Das Erbe von Tanston Hall - Anja Marschall - E-Book

Das Erbe von Tanston Hall E-Book

Anja Marschall

4,7

Beschreibung

Vor drei Jahren verschwand Kates Bruder spurlos. Gerade als sie glaubt, mit dem Verlust leben zu können, erhält sie einen anonymen Anruf. Ihr Bruder soll in einem kleinen Dorf in Cornwall gesehen worden sein und in großen Schwierigkeiten stecken. Kate bricht sofort auf - doch im idyllischen Cawsand erwarten sie perfide Intrigen und ein tödliches Familiengeheimnis.

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Das Erbe von

Tanston Hall

Ein Cornwall-Krimi von

Kapitel 01

Seit Stunden regnete es gleichmütig auf die Stadt herunter. Kate stand am Pier und wartete auf die Fähre, die sie von Plymouth nach Cawsand bringen sollte. Sie hatte den Kragen ihrer Jacke hochgeschlagen und blickte hinaus auf die Bucht. Die Reisetasche neben ihr stand in einer Pfütze, doch Kate bemerkte es nicht. Fröstelnd starrte sie aufs Meer, durch den Regenschleier sah sie zwei riesige graue Schatten auf dem Wasser dümpeln. Noch nie hatte Kate Cole, Krankenschwester aus London, Kriegsschiffe gesehen, und es trieb ihr einen Schauder über den Rücken, sie anzusehen. Tröstlich war nur, dass die beiden Schiffe sicherlich zum nahen Flottenstützpunkt in Devonport gehörten. Eine eigenartige Faszination ging von diesen Kolossen aus, von denen sie nicht einmal wusste, welcher Art sie waren.

„Fregatten“, sagte plötzlich jemand hinter ihr.

Kate fuhr herum.

Ein Mann in gelber Öljacke stand vor ihr. Unter seiner Kapuze lugten einige nasse Locken hervor. Sie starrte in seine eisblauen Augen und bemerkte ein schlecht rasiertes Kinn. Der Mann nickte zu den Schiffen hinüber.

„Es sind die HMS Portland und die Sutherland. Beide hundertdreiunddreißig Meter lang, stationiert in Devonport. Sie gehören zur Duke-Klasse.“ Er nahm Kates Tasche. „Sie sind doch die Touristin, die rüber nach Cawsand will, oder?“, fragte er über seine Schulter hinweg.

Kate nickte und folgte dem Mann zum Rand des Piers. Eine steinerne Treppe, die sie bisher nicht gesehen hatte, führte zum Wasser hinunter.

Es war fast Ebbe. Unten im Wasser lag ein kleines Boot. Vorsichtig tastete sich Kate die glitschigen Stufen hinunter, ihre Hand suchte Halt an der mit Moos überzogenen Mauer.

„Wissen Sie eigentlich, wo Sie gerade runtergehen?“, fragte der Fährmann routiniert wie ein Fremdenführer.

Kate machte einen großen Schritt von der Treppe auf das Boot, wobei sie hoffte, nicht auszurutschen.

„Genau an dieser Stelle legte am 16. September 1620 die Mayflower ab. Es war der Tag, an dem die Gründerväter ihre äußerst beschwerliche Reise nach Amerika antraten.“ Er sagte diese Worte ohne jede Begeisterung, fügte nur brummend hinzu: „Heute geht’s schneller.“

„Was Sie nicht sagen“, rutschte es Kate heraus. Sie wollte nicht unfreundlich sein, aber er hatte sich nicht einmal vorgestellt, einfach nur ihre Tasche genommen. Außerdem war sie keine Touristin und eine Führung wollte sie bei diesem Wetter schon gar nicht haben. Die Überfahrt sollte vier Pfund kosten, das war teuer genug. Ein weiteres Pfund würde sie nicht drauflegen, nur um jemandem zu lauschen, der ihr Nachhilfeunterricht in Geschichte gab, wozu er ganz offensichtlich nicht einmal Lust hatte.

Es war alles andere als ein verfrühter Jahresurlaub, der sie dazu trieb, im nassen Frühjahr nach Cornwall zu kommen. Nach dem anonymen Anruf mitten in der Nacht hatte sie sofort im Krankenhaus Bescheid gesagt, dass sie für ein paar Tage fortmüsse. Ein familiärer Notfall. Dann hatte sie eilig ein paar Sachen in ihre Tasche gestopft und war, ohne zu wissen, was sie dort erwartete, in Richtung Cornwall aufgebrochen.

Nein, Kate hatte wirklich keine Lust auf eine launige Touristenführung.

Jetzt saß sie auf einer unbequemen Holzbank und klammerte sich an die Reling eines entsetzlich wackeligen Bootes. Begriffe wie „Fähre“ oder „Schiff“ fand sie für dieses Etwas übertrieben. Das Ding war kaum mehr als ein größeres Ruderboot mit einer Art Verschlag am Bug, das dem Kapitän als Unterstand diente. Und während dieser im Trockenen stand und sein tuckerndes Boot durch das graue Wasser der Bucht von Plymouth lenkte, wurde es für Kate hinten immer ungemütlicher. Unermüdlich prasselte der Regen auf sie herab, schon lief er als kleiner Bach zwischen ihren Schulterblättern hinunter. Leise fluchte sie vor sich hin. Warum nur hatte sie den Schirm im Auto gelassen, als der Abschleppwagen endlich gekommen war? Sie hätte wenigstens in irgendeinem Pub auf den Bus nach Cawsand warten können. Aber die Frau vom Tourismusbüro hatte gesagt, mit der Fähre von Kevin Fine wäre sie schneller drüben.

Plötzlich flog etwas Gelbes auf sie zu und landete direkt vor ihren Füßen.

„Ziehen Sie das an. Sie holen sich sonst noch den Tod.“ Kevin Fine sah für einen Moment über seine Schulter, ohne das Steuer loszulassen.

Kate murmelte: „Danke“ und nahm die Öljacke auf. Sie zog sie an und schlug die Kapuze über ihr nasses Haar. Dann blickte sie in den Regen hinaus und suchte das Land, das sich schemenhaft vor ihr auftat, mit ihren Augen ab. Alles war in Schattierungen von Grau gehalten. Der dunkelgraue Wald und die trübgrauen Häuser, die lustlos verstreut am Hang zu ihrer Rechten klebten, waren wenig einladend. Um sie herum das mattgraue Wasser und ein steter Schleier Regen, der sich aus tiefgrauen Wolken über alles legte. Kate schlang ihre Arme um sich. Wie konnten Menschen hier nur Urlaub machen.

Irgendwo hier sei ihr Bruder und er stecke in großen Schwierigkeiten, hatte die Stimme am Telefon gesagt.

Kate hatte Phil seit drei Jahren nicht gesehen und sie hatte Angst, ihm gegenüberzutreten. Sie schloss die Augen, um den Gedanken an ihr Versagen von damals fortzuschieben.

Als sie die Augen wieder öffnete, zuckte sie zusammen. Direkt neben ihr war plötzlich eine graue Wand. Sie hätte sie mit der Hand fast berühren können. Es war die Bordwand einer der beiden Fregatten, die sie aus der Ferne so fasziniert hatten. Die kleine Fähre schaukelte an dem Kriegsschiff entlang. Kate musste ihren Kopf weit nach hinten legen, um bis nach oben sehen zu können. Ein Matrose beugte sich zu ihnen hinunter, rief dem Kapitän ihrer Fähre etwas zu und lachte. Es klang hämisch.

Kevin Fine ignorierte den Mann an der Reling und wandte sich Kate zu: „Beeindruckt?“

Täuschte sie sich oder klang die Frage verächtlich?

„Erschrecken Sie ihre Fahrgäste immer so?“ Kate zog sich die Kapuze ein Stück tiefer in die Stirn.

Ein missratenes Lächeln huschte über Kevin Fines Gesicht. „Wussten Sie, dass jedes Schiff Ihrer Majestät ein Motto hat? Dieses hier ist die HMS Portland, und ihr Motto ist: ‚Craignez Honte. Fürchtet Schande!‘“ Er wandte sich wieder seinem Boot zu. „Hübsch, oder?“

Es war keine Frage an Kate. Der Mann war wütend.

Einen Moment lang befürchtete sie, sie könnte ihn mit irgendetwas verärgert haben, doch in ihrem Leben hatte Kate gelernt, nicht alles auf sich zu beziehen. Weder die Wut noch die Liebe der Menschen.

Kapitel 02

Zum dritten Mal klopfte Kate an die Tür des Pubs in Cawsand. Sie horchte, während der Regen um sie herum noch immer niederprasselte. Drinnen regte sich nichts. Kate trat ein paar Schritte zurück und musterte die Front des Hauses.

Der Pub „The King’s Men“ bestand aus einem kastenartigen Haupthaus mit zwei oberen Stockwerken. Der Eingang lag in der Mitte. Über ihm quietschte ein altes, verschnörkeltes Schild in seinen Angeln, dessen Bild kaum noch zu erkennen war. Eine Tafel neben dem Eingang gab Auskunft über das heutige Abendgericht: Rib-Eye-Steak. Rechts schmiegte sich ein weißer Anbau an das Haupt­haus.

„Ja, bitte?“

Kate hatte nicht bemerkt, wie die kleine Nebentür am Ende des Anbaus geöffnet worden war. Im Rahmen stand eine runde Frau. Vor ihrem Leib trug sie eine geblümte Schürze, an der sie sich jetzt die Hände abwischte. Sie blickte Kate fragend an, dann ging ihr Blick zum grauen Himmel hoch. Noch bevor Kate etwas sagen konnte, rief sie: „Um Gottes willen! Kommen Sie rein! Sie holen sich da draußen ja den Tod!“ Sie eilte zu Kate in den Regen hinaus und zog den neuen Gast kurzerhand ins Trockene. „Ich hole Ihnen ein Handtuch.“ Die Frau schlug die Tür hinter Kate zu, dann lief sie zur Treppe am Ende des schmalen Flurs und eilte hinauf.

Kate ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Schnell wurde die Pfütze zu ihren Füßen größer.

„Hier!“ Die Frau war zurück und reichte Kate ein weißes Handtuch. „Sie müssen die junge Dame sein, die Mary geschickt hat.“

Kate nickte. „Ja, die Tourismusinformation am Hafen in Plymouth meinte, Sie hätten noch ein freies Zimmer für mich.“

Die Frau nickte. „Noch ist nicht viel los im Dorf. – Und, sagen Sie, wie sieht Mary aus? Sieht man es schon?“

Kate blickte die Frau fragend an.

„Na, Mary ist doch schwanger von diesem ... Wie war noch sein Name? Ein netter junger Mann. Verheiratet sind sie aber noch nicht.“

Kate lächelte. „Ach so, nein, ich habe nichts gesehen.“

„Schade. – Ich bin übrigens Mrs Whidby.“ Die Frau lächelte breit. „Wie lange werden Sie bleiben, Miss ...?“

„Cole. Kathryn Cole, aus London.Ich weiß noch nicht.“

„Wo haben Sie denn Ihren Wagen geparkt?“

„Ich hatte vor Plymouth einen Motorschaden. Der AA hat mein Auto in eine Werkstatt gebracht. Man gibt mir Bescheid, sobald ich es abholen kann.“

Mrs Whidby legte den Kopf schief. „Dann sind Sie mit Kevin gekommen, oder?“

Kate nickte. „Es war ... Er ist ein wenig ... eigenartig.“

Mrs Whidby lachte auf. „Hat nicht jeder von uns seine kleinen Geheimnisse?“ Sie griff nach der Tasche auf dem Boden. „Kommen Sie, Miss Cole, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.“

Kurz darauf stand Kate mit ihrer Gastgeberin in einem Zimmerchen, das kaum mehr als ein Bett, einen Schrank und einen schmalen Tisch samt Wasserkocher, Becher und Teebeuteln beherbergte. Alles war sauber und schien auch bequem zu sein, wenn man von dem wackeligen Holzstuhl am Tisch absah.

„Das Wetter soll spätestens übermorgen besser werden“, versprach Mrs Whidby. „Wärmer bestimmt. Für diese Jahreszeit ist es wirklich zu kalt und zu nass.“ Sie schüttelte den Kopf, als nähme sie den Regen da draußen persönlich. Doch schon huschte wieder ein freundliches Lächeln über ihr Gesicht. „Aber das soll Ihren Urlaub bei uns nicht trüben. Man kann hier wunderschöne Ausflüge auch ohne Sonnenschein machen. Und es ist zu dieser Jahreszeit in Cornwall viel ruhiger als sonst.“

Kate, die einen Blick aus dem Fenster auf die Straße warf, wo sie eben noch im Regen gestanden hatte, drehte sich um.

„Ich mache keinen Urlaub. Ich suche jemanden.“

Mrs Whidbys Lächeln verschwand. Jetzt konnte Kate die Ränder unter den Augen der Frau erkennen und die leicht gelbliche Haut, die auf eine eventuelle Leberkrankheit schließen ließ.

„Wen suchen Sie denn, Kind? Ihren Freund?“

„Ich suche meinen Bruder Philip. Philip Asthon. Er soll hier in Cawsand sein. Kennen Sie ihn?“

„Aber Sie heißen doch Cole?“

„Zwei Väter, eine Mutter“, erklärte Kate kurz.

Täuschte sie sich oder wurde Mrs Whidby plötzlich blass? Die Frau drehte sich zur Seite und hantierte mit dem Stapel Handtücher herum. „Ja, ja, die jungen Männer“, nuschelte sie und mied Kates Blick. „Ich denke, Sie haben dann alles, Miss Cole. Frühstück servieren wir unten im Frühstücksraum ab halb acht. Möchten Sie ein kontinentales oder ein richtiges Frühstück?“

Kate ignorierte die Frage und sah, wie Mrs Whidby schnell auf den Flur hinaustrat. „Sie kennen meinen Bruder?“ Kate eilte ihr nach. „Mrs Whidby? Kennen Sie Philip?“

Die Wirtin blieb an der Treppe stehen, zögerte. Dann nickte sie. „Ja, er war öfter hier.“

„Wo ist er?“

„Weg. Reiste ganz plötzlich ab. Schon vor Wochen.“

„Wann genau?“

„Das weiß ich nicht mehr“, murmelte die Wirtin. „Er hat sich nicht einmal verabschiedet.“ Sie ging die Treppe ins untere Geschoss hinunter. Kate rief ihr nach: „Hat ihn jemand gesucht oder eine Vermisstenanzeige bei der Polizei gestellt?“

Kate horchte, dann hörte sie die Stimme von Mrs Whidby von irgendwo aus dem Haus. „Warum sollten wir? Er ist doch erwachsen und kann kommen und gehen, wann er will. So gut kannten wir ihn auch nicht. Außerdem, wenn Sie glauben, ihm ist etwas passiert, wäre es an Ihnen, die Polizei zu informieren. Sie sind doch die Schwester!“

Langsam ging Kate die Stufen hinunter und folgte der Stimme. Hinter einer Tür, die zu einem Frühstücksraum führte, fand sie die Wirtin. Der Raum war nicht sehr groß und bot gerade einmal fünf Tischen Platz. Jeder Tisch war mit einer Blumenvase und einem weinroten Deckchen geschmückt.

„Ich habe Phil vor drei Jahren das letzte Mal gesehen. Ein Streit, mehr nicht. Die Polizei sagte damals, ich könne keine Vermisstenanzeige aufgeben. Philip sei alt genug, um zu tun, was er will.“

Mrs Whidby wischte mit einem Tuch einen der Tische ab. Sie steckte das Tuch in die Tasche ihrer Schürze und verließ den Raum durch eine andere Tür.

Kate ging ihr abermals nach und fand sich im gemütlichen Schankraum des Pubs wieder. Dieser war mit Holzstühlen und Bänken und jeder Menge eichenen Tischen eingerichtet. Schwere dunkle Balken hingen unter der vom Rauch gelb gewordenen Decke. An der Stirnseite des Raumes war ein Kamin, vor dem zwei schwere Ledersessel standen. Alte Fotos von Cawsand mit seinem Hafen und den Fischerbooten in der Bucht und Bilder vom Pub hingen in einfachen Rahmen dicht beieinander an den Wänden. Es roch nach verbrannten Holzscheiten und Bier, nach der guten alten Zeit und dem Essen von gestern.

Mrs Whidby begann, hinter dem massigen Tresen, der sich über die ganze Breite des Raumes erstreckte, Gläser zu polieren.

Kate trat an sie heran. „Phil wohnt also nicht mehr in Cawsand?“

Mrs Whidby schüttelte den Kopf. „Wie gesagt, er ist plötzlich abgereist.“ Sie drehte Kate den Rücken zu und stellte die Gläser auf ein Regal, das vor einem großen Spiegel an der Wand hing.

„Wo finde ich hier die Polizeistation, Mrs Whidby?“

Die Wirtin blickte sie an. „Warum?“

Kate antwortete nicht.

Mrs Whidby sah sie kopfschüttelnd an. „Die Polizei gibt es hier schon lange nicht mehr. Da müssen Sie zurück nach Plymouth.“

Kate schüttelte sich innerlich. Es zog sie nicht wirklich ein weiteres Mal hinaus in den Regen, womöglich auf dieses kleine, wackelige Boot.

Mrs Whidby blickte Kate an. „Wissen Sie, Kind, es ist manchmal besser, die Dinge so zu lassen, wie sie sind. Ihr Bruder wird einen Grund gehabt haben fortzugehen.“ Sie stellte ein Glas ab und nahm das nächste zur Hand. „Er kommt bestimmt wieder.“

Kate war da nicht so sicher. „Ich will wissen, wo er ist. Wissen, dass es ihm gut geht. Vielleicht ist ihm etwas passiert. Er könnte im Krankenhaus liegen oder in Schwierigkeiten sein.“ Sie fühlte, wie all die Ängste von damals wieder über sie herfielen. Nichts hatte sich geändert. Sie würde niemals darüber hinwegkommen, versagt zu haben. „Ich muss es wenigstens versuchen.“

Die Wirtin starrte auf ihre Hände, während sie das Glas unter ihrem Geschirrtuch langsam kreisen ließ.

„Mögen Sie meinen Bruder?“, fragte Kate vorsichtig.

Mrs Whidby blickte auf. „Oh, ja. Ein guter Junge.“

„Aber warum wollen Sie mir dann nicht helfen?“

Die Wirtin stellte das Glas ab und sah Kate lange an. „Ach, Kindchen, es war doch seine Entscheidung zu gehen. Und überhaupt, wir wollen keinen Ärger haben. Das ist alles.“

„Ärger?“

Mrs Whidby nickte. „Ja, Ärger. Da war so ein Mann ... Ich will damit lieber nichts zu tun haben.“ Sie blickte Kate an. „Ich kann Sie morgen früh in die Stadt mitnehmen. Habe in Plymouth zu tun. Ich setze Sie vor der Kirche am Mutley Plain ab. Von dort nehmen Sie den Bus Nummer 40 bis zum Crownhill. Da finden Sie das Polizeipräsidium. Die können Ihnen bestimmt weiterhelfen.“

Kapitel 03

Kate hatte ihr erstes Früh­stück im „King’s Men“ hastig beendet und sich von Mrs Whidby einen Schirm geliehen. Dann waren sie und die Wirtin in einem klapprigen Jeep nach Plymouth gefahren.

Das war nun schon mehrere Stunden her. Mittlerweile war es Nachmittag und man ließ Kate noch immer auf dem Flur im dritten Stock des Polizeigebäudes warten. Sie hatte Hunger und spürte, wie sie von Minute zu Minute ärgerlicher wurde. Eine junge Beamtin hatte Kates Ausweis mitgenommen, um kurz die Personalien zu überprüfen, wie sie sagte. Das war vor über zwei Stunden gewesen!

Mit zunehmender Wut im Bauch und einem knurrenden Magen beobachtete Kate das Kommen und Gehen auf dem Flur. Männer und Frauen eilten über das abgewetzte graue Linoleum, vorbei an der Bank, auf der sie saß. Die Schritte hallten von den kahlen Wänden und vermischten sich mit dem Schlagen von Türen und dem Klingeln von Telefonen dahinter. Niemand beachtete sie. Kate fühlte sich, als sei sie durchsichtig. Auch der junge Uniformierte, der soeben den Gang entlangkam, übersah sie. In der rechten Hand hielt er eine durchsichtige Plastiktüte.

Kate sprang auf und eilte ihm nach, als auch er durch eine der vielen Türen verschwinden wollte. Sie fragte, wie lange sie noch warten müsse, und er blickte sie verständnislos an. Dann erklärte er ihr umständlich, dass der zuständige Beamte sicherlich bereits auf dem Weg sei und sie sich noch ein wenig gedulden müsse.

Kate starrte auf den Beutel in seiner Hand. Darin konnte sie deutlich eine schwarze Waffe sehen, an der rostfarbene Flecken klebten. Mit einem entschuldigenden Lächeln schloss der Polizist die Tür vor ihrer Nase.

Schweigend setzte sie sich wieder auf die harte Holzbank an der Wand. Ihr Magen knurrte jetzt noch lauter. Und sie auch. Kate Cole war nicht weit davon entfernt, in eines der Büros zu stürmen, um sofort ihren Ausweis zurückzuverlangen. Offenbar hatte man sie und ihr Anliegen vergessen oder beides für unwichtig erklärt.

Was erwartete sie denn überhaupt von der Polizei in Plymouth? Man hatte ihr damals in London nicht geholfen, Phil zu suchen, und man würde es jetzt auch nicht tun.

Sie straffte die Schultern. Der nächste Beamte würde sie kennenlernen, entschied sie.

Zwei Männer traten um die Ecke. Der eine trug eine dunkle Navy-Uniform mit weißer Schirmmütze, der andere war in Zivil. Die Abzeichen auf den Ärmeln des Marinemannes sagten ihr nichts, doch sie schätzte allein durch die Anzahl der goldenen Streifen, dass der Mann ein höherer Offizier sein müsse. Der Mann neben ihm machte einen nicht weniger wichtigen Eindruck. Erst wollte Kate aufspringen, doch dann entschied sie, die Rückgabe ihres Ausweises lieber von jemand anderem zu fordern. Jemand, der nicht so wichtig aussah.

Als sie erneut allein auf dem Flur war, stand Kate auf. Sie würde schon jemanden finden, den sie anschreien konnte.

Ein weiterer Uniformierter kam um die Ecke. Seine Schirmmütze trug er im Arm, als er mit schnellen Schritten auf sie zukam. Kate meinte, einen oder zwei goldene Streifen weniger an seinem Arm entdecken zu können. Er lächelte. Zweifellos meinte sein Lächeln sie.

Kate Cole starrte den Offizier an, dessen Lächeln tatsächlich irgendwo zwischen George Clooney und Brad Pitt anzusiedeln war. Sein Haar war haselnussbraun und seine Augen umwerfend. Kate ließ sich zurück auf die Bank fallen, ohne den Blick von dem Mann wenden zu können. Irgendwie fühlte sich ihr Kopf plötzlich heiß an.

„Lass das!“, schrie eine Stimme in ihr.

Mit aller Gewalt riss sie den Blick von dem Offizier und starrte auf den Boden zu ihren Füßen. Sie war sicher, er amüsierte sich prächtig über sie. Dann war auch er hinter einer der Türen verschwunden. Vorsichtig blickte Kate wieder hoch.

Eine Beamtin ging breit grinsend an ihr vorbei. „Das passiert jeder von uns“, sagte sie. „Solange die Jungs Uniformen tragen, haben sie das gewisse Etwas.“ Sie öffnete eine der Türen. „Aber so ganz ohne sehen sie aus wie jeder andere Kerl auch.“ Die Tür schloss sich.

Mein Gott! Wie peinlich!, dachte Kate und vergaß ihren Hunger.

Kurz darauf rief man Kate Cole auf und bat sie herein.

Jetzt saß sie auf einem unbequemen Holzstuhl in einem spärlich eingerichteten Raum, der nicht einmal ein Fenster hatte und sie an ein Vernehmungszimmer aus dem Fernsehen erinnerte. Die Wände waren schmutzig weiß und an einigen Stellen blätterte die Farbe ab.

Die beiden Männer von vorhin blickten sie aufmerksam an. Der Mann in Zivil hatte sich als Chief Inspector Darnley vorgestellt. Der Mann in der schwarzen Uniform als Lieutenant Commander Sandler. Hinter ihr, an der Tür, stand der junge Offizier, und Kate glaubte, seinen Blick in ihrem Nacken spüren zu können.

„Nun, Miss Cole, dann erzählen Sie uns einmal Ihre Geschichte.“ Sandler lehnte sich zurück, verschränkte seine Arme vor der Brust und wartete. Vor ihm lag eine Akte. Kate konnte Phils Namen auf dem Deckel erkennen. Die Akte war dick. In welche Schwierigkeiten war er bloß geraten?

Sie räusperte sich. Wieder einmal fühlte es sich an, als habe sie an allem schuld.

„Warum interessiert sich die Marine für meinen Bruder?“, fragte Kate so ruhig es ging. Ihre Handflächen waren feucht und die Kehle trocken.

Sandler sah sie lange an, dann meinte er: „Philip Ashton dient seit zwei Jahren bei der Royal Navy in Devonport. Er wurde kürzlich befördert und erhielt den Rang des Petty Officer.“ Sandler blickte sie aufmerksam an. „Sie wussten nichts davon?“

Kate schüttelte den Kopf. Sie konnte sich ihren rebellischen Bruder weder in einer Uniform vorstellen noch Befehle kommentarlos hinnehmend. Früh aufstehen war ihm ein Graus, und wenn ihm etwas nicht passte, knallte er die Haustür zu und verschwand. So einfach hatte es sich der Phil gemacht, dem sie erfolglos versuchte hatte, die Mutter zu ersetzen.

„Wann haben Sie Ihren Bruder das letzte Mal gesehen?“

„Vor drei Jahren“, flüsterte Kate und versuchte zu verstehen, was sie eben gehört hatte. Die Männer schwiegen, gaben ihr Zeit.

Plötzlich hörte sie eine Stimme direkt hinter sich. Kate fuhr herum. „Ein Glas Wasser, Miss Cole?“ Lächelnd hielt der junge Offizier ihr einen Pappbecher hin. Sie hatte nicht gehört, dass er den Raum verlassen hatte. Kate nickte und nahm den Becher, als sie seine Grübchen bemerkte. Seine Haare waren ein wenig länger, als sie es von einem Marinemann erwartet hätte, aber es stand ihm ausnehmend gut.

„Danke“, murmelte sie und wandte sich wieder Sandler und Darnley zu. Dann atmete sie tief ein und erzählte ihre Geschichte. „Nach dem Krebstod unserer Mutter kam Phil ins Heim. Ich selbst war zu jung, um ihn bei mir aufzunehmen. Damals hatte ich gerade mit meiner Ausbildung zur Krankenschwester begonnen und lebte im Studentenwohnheim.“ Kurz stockte sie, als ihr Blick auf Philips Akte fiel. „Er hat es mir nie verziehen, dass ich ihn nicht zu mir genommen habe.“ Sie sah Darnley an. „Er wollte so sehr eine richtige Familie haben.“

„Und der Vater?“

„Mein Vater starb früh. Und Phils Vater vergaß, meiner Mutter rechtzeitig zu sagen, dass er bereits verheiratet war und zwei Kinder in Northumberland hatte. Phil hat ihn nie kennengelernt.“ Bilder schossen durch ihren Kopf, wo ein kleiner Junge seine Mutter anschrie, sie solle ihm endlich sagen, wer sein Vater sei. Doch die tat es nicht, weinte still vor sich hin und schwieg. „Unsere Mutter heiratete später einen Mann namens Ashton. Der Mann war Trinker und verließ uns ziemlich bald.“ Kate suchte nach Worten. „Als ich dann später, nach meiner Ausbildung, eine Wohnung hatte und einen festen Job, war Philip siebzehn und zog zu mir.“

Kate hörte sich reden und fragte sich, ob es wirklich ihr Leben und das ihres kleinen Bruders war, das sie hier vortrug. Und was ging diese Fremden das Leid zweier Kinder an, die sie nicht interessierten?

Lieutenant Commander Sandler klappte die Akte auf und schaute kurz hinein. „Dann begann er eine Ausbildung als Automechaniker, wie ich sehe.“

„Ja“, nahm Kate den Faden wieder auf. „Er schaffte die Prüfung nur knapp. Dabei ist er wirklich intelligent. Als kleiner Junge hatte er sich für so viele Dinge interessiert. Aber unser neuer Vater ...“ Kate stockte. „Entschuldigung.“ Sie räusperte sich. „Nach der Ausbildung war Phil arbeitslos und hing bei mir zu Hause rum. Eines Abends kam es zu einem schlimmen Streit und er verschwand. Das war vor drei Jahren.“

„Haben Sie nicht versucht, Ihren Bruder zu finden?“, wollte Chief Inspector Darnley wissen.

Kate wurde ärgerlich. „Natürlich habe ich das versucht! Leider wollte die Polizei mir nicht helfen. Nächtelang bin ich durch die Straßen von London gelaufen und habe ihn gesucht.“ Sie sah Sandler an. „Wo ist mein Bruder?“

Die Männer wechselten einen Blick.

„Das wüssten wir auch gerne, Miss Cole“, sagte Sandler. „Vor sechs Wochen erschien ihr Bruder nicht mehr zum Dienst. Seither ist sein Aufenthaltsort unbekannt.“

Chief Inspector Darnley mischte sich ein. „Hatten Sie zwischenzeitlich Kontakt zu ihm?“

Kate schüttelte den Kopf.

Darnley lehnte sich ein wenig zu ihr über den Tisch. „Und woher wissen Sie, dass Mr Ashton in Cornwall ist oder war?“, fragte er fast flüsternd.

Sie sah in die blassen Augen des Mannes, bemerkte die schweren Lider darüber und graue Tränensäcke darunter. Sein Atem roch nach Zigaretten. Kate lehnte sich zurück.

„Letzte Nacht rief mich jemand an. Anonym. Es war eine Frau. Sie sagte, ich solle nach Cawsand kommen. Phil sei in Schwierigkeiten.“ Sie blickte die Männer scharf an. „Ist er in Schwierigkeiten?“

Der Offizier holte tief Luft. „Nun, wir machen uns Sorgen. Genau wie Sie, Miss Cole“, sagte Sandler.

„Was hat er getan?“

Jetzt sprach Darnley: „Miss Cole, waren Sie in den letzten Monaten in den Niederlanden oder in der Ukraine?“

Verständnislos sah sie den Polizisten an. „Was soll ich denn dort? Ich hatte seit Jahren keinen Urlaub. Das können Sie nachprüfen.“ Sie verschränkte ihre Arme.

Der Chief Inspector griff in die Innentasche seines Jacketts und holte ein Foto hervor. „Sie kennen diesen Mann?“ Er legte es vor ihr auf den Tisch. Ein kantiges Gesicht, kurze Haare, unrasiert, eng beieinander liegende Augen, ein wütender Blick.

Kate schüttelte den Kopf.

Darnley zeigte ihr zwei weitere Fotos. Das eine zeigte einen nett aussehenden Mann, der sie an ihren Bankberater in Highgate erinnerte und eine Brille trug. Der Dritte hätte ein Mathematikprofessor an einer Universität sein können, vielleicht auch ein Unternehmer.

„Nein. Wer sind die Männer?“

„Drogenhändler.“

Kate riss die Augen auf. „Philip hat niemals etwas mit Drogen zu tun gehabt. Er raucht ja nicht einmal!“ Das war auch so ziemlich das einzig Gute, das sie an ihrem Bruder finden konnte, nachdem sie damals bemerkt hatte, dass auf ihrem Konto zweitausend Pfund fehlten. Phil hatte zugegeben, ihre PIN ausspioniert und sich bedient zu haben. Das war der Auslöser für den Streit vor drei Jahren gewesen. Er war vielleicht ein Dieb, aber Drogen? „Niemals!“

„Nun, die Fakten sprechen gegen Ihren Bruder, Miss Cole. Nach seinem plötzlichen Verschwinden fanden wir Drogen in seinem Spind“, klärte Sandler sie auf.

Kate schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht.“

„Harte Drogen, Miss Cole. Hauptsächlich waren es Kokain und Heroin“, sagte Chief Inspector Darnley. „Die Analyse ergab, dass das Heroin aus der Ukraine stammt und wahrscheinlich zu einer Lieferung gehört, die über die Niederlande ins Land kam. Ein paar verbotene Pillen für Partys waren auch dabei: Spice, Vanilla Sky und Lava Red. Schon von denen gehört?“

Kate konnte nichts sagen. Fassungslos starrte sie den Mann an.

„Warum hatte Ihr Bruder Sie in seiner Bewerbung für die Navy nicht erwähnt, Miss Cole?“, wollte Sandler wissen. „Sie sind doch seine Schwester?“

„Halbschwester“, korrigierte Kate den Uniformierten. „Ich nehme an, aus dem gleichen Grund, warum er mich seit drei Jahren nicht angerufen hat.“

„Wo ist Ihr Bruder jetzt?“

Kate setzte sich auf. „Hören Sie nicht zu, wenn ich etwas sage? Ich sagte, dass ich es nicht weiß!“, fauchte sie den Mann an. Sie schob den Stuhl zurück und erhob sich. „Ich bin hierher gekommen, weil ich hoffte, Sie könnten mir bei der Suche nach meinem Bruder helfen. Doch wie ich sehe, ist dem nicht so.“ Sie streckte Darnley die Hand entgegen. „Meinen Ausweis, bitte.“

Überrascht blickten die Männer sie an.

„Wie lange werden Sie in Cawsand bleiben, Miss Cole?“, fragte Darnley, während er ihr langsam den Ausweis reichte, den er aus Phils Akte zog.

„So lange, bis ich Ihren Job gemacht habe, meine Herren“, sagte sie und steckte den Ausweis in ihre Jackentasche. Sie drehte sich um und schob den überraschten Offizier, der noch immer an der Tür stand, zur Seite. Dann verließ sie grußlos den Raum. Hinter sich hörte sie den Chief Inspector noch rufen, sie solle sich für weitere Befragungen zur Verfügung halten.

Kate stapfte den Gang entlang, vorbei an der Holzbank, auf der sie stundenlang gewartet hatte. Sie eilte in den Fahrstuhl, dessen Türen sich gerade hinter ihr schließen wollten, als sie zwei Hände sah, die die Türen wieder aufdrückten.

Der junge Offizier trat zu ihr in den Aufzug. „Miss Cole, lassen Sie die Finger davon.“ Er war fast einen Kopf größer als Kate, und seine Stimme klang wie Samt.

Doch Kate war noch immer wütend und machte keinen Hehl daraus. „Phil ist kein Drogenhändler. Dumm, vielleicht, ja, manchmal, aber nicht kriminell.“ Sie drückte auf den Knopf mit der Null.

„Die Zeit verändert Menschen. Drei Jahre sind lang.“

Sie wusste, dass er recht hatte, dennoch wollte oder konnte sie nicht einen Inch nachgeben. „Jeder andere, aber nicht Phil. Unsere Mutter würde sich im Grab umdrehen! Niemals!“

Der Fahrstuhl stoppte und die Türen öffneten sich zum Empfangsbereich des Polizeipräsidiums. Kate wollte hinaustreten, da hielt der Offizier sie am Arm fest. Sie bekam eine Gänsehaut.

„Bitte, Miss Cole. Es ist zu gefährlich. Legen Sie sich nicht mit diesen Leuten an.“ Sie wusste, er meinte die Männer von den Fotos. „Fahren Sie nach Hause. Philip wird sich bei Ihnen melden. Irgendwann. Bestimmt.“

Blau, seine Augen waren meerblau. Sie riss ihren Blick los und schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe ihn damals im Stich gelassen. Ich darf es nicht schon wieder tun.“ Sie stockte. „Sie kennen meinen Bruder?“

Der Offizier antwortete nicht. Er drehte sich um und trat zurück in den Fahrstuhl. Als sich die Türen schlossen, blickte er sie schweigend an.

Kapitel 04

Als Kate endlich zurück nach Cawsand kam, machte sich Mrs Whidby gleich daran, ihr ein Abendessen aufzutischen. Jetzt saß Kate über ihren Teller gebeugt und stocherte zwischen Chips und paniertem Fisch herum. Die Wärme des Feuers im Kamin hinter ihr streichelte über ihren Rücken. Sie bemerkte es kaum.

„Es ist der Regen“, sagte plötzlich jemand.

Erschrocken blickte Kate auf. Vor ihr stand eine junge Frau, um deren schlanke Taille eine weinrote Schürze mit der Aufschrift „The King’s Men“ gebunden war. Ihre struwweligen roten Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab und sahen aus, als wollten sie von ihrem Kopf flüchten. Ein überdimensionaler Ring hing an ihrem linken Ohr. Er hätte als Papageienschaukel dienen können. Um den Hals trug sie etwas, das aussah wie ein Hundehalsband. Als sie Kate anlächelte, blitzte zwischen ihren Vorderzähnen ein Piercing auf.

„Es könnte aber auch ein Mann sein“, überlegte die Frau und stellte sich vor. „Luna.“ Dann setzte sie sich ungefragt zu Kate an den Tisch.

Sofort hörte Kate die Stimme von Mrs Whidby: „Ruby! Tisch vier. Die Gläser.“

Luna rollte mit den Augen und erklärte, die Whidbys weigerten sich, sie bei ihrem Künstlernamen zu nennen. „Luna, das klingt doch nach was, oder?“ Sie stand auf, um breit lächelnd zum Tresen hinüberzuschlendern.

Kate sah, wie Luna langsam ihre Schürze abnahm und auf die Theke warf. „Ich mach dann jetzt mal Pause. Zehn Minuten. Steht so im Vertrag.“

Grinsend kam sie zu Kate zurück, während Mrs Whidby verärgert die Schürze zusammenfaltete. Offenbar kannte sie dieses Auftreten ihrer Angestellten schon. Verwirrt blickte Kate Luna an, die zum zweiten Mal an ihrem Tisch Platz nahm.

„Die beiden sind total nett, aber irgendwie trottelig. Findest du nicht auch?“

Luna hatte wasserblaue Augen mit einem dunklen Rand um die Iris. Ihr Blick hatte etwas Neugieriges. Kate war froh, nicht mehr allein am Tisch sitzen zu müssen. Sie fühlte sich dann immer unbehaglich.

„Wo waren wir stehen geblieben?“, überlegte Luna. „Ach ja, bei dem Mann. Es ist doch ein Mann, oder? Oder eher eine Frau?“

Kate konnte ihr nicht ganz folgen, also fragte sie ihrerseits: „Kennst du Philip Ashton? Ich suche ihn.“ War Luna die anonyme Anruferin? Nein, die Stimme der An­­­rufe­rin war leiser, zögerlicher, irgendwie weiblicher gewesen. Lunas Stimme klang rau wie die einer heiseren Säng­­­erin.

Luna nickte. „Phil kam öfter her.“

Kate horchte auf. „Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?“, fragte sie und fand, sie klang wie diese austauschbaren Serienermittler im Fernsehen.

„Am 24. Februar um 18:12 Uhr.“

Kate runzelte die Stirn. „Willst du mich veralbern?“

Luna grinste. „Nee, er kam rein, als Madron ein Tor schoss.“

„Wer um alles in der Welt ist Madron?“, wollte Kate wissen.

„Der schlechteste Fußballverein Englands. Sie kommen aus Cornwall. Dreißig Spiele ohne ein Tor. 277 Gegentore. Das ist absoluter Rekord!“

„Du findest es gut, dass sie verlieren?“, fragte Kate ungläubig.

Luna nickte und nahm einen Schluck aus Kates Wasserglas. „Es sind die Verlierer, die die Welt voranbringen, nicht die Gewinner. Wer gewinnt, wird eitel, nachlässig und überheblich. Verlierer geben sich Mühe, versuchen es besser zu machen und denken in anderen Kategorien. Sie haben einen weiteren Horizont als die Gewinner.“ Sie lehnte sich zurück und legte die Hände hinter den Kopf. „Am schlimmsten sind solche Typen, denen alles von Geburt an in den Schoß fällt. Die sind noch mieser als die Gewinner. Sie sind Loser und trotzdem gewinnen sie. Ist doch irre, oder?“

Irritiert sah Kate in Lunas Augen und bemerkte, wie das Blau langsam ins Grün zu wechseln schien.

„An dem Abend hat Madron sein erstes Tor geschossen. Mann, haben die sich gefreut! Mr Whidby hatte den Lokalsender eingeschaltet. Die Leute waren ganz aus dem Häuschen. Super Stimmung. Na ja, und da kam Phil rein. 18:12 Uhr.“

Plötzlich stand Mr Whidby an Kates Tisch. Er war fast zwei Meter groß und trug einen beeindruckenden Bauch vor sich her. Der Wirt blickte wütend auf seine Angestellte herunter. „Ruby Dench, dein Platz ist hinter dem Tresen. Jetzt!“

Kate hatte nicht gesehen, dass er den Mund bewegt hatte, aber sie war sich sicher, die Worte gehört zu haben. Whidby mahlte mit seinem Unterkiefer und Kate glaubte, ein Knirschen zu hören.

Lachend stand Luna auf. „Die Pausen in dieser Welt werden auch immer kürzer“, sagte sie und schlenderte zu ihrer Arbeit zurück.

„Entschuldigen Sie, Miss Cole“, meinte der Wirt unbeholfen, wobei sein linkes Auge zu zucken begann. „Ruby ist manchmal etwas ...“, er suchte ein Wort, „... anders. Aber die Leute lieben sie. Was soll ich da tun.“ Resigniert zuckte er mit den Schultern. Er wirkte wie jemand, der schon viele Kämpfe mit Luna ausgetragen und niemals gewonnen hatte.

„Ist schon gut, Mr Whidby. Sie hat gemerkt, dass ich etwas Gesellschaft brauchen konnte.“

Whidby lächelte dankbar. „Möchten Sie einen Drink aufs Haus?“

Kate nickte und reichte dem Wirt ihr leeres Glas. „Darf ich mich an den Tresen setzen. Hier am Kamin ist es recht warm.“

Das war nicht der Grund, warum Kate den Platz wechseln wollte. Sie musste mehr über Phil erfahren. Ihr Bruder schien in diesem Pub bekannt zu sein. Allein, nur an ihrem Tisch sitzend, würde sie nichts erfahren.

„Warum kommt Phil hierher?“, fragte Kate wenig später Mrs Whidby, die wieder einmal Gläser polierte.

„Nun ja, ‚The King’s Men‘ ist der einzige Pub weit und breit.“

„Das stimmt, aber andererseits ist der Pub fast eine Autostunde von der Marinebasis entfernt.“

Mrs Whidby drehte Kate den Rücken zu und stellte die sauberen Gläser ins Regal. Unterdessen kam ihr Mann herein, wobei er schnaufend ein Fass Bier vor sich herrollte. Dankbar, um eine Antwort herumgekommen zu sein, machte Mrs Whidby ihm den Weg frei. Eilig verschwand sie in der Küche, während ihr Mann das Fass unter dem Tresen anschloss. Kurz darauf kam er hoch, der Kopf gerötet.

„Wir sind der einzige Pub zwischen Plymouth und Land’s End, der sein Bier noch aus echten Holzfässern ausschenkt“, sagte er stolz.

Luna, die gerade die Bestellung einiger neuer Gäste aufgenommen hatte, drängelte sich hinter dem engen Tresen an ihm vorbei und griff nach zwei Martinigläsern. „Vorher aber füllt er das Bier aus den Metallfässern der Brauerei im Keller in ein Holzfass um. Keine Ahnung, ob das erlaubt ist.“ Sie grinste und griff zum Shaker. „Aber die Leute lieben es.“

„Halt den Mund, Ruby, sonst fliegst du raus!“, schnaufte Whidby.

„Glaube ich nicht“, trällerte Luna und ging zu den Gästen zurück.

„Mr Whidby, kennen Sie meinen Bruder?“, fragte Kate.

Whidby brummte. „Er hat eine Zeit lang in unserer Gegend gewohnt. Dann ist er zur Marinebasis in Devonport gegangen. Dort hat er auch gewohnt. In seiner freien Zeit kam er her.“ Mr Whidby nahm ein Glas und füllte den ersten Bierschaum aus dem neuen Fass ein. Dann goss er den weißen Schaum in den Ausguss und füllte das Glas erneut, bis das goldbraune Bier sich absetzte. Er nahm einen großzügigen Schluck. Dann stellte er zufrieden das Glas ab, nickte und stützte sich auf den Tresen. Er ließ seinen Blick durch den Pub wandern. Kate schien er vergessen zu haben.

„Wo ist er, Mr Whidby?“

Der Wirt räusperte sich. „Wissen Sie, Miss Cole. Das hier ist eine schöne Gegend. Und die Leute sind nett. Wir wollen keinen Ärger. Schon gar nicht mit der Polizei.“

Jetzt verstand Kate. „Dieser Chief Inspector Darnley war also hier? Sie wissen das mit den Drogen in seinem Schrank, stimmt’s?“ Sie musste die Dinge wissen, die in Phils Akte standen. Vielleicht würde das helfen. „Was haben Sie ihm gesagt?“

Mr Whidby holte ein neues Glas, füllte es mit frischem Bier und stellte es vor sie hin. „Ich habe ihm gesagt, was ich Ihnen sage: Der Junge war am Anfang etwas wild, aber das hat sich gegeben. Raue Schale, weicher Kern, würde ich sagen. Ich war ja früher auch nicht anders. Er hat mit der Marine und mit dem Lord versucht, seinen Weg zu machen. Das ist nicht leicht, wenn man so ganz ohne Familie aufgewachsen ist.“ Kate wollte protestieren. „Aber es sah alles wirklich gut für Phil aus. Er wurde sogar zum Petty Officer befördert. Dabei haben die Jungs in Devonport es ihm bestimmt nicht leicht gemacht.“

Jetzt erst fiel Kate auf, was Mr Whidby zuvor gesagt hatte. „Der Lord?“, hakte sie nach. „Welcher Lord?“

Whidbys Gesicht hellte sich auf. „Lord Croyden natürlich. Er ist der Earl of Tremore und Herr von Tanston Hall. Den Croydens gehören riesige Ländereien in der Gegend, und das schon seit über vierhundert Jahren, als Elisabeth I. noch regierte. Tanston Hall ist ihr Familienbesitz.“ Mit der linken Hand wies der Wirt irgendwo in die Dunkelheit Cornwalls hinaus. „Ein wirklicher Lord, der Mann. Hat mit seinem Erbe gleich noch einen Sitz im Oberhaus dazubekommen.“ Bedächtig nickte er. „Der junge William Croyden kam damals aus Neuseeland zurück, um das Erbe seines Vaters anzutreten. Er hätte es nicht gemusst, aber er tat es, obwohl es sicherlich auch eine Bürde war. Heute ist William Croyden der elfte Earl und ein Geschenk Gottes für unsere Gegend.“

Jetzt kam Mrs Whidby hinzu und beugte sich über die Theke zu Kate hinüber. „Dabei kannte William seinen adeligen Vater nicht einmal. Lady Croyden, also die Mutter von unserem jetzigen Lord, lief mit dem Baby damals einfach weg“, flüsterte sie.

Ihr Mann rollte mit den Augen. „Hör auf. Das interessiert doch niemanden.“

Mrs Whidby aber fuhr fort. „Der alte Lord lebte danach ganz allein auf Tanston Hall. Er hoffte wohl immer, seine Frau würde irgendwann mit dem Jungen zurückkommen. Tat sie aber nicht. William blieb bei ihr in Neuseeland.“

Whidby warf seiner Frau einen wütenden Blick zu.

„Die Ärmste starb bei einem Autounfall, kurz nachdem Williams Vater auf Tanston Hall gestorben war. Ist das nicht tragisch für den Jungen? Beide Eltern in nur wenigen Wochen zu verlieren.“ Traurig schüttelte sie den Kopf.

„Weibergeschwätz“, brummte Whidby, woraufhin sich seine Frau beleidigt in die Küche zurückzog.

„Der junge William Croyden war einer von uns“, fuhr der Wirt fort. „Das haben wir damals sofort gemerkt, als er zurück nach Hause kam. Selbst wenn er seine Kindheit nicht in England verbracht hat, ist er doch einer von uns. Neuseeland gehört doch auch zum Commonwealth, oder?“ Er nickte sich selbst zu und eine energische Falte entstand zwischen seinen Augen. „Dieser Mann lebt seinen Stand, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ein Earl hat sich um seine Leute und sein Land zu kümmern. Lord Croyden holt Touristen in die Gegend, er streitet mit diesen nutzlosen Politikern und regiert sogar in London im Oberhaus mit, aber das sagte ich ja schon.“ Mr Whidby wischte mit einem Lappen die Theke ab. „Und er vergisst uns nicht! Ohne ihn gäbe es keine neue Buslinie nach Plymouth. Ohne ihn hätten wir kein alljährliches Schmugglerfest. Letztes Jahr hatten wir fast zehntausend Besucher. Alles nur, weil der Mann sich Gedanken macht. Jawohl!“