hatte. Hier auf dem Speicher würde kaum jemand nachsehen. Und falls doch, waren sie hinter dickem Gestein in Sicherheit.

Der Winzling und Tilda befanden sich im Verlorenen Castillo und bereiteten es darauf vor, als Flüchtlingsunterkunft zu fungieren.

Max ließ sich im Schneidersitz nieder, die Symbole hatte er bereits mit seinem Essenzstab auf dem Gestein angebracht. Die magischen Zeichen loderten in burgunderfarbenem Feuer.

»Revelatio Universalis Castillo.«

Während er die Worte sprach, schloss Max die Augen. Sein Körper prickelte, dann schien er neben sich selbst zu schweben.

Der Revelatio-Universalis-Zauber gehörte zu jenen, die nur Agenten lernten. Nicht nur, dass er ausnehmend viel Essenz benötigte – einschließlich der Gefahr eines Aurafeuers –, er war auch von imenser Macht. Für einen Beobachter ein ausgezeichneter Weg, verborgen zu bleiben. Durch den Wall fraß der Zauber jedoch so viel Essenz, dass er nur wenige Minuten stabilisiert werden konnte.

Mit einem Gedanken brachte Max seinen Essenzschatten in die Eingangshalle des Castillos. Die Aschehaufen all jener, die von Bran verbrannt worden waren, türmten sich noch immer auf. Überall standen lächelnde Magier, Brans willfährige Helfer, seine Soldaten. Er konnte nicht einmal mehr von Lichtkämpfern sprechen, denn letztlich existierten die alten Bezeichnungen und Grenzen nicht länger.

Ein junger Mann und eine junge Frau kamen aus dem Durchgang zu den Katakomben. Sie trugen altmodische Kleidung, wirkten verwahrlost. Zwillinge, das erkannte er auf den zweiten Blick. Weitere Magier strömten in die Halle. Mit einem Gedanken schwebte Max in den Katakomben.

»Er hat den Immortalis-Kerker geöffnet«, sprach er laut aus, was Annora nicht sehen konnte. »Die Insassen wurden befreit.« Er lauschte den Gesprächen der anwesenden Magier. »Kleopatra und Johanna wurden dort eingesperrt.«

Konnte ein einzelner Mann noch mehr Chaos anrichten? Im Kerker der Unsterblichen hatten die schrecklichsten und gefährlichsten Magier ihr Dasein gefristet. Dass für sie nur Sekunden vergingen, während es außerhalb Jahrzehnte waren, machte die Haft human. Gleichzeitig wurde ein Ausbruch quasi vollständig unmöglich gemacht.

»Er hat die Sprungportale reaktiviert, das Archiv zersplittert und den Immortalis-Kerker geöffnet«, fasste Max ihre bisherigen Kenntnisse zusammen. »Patricia Ashwell ist auf seiner Seite.«

Aus den Gesprächen der Magier erfuhr er jedoch ebenso, dass Tomoe entkommen war und man an Einstein nicht herankam, solang er noch in der Bühne festsaß.

Max kämpfte seine Angst nieder und richtete den Fokus auf Kevin. Ein kurzes Wabern, dann schwebte Max in Brans Büro. Seinem Verlobten ging es gut, obgleich er an einen Stuhl gefesselt und zur Bewegungslosigkeit verdammt war. Auf Brans Tisch lag eines der Artefakte, die Magier endgültig zu töten vermochten und eine Inkarnierung des Sigils verhinderten.

»Ist das nicht widerlich?«, fragte Bran. »Nur weil Morgana es so wollte – ihr habt sie übrigens als Morgause bereits kennengelernt –, habe ich diesen dämlichen Artus ausgebildet. Er wird zum Unsterblichen. Und mich, Merlin von Avalon, wollten sie verrecken lassen. Wenigstens hat er erneut seine Dummheit bewiesen. Er hätte als Teil des Rates einfach alle einweihen können, stattdessen wurde er zum Verräter, um den zweiten Wall zu verhindern.«

Max erstarrte. »Bran ist Merlin von Avalon«, hauchte er und wiederholte auch den Rest für Annora.

In seinem Kopf tosten die Informationssplitter umher. Merlin. Morgana. Der Verräter. Ein zweiter Wall?!

»Aber kümmern wir uns nicht um die Randfiguren. Andere nehmen sich Artus an. Er versteckte sich all die Jahre als Nimag und wurde zu etwas, das ihr heute Chirurg nennt.«

»Dylan!« Max fuhr geschockt zurück.

Merlin drehte sich herum, sein Blick erfasste Max. »Ah, wir haben einen ungebetenen Gast. Der Agent, der eigentlich längst hätte tot sein sollen. Nun, der Tag ist noch nicht zu Ende.«

»Flieh!«, brüllte Kevin.

Merlin machte mit den Fingern seiner rechten Hand eine Schnapp-Geste, worauf Kevins Lippen wie zusammengewachsen aufeinanderlagen.

»Lass ihn gehen!«, brüllte Max.

»Aber nicht doch«, entgegnete der uralte Magier. »Wir unterhalten uns gerade ausgezeichnet. Dein Freund hat etwas in seinem Blut, das ich will. Du solltest dich von ihm verabschieden, sein Tod ist beschlossen. Genau wie deiner.«

»Bisher leistest du eine miserable Arbeit.« Er konnte spüren, dass seine Essenz fast aufgebraucht war, der Zauber musste gelöst werden. »Ich werde nicht aufgeben.«

»Weil du diesen Mann liebst.« Merlin deutete auf Kevin. »Die Liebe ist einfach abscheulich. Auch für dich wird sie den Tod bedeuten.«

»Wir werden sehen.«

»Aber ja, das tun wir. In wenigen Sekunden.«

Merlins Hand fuhr durch die Luft. Max hatte völlig vergessen, dass ihr Gegner Magie auch ohne gezeichnete Symbole und Sprüche wirken konnte.

Doch nichts geschah.

»Ich fürchte, du wirst uns nicht mehr verlassen können«, erklärte Merlin.

Max fokussierte sich auf das geheime Versteck auf dem Speicher, doch sein Essenzschatten verharrte vor Ort. Eisiges Grauen packte sein Herz. Die Essenz sickerte unaufhörlich in den Zauber, zerrann rasend schnell. Doch er vermochte die Magie nicht aufzuheben.

»Annora, ich komme nicht weg«, haspelte er.

Die Essenz war fort.

Das Sigil wand sich gepeinigt, griff nach der Aura und begann, davon zu zehren. Max schrie.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du es mir so leicht machst.« Merlin lächelte böse. »Ihr Agenten wart in der Vergangenheit immer auf der Hut und vortrefflich ausgebildet. Es war schwer, Fallen zu stellen, euch zu töten. Es hätte dir doch klar sein müssen, dass ich nach all der Zeit des Planens keinen so lächerlichen Fehler begehe. Für Magier wie mich sind Essenzschatten mit Leichtigkeit aufzuspüren. Nichts bleibt mir verborgen.«

Max brüllte auf.

Essenzflammen tanzten auf seinem Körper, er war in der einen Sekunde auf dem Speicher, in der nächsten stand er bei Merlin und Kevin im Raum. Sein Verlobter konnte ihn zwar nicht sehen, doch er schien den Schmerz zu spüren.

Kevins Augen weiteten sich, Tränen flossen über sein Gesicht.

Nun konnte er Max sehen.

Für die letzten Sekunden.

Das Aurafeuer loderte auf und verbrannte Max zu Asche.

4. Ein ganz besonderer Ring

 

Max öffnete die Augen.

Annora kauerte neben ihm, strich sanft eine Strähne aus seiner Stirn. »Du bist gestorben.«

»Schon wieder?« Ein hysterisches Kichern löste sich aus seiner Brust, verschwand jedoch so schnell, wie es gekommen war. »Wieso lebe ich noch?«

»Der Ring.« Annora deutete auf den Verlobungsring, den Kevin ihm einst angesteckt hatte. »Du weißt, er ist ein Familienerbstück. Er hat eine lange Geschichte, die untrennbar mit meinem Leben und den Blutsteinen verknüpft ist. Ich nenne ihn: den Phönixring.«

»Er hat mich zurückgeholt?«

»So ist es. Dein Körper stand in Flammen, du bist gestorben. Doch der Ring hat dein Sigil gebunden, Haut und Knochen wieder erneuert und dir das Leben geschenkt. Andernfalls hätte Merlin einen weiteren Menschen aus meinem Leben gerissen.« Sie zog Max in eine heftige Umarmung.

Plötzlich war da noch jemand. Ein winziges Kerlchen, das Max ebenfalls umarmte. »Du warst weg.«

»Nils?«

»Er ist angekommen, als du gerade … tot warst.«

»Langsam bekomme ich Übung darin, zu sterben und zurückzukehren«, sagte Max trocken.

In Wahrheit war ihm nicht zum Lachen zumute. Er war auf Iria Kon gestorben und nur durch das Opfer von Edison zurückgebracht worden. Heute war es ein zweites Mal geschehen, er verdankte Annoras Geschenk die Rückkehr. Doch irgendwann würde sein Glück aufgebraucht sein, wäre der Tod endgültig.

Kevins Granny löste sich von ihm. »Spare dir das Grübeln für später. Wir springen jetzt ins Verlorene Castillo.«

Max berührte Chloe mit der einen Hand, Nils mit der anderen.

Plopp.

Sie erschienen einige Meter von einer Steinwand entfernt, in den Gewölben des Verlorenen Castillos. Vor dem Gestein stand Tilda und unterhielt sich angeregt mit Kyra. Die junge Gestaltwandlerin wirkte verunsichert, die Ereignisse hatten sie überrollt.

»Max! Annora!« Tilda liebkoste beide.

»Alana!«, rief Annora verblüfft.

Die Pflanzenmagierin hatte soeben eine Wurzel an das Gestein angelegt, die abrupt anwuchs. Das Gesicht der älteren Frau wirkte verhärmt. »Annora. Schön, dass ihr es auch geschafft habt.«

»Die Tiere?«

»Keine Sorge. Ich konnte das Drachenblut nutzen. Der jüngere, den ich vom Markt zu retten vermochte, war verletzt. Die Heilung war langwierig, dabei habe ich eine Phiole Blut zurückgehalten. Mit dieser konnte ich den Anker des Splitterreiches lösen und neu verbinden.«

»Woher wusstest du von diesem Ort hier?«, fragte Max.

»Ich habe den Zauber wählen lassen.« Sie lächelte. »Es verblüfft mich nicht, dich hier zu sehen. Es freut mich, dass es dir gut geht.«

»Mich auch«, warf Kyra lächelnd ein.

Max spürte bei ihrem Anblick sofort wieder die Enge in seiner Brust. Er nickte nur, worauf sich ein Schatten auf Kyras Blick legte.

Annora brachte alle Anwesenden auf den neuesten Stand der Entwicklungen, verkündete die wahre Identität von Bran, dem Verräter und der alten Dame im Splitterreich Dark London.

»Er will den Zwillingsfluch«, schloss Alana Franke sofort. »Deshalb hält er Kevin gefangen.«

»Wissen wir denn, was damals passiert ist?«, fragte Kyra.

Der Wechselbalg trug das Äußere einer blonden Teenagerin, doch ihre Worte verdeutlichten das wahre Alter. Unter Wechselbälgern galt Kyra als jung, in menschlichen Jahren war sie viele Jahrzehnte alt.

»Du sprichst von der Artus-Legende?« Auf Kyras Nicken hin schüttelte Annora den Kopf. »Natürlich gab es dazu Aufzeichnungen im Archiv, doch Merlin hat dafür gesorgt, dass diese nicht mehr zugänglich sind. Die Räume sind zersplittert, Mentigloben zerstört, die Archivarin ist gefangen in ewigem Bernstein. Soweit mir bekannt ist, kostete dies auch Grace das Leben. Grace Hummiston, eine alte Freundin und Unsterbliche. Glücklicherweise prahlt er mit seinen Siegen.«

»Leider gibt es davon genug.« Max versuchte, den Gesprächen konzentriert zu lauschen, fühlte sich aber noch immer in einen surrealen Albtraum versetzt.

»Wer hat es noch geschafft?«, fragte Annora.

»Wesley konnte sich in mein Splitterreich retten«, erklärte Alana. »Er ist ebenfalls hier.«

Max beschloss, den Psychologen mit den ganz besonderen magischen Fähigkeiten in den nächsten Wochen aufzusuchen; wenn all das hier vorbei war, falls sie überlebten und Merlin nicht kurzerhand das gesamte Verlorene Castillo in Flammen aufgehen ließ.

»Sie benutzen den Todeszauber«, merkte Alana Franke an. »Wie ist das möglich?«

»Er war mit einem Bann belegt.« Annora verschränkte die Arme und verfiel in einen unruhigen Gang. »Seit Jahren wird er nicht mehr unterrichtet, wer ihn kannte, musste einen Bannzauber akzeptieren. Merlin hat ihn irgendwie gelöst und seinen Jüngern Worte und Symbole beigebracht.«

»Aber die Konsequenzen …« Alana wirkte schockiert.

Max konnte das Gefühl nachvollziehen.

»Darum kümmern wir uns ein anderes Mal.« Annora deutete auf das Gestein. »Warum die Wurzeln?«

»Sie blockieren die Passage für jene, die glücklich sind«, erklärte Alana Franke. »Ich habe sie selbst gezüchtet und mit einem Zauber ergänzt.«

»Was ist, wenn die geretteten Magier Glück empfinden, weil sie es hierhergeschafft haben?«, fragte Annora.

»Dafür benötigen wir eine Einzelprüfung«, erklärte die Pflanzenmagierin. »Doch es ist der beste Schutz, den wir bisher haben. Da das Gestein den Raum mit dem Sprungportal umgibt, weiß niemand, wo er gelandet ist. Wir übermitteln lediglich das magische Symbol für dieses Portal, sie werden es blind ansteuern.«

»Falls sie uns vertrauen.« Annora atmete schwer ein und wieder aus. »Viele werden in den Untergrund gehen, sich verstecken oder allein fliehen.«

»Was ist mit Merlin?«, fragte Max. »Kann er nicht hierherkommen und mit einer Handbewegung die Barriere zunichtemachen?«

»Deshalb stellen wir einen Portalmagier bereit«, erklärte Tilda. »Zander hat es geschafft. Er ist nicht von Glück vergiftet, weil er eine Splitterreichmission übernommen hatte. Er wird das Portal beobachten – das Innere. Sollte Merlin sich nähern, trägt er eine so gewaltige Präsenz mit sich, dass Zander sie spürt und das Portal kollabieren lässt.«

Womit der einzige Ansteuerungspunkt für die Flüchtlinge unter den Lichtkämpfern verschwand. Doch eine andere Möglichkeit sah Max ebenfalls nicht. »Tun wir es.«

»Ich brauche Wasser«, erklärte Annora. »Dazu eine Kristallschale und Hilfe, meine Essenz ist fast aufgebraucht.«

Sofort erklärten sich vier weitere Lichtkämpfer bereit, zu helfen.

Nils stand an der Seite und bestaunte die Ereignisse mit großen, aber ängstlichen Augen. Max ging zu dem Zwerg, der sich sofort an seine Beine schmiegte.

»Keine Angst, Kleiner, wir kriegen das wieder hin.«

»Du warst weg«, erwiderte er.

»Aber jetzt bin ich wieder da.« Max wuschelte durch Nils‘ Haare.

»Nicht alles«, kam die geflüsterte Antwort.

5. Ansturm der Dunkelheit

 

Merlin presste sich an den Rücken des Drachen, der elegant durch die Wolken glitt. Die Nacht lag schwer wie ein Tuch aus schwarzer Magie über allem und verdeckte den Erkundungsflug, den er gemeinsam mit Artus ausführte.

Der Drache flog durch die Wolken hinab und über die weite Ebene hinweg. Da ein Zauber sie verraten hätte, trugen sie magifizierte Augengläser.

Sie enthüllten Tausende und Abertausende Magier, die über die Ebene wanderten und sich dem Verteidigungsheer von Camelot näherten.

»Ein halber Tagesmarsch noch«, kommentierte Artus.

Aus dem Jüngling war ein stattlicher Mann geworden. Er trug die Rüstung mit dem Wappen seines Königreichs stolz. Die breiten Schultern, das dunkle Haar und die durchdringenden, doch gütigen Augen ließen ihm die Loyalität seiner Ritter zuströmen. Obgleich sie alle Magier waren, akzeptierten sie Artus‘ Führungsanspruch vorbehaltlos.

»Es sind mehr, als wir dachten.« Die Sorge in der Stimme des Königs war angebracht.

»Eine starke Illusionierung, vermutlich durch ein Artefakt vom Anbeginn.«

Wie immer, wenn jene Zeit erwähnt wurde, verkrampfte sich Artus. Der König von Camelot wusste mehr über die dunklen Äonen als Merlin, dessen Erinnerung nicht durch Excalibur geschützt wurde. In den zurückliegenden Jahren hatte der Kampf gegen die dunklen Krieger an Intensität gewonnen, gleichzeitig verschwand immer mehr Wissen über den Anbeginn aus den Köpfen der Magier.

Mit den Rittern seiner Tafelrunde hatte Artus das Land größtenteils befriedet, den Widerstand der Verfechter des Anbeginns jedoch nicht gänzlich gebrochen. Die Warnung von Morgana hatte Merlin erst vor wenigen Monden erreicht, als die Armee der Feinde zu einem letzten Ansturm ansetzte.

»Die verdammten Artefakte sind noch immer überall zu finden.« Artus‘ Stimme vibrierte vor unterdrücktem Hass. »Wieso hilft uns die Zitadelle nicht dabei, sie zu vernichten?«

»Die Zitadelle war, ist und wird immer sein. Sie überblicken das Schicksal selbst. Wenn sie uns keine Hilfe entsenden, wird es seinen Grund haben.« Sie hatten seinem Ansinnen stattgegeben, Artus zum König zu machen. Merlin glaubte fest an die Weitsicht der Zitadelle.

»Dein Glaube an ihre Allmacht scheint grenzenlos zu sein«, kommentierte Artus.

»Sie haben mir den Weg zu dir gewiesen«, erklärte er nur.

Ihr Drache glitt weiter, immer weiter. Die Armee schien ebenso wenig ein Ende nehmen zu wollen wie die Ebene. Merlin realisierte, dass es zu viele waren.

Mochten Lancelot, Gawain, Parzival, Tristan, Galahad, Keie, Iwein und Mordred die Armee auch vorbereiten – es war nicht genug. Wie immer fuhr ein Stich durch Merlins Brust, wenn er an seinen Sohn dachte. Morgana hatte ihn betrogen, den Verhütungszauber nicht gesprochen und war von seinem Samen schwanger geworden. Erst als ihr gemeinsamer Sohn an den Toren von Camelot Einlass verlangte, hatte sie es Merlin enthüllt.

»Ich hoffe, du hast eine Idee, Myrddin.«

Merlin lächelte. Ja, so hatten sie ihn genannt. Myrddin Emrys, der verrückte Ambrosius. Die Idee eines geeinten Reiches, einer neuen Ordnung hatten sie verspottet und ihn davongejagt. Doch gemeinsam mit Artus hatte er den Traum Wirklichkeit werden lassen.

Wenn sie heute den alten Namen aussprachen, dann mit Ehrfurcht in der Stimme und der Bitte um Verzeihung, mochten es auch nur wenige tun. Er war Merlin, für diese einfachen Geister der weise Berater von Artus, nicht mehr.

»Wir sollten zurückkehren«, sagte er leise.

Der König von Camelot nickte kurz und übte leichten Druck auf das Nervenzentrum des Drachen aus. Das gewaltige Tier schwenkte herum und stieg auf. Kurz darauf waren sie wieder von Wolken umgeben.

Schweigend erreichten sie den Landeplatz, einen Kreis aus Fackeln, der ihnen den Weg wies.

Artus saß ab, eilte zu seiner Gemahlin und schloss sie in die Arme. Was auch geschah, bei ihr fand er Halt.

»Was habt ihr gefunden?«, fragte Guinevere leise.

»Eine Armee, die unsere in den Schatten stellt«, erwiderte Artus.

»Wir werden sie niedermachen«, sagte Lancelot leichthin. Wie so oft trug er ein unbeschwertes Grinsen auf dem Gesicht, das ihn wie einen Jüngling wirken ließ. »Die vereinte Macht der Tafelrunde wird sie niederstrecken.«

»Sei kein Narr.« Merlin kam elegant auf dem Boden auf, zumindest wirkte es so. Dass seine Gelenke schmerzten, musste gerade Lancelot nicht erfahren. »Sie greifen uns an, mit dem Hass der Verzweifelten. Auch ihre Erinnerungen schwinden, die Artefakte sind gut verborgen. Die Armee der dunklen Magier will den Anbeginn zurück!«

Doch Lancelot ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Verzweifelte Angreifer machen Fehler.«

Artus schlug seinem Lieblingsritter und besten Freund kameradschaftlich auf die Schulter. »Dein Mut ehrt dich, Freund. Doch auch Merlin spricht die Wahrheit: Diese Armee ist größer als alles, was ich bisher gesehen habe. Sie tragen Artefakte des Anbeginns mit sich.«

»Natürlich, mein König.« Lancelot neigte das Haupt.

Mordred stand am Rand des Scheins, halb im Schatten, halb im Licht der Flammen. Sein Gesicht zeigte keine Regung, doch seine Augen ließen Merlin nicht aus dem Blick.

»Mag es sinnvoll sein, dass wir uns nach Camelot zurückziehen?«, fragte Guinevere. »Die Schutzzauber dort sind stärker als alles sonst im Reich.«

Artus kräuselte die Lippen. »Sei unbesorgt, du bist von starken Männern umgeben. Wir schützen dich.«

Im Licht der Fackeln wirkte Guinevere schön wie nie. Auf ihrem Haupt saß ein Diadem, das lange braune Haar fiel ihr bis auf die Hüften. Doch in ihre Augen trat bei den Worten von Artus ein wütendes Funkeln.

Merlin wusste, dass sie stetig daran arbeitete, den Frauen bei Hofe mehr Mitspracherecht zu ermöglichen, was von den Rittern nicht gerne gesehen wurde. Selbst der König sah es als seine erste Aufgabe, das Reich zu befrieden, er blickte selten ins Innere. Die Streitereien zwischen beiden waren meist durch die Flure von Camelot bis hinab in die Gemächer der einfachen Bediensteten zu hören.

»Wie du befiehlst, mein König«, sagte die Königin mit hartem Blick, wandte sich um und rauschte davon.

»Die Nacht dürfte unbequem für dich werden«, kommentierte Mordred.

Artus lachte leise. »Ich hatte sowieso vor, sie am Kartentisch zu verbringen. Unsere Sichtungen müssen magisch in das Pergament sickern, damit die Zeichnungen sich erneuern. Stehst du mir zur Seite, Freund?«

Lancelot schaute noch immer Guinevere hinterher, richtete seinen Blick jedoch ruckartig auf, als Artus‘ Worte seinen Geist erreichten. »Natürlich, mein König.«

Merlin blickte zu dem Drachen, der sich im Feuerschein niedergelassen hatte. Das Kontrollband lag fest um seinen Hals, andernfalls hätte er schrecklich gewütet.

»Was denkst du, Myrddin?«, fragte der König.

»Ich werde einer alten Freundin einen Besuch abstatten.« Sein Blick erfasste Mordred. »Begleite mich.«

Jeder wusste, von wem er sprach.

»Du denkst, sie kann helfen?«, fragte Artus.

»Sie muss mir nur den Weg weisen, Hilfe wird von anderer Seite zuteil.«

»Dann trage das Glück deines Königs im Herzen und kehre mit froher Botschaft zurück.«

»Sagte ich es dir nicht schon so oft, Artus? Der Tüchtige benötigt kein Glück, nur der Schwache.«

Elegant schwang Merlin sich wieder auf den Rücken des Drachen. Er spürte das Alter, wie es seine gierigen Klauen mit jedem Tag tiefer in seinen Leib schlug. Mordred legte die Arme um seine Hüfte.

Der Drache stieß sich ab und glitt in die Nacht hinaus.

6. Eine Brücke nach Avalon

 

»Wieso sitzt du nicht an seiner Seite?«, fragte Mordred.

Sie schritten gemeinsam über den schmalen Pfad, der zu Morganas Hütte führte.

»Weil dort seine Königin sitzt«, gab Merlin trocken zurück.

»Du weißt genau, was ich meine, Vater!« Wut brodelte dicht unter der Oberfläche, hatte sich bisher jedoch nicht in Hass verwandelt. »Camelot, die Tafelrunde, all das hast du ihm gegeben, doch stets hältst du dich an der Seite oder im Hintergrund.«

»Es geht um das große Ganze, den Frieden in der Welt und das endgültige Beseitigen des Anbeginns. Gesichter und Namen spielen keine Rolle. Wir sind alle gleich.«

»Lächerlich. Du demütigst dich selbst und unsere Familie.«

»Dann zieh hinaus ins Land und lasse Camelot hinter dir«, gab Merlin unbeeindruckt zurück. »Niemand hält dich in der Tafelrunde. Wenn meine Anwesenheit eine solche Demütigung ist, dann geh.«

»Ich habe einen Eid geschworen.« Mordreds Wut war so schnell verraucht, wie sie gekommen war. »Außerdem geht es nicht um dich persönlich, es geht um deinen Stand. Artus ist einzig dank Excalibur der König, deshalb unterwerfen sich ihm alle. Ohne den Essenzstab wäre er nichts.«

»Glaub mir, mein Sohn, Excalibur zu tragen ist eine Bürde, die du nicht schultern willst.« Allein schattenhafte Erinnerungen an den Anbeginn waren ihm geblieben, doch sobald er seine Aufmerksamkeit darauf richtete, rieselte ein Schauer seinen Rücken hinab. »Artus zahlt einen hohen Preis für die Regentschaft.«

Der Pfad machte eine Biegung. Dahinter lag die Lichtung, auf der Morganas Hütte stand. Sie wartete bereits, was Merlin nicht verwunderte. Es gab nichts, was zwischen den Bäumen des Waldes geschah, was sie nicht im Blick behielt.

»Es ist lange her.« Sie trug ein einfaches, gegürtetes Stoffkleid, das ihre schlanke Figur betonte.

Für einen Augenblick war Merlin überzeugt, dass sie jünger geworden war. Lächerlich. »Die Verzweiflung treibt mich zu dir. Du weißt, dass eine Schlacht bevorsteht.«

Morgana umarmte Mordred, strich ihm sanft über die Wange und trat einen Schritt zurück.

»Der letzte Akt des Anbeginns«, entgegnete sie. »Gelingt ein Sieg, mag er für immer vom Antlitz der Welt verschwinden und eine neue Zeit des Friedens bricht an, in der Magier und Nimags Seite an Seite Zivilisationen errichten.«

Ganz so rosig sah Merlin die Zukunft nicht, doch es war ein Ziel, das auch er anstrebte. »Wenn die Ritter Camelots fallen, wird all das niemals sein.«

»Du willst erneut mit ihr sprechen?«

»Nach unserer letzten Begegnung hat sie sich auf die Feeninsel zurückgezogen«, erklärte er. »Der Weg dorthin ist mir verbaut, doch du vermagst ein Portal zu öffnen.«

»So sei es.«

Sie bedeutete Merlin und Mordred, ihr zu folgen. Die Bäume teilten sich von magischer Hand und gaben einen Weg ins Unterholz frei. Vorbei an dichtem Gebüsch, hüfthohem Gestein und seltsam schillernden Blumen drangen sie tiefer in den Wald ein.

»Schatten ziehen herauf«, sprach Morgana und betrachtete eine verrottete Blume.

»Der Anbeginn kommt rasch näher«, bestätigte Merlin.

»Diese Gefahr stammt nicht von außen«, korrigierte sie ihn. »Was ich sehen konnte, entsprang aus dem Inneren. Verrat, Liebe und Verlust.«

»Camelot ist ein Königreich, das sich allen Herausforderungen stellen wird, auch jenen, die das eigene Volk verursacht.«

Morgana schüttelte sanft den Kopf. »Jedes Reich ist nur so beständig wie das Fundament, auf dem es ruht. Camelot mag dem Ansturm jeder Gefahr trotzen, doch etwas im Inneren ist aus dem Gleichgewicht geraten. Halte deinen Blick stets wach, Emrys.«

Er hasste es, wenn sie das tat. Womöglich hatte sie wieder Seide gesponnen oder einen Tee getrunken und in den Blättern gelesen. Morgana behauptete von sich, in den Schatten der Zukunft lesen zu können. Nun, sie bezeichnete es als sich wiederholende Muster, die in einem ewigen Kreislauf wiederkehrten. Als sei sie von unendlichem Leben und hätte all das bereits erfahren, was natürlich lächerlich war. Merlin sah ihr an, dass sie alterte. Möglicherweise etwas langsamer, die Waldluft schien eine gesunde Wirkung zu besitzen. Doch mit ihrem Gebrabbel erinnerte sie ihn an die alten Weiber am Feuer, die stets von schrecklichen Dingen berichteten, die am Morgen heraufzogen. Meist das Rheuma. Wer war sie, dass sie ihm Ratschläge zuteilwerden ließ?

Er betrachtete Mordred. Der Junge geriet nach seiner Mutter, war Schweigsam, störrisch und verbohrt. Doch er war und blieb sein Sohn. Durch Blut waren sie aneinander gebunden, Merlin würde ihn stets beschützen.

»Mein Blick wird wach bleiben, sei dir versichert.«

Das Unterholz lichtete sich, sie erreichten einen See. Still lag das Wasser vor ihnen, wurde von keiner Welle gekräuselt.

Morgana ließ ihre Finger durch die Luft gleiten. Eine feurige Spur blieb zurück, magische Symbole glitten ineinander. »Porta Aventum!«

Eine gebogene Brücke schälte sich aus dem Nichts, an beiden Seiten von einem hüfthohen Geländer begrenzt, das mit allerlei kunstvollen Verzierungen versehen war. Die Brücke wuchs bis etwa zur Hälfte des Sees und ging danach ins Nichts über.

»Das Portal befindet sich an der höchsten Stelle und wird dich direkt in das abgesplitterte Reich der Dame vom See führen. Avalon erwartet dich.«

Merlin sog tief die frische Luft in seine Lunge, atmete langsam wieder aus. Mochte er auch der erste Magier der neuen Zeit sein, so war es doch etwas ganz Besonderes, dieses Reich zu betreten, in dem er aufgewachsen war, es jedoch hinter sich gelassen hatte. Seine Entscheidung hinauszugehen in die Welt, hatte ihm eine dauerhafte Rückkehr versperrt.

»So sei es denn. Ich kehre zurück mit einer Lösung oder der Untergang erwartet uns.« Er setzte einen ersten Schritt auf die Brücke.

»Lass mich mit dir kommen, Vater«, bat Mordred. »Falls dich jemand angreift, werde ich dich schützen.«

Er hielt inne, lächelte. »Es ehrt dich, dass du mir zur Seite stehen willst. Doch Avalon ist nicht für dich bestimmt, mein Sohn. Nur wenige dürfen den Ort betreten, noch weniger kehren zurück.«

Morgana räusperte sich. »Bevor du weiter huldvolle Worte von dir gibst: Mordred war unzählige Male in Avalon. Er ist dort praktisch aufgewachsen, wie auch du einst.«

»Was?!«, entfuhr es Merlin. »Aber es ist ein heiliger Ort.«

»Ich konnte dort als Kind wunderbar spielen«, erklärte Mordred lächelnd. »Und Tante …«

»Nenn sie nicht Tante«, bat Morgana.

»Die Dame vom See war stets freundlich.«

Merlin starrte verblüfft zwischen seinem Sohn und dessen Mutter hin und her. Die Entgegnung hatte ihn wahrlich schockiert. Sein Glaube, einen besonderen Stellenwert zu besitzen, geriet ins Wanken.

»Ich gehe allein!«, sagte er schließlich.

Mordred setzte zu einer Erwiderung an, doch Morgana bedeutete ihm mit einer kurzen Geste, zu schweigen.

»So sei es«, bestätigte sie. »Du wirst erwartet.«

Merlin wandte sich ab und stapfte über die Brücke. Was für ein Hohn! Sein Sohn hatte in Avalon gespielt – er war wohl der einzige, der nichts von Mordreds Existenz gewusst hatte! Er würde ein ernstes Wort mit der Dame vom See sprechen. Warum nicht gleich einen Garten für Kinder aufbauen, in dem sie herumtollen konnten, während ihre Väter in die Schlacht zogen und die Mütter sich um den Haushalt kümmerten.

Als er den höchsten Punkt der Brücke erreichte, war seine Wut etwas verraucht. Vor ihm lag – nichts.

Merlin tat den Schritt nach Avalon.

7. Das Feuer des Drachen

 

Crowley war tot, doch etwas war falsch.

»Der Drache hat seine Essenz aufgenommen, seine Unsterblichkeit.« Artus nickte mit dem Kinn in Richtung der Überreste des Unsterblichen.

Die Eindrücke und Informationen prasselten auf Jen ein, sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Die Wut war aus ihr gewichen, der Drang, alles und jeden zu zerstören. In Form eines magentafarbenen Drachen raste jener Teil von ihr über London hinweg.

»Er hat … ihn gefressen?«

Der Leib des toten Unsterblichen verschwand nicht, wie es für einen Unsterblichen normal gewesen wäre.

»Eigentlich sollte der unsterbliche Teil in die Zitadelle zurückkehren, wo ein neuer Unsterblicher ernannt wird. Doch diese Abfolge ist jetzt unterbrochen, weil der Drache sich die Macht genommen hat.«

Jen schüttelte ihre Trägheit ab. »Du bist Artus.«

»So ist es.«

»Von Camelot.«

»Ja. Also, das war mal mein Königreich. Ist länger her.«

Sie schluckte. »Und ich bin …«

»Du warst vor langer Zeit Guinevere. Heute bist du Jennifer Danvers, doch in dir wohnt die Seele meiner Königin, wiedergeboren so viele Male. Die Erinnerungen werden zurückkehren, an alle Leben, die du einst gelebt hast.« Artus rannte zum Fenster und blickte hinaus. »Ich werde dir alles im Detail erzählen, das verspreche ich, aber zuerst müssen wir den Drachen wieder einfangen.«

»Einfangen«, echote Jen. »Wie sollen wir das tun?«

»Er ist ein Teil von dir«, erklärte Dylan.

Artus, er hieß Artus!

»Ihr seid auf ewig verbunden, durch alle Inkarnationen hindurch. Es ist meine Schuld, dass es so weit kam.« Sein Blick glitt zurück in die Vergangenheit.

Jen schnippte mit dem Finger. »Fokus, Eure Hoheit.«

»Entschuldige. Der Drache ist an dich gebunden, du bist seine Wächterin. Er will stets ausbrechen, daher verleitet er dich zum Hass. Dann bist du geschwächt und die Kreatur erstarkt. Die Enthüllung, wer ich bin, ist wohl ein wenig unglücklich geraten – vom Timing her.«

»Ach, glaubst du?«, fuhr Jen ihn an. »Ich bin nicht sicher, ob es ein besseres Timing gegeben hätte. Ich hatte mit König Artus Sex und bin die wiedergeborene Guinevere und … Moment.«

Artus räusperte sich. »Hm?«

»Tu nicht so unschuldig. Wer ist dann Alex? Oh, ich erinnere mich an die Artus-Saga. Er ist Lancelot, richtig?«

»Er war Lancelot, das stimmt. Dieser elende Mistkerl, Verräter und …«

»Sprich nicht so über meinen Freund.«

»Wenn es doch wahr ist!«, blaffte Artus. »Er war immerhin einst mein bester Freund.«

»Sagtest du nicht, dass wir in unserer Inkarnation andere Menschen sind und nur die Seele von früher in uns tragen?«

»Bei ihm ist das etwas anderes«, erklärte Artus nachdrücklich. »Er ist genauso frech und verräterisch wie früher.«

»Hast du das schon einmal getan?«, fragte Jen gefährlich leise. »Dich an mich herangemacht, während ich keine Erinnerung hatte? Bevor Alex und ich uns finden konnten?«

»Möglicherweise«, erklärte Artus. »Ach, was soll‘s, der Drache ist ja draußen. Ja, das habe ich! Und ich werde mich nicht dafür entschuldigen.«

Jen runzelte die Stirn. »Aber als wir in Paris unter der Kathedrale waren, sprach Kylian von seinem Freund – männlich. Er muss aber Alex gewesen sein, oder nicht?«

»Das stimmt. Kylian Dubois war eine frühere Inkarnation von Alexander Kent. Sein Freund war eine Wiedergeburt von dir. Das Geschlecht spielt für eure Liebe keine Rolle, ihr findet euch in jeder Generation. Mal seid ihr beide männlich, mal beide weiblich, mal männlich und weiblich. Der Seele ist das egal, der Gesellschaft war es das in früherer Zeit jedoch oftmals nicht.«

Jen fand den Gedanken faszinierend, dass sie in früherer Zeit als Mann gelebt hatte. Und Alex möglicherweise als Frau! Ihm das unter die Nase zu reiben, ließ sie schon jetzt frohlocken.

»Aber am Ende habt ihr euch immer gefunden«, erklärte Artus leise.

Zum ersten Mal blitzte der Schmerz so durchdringend in seinen Augen auf, dass Jen Mitleid empfand. Wie einsam musste es als Unsterblicher gewesen sein, der von allen als Verräter gejagt wurde, obwohl er doch nur die Gesellschaft der Magie hatte retten wollen. Da die Zitadelle ihn zum Unsterblichen gemacht und dem Rat des Lichts zugeteilt hatte, konnte er schließlich kein komplettes Arschloch sein.

»Aber bis dahin hatten wir viel Spaß«, ergänzte er freudig.

»Ich gebe dir gleich Spaß und hetze den Drachen auf dich!«, brüllte Jen.

»Kein Grund, gleich laut zu werden.« Artus ging in die Hocke und berührte Crowley. »Ich kann nicht sagen, ob Merlin den Tod von einem seiner Jünger registriert hat, früher konnte er das. Doch der Drache hat es möglicherweise verhindert. Falls nicht, wird dieser lausige Sack in Kürze hier eintreffen. Er wird mich jagen, jetzt, wo er seine vollständige Macht erlangt hat.«

»Du erzählst mir alles! Aber wie kriegen wir den Drachen denn nun wieder eingefangen?«

»So einfach ist das leider nicht«, erklärte Artus. »Wir benötigen dafür Excalibur.«

»Das Schwert?«

»Den Essenzstab.«

Selbst die Wahrheit um das Artefakt war vom Wall maskiert worden.

Jen lachte auf. »Klar, was auch sonst. Müssen wir es aus einem Stein ziehen?«

»Eigentlich liegt es gut verwahrt in meinem Penthouse«, erklärte Artus.

»Wie bitte?«

»Ich sagte: Exc-«

»Ich habe es gehört!«, patzte Jen dazwischen. »Aber mal ernsthaft, konntest du nicht wenigstens ein Schließfach anmieten?«

»Es ist natürlich magisch gesichert. Außerdem wusste niemand, wer ich bin. Mein Inkognito hat über hundert Jahre gehalten.«

»Da wird man leichtsinnig.«

»Das werde ich nie.«

»Du hast ein Königreich verloren, weil du den Falschen vertraut hast.«

»Eine der Falschen warst du«, konterte Artus.

»Vermutlich warst du ein schrecklicher Ehemann«, wehrte sich Jen, ruderte jedoch sofort zurück, als der verletzte Ausdruck in Artus‘ Blick zurückkehrte. »Sorry. Muss mich erst daran gewöhnen. Und ein paar Erinnerungen wären auch nicht schlecht.«

»Der Drache ist erwacht«, erklärte Artus. »Die Erinnerungen werden jetzt zügig zurückkehren. Falls wir überleben, kannst du dich an ihnen erfreuen.«

Der schuldbewusste Blick, der kurz in Artus‘ Gesicht aufleuchtete, machte Jen nachdenklich. Was hatte der einstige König in der Vergangenheit angestellt?

»Spuck es aus!«, forderte sie.

Nach kurzem Zögern gestand er: »Es gab da eine Hochzeit.«

»In Camelot?«

»Ähm, nein. Später. Ein paar Jahrhunderte später. Ich dachte, wenn wir heiraten, bricht das vielleicht -«

»Das hast du nicht getan?!«

»Du hättest Ja gesagt«, verteidigte sich Artus. »Wenn Lancelot in seiner damaligen Inkarnation nicht hereingeplatzt wäre. Es war ein wenig chaotisch. Möglicherweise kam es zu einem Faustkampf.«

»Wir beide begeben uns jetzt auf dem schnellsten Weg zu deinem Penthouse und bis wir dort sind, erzählst du mir alles!«

Gemeinsam eilten sie hinaus, durch die Straßen von London. Wie immer pulsierte die Metropole auch zu später Stunde. In der Ferne erklangen Schreie. Ein Haus verschwand in einer Trümmerwolke.

»Wir sollten uns beeilen«, kommentierte Artus.

Jen beschränkte sich auf einen grimmigen Blick, beschleunigte aber ihre Schritte.

Das Chaos brach über London herein.

8. Über den Dächern von London

 

»Wozu haben wir diese verdammten Steine, wenn sowieso niemand darauf reagiert?!«

Trotz mehrfacher Versuche war es Jen nicht gelungen, Kontakt zu einem der anderen Lichtkämpfer herzustellen, die noch einen besaßen. Selbst Nils, der mit einem Mini-Steinchen ausgerüstet war, reagierte nicht.

Neben ihr keuchte Dylan außer Atem. Er mochte seine Muskeln ja regelmäßig trainieren, aber mit der Ausdauer lief es nicht so gut.

»Die Nimags können den Drachen nicht sehen«, stieß er aus, als sie um eine Ecke in seine Straße bogen.

»Ich weiß, der Wall. Aber wie wird so was denn bitte maskiert? Ein fliegender Riesenadler?«

Sie betraten das Haus und fuhren mit dem Aufzug ins Penthouse.

»Wo hast du es versteckt?«, fragte sie.

Dylan deutete auf die Dielenbretter.

»Echt jetzt? Was Besseres ist dir nicht eingefallen?«

»Warte nur ab.« Er ging in die Knie und löste vorsichtig eine der Bohlen. Dahinter waberte es, wie an einem heißen Sommertag über dem Asphalt. »Eine miniaturisierte Dimensionsfalte.«

Fasziniert betrachtete Jen das magische Konstrukt. »Aber wie hältst du es trotz des Walls aufrecht?«

Dylan wob flink einen Gravitationszauber, der die Dimensionsfalte aufsteigen ließ. Darunter kam eine Platte aus dunklem Metall zum Vorschein, in die Bernsteine unterschiedlicher Farbe eingelassen waren. »Das sind Bernsteine von höchster Dichte und Reinheit. Ich nehme an, dass die Differenzierung nach Farbe, Aufnahmekapazität und Haltbarkeit zukünftig wieder wichtiger wird, jetzt, wo der Wall vollständig existiert. Ich übertrage regelmäßig Essenz in die Speicher. Aditorum Excalibur!«

Die Falte erlosch und ein kunstvoll gearbeiteter Essenzstab kam zum Vorschein. Etwas in Jen vibrierte, als sähe sie das Artefakt nicht zum ersten Mal. Ein stechender Kopfschmerz breitete sich aus, Bilder stiegen empor. Sie sah Artus als Jüngling, der stolz mit Excalibur und einer Rüstung in Camelot durch die Straßen seines Reiches ritt.

»Was siehst du?«, fragte er.

»Erinnerungen. Sie kommen tatsächlich zurück«, flüsterte Jen.

Sie griff nach Excalibur. Der Essenzstab machte einen Satz und schoss davon.

»Tut mir leid, aber dieser Essenzstab ist anders. Excalibur lässt sich nur von jenen führen, die es als würdig empfindet.«

»Du warst schon immer ein Charmebolzen.«

Artus grinste unverschämt, wurde aber sofort wieder ernst. »Sei froh, dass du den Stab nicht führen kannst. Wenn er dich akzeptiert, offenbart er dir auch die Wahrheit über die Zeit vor dem ersten Wall. Das willst du nicht sehen. Niemals.«

Es waren nur wenige Sekunden, in denen sich eine Form des Grauens in Artus‘ Blick schlich, die Jen nie zuvor gesehen hatte. Was auch immer der erste Wall vor ihnen allen verbarg: Sie konnte gut ohne das entsprechende Wissen leben.

»Schön, wir haben Excalibur, aber was jetzt?«

»Das würde ich auch gerne wissen«, erklang eine Stimme.

Jen fuhr herum, riss ihren Essenzstab in die Höhe und zielte damit auf den Ausgangspunkt der Stimme. Die Illusionierung fiel in sich zusammen und enthüllte einen bärtigen Mann in Stoffhose und Hemd.

»Moriarty!« Excalibur glitt in Artus‘ Hand, als spürte er die Gefahr, in der sein Herr schwebte.

»Kein Grund, in Panik zu verfallen, ich bin nicht hier, um zu kämpfen«, erklärte der Oberste der Schattenkrieger.

Nun ja, wenn man es genau nahm, gab es die Schattenkrieger nicht mehr. Die Tatsache, dass Moriarty nicht lächelte, deutete seine Position in diesem Krieg bereits an.

»Ihr wurdet also auch von innen heraus erledigt?«, fragte Jen.

»Ich fürchte, ja«, bestätigt Moriarty, wobei er entspannt in dem Sessel verharrte. »Meine Suche nach Informationen zum alten Pakt führte mich in die endlosen Tiefen, doch während ich überall recherchierte, übersah ich, was sich vor meiner Nase zutrug.«

»Merlin hat die Schattenkrieger mit seinem Versprechen vom Glück in seinen Bann gezwungen.«

»Das kann ich nur bestätigen. Als ich herausfand, wer er einst war und es in Zusammenhang mit dir brachte«, dabei nickte er in Artus‘ Richtung, »war es zu spät. Grigori griff mich an, die meisten Schattenkrieger dürften tot sein, wenn sie nicht geflohen sind.«

»Was ist mit Alfie?«, fragte Jen sofort.

Es würde Alex das Herz brechen, wenn sein kleiner Bruder tot wäre.

»Ihm geht es ausgezeichnet«, erwiderte Moriarty. »Genau genommen schwebt mein Luftschiff, die East End, direkt über diesem Gebäude.«

»Wir müssen den Drachen aufhalten.« Artus deutete auf die Glasfront seines Penthouses. »Er ist dort draußen und zerstört London.«

»Ah, ich wunderte mich bereits. In den Nimag-Nachrichten verkünden sie Erdbeben, die Häuser einstürzen lassen. Die Londoner Bürger werden gebeten, bei dem geringsten Anzeichen einer Erschütterung ihre Häuser zu verlassen.«

»Das dürfte kaum etwas helfen.« Jen seufzte schwer. »Der Drache ist unsichtbar für Nimags und kündigt sich nicht durch ein Beben an.«

»Ein unsichtbarer Drache?«, hakte Moriarty nach.

»Genau genommen die Essenzmanifestation eines sehr alten Drachen, der einst an … jemanden gebunden wurde.«

»Die frühere Inkarnation von Jennifer Danvers«, schloss Moriarty messerscharf. »Und da niemand die Weitsicht besaß, sie einzuweihen, konnte er nun entkommen, dieser Drache.«

Einmal mehr nahm Jen sich vor, jeden einzelnen Unsterblichen im Castillo anzubrüllen, sobald dieser Kampf ausgestanden war. Das ging natürlich nur, wenn sie alle überlebten. Trotzdem war sie stinksauer auf diese verdammten Geheimniskrämer.

»Da ein Drache fliegt, benötigt ihr zweifellos ein Luftschiff.« Moriartys Augen blitzten.

»Das wäre hilfreich«, bestätigte Artus.

»In schweren Zeiten müssen wir alle zusammenhalten«, sagte der ehemalige Oberste der Schattenkrieger freundlich. »Es wäre eine Schande, wenn alte Feindschaften zum Tode führten, oder nicht?«

»Absolut«, bestätige Jen.

Sie ahnte längst, was Moriarty beabsichtigte, und er wusste, dass sie es wusste.

»Ausgezeichnet.« Er hob seinen Essenzstab. »Signum.«

Ein farbiger Rauchfaden schoss in die Höhe.

Plopp.

»Also kein Hauen und Stechen?«, fragte Madison Harper.

»Heute nicht«, entgegnete Moriarty. »Bring uns bitte alle auf die East End.«

Verwirrt ließ Jen zu, dass Moriarty näher trat und Madison sie berührte. Die Umgebung des Penthouses verging. Mit ihrem letzten Gedanken fragte Jen sich verblüfft, seit wann Madison springen konnte.

9. Eine Armee

 

Max fragte sich, ob Nils heimlich geübt hatte oder ob er einfach immer besser wurde. Seine Sprünge trafen tatsächlich meist das korrekte Ziel, falls er nicht gerade niesen musste oder anderweitig abgelenkt war.