Das Erbe der Wölfe - Erik Hauser - E-Book

Das Erbe der Wölfe E-Book

Erik Hauser

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Beschreibung

»Es gibt also keine Werwölfe?« »Erfindungen der Bourgeoisie, das Volk besser in Angst und Knechtschaft zu halten.« Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zwei Dinge fürchtet die Landbevölkerung im Zarenreich ganz besonders: Wölfe und Narodniki, die Rothemden. Man weiß nicht, was schlimmer ist – dass die Wölfe unschuldige Wesen reißen oder die Rothemden mit ihren politischen Auftritten und ihrem Gerede von Freiheit und Gleichheit für Aufruhr sorgen, was zu Strafaktionen seitens des bedrohten Adels führen wird. Der bewaffnete Kampf um die Neuordnung mit grausamen Folgen wird sich bald nicht mehr vermeiden lassen. In dem unscheinbaren Dorf Sofrino Selo spitzen sich die Dinge zu, als beide dort aufeinander treffen – Wölfe und Narodniki. Bald wird es unmöglich sein, sie auseinanderzuhalten … Homo homini lupus – Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Widmung

PROLOG

TEIL I

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

Teil II

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

Teil III

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

Teil IV

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

EPILOG

Titelseite

Erik Hauser
Das Erbe der Wölfe
Roman
Fabylon
»Es gibt also keine Werwölfe?« »Erfindungen der Bourgeoisie, das Volk besser in Angst und Knechtschaft zu halten.«
Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Zwei Dinge fürchtet die Landbevölkerung im Zarenreich ganz besonders: Wölfe und Narodniki, die Rothemden. Man weiß nicht, was schlimmer ist – dass die Wölfe unschuldige Wesen reißen oder die Rothemden mit ihren politischen Auftritten und ihrem Gerede von Freiheit und Gleichheit für Aufruhr sorgen, was zu Strafaktionen seitens des bedrohten Adels führen wird. Der bewaffnete Kampf um die Neuordnung mit grausamen Folgen wird sich bald nicht mehr vermeiden lassen. In dem unscheinbaren Dorf Sofrino Selo spitzen sich die Dinge zu, als beide dort aufeinander treffen – Wölfe und Narodniki. Bald wird es unmöglich sein, sie auseinanderzuhalten … Homo homini lupus – Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.

Impressum

© Fabylon Verlag 2022 das fabEbook zur Printausgabe Herausgegeben von: Alisha Bionda Lektorat: Alisha Bionda & Uschi Zietsch Cover: Agentur Michael Steinmann Grafiken: iStock/Filio, Refluo Vermittelt durch Agentur Ashera ISBN 978-3-946773-41-2 Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten. www.fabylon.de

Widmung

In Memoriam Peter Bews (1944–2020)
Für alle mutigen Russinnen und Russen, die sich in ihrem Land gegen die

PROLOG

Was ihr später vor allem in Erinnerung bleiben sollte, war nicht das Fauchen oder Knurren, nicht das geifernde Maul, die gebleckten Zähne oder blutbeschmierten Krallen, sondern der Ausdruck seiner Augen. Es lag etwas schwer zu Deutendes darin, eine geheime Botschaft, die nur sie und ihn etwas anging. Wann immer sie davon erzählt, stockt sie an derselben Stelle, jener Stelle, an der sie versucht, sich darüber klarzuwerden, was er ihr, jenseits von Worten, hatte sagen wollen.

»Er wollte, dass ich abdrücke, er wollte es!«

Ich tätschle ihre Hand an dieser Stelle.

»Es ist alles schon so lange her.«

Ihr Blick kehrt sich nach innen, in ihrer Erinnerung wandert sie zurück in eine andere Zeit, auf einem Pfad, auf dem ich ihr nicht folgen kann. Sie blickt zum Fenster der Kate hinaus, über die Wiese hinweg auf die neue moderne Siedlung auf der anderen Seite des Dorfbachs, aber sie sieht nicht die Häuser mit ihren frisch gestrichenen Holzwänden, die verzierten Fensterrahmen, die sauber geschrubbten Verandaböden aus dicken Eichenbohlen. Sie sieht auch nicht, wie ich verstohlen, aus dem Augenwinkel, nach ihr schiele, mich fragend, wie lange ihre Reise in die Vergangenheit, in eine Epoche der Geschichte unseres Dorfes, die im Gedächtnis der Alten als die Zeit der Wölfe lebendig geblieben ist, diesmal wohl dauern wird; Minuten, Stunden, eine Ewigkeit? … Mit schräg gelegtem Kopf lauscht sie dem fernen Heulen der Wölfe in der Steppe, das jedes Mal von weiter her zu kommen scheint, wie aus längst vergangenen Tagen.

Nach einer Weile, die sehr unterschiedlich dauern kann, erwacht sie wieder wie aus einer Trance und fährt in ihrer Erzählung an genau der Stelle fort, an der sie zuvor aufgehört hat.

»Ich habe abgedrückt. Die Flinte machte einen Riesenlärm. Es hat mir fast die Schulter abgerissen. Als sich der Rauch verzogen hatte, sah ich ihn …«

Wie viele Male schon habe ich ihr gelauscht. Ohne dass mir das Geschehen einsichtiger geworden wäre, die Zusammenhänge klarer. »… auf dem Boden, in seinem Blut. Er sah so … friedlich aus, gar nicht wie ein …« Selbst nach all den Jahren scheut sie sich, das Wort auszusprechen, will es ihr nicht leichtfertig über die Zunge. (Und auch mich hält eine unbestimmte Scheu davor zurück, dem Grauen einen Namen zu geben. Es wäre zu einfach.)

Es ist Zeit, ihre Geschichte der Nachwelt zu überliefern. Was ich nicht aus ihrem eigenen Mund habe, habe ich aus den Berichten der alten Leute zusammengetragen, die sich noch erinnern, als Kinder davon gehört zu haben. Anderes, was im Verborgenen geblieben ist, habe ich dem inneren Zusammenhang des Geschehens entsprechend ergänzt.

Ob sich die Geschichte wirklich so zugetragen hat?

Eine nichtige Frage. Denn wenn es sich nicht so zugetragen hat, dann war alles nur eine bedeutungslose Ansammlung von Grausamkeiten, eine sinnlose Anhäufung von Leid. Eine Geschichte, nicht wert, weiter erzählt zu werden.

Aber von Anfang an …

TEIL I

Alles fing erneut an – und viel schlimmer als beim ersten Mal –, als die Narodniki in unser Dorf kamen.

Schon vorher machten Geschichten über sie die Runde: In Kondratowo sollten sie einen Gutsbesitzer in den Fluss geworfen haben, in Suboja Poljana das Messgeschirr aus der Kirche geklaut, und in Jaschenko einen Polen ordentlich verprügelt haben. Sie zogen übers Land, nächtigten in Ställen, Scheunen oder unter freiem Himmel. Sie halfen den Bauern bei der Aussaat, versorgten das Vieh und stellten sich beim Mähen so ungeschickt an, dass der eine dem anderen mit der Sense beinahe ein Bein abgeschnitten hätte. Sie lästerten Gott und den Zaren und alles, was heilig ist. In Selenginsk reparierten sie einen wurmstichigen Stall fürs Vieh und in Chor errichteten sie einen Zaun, den der erste Sturm umblies. Sie hatten keine Religion und keinen Glauben. Auf den Rubelscheinen, mit denen sie zahlten, hatten sie der Zarin Elisabeth einen Tatarenbart aufgemalt. Wohin sie kamen, wiegelten sie die Bauern auf, stifteten Unfrieden und Aufruhr. Sie saßen nächtelang in den Schenken, tranken und führten gotteslästerliche Reden. Sie hatten in St. Petersburg studiert und kannten nicht den Unterschied zwischen einem Stier und einem Bullen. Ihre Hemden waren weniger rot als grau vom Schmutz und Unrat der Landstraßen, über die sie zogen. Sie waren wie wilde Tiere, ungezähmt und gefährlich, immer hungrig und auf der Suche.

Sie waren Narodniki, Rothemden, Studenten, die aufs Land gingen, den unwissenden Bauern die neuen Ideale von Freiheit, Brüderlichkeit und Gemeingut zu predigen.

Als sie das erste Mal den Fuß über die Schwelle von Obnoskis Schenke setzten, nahm das Unheil seinen Lauf.

I

In Obnoskis Schenke saßen an jenem Abend wie üblich die Zecher um den Ofen und wärmten sich am Feuer und ihren vom Branntwein erhitzten Geschichten.

»Gestern ist der große graue Wolf wieder um die Herde geschlichen«, sagte Spiridon, der Schäfer.

»Nicht möglich – der Jäger hat ihn doch erlegt. Wir haben alle sein Fell gesehen, aufgespannt vor seiner Hütte.«

»Es ist kein gewöhnlicher Wolf.«

»Was meinst du?«

Spiridon zuckte mit den Schultern. »Nur so.«

Eine Weile war es still in der Schankstube und die Zecher lauschten dem gleichmäßig fallenden Regen, der auf das Dach prasselte.

»Mein Großvater ist mal so einem begegnet«, bemerkte nach einer Weile der alte Alexej, der jeden Abend in Obnoskis Schenke saß, weil seine junge Frau – seine vierte – es nicht leiden konnte, wenn er die Füße vorm Ofen ausstreckte und sie mit seinen Krähenaugen auf Schritt und Tritt verfolgte. Alexej war so alt, dass er sich noch an den Tag erinnerte, als der Urgroßvater des jetzigen Zaren – Gott hab ihn selig – das Dorf besuchte und von der Kutsche aus Almosen an die am Wegesrand aufgereihten Leibeigenen regnen ließ; in einer Truhe unter allerlei Krimskrams und entzweigegangenem Geschirr bewahrte er auch noch ein Büschel Haare vom Kopf seines Ur-Urgroßvaters auf, das diesem anlässlich des Dekrets von Peter dem Großen, dass kein Russe mehr einen Zopf tragen dürfe, abgeschnitten worden war. Ganz genau erinnerte er sich noch an den Tag des Zarenbesuchs und wo er bei dieser Gelegenheit gestanden hatte; nur welche seiner Frauen – die erste oder die zweite? – damals hinter ihm gestanden hatte, das konnte er nicht mehr mit Bestimmtheit sagen.

»Auf der Straße nach Nishni-goray war es … im Hungerwinter 1742«, fuhr der alte Alexej fort, »oder war es im darauffolgenden Jahr? … also jedenfalls war er, so erzählte mein Großvater, auf dem Weg von unserem Dorf zum Pferdemarkt nach Nishni-goray … nein, nach Trobezkoje muss es gewesen sein … damals gab es ja noch keinen Pferdemarkt in Nishni-goray … mein Großvater, müsst ihr wissen, verkaufte nämlich Pferde, damals … er war sehr geschickt mit Pferden, weshalb ihn sein Gutsherr, der Fürst … wie hieß er doch gleich –?«

»Erzähl weiter, Väterchen, halt dich nicht mit Unwichtigem auf«, drängte ihn ein junger Bauer, dessen Zeit aufgrund seiner Jugend knapp bemessen war.

»Ja, ja … also mein Großvater … er war auf dem Weg … wie gesagt … als da auf einmal … an einer dunklen Wegkreuzung … es war Vollmond … ein solcher … aus dem Gebüsch springt … auf ihn zu … mein Großvater … er hatte ein volles Geldsäckel bei sich, vom Verkauf der Pferde (hab ich erwähnt, dass mein Großvater für den Fürsten Pferde verkaufte?) … der fiel ihn also an … aber mein Großvater … ein echter Russe, groß und kräftig, wie man heutzutage so leicht keinen mehr findet … und auch damals nicht … der zog also die Reitpeitsche (die führte er immer mit sich) … und er ließ sich nicht lange bitten und bläute ihm das Fell grün und blau … geschrien hat er, der Wolf, mein Großvater solle ihn loslassen … aber mein Großvater … ihr kanntet ihn nicht, aber wenn der einmal so richtig in Fahrt war … und totgeschlagen hätte er ihn vielleicht … wenn ihm der Wolf nicht im letzten Moment noch ausgeschlupft wäre … und nur sein Fell in den Händen meines Großvaters zurückgelassen hätte … ein großer, schöner, warmer Wolfspelz. Letztes Jahr haben ihn die Motten gefressen, sonst könnt ich ihn euch noch zeigen. Jawohl, so war das.«

»Und der Wolf hat geschrien, er solle ihn loslassen?«

»Gewiss doch.«

»Und ist dann ohne Fell davongerannt?«

»So sagte mein Großvater.«

Die Zecher schwiegen. Der eine oder andere wiegte wohl zweifelnd den Kopf, aber niemand wagte, dem Alten zu widersprechen. Wo Rauch ist, da findet sich auch ein Feuer, sagt man bei uns noch heute, und so dachten wohl auch viele in Obnoskis Schenke.

Draußen erklangen Schritte über dem Prasseln des Regens. Die Schritte näherten sich. Wer das wohl sein mochte? Kein Russe bei Sinn und Verstand springt doch bei Nacht und Regen im Freien herum, wenn er es drinnen, vor dem Ofen, warm und gemütlich haben kann.

Die Schritte polterten die Treppe hoch. Im nächsten Moment flog die Tür von Obnoskis Schenke auf und herein patschten zwei triefende, pudelnasse Gestalten, die den Regen von ihren Mänteln schüttelten und den Matsch von ihren Stiefeln stampften.

»Was für ein Unwetter«, schimpfte der eine, »keinen Hund würde man bei so einem Sturm auf die Straße jagen.«

»Wohl war, Boris«, erwiderte der andere, »aber die Revolution fragt nicht nach unseren Wünschen, und wir, die wir in ihrem Namen unterwegs sind, müssen unsere persönlichen Bedürfnisse vor dem Wohl des Großen und Ganzen zurückstecken.«

Der mit Boris Angeredete seufzte. »Manchmal wünschte ich, die Revolution würde sich etwas beeilen und wir könnten uns wieder gemütlich auf dem Sofa ausstrecken – oder von mir aus auch auf den harten Bänken vor dem Katheder des alten Poljagow hocken und seinen angestaubten Ansichten lauschen. Alles wäre besser als hier in der Einöde in Matsch und Dreck herumzustapfen und sich bei diesem Wetter den Tod zu holen.«

Die beiden Fremden schälten sich aus ihren Mänteln und zogen die Studentenmützen von ihren Köpfen, und nun sah man besser, welch seltsame Vögel ein kalter Wind in die Schankstube von Obnoskis Schenke geweht hatte. Der eine war groß und hager und hatte blondes Haar, das ihm wild in die Stirn fiel, und eine feurig gezackte Mensurnarbe auf der rechten Wange. Der andere war kleiner, ein wenig untersetzt, und versteckte sein breites Tatarengesicht hinter einer großen runden Brille. Beide waren nach großstädtischer Art glattrasiert. Das Rot ihrer Hemden war von Schmutz und Staub der Landstraße blass geworden.

Ein Bauer spuckte heimlich auf den Boden und stieß seinen Nachbarn in die Seite. »Feine Pinkel.«

»Moskauer Studenten«, stimmte sein Nachbar zu und spuckte ebenfalls heimlich auf den Boden.

Der mit dem Tatarengesicht rieb sich die Brillengläser trocken und blickte ebenso verwundert die Gäste in Obnoskis Schenke an wie diese ihn. »Seid gegrüßt, Kameraden«, sprach er, »habt ihr vielleicht ein Plätzchen am warmen Ofen für zwei nasse, frierende Menschenkinder?«

Die Zecher rutschten unruhig hin und her, stießen sich die Ellbogen in die Seite, blickten sich gegenseitig verlegen an – aber weg vom Ofen wollte keiner.

»Komm, Boris, da ist noch etwas frei, bei der Tür«, sagte der mit der Narbe auf der Wange.

»Wie du willst, Andrej«, willigte der Tatar ein und folgte seinem Kameraden zu dem Tisch in der Ecke. Man sah, dass der Größere der beiden beim Gehen sein rechtes Bein ein wenig hinterher schleifte, als bereite es ihm Schmerzen.

Obnoski, der Wirt, verteilte mit einem schmutzigen Lappen die toten Fliegen und den Schmutz auf der Tischplatte. »Was beliebt, die Herrschaften?«

»Habt Ihr Tokaier?«

»Tokaier, gewiss.«

»Und Rheinwein?«

»Auch das, alles, was den Herrschaften beliebt – Rheinwein, Franzosenwein, Italienischen, sogar Champagner könnt Ihr haben –, wenn ihr nur lange und tief genug in den Krug blickt, den ich euch hinstelle«, sprach Obnoski der Wirt, dem der Schalk im Nacken saß. »Manche, die zu tief hineingeschaut haben, versichern mir, dass auf dessen Grund sogar Meerjungfrauen und Delphine schwimmen.«

»Ihr macht Euch über uns lustig?«, fuhr der blonde Student auf. Die Narbe auf seiner Wange zuckte leicht.

»Aber nein, aber nein, ganz und gar nicht, Euer untertänigster Diener«, beeilte sich Obnoski zu versichern. Obnoski der Wirt war, um die Wahrheit zu sagen, kein mutiger Mann. Des Nachts schloss er sich und seine goldglänzenden Münzen und Rubelchen in seinem Zimmer ein und zog die Bettdecke über den Kopf und lauschte auf das Knarren der Dielen und das Rütteln des Windes an den Fensterläden, immer in Angst und Sorge, Räuber könnten in sein Haus eindringen und ihm sein Hab und Gut wegnehmen. In dunklen Nächten, wenn der letzte Gast gegangen war, ängstigte er sich vor dem leisesten Geräusch, denn er glaubte zudem an Gespenster und böse Geister.

»Hier, ihr Herren, wohl bekomm’s«, beeilte er sich daher zu sagen und stellte rasch einen Krug seines billigen Fusels und zwei schmutzige Gläser auf dem Tisch ab und machte sich aus dem Staub – in die Sicherheit hinter seinem Tresen, der aus nichts weiter bestand als einem über zwei Tische gelegten Brett im rückwärtigen Teil der Schankstube.

Die beiden Studenten schnupperten misstrauisch an dem Krug wie Hunde an einem vergifteten Knochen.

»Nun, wenn in Rom …«, seufzte der Tatar. Er füllte sein Glas und prostete den anderen Gästen zu. »Auf das Volk und seine Gebräuche!«

»Auf die Revolution, die uns alle zu Brüdern macht!«, rief der blonde Student begeistert. Rief’s und leerte sein Glas in einem Zug und bekam einen hochroten Kopf und prustete und spuckte über den Tisch hinweg auf den Boden.

Die Bauern am Ofen lachten und schlugen sich auf die Schenkel. Was für ein Spaß! Einen solchen Spaß hatte es in unserem Dorf nicht mehr gegeben, seit der Tunichtgut Suchanow sturzbetrunken über die Schwelle von Obnoskis Schenke ins Freie gewankt und in das eiskalte Wasser des Dorfbachs auf der anderen Straßenseite gestürzt war.

Der blonde Student schaute böse zu den Bauern hinüber.

»Lass, reg dich nicht auf«, besänftigte der Tatar seinen Kameraden, »du weißt, was sonst passiert.«

Man sah wohl, wie es im Gesicht des fremden Studenten zuckte und er sich nur noch mit Mühe beherrschen konnte. Die Flammen im Ofen und der Schein der flackernden Kerzen auf den Tischen wetteiferten mit der feuerroten Narbe auf seiner Wange. Ein banges Gefühl beschlich die anwesenden Bauern, denen der blonde Student nicht ganz geheuer war.

»Ihr Herren kommt von weither?«, fragte Obnoski, bei dem als erstem die Neugierde die Oberhand über seine Ängstlichkeit gewonnen hatte, aus der Deckung seines Tresens hervor.

»Von Tarangog«, antwortete der Tatar.

»Dann seid ihr wohl auch an Nishni-goray vorbeigekommen, unserem Nachbarort. Und habt die Straße durch den Wald genommen?«

»Wohl.«

»Ach, und seid ihr da vielleicht einem Wolf begegnet … einem großen grauen?«

Die beiden Studenten blickten sich erschrocken an. »Ein Wolf? Wie das? Wieso fragt Ihr?«

»Ach, nichts, nur, weil man sagt, es treibe sich ein solcher in dem Wald zwischen Nishni-goray und unserem Dorf herum.«

Die Studenten schüttelten die Köpfe. »Nein, wir haben keinen Wolf gesehen.«

Eine Weile war es still in der Schankstube, bis auf das Prasseln der Holzscheite im Ofen und dem Plätschern des Regens auf dem Dach.

»Gibt es denn viele Wölfe bei euch?«, fragte der scheeläugige Tatar endlich in die Runde.

Spiridon nickte. »Im Winter kommen sie – und reißen mir die Schafe.«

»Mir haben sie einmal ein Füllen aus dem Stall geholt«, fügte ein Bauer hinzu.

»Und mir die Milch aus den Kannen gesoffen«, ein anderer.

»Und bei mir hat einmal einer des Nachts zum Fenster der Kammer reingeschaut, als meine Alte gerade ihren Rock auszog. Sie hat einen Schrei getan, dass der Wolf die Hinterläufe in die Hand genommen hat und davongesprungen ist, als wär der Teufel hinter ihm her«, ein dritter.

»Und was tut ihr dagegen?«, wollte der Tatar wissen.

»Wie? Was meint ihr Herren: was wir dagegen tun? Die Wölfe kommen und gehen, das ist der Lauf der Dinge. Das Jahr über belästigen sie uns kaum, nur im Winter, da ist es schlimm.«

»Noch viel schlimmer wär’s, wenn wir den Jäger nicht hätten«, fügte ein anderer Bauer hinzu, »er hält uns die Biester so gut es geht vom Leibe.«

Die in der Schankstube Versammelten nickten. Ja, wenn es den Jäger nicht gäbe, darin waren sich alle einig, könnte man im Winter keinen Fuß vor die Tür setzen; aus Angst, einem Wolf in den Rachen zu fallen, könnte kein Kind unbeschadet die Straße überqueren und kein Weib unbehelligt zur Kirche gehen. Dem Jäger war es zu verdanken, dass keine solchen Zustände herrschten und die Wölfe es nicht zu bunt trieben, und im ganzen Dorf schätzte man den unwirschen Waldschrat, der selber mehr einem wilden Tier denn einem Menschen glich.

»Was ist er denn für ein Kerl, euer Jäger? Sicher ein mächtiger Bursche, groß wie ein Riese und stark wie ein Bär, dass er euch all die Wölfe vom Leib hält.«

»I wo, ein schmächtiges Kerlchen, dünn wie ein Binsenrohr, mit einem struppigen Bart und auf einem Auge halb blind. Da hat ihn eine Wildkatze gestreichelt.«

»Trinken tut er aber für zwanzig.«

»Schießen tut er auch noch ganz passabel, vor allem wenn er vorher getrunken hat. Der Lärm seiner doppelläufigen Flinte allein kann ein ganzes Wolfsrudel in die Flucht schlagen.«

Die beiden Studenten schauten sich belustigt an. »Das ist ja wahrlich ein Teufelskerl. Da braucht ihr euch vor keinem Wolf zu fürchten.«

»Da sprecht ihr wahr, ihr Herren. Ohne unseren Jossip Antonowitsch würde es hier anderes aussehen.«

Wie der Wirt das sagte, rüttelte ein Windstoß am Gebälk der Schenke und ein heftiger Regenguss prasselte gegen die Fensterläden, dass es klang, als würden tausend Musketen darauf abgefeuert.

II

Wie ein achtlos hingeworfenes Band schlängelt sich von unserem Dorf die Landstraße nach Nishni-goray entlang karger Felder und dunkler Wälder. Die ersten vier oder fünf Werst folgt sie dem Lauf eines Bachs, dann macht sie einen scharfen Knick nach Westen, erklimmt einen steilen Hang und führt danach im Zickzack in ein steiniges Tal, ehe sie wieder hügelwärts ansteigt, nach Nishni-goray hinein. Auf dieser staubigen Landstraße ging an einem Tag Ende Juni eine zierliche Gestalt in einer blau-gemusterten Kattunbluse und einem roten Rock entlang, gebückt unter der Last eines Tragejochs mit zwei vollen Milchkannen daran. Neben ihr her trottete eine große Hündin mit rostbraun gesprenkeltem Fell, deren spitze Schnauze und Ohren entfernt an einen Wolf erinnerten. Es war heiß, die Sonne brannte von einem beinahe wolkenlosen Himmel, und die Gestalt ächzte unter dem Gewicht des Jochs und der Kannen. Alle paar Schritte blieb sie stehen, verschnaufte ein wenig und wischte sich die vom Schweiß verklebten blonden Haarsträhnen, die sich unter ihrem Kopftuch hervorgestohlen hatten, aus der Stirn. Wie sie an den Feldern vorbeikam, riefen ihr die Bauern, die dort mähten, von Ferne allerlei Schmähworte zu. Das Mädchen senkte den Kopf und versuchte, die Rufe und das Gejohle nicht zu beachten. Einzelne Wortfetzen, wie »Suchanows Balg«, »das Trinkermädel«, oder »Wolfsbrut«, drangen dennoch an sein Ohr. Das Mädchen starrte angestrengt auf seine vom Staub der Straße schmutzigen Bastschuhe, nur einmal warf es einen scheuen Blick auf eine Gruppe von Mähern, unter denen die roten Hemden zweier junger Burschen hervorstachen. Das waren die Narodniki, die seit ein paar Wochen in unserem Dorf waren und mit den ansässigen Bauern zusammen auf den Feldern arbeiteten, bei der Aussaat und der Ernte halfen, und abends in Obnoskis Schenke, wie man hörte, lasterhafte Reden führten, Aufstand und Aufruhr predigend.

Rasch schritt das Mädchen weiter. Das Gejohle und die Rufe verfolgten sie noch eine Weile. Ein Bauernbusche bückte sich, las einen Stein auf und warf ihn nach dem Hund. »Ruhig, Slatka, beachte sie nicht. Lauf einfach weiter«, sprach das Mädchen unter ihrem Kopftuch hervor auf ihre Hündin ein. Endlich machte die Straße einen Knick und die Bauern und ihr Schimpfen blieben dahinter zurück. Erleichtert atmete das Mädchen auf. Die ersten Werst von unserem Dorf nach Nishni-goray, wo es seine Milch auf dem Markt verkaufte, waren jedes Mal ein Spießrutenlaufen für »Suchanows Balg«, wie die Galina Alexandrowna, die Tochter von Suchanow dem Trunkenbold, allgemein gerufen wurde. Mit ihrer Großmutter, der Maria Petrowna, bewohnte sie eine kleine Kate am Rand unseres Dorfs, die, zusammen mit den paar Desjatinen Land rechts und links des Dorfbachs, auf dem die Kate stand, das einzige war, das ihr liederlicher Vater im Laufe seines nutzlosen Lebens nicht versoffen oder verspielt hatte.

Galina hob den Kopf. Ihre schlanke Gestalt straffte sich und ihre Schritte griffen weiter aus. Jetzt, wo das Dorf und die höhnenden Bauern hinter ihr lagen, wurde es ihr wieder leichter ums Herz. Auch Slatka, ihre Hündin, bemerkte den Stimmungsumschwung ihrer Herrin und tollte ausgelassen vor ihr her, schnupperte an den Sträuchern und unter den Bäumen und verschwand immer mal wieder für kurze Streifzüge in dem Waldstück, das auf der rechten Seite an die Straße grenzte. Auf den bereits abgeernteten Feldern zur Linken hockte ein Schwarm magerer Krähen und pickte auf dem Boden nach ein paar Krümel. Die Hündin sprengte über das Stoppelfeld, und die Krähen stoben kreischend und flügelschlagend auf, wie ein alter schwarzer Mantel voller Löcher gegen den blauen Himmel. Galina lachte aus vollem Hals. »Lass, Slatka, du wirst doch keine fangen. Sie sind zu schlau für dich.«

Die Sonne schien weiter unbarmherzig aus einem blauen Himmel herab. Galina hatte noch nicht einmal die Hälfte des Wegs nach Nishni-goray zurückgelegt. Nach einer Weile hielt das Mädchen an. Es stellte die schweren Milchkannen auf dem Boden ab, legte das Tragejoch quer darüber. Galinas Schultern schmerzten und ihre wunden Hände brannten wie Feuer. Mit unverhohlenem Abscheu betrachtete sie die vollen Kannen. Was musste die Kuh heute so viel Milch geben? Etwas weniger hätte es doch auch getan. Sofort bereute sie den Gedanken wieder. Sie wusste, wie dringend das Geld vom Verkauf der Milch gebraucht wurde, und so wenig es auch war, es half das Überleben zu sichern. Ohne die paar Rubel vom Milchverkauf könnten sie sich kein Saatgut leisten, kein Stückchen Fleisch für die Suppe, kein Feuerholz für den Ofen, von dem Stoff zum Ausbessern der alten Kleider oder dem Stroh zum Decken der Hütte ganz zu schweigen. Galina seufzte. Sie bückte sich und stemmte das Tragejoch wieder mühsam in die Höhe. Langsam ging sie weiter, unter dem Gewicht der vollen Kannen schwankend. Die Krähen hüpften müde auf den abgeernteten Feldern oder hockten auf den Bäumen, den Schnabel im Gefieder vergraben. Die Sonne brannte Galina auf den Rücken, ihr schmaler Schatten kroch ihr voran auf dem staubigen Weg, floss zäh wie Pech über die Steine, plumpste in die Mulden und Unebenheiten und kletterte mühsam wieder heraus. Slatka lief mit hängender Zunge nebenher. »Ja, ich weiß, du hast auch Durst«, sprach Galina zu der Hündin, »warte, bis wir in Nishni-goray sind, dann bekommst du was.«

Aus dem nahen Wäldchen drang Vogelgezwitscher. In den Ästen raschelte es. Sehnsüchtig blickte Galina zum schattigen Waldboden, dem kühlen Moos zwischen den Stämmen der Birken und Pappeln. »Nur für ein Minütchen«, sprach sie zu sich selbst, verließ den Weg und ging in den Wald hinein. Im Schatten einer Pappel ließ sie das Joch von den Schultern gleiten und setzte sich ins weiche Moos. »Nur kurz, nur ganz kurz, nur für einen Moment.« So versicherte sie sich, während ihr schon die Augen zufielen. Im Glanz der Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach als einzelne silbrig glänzende Bänder fielen, war das Letzte, was sie sah, ihre Hündin Slatka, die neben dem Joch mit den Kannen auf den Hinterläufen hockte; aus ihren unergründlichen dunklen Augen blickte sie Galina traurig ins Gesicht, so als wisse sie um deren schweres Los und wolle ihr Trost zusprechen.

Im Traum lief Galina einen steinigen Weg entlang auf eine ferne Hütte zu. Diese stand am Waldrand auf Hühnerbeinen, und weißer Rauch stieg aus dem Schornstein in die Höhe. Galina war auch im Traum noch müde, sehnte sich nach Schlaf und Ruhe von der Anstrengung. Aber obwohl sie sich furchtbar anstrengte, kam sie der Hütte keinen Saschin näher. Mit jedem Schritt, den sie sich auf ihr Ziel zubewegte, machte die Hütte auf ihren Hühnerbeinen anscheinend einen Schritt von ihr weg, in den Wald hinein. Und je schneller Galina lief und rannte, desto hastiger schwankte die Hütte zurück, zog sich tiefer und tiefer in den Wald zurück. Im Traum lief Galina in einem fort durch den Wald und wünschte sich, unter der Pappel im weichen Moos liegend zu erwachen. Die Hütte stakste auf ihren dürren Hühnerbeinen durchs dichte Unterholz davon, Galinas Blicken entschwindend. Galinas Beine wurden schwer und schwerer, und als sie an sich hinunterblickte, sah sie, dass ihre Füße bis zu den Knöcheln im weichen Untergrund eines Sumpfs steckten. Beim Herausziehen entstand ein schmatzendes, schlurfendes Geräusch. Vergeblich versuchte Galina, dem Sumpf zu entkommen. Die Oberfläche der grün-schwarzen Brühe kräuselte sich und warf Blasen, aus den wässrigen Linien und welligen Verwerfungen formten sich die Umrisse eines Gesichts, eines Gesichts mit spitzer Schnauze und langen Zähnen; aus dunkel brennenden Augen starrte das Sumpfgesicht das Mädchen an; laut schmatzend platzten die Blasen wie giftige Eiterbeulen …

Von dem Geräusch erwachte Galina. Verwirrt blickte sie um sich. Vor ihr auf dem Boden lag das Tragejoch, eine Kanne war umgestürzt und die verschüttete Milch versickerte im feuchten Moos, über der anderen kauerte die Hündin, steckte ihre Schnauze tief in die Kanne hinein und schlabberte die Milch mit ihrer langen Zunge heraus. Galina sprang auf die Füße. »Weg! Fort mit dir! Was fällt dir ein? Böser Hund! Böse! Böse!« Slatka machte einen Satz rückwärts, den Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt. »Was hast du angestellt? Du böser, böser Hund!«

Galina ging auf Slatka zu, die rechte Hand zur Faust geballt. »Na warte, du …!«

Das Tier duckte sich, wich noch einen Schritt zurück. Seine dunklen braunen Augen huschten unsicher von Galina zu der umgestürzten Kanne. Verlegen leckte es sich die letzten Reste Milch von den Lefzen.

»Du böser, böser Hund!«

Im letzten Moment, ehe Galinas Hand sie zu fassen bekam, drehte sich die Hündin um und flüchtete in den Wald.

»Oh nein, Slatka, lauf nicht weg. Lass mich nicht allein. Ich tu dir doch nichts!«

Aber zu spät. Die Hündin war schon im Unterholz verschwunden.

Galina sank am Fuß der Pappel auf die Knie. Was sollte sie jetzt tun? In der umgestürzten Kanne war nur noch ein kümmerlicher Rest Milch, und auch die andere Kanne war fast bis zum Grund geleert. Die Großmutter würde mit ihr schimpfen. Was hätten sie sich alles von dem Erlös der verkauften Milch leisten können! Jetzt würden diese Rubel an allen Ecken und Enden in der Wirtschaft fehlen. Schlimmer noch: die Großmutter hatte ihr vertraut, hatte sie alleine auf den Markt geschickt, in der Hoffnung auf einen satten Gewinn, und jetzt würde sie statt mit Taschen voller Geld mit leeren Händen zurückkehren. Galina schlug die Hände vors Gesicht. Zwischen ihren Fingern kullerten salzige Tränen hervor und fielen auf den Waldboden, wo sie sich neben der Milch im Moos verloren.

Eine ganze Weile verharrte Galina so in sich selbst gekehrt am Fuß der Pappel. Von den nahen Feldern tönte das raue Krächzen der Krähen herüber. Galina war unfähig, sich zu erheben, ihren Kummer abzuschütteln. Wie konnte sie sich je wieder unter die Augen der Großmutter trauen?

Auf einmal raschelte es im Unterholz. Galina hob den Kopf. »Slatka? – Slatka, bist du das?«

Angestrengt versuchte Galina, das dichte Unterholz mit den Augen zu durchdringen. Alles war wieder still – bis auf das Krächzen der Krähen, das wie von weither, aus einer anderen, sonnigeren Welt, klang. Schon wollte Galina sich das Tragejoch wieder auf die Schultern stemmen und aus dem Schatten der Bäume heraus auf die Landstraße, in das helle Licht des Tages, treten, da raschelte es erneut nicht weit von ihr entfernt im Unterholz.

»Slatka, bist du das? Komm da raus. Warum versteckst du dich?«

Die Geräusche kamen hinter einem Gestrüpp aus Brombeerbüschen und Schlehdorn hervor. Vorsichtig näherte sich Galina dem Gebüsch, das ihr wie eine dichte, undurchdringliche Hecke die Sicht versperrte.

»Slatka, her zu mir. Ich bin dir nicht mehr böse, hörst du?«

Wieder raschelte es, und etwas – ein dunkler Schatten – flüchtete tiefer ins Unterholz hinein. »Slatka, lauf nicht weg. Ich tu dir nichts!«

Hastig schob Galina den Vorhang aus Dornen und Gestrüpp auseinander, steckte Kopf und Oberkörper durch die entstandene schmale Öffnung. »Slatka, bleib …«

Was sie sah, ließ ihr Herz gefrieren. In einer flachen Mulde zwischen Strauchwerk und Luftwurzeln lag der Kadaver eines Lamms, das weiße Fell von frischem rotem Blut glänzend. Galina war, als würde ihr jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Wie in ihrem Traum schien sie im Erdboden versinken zu wollen, steckten ihre Füße unentrinnbar in dem weichen Untergrund wie in einem Sumpf fest. Langsam sank sie vor dem Kadaver auf die Knie.

»Slatka, oh mein Gott, was hast du getan?«

Im Gestrüpp gegenüber regte sich etwas. »Slatka?«

Die Blätter des Schlehdorns bogen sich zur Seite, aber aus dem Gebüsch trat kein Hund, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut hervor. In dem dämmrigen Zwielicht unter dem Laubdach der Bäume glänzte das verwaschene Rot seines Hemdes wie ein fahler Brand. Unwillkürlich fasste sich Galina an ihr Herz. Einer der Rothemden! Seine Stirn war düster umwölkt, ungläubig starrte er auf das tote Lamm und das fremde Mädchen, das davor kniete.

»Was –? Wer …?«

»Bitte, bitte, verratet mich nicht«, brach es aus Galina heraus. »Es wird nicht wieder vorkommen, das verspreche ich. Das war das erste Mal. Sie hat es nicht absichtlich getan, ganz bestimmt nicht.«

Der Narodnik wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, als wolle er einen bösen Traum verscheuchen. »Wovon redest du?«

»Slatka, mein Hund, sie ist mir davongerannt, in den Wald. Ich wollte ja nur kurz … ein Viertelstündchen … aber dann bin ich eingeschlafen … ich wusste ja nicht … bitte, bitte, sagt es niemandem. Die Leute im Dorf dürfen es nicht erfahren. Oder sie werden sie töten. Bitte … ich tue auch alles, was Ihr wollt«, schluchzte das Mädchen und streckte flehend die Hände aus.

Der Narodnik schwankte noch immer auf seinen zwei Beinen hin und her wie ein Mensch, der gerade aus einem Traum erwachte. Auf seiner rechten Wange zuckte eine hässliche Narbe, als sei sie lebendig.

»Dein Hund, sagst du?«

»Ja, aber es war keine Absicht, ganz bestimmt nicht. Sie ist doch noch so jung. Sie hat es nicht besser gewusst. Ich bitte Euch!«

»Schon gut, hör auf zu flennen. Ich helfe dir. Steh auf.«

Der Narodnik machte einen Schritt auf sie zu. Unwillkürlich duckte sich Galina, wie ein Hund, der die Schläge seines Herrn fürchtet.

»Was ist? Wovor hast du Angst? Was haben sie dir erzählt? Dass wir Narodniki Blut trinken, rauben und morden und kleine Kinder fressen?«

»Nein«, log Galina.

»Du musst auch nicht alles glauben, was man erzählt. Wie heißt du?«

»Galina.«

»Galina. Ich bin Andrej.« Der Narodnik streckte eine Hand aus. Sie war überraschend weich, feucht von kaltem Schweiß.

»Komm, wir verscharren den Kadaver, damit ihn niemand findet. Such Äste und Laub, das wir darüberlegen können.«

Zögernd erhob sich Galina. Die zuckende Narbe auf der Wange des fremden Menschen war ihr unheimlich, und sie wagte es nicht, ihm direkt die Augen zu blicken. Nur zu froh war sie daher, dass sie seinem Auftrag nachkommen konnte und im Unterholz nach dem Verlangten suchen durfte. Ein Häuflein morscher Äste und Zweiglein in den Armen, an denen noch welke Blätter klebten, kehrte sie zurück. Andrej kniete auf dem Boden und scharrte mit beiden Händen Erde und Laub auf den Kadaver. Er schaute nur flüchtig auf, als Galina ihr Häuflein in die Mulde kippte. »Gut. Aber wir brauchen mehr. Es soll natürlich aussehen. Hier kommt zwar selten jemand her, aber trotzdem …« Der Narodnik hielt einen Moment in seiner Arbeit inne und betrachtete nachdenklich die einzelnen Teile des blutig zerrissenen Tierkörpers, die noch unter der dünnen Schicht Erde und Laub hervorschauten. »Was für eine Verschwendung. Wie viele arme Familien, Kinder und ihre Mütter, hätten von diesem Lamm satt werden können.«

Galina blickte den fremden Menschen verwundert von der Seite an. Was für seltsame Sachen er sagte. Und wieso war er so besorgt um das Schicksal anderer Leute, die ihn nichts angingen?

»Träum nicht, Mädchen, die Sonne geht schon unter, ich muss zurück sein, bevor die anderen merken, dass ich weg war. Ich möchte nicht, dass sie wissen, dass ich …« Andrej hielt inne, warf einen kurzen prüfenden Seitenblick auf das Mädchen. »Was hattest du eigentlich hier im Wald zu suchen? Bestimmt hast du keine Pilze gesucht, oder?«

Galina fühlte, wie eine leichte Schamröte ihr Gesicht überzog. Ihre Hände schoben sinnlos Erde und die Zweige auf dem Kadaver hin und her, ohne dass die Mulde dadurch gefüllt worden wäre.

»Ich hab dich gesehen, heute Morgen, wie du die Landstraße entlang gegangen bist – mit deinem Hund. Wieso rufen dich die Leute ›Trinkermädel‹?«

Galina fühlte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. »Es ist – wegen dem Vater«, antwortete sie stockend, »Alexander Suchanow, er war …«

»Ein aufrechter Proletarier, der sich tapfer gegen die Unbill des ihm auferlegten Schicksals zur Wehr setzte. Er führte den Klassenkampf auf die einzige Art und Weise, die ihm angesichts seiner historischen Situation möglich war. Niemand sollte etwas Schlechtes über ihn sagen oder ihn verachten.«

Galina blickte Andrej verblüfft an. Sie hatte wenig von dem verstanden, was er da mit seinen gelehrten Worten zum Ausdruck hatte bringen wollen, aber sie hatte doch verstanden, dass er ihren Vater verteidigte und ihn gegen seine Schmäher in Schutz nahm. Der Narodnik blickte ihr einen Moment in die Augen, dann wandte er sich rasch ab und scharrte wieder Erde und Laub auf den Kadaver. Eine Weile arbeiteten Galina und er schweigend nebeneinander, einmal berührten sich kurz ihre Hände und Galina zuckte wie vom Blitz getroffen zurück. Andrej schien es nicht bemerkt zu haben. Zufrieden klopfte er die Erde auf dem Grab des toten Lamms platt.

»So, das genügt. Das wird so schnell keiner finden. Das Laub und das Holz sind schön feucht, dann vermodert der Kadaver schneller. In ein paar Wochen ist nichts mehr von ihm übrig als ein paar Knochen.«

Galina schielte heimlich zu dem Narodnik hinüber. Seine Stirn war feucht von Schweiß, im Eifer der getanen Arbeit strahlte sein Gesicht und er sah auf einmal trotz der hässlichen Narbe, die seine ebenmäßigen Züge entstellte, beinahe schön aus. Mit seinem verwuschelten Blondschopf und der scharfen Nase ähnelte er sogar ein wenig – wenn auch nur ganz entfernt – dem Prinzen aus Galinas Märchenbuch.

»Ah, so, genug. Ich kann nicht mehr«, stöhnte Andrej und stemmt sich mühsam in die Höhe, eine Hand auf Galinas Schulter.

»Was ist? Was habt Ihr?«

»Es ist nichts, meine Knochen sind eingerostet, ich habe wohl zu lange auf dem feuchten Boden gekniet. Kümmere dich nicht darum.«

Der Narodnik humpelte zu der Pappel hinüber und ließ sich an deren Stamm zu Boden gleiten. »Oje, ich bin vollkommen am Ende. Den ganzen Tag auf dem Feld, in der prallen Sonne. Wie ihr Bauern das nur aushaltet.«

Sein Blick fiel auf die beiden Milchkannen. »Was hast du da? Ich bin am Verdursten.«

»Es ist nichts mehr übrig, alles verschüttet. Slatka – sie hat alles leergetrunken.«

»Ach, wie schade, ich hatte gehofft … na, macht nichts.« Andrej zuckte die Schultern und lehnte sein Gesicht mit der rechten Wange gegen den glatten Stamm der Pappel. »Ich muss nur ein wenig zu Kräften kommen. Es geht gleich wieder.«

Galina spürte, wie ihr erneut die Schamröte ins Gesicht stieg. Wie konnte sie nur so gemein sein! Dieser fremde Mensch hatte ihr geholfen, die Spuren von Slatkas Tat zu beseitigen, ohne ihn wäre sie verloren gewesen, und sie war nicht einmal bereit, ihn dafür zu entschädigen? Rasch eilte sie zu der zweiten, noch halbvollen Kanne. »Hier, da ist noch etwas übrig.«

Andrej nahm die Kanne dankbar entgegen. Im Sitzen hob er sie hoch, legte den Rand des Gefäßes an seine Lippen und trank in gierigen, tiefen Zügen. So gierig trank er, dass ein Teil der Milch rechts und links von seinen Mundwinkeln herabrann. Galina fühlte einen Stich im Herzen. Jetzt geht auch noch das letzte bisschen Milch flöten und gurgelt eine fremde Kehle hinunter, ging es ihr durch den Sinn. Mein ganzer Besitz, heute habe ich kein Glück. Im selben Moment schalt sie sich dafür. Ich bin ein schlechter Mensch, wie die Babuschka gesagt hat. Und dann kam ihr noch ganz zum Schluss, wie der bittere Nachgeschmack einer unreifen Frucht, der Gedanke: wenigstens muss ich jetzt nicht mehr die vollen Kannen den weiten Weg nach Nishni-goray schleppen.

»Ah, das war gut.« Andrej warf die leere Milchkanne neben sich ins Moos. »Ohne dich wäre ich verdurstet. Ich danke dir, Galina Alexandrowna.«

Galina senkte beschämt den Kopf. Er weiß nicht, was für ein schlechter Mensch ich in Wahrheit bin, dachte sie.

»Warum – warum habt Ihr mir geholfen?«, fragte sie.

Der Narodnik lächelte verlegen. Seine spitze Zunge leckte die letzten Milchspuren von seinen Lippen. »Nun, nur so – wir Kinder des Proletariats müssen doch zusammenhalten, nicht wahr?«

Galina wusste nicht recht, was er damit meinte, aber sie verstand doch, dass der Narodnik sie als seinesgleichen ansah, sich mit ihr als verbunden betrachtete. In die Dankbarkeit, die sie für ihn fühlte, mischte sich noch ein anderes, neues Gefühl, das ihr seltsam und beinahe ein wenig unheimlich war.

Andrej lehnte mit geschlossenen Augen an dem Stamm. Eine Weile beobachtete Galina sein bekümmertes, von Dornen zerkratztes Gesicht, das so anders war als die bärtigen Mienen der Dorfleute; über seine Stirn zog das wechselnde Schattenspiel der im Wind schwankenden Äste und Blätter der Bäume; irgendwo krächzte ein Steinhäher.

Abrupt riss der Student die Augen auf.

»Was? Wie? Ich muss eingeschlafen sein. Was für ein seltsamer Traum!«

Er fasste das Mädchen ins Auge, als sähe er es zum ersten Mal. »Du bist noch hier?« Mühsam zog er sich am Stamm der Pappel in die Höhe. »Wir sollten gehen, es ist nicht gut, bei Nacht draußen zu sein. Hier gibt es Wölfe.«

»Wölfe?« Galina fasste sich in plötzlichem Schreck an die Kehle. »Seid Ihr sicher?«

»Ich habe ihr Heulen gehört.« Wieder fuhr sich Andrej in der für ihn typischen Weise über die Stirn. »Oder habe ich das auch nur geträumt?«

Einen Moment stand er sinnend an den Stamm der Pappel gestützt. Dann verzog ein schiefes Grinsen seinen Mund. »Aber du musst keine Angst haben, Mädchen. Wölfe sind gar nicht so gefährlich, wie man gemeinhin denkt. Die Landbevölkerung macht sich da ganz falsche Vorstellungen, ihr seid noch zu sehr alten Mythen und Märchen verhaftet. Du glaubst doch auch nicht mehr an Geister oder die Baba Jaga?«

Ohne zu antworten senkte Galina beschämt den Kopf.

Andrej seufzte. »Na gut. Lass uns gehen. Es ist schon spät.«

Er machte einen Schritt, knickte auf dem rechten Bein ein.

Sofort sprang Galina hinzu. »Lasst Euch helfen.«

»Es ist nichts.« Beinahe unwirsch wehrte der Narodnik ab. »Es geht schon.«

Aber diesmal ließ Galina keinen Widerspruch gelten. Flink schlüpfte sie unter Andrejs rechten Arm, bot ihre eigene Schulter als Stütze dar. Trotz seines anfänglichen Widerstrebens ließ es der Narodnik geschehen, und gemeinsam wankten sie auf der von der untergehenden Sonne in rötlichen Glanz getauchten Landstraße zurück ins Dorf, vorbei an den verlassenen Feldern und den schwarzen Krähen, die mit bösen Knopfaugen ihren Schritten folgten. Wie auf eine stillschweigende Verabredung hin bogen sie kurz vor dem Dorf auf einen Trampelpfad entlang des Dorfbachs ab, den neugierigen Blicken der Dorfbewohner verborgen. In Sichtweite von der Hütte des Trödlers Isaak, bei dem die beiden Narodniki ihre zeitweilige Unterkunft gefunden hatten, hielt Andrej an. »So, bis hierhin, das reicht. Ich danke dir noch einmal, Galina Alexandrowna, du bist eine wahre Freundin des Volks, deines Vaters würdig.«

Eine Welle widersprüchlicher Empfindungen wühlte Galina auf, und sie war froh, dass die Dunkelheit ihr Gesicht verbarg. Schnaufend kletterte Andrej die flache Uferböschung empor, das rechte Bein leicht nachschleifend. Vor der Dorfscheune, deren Giebel aus Galinas Perspektive wie der Bug eines schwarzen Schiffes über den Rand der Böschung emporragte, hielt er noch einmal an und drehte sich um.

»Mach’s gut, Galina Alexandrowna«, er winkte ihr von oben zu, »und denk immer dran: Es waren die gesellschaftlichen Umstände, die deinen Vater zum Trinker machten. In anderen Verhältnissen wäre er vielleicht ein Minister oder König geworden.«

Galina fühlte sich seltsam leicht und beschwingt, zugleich aber auch bedrückt, als sie langsam am Dorfbach entlang zurück zum Ausgang des Dorfes wanderte. Noch immer spürte sie auf ihrer Schulter den Druck von Andrejs Arm wie eine vertraute Last. Ganz anders als das Tragejoch, das ihre Schulter wundgescheuert hatte. Das Tragejoch! Siedendheiß überkam sie die Erinnerung: Sie hatte es, zusammen mit den Milchkannen, im Wald liegenlassen! Eiligen Schrittes rannte Galina den Weg zurück, den sie am Vormittag bei hellem Sonnenschein nach Nishni-goray genommen hatte. Inzwischen war es so dunkel geworden, dass die gemähten Wiesen und Ackerfurchen wie die schwarzen Wellen eines versteinerten Meeres wirkten. Schläfrig schlugen die Krähen auf den Bäumen mit den Flügeln, als sie unter ihnen vorbei hastete. Eine ganze Weile tapste Galina im Dunkeln unter der breiten Pappel umher, ehe sie die Milchkannen, beschienen vom Licht des aufgehenden Mondes, auf dem Moos silbrig glänzen sah. Sie bückte sich, das Joch und die Kannen aufzuheben, da gewahrte sie zwei bösartig funkelnde Augen, die sie aus dem Gebüsch, hinter dem das Schaf begraben lag, unverwandt anstarrten. Lautlos formten Galinas Lippen ein Stoßgebet an ihren Schutzheiligen, wie es sie die Babuschka gelehrt hatte. Im nächsten Moment teilte sich das Gebüsch und ein gedrungener Schatten sprang auf sie zu.

Galina fühlte eine kalte Hundeschnauze an ihrem Hals und ihren Wangen und eine feuchte Zunge, die über ihr Gesicht leckte. »Slatka, du bist es! Du hast mir aber einen Schrecken eingejagt. Wo kommst du her? Wo warst du denn die ganze Zeit?«

Galina strich über das Fell der Hündin, das klebrig und feucht war, als sei sie durch Tau gelaufen. Aus Slatkas Mund strömte der Geruch von Aas. Im Mondschein, der durch das Blätterdach drang, sah Galina zwischen den Brombeersträuchern den Kadaver des toten Schafs, das wieder zur Hälfte aus der Bodenmulde herausgezerrt worden war, den blutig gebissenen Kopf mit den glasigen Augen wie zwei blank polierte Messingsteine.

»Oh nein, wie konntest du nur?«, hauchte Galina entsetzt. »Jetzt fängt alles wieder von vorne an, die alten Geschichten, die Sache mit dem Wolf und meinem Vater. Wie soll das bloß enden?«

III

Vier Jahre zuvor, als noch niemand im ganzen Land auch nur von den Ideen der Narodniki gehört hatte, war Alexander Suchanow, Galinas Vater, beim Verlassen von Obnoskis Schenke sturzbetrunken in den Dorfbach gestürzt.

Damals lebten er, seine verwitwete Mutter Maria Petrowna und Galina in einer Kate am Dorfrand auf einem Stückchen Land, durch das der Bach noch als kümmerliches Bächlein eine Schlaufe zog, ehe er sich, breiter und mächtiger geworden, aus dem Dorf heraus hin zu Woronzows Mühle wälzte. Alexander Suchanow war zu Lebzeiten ein aufrechter Trinker vor dem Herrn gewesen, der lieber in der Kneipe hockte, als sich zu Hause um die Wirtschaft zu kümmern oder auf dem Feld mit anzupacken. Im Sommer verschwand er oft für ganze Tage und Nächte, streifte mit seiner Flinte in den Wäldern umher, angeblich auf der Suche nach Wildbret, aber in Wahrheit, weil er das Schreien des hungrigen Kindes zu Hause nicht mitanhören konnte. Galinas Mutter war bei der Geburt gestorben, und nun sorgte ihre Babuschka, die alte Maria Petrowna, mehr schlecht als recht für das Kleine. Galina war noch keine zwölf Jahre alt, als ihr Vater zur Tür der Kneipe hinaus torkelte und in den Dorfbach stürzte. Man fand seine Leiche tags darauf in den Rädern des Mühlrads. Wie im Leben, so machte er auch noch im Tode seinen Mitmenschen das Leben schwer, war doch das Mühlrad blockiert, und der Müller und seine Gehilfen mussten der steif gefrorenen Leiche erst Arme und Beine abhacken, bevor sie den Rest des Körpers mühsam aus den Speichen des Mühlrades hervorziehen konnten. Als man Galinas Vater so stückweise nach Hause brachte – als erstes erreichte der linke Arm, von einem flinken Müllerburschen befördert, sein Zuhause, noch vor den Beinen und dem Rest des Körpers –, brach Maria Petrowna in ein herzzerreißendes Klagen aus beim Anblick der einzelnen Teile, obwohl sie zu Lebzeiten nicht müde geworden war, das lebendige Ganze als Tunichtgut und Taugenichts und ihr als von Gott auferlegte Geißel zu schelten. Aber so ist es eben mit den unnützen Menschen wie mit den unnützen Dingen, die bloß im Weg herumstehen und an denen man sich allenthalben stößt – ist man sie endlich los, so dauert es einen doch und man beklagt ihren Verlust gerade so, als ob sie zu Lebzeiten etwas getaugt hätten.

Und so saß Maria Petrowna neben dem Toten, den man wieder zusammengeflickt und in der Mitte der Stube auf dem großen Holztisch aufgebahrt hatte, drei Tage lang, wie es bei uns Sitte ist, und bejammerte den Tod ihres einzigen Sohnes, ihr eigenes Schicksal und das ihrer Enkelin, sowie den traurigen Lauf der Welt im Allgemeinen. Von fern und nah kamen die Leute herbei, um ihr Beileid auszusprechen und einen Blick auf den aufgebahrten Leichnam zu werfen. Beim Hinausgehen drückten sie ihre Gesichter in die Taschentücher oder schmutzigen Ärmel ihrer Joppen und Hemden; der eine oder andere konnte ein Grinsen nicht verbergen. Wie sich bei der Betrachtung der Leiche nämlich herausstellte, hatte Wassilij der Schneider, kurzsichtig wie er war, das rechte Bein an die linke Hüfte genäht und umgekehrt. Aber so sagt man bei uns: auf dem falschen Fuß hüpft es sich schneller zum Teufel, und niemand zweifelte daran, dass der Weg des Trinkers Suchanow von hier schnurstracks in die Hölle führte.

Für die kleine Galina war das Ganze eine aufregende und beängstigende Angelegenheit zugleich. Noch nie zuvor waren so viele Menschen zu Gast in der Kate gewesen, drängten sich die Gaffer ja beinahe Schulter an Schulter, um einen Blick auf den Toten zu werfen. Dass es sich bei dem Toten um ihren Vater handelte, war ihr nur halb bewusst; so selten war dieser in ihrer kurzen Erinnerung anwesend gewesen, dass sie ihn mehr wie einen fremden als einen ihr vertrauten Menschen betrachtete. Allein, dass der fremde stumme Gast den Tisch belegte, an dem sie ansonsten mit ihrer Großmutter die Mahlzeiten einnahm, ärgerte sie ein wenig. Wann würde er endlich wieder gehen? Warum schaffte man ihn nicht fort? Mit jedem Tag, den der Leichnam länger auf dem Tisch lag, breitete sich ein unangenehmerer Geruch in der Kate aus. Nächtens lag ein zitternder Schein von den brennenden Opferkerzen auf seinem bläulichen Gesicht, der seine Züge schärfer und härter hervortreten ließ. Wenn Galina etwas bedrückte, so war es die Tatsache, dass ihre Babuschka, anstatt wie gewohnt emsig im Haushalt zu werkeln und sich um die Kuh in ihrem Verschlag und die Hühner im Hof zu kümmern, den lieben, langen Tag auf einem Schemel saß und still vor sich hin brütete. Wann würde sie wieder lachen und fröhlich sein? Ängstlich beobachtete Galina ihre Großmutter und zählte die Tage, bis ihr stinkender Vater aus der Kate verschwand.

Am Tag der Beerdigung stand sie neben ihrer Großmutter vor der Grube, in die man den Sarg gesenkt hatte. Mit großen Augen blickte sie in das Grab hinunter, auf die schlichte Holzkiste aus sechs Fichtenbrettern. »Babuschka«, flüsterte sie, ihre Großmutter am Ärmel zupfend, »wie kommt er da wieder heraus?«

»Wer, mein Kind?«

»Der Blaue.«

Maria Petrowna war es, als berühre eine kalte Hand ihre Schulter. »Er kommt nicht mehr heraus, Kind.«

»Gar nicht mehr?«

»Erst am Tag des Jüngsten Gerichts, wenn Gott über alle Menschen richtet, dann kommen er und alle Verstorbenen wieder aus ihren Gräbern hervor, um über die Erde zu wandeln und gerichtet zu werden.«

»Und wann ist das, Babuschka?«

»Wer kann das wissen? Nicht einmal der Metropolit in Moskau weiß das. Vielleicht bald, vielleicht nicht so bald. Aber sicher früher als manch einer es erwartet.«

Die kleine Galina verstand nicht recht, was die Großmutter ihr sagen wollte. Sie blickte sich auf dem Friedhof des Dorfes um, wo unter Platanen und zwischen Brombeerhecken die schiefen Grabsteine der Verstorbenen standen, und sie stellte sich vor, wie am Tag des Jüngsten Gerichts die Toten in ihren gewöhnlichen Alltagskleidern aus den Gräbern kletterten, sich gegenseitig begrüßten und sich unter dem Schatten der Bäume niederließen, um miteinander zu plaudern und darauf zu warten, gerichtet zu werden. Aus irgendeinem Grund stellte sie sich das Richten wie die Bescherung zu Weihnachten vor, wenn jeder der Toten ein in Papier eingeschlagenes Päckchen als Geschenk erhalten würde. »Das wird lustig, Babuschka«, flüsterte sie.