Hotel Vier Jahreszeiten – Der Glanz des neuen Morgens - Anja Marschall - E-Book

Hotel Vier Jahreszeiten – Der Glanz des neuen Morgens E-Book

Anja Marschall

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Beschreibung

Eine verbotene Liebesgeschichte zu Zeiten des Krieges Hamburg, 1932: Luise hat sich im renommierten »Hotel Vier Jahreszeiten« von der Wäscherin zur stellvertretenden Hausdame hochgearbeitet. Tatkräftig unterstützt sie Hoteldirektor Fritz Haerlin, den die Machthaber zu schwerwiegenden Entscheidungen zwingen. Als alle männlichen Angestellten einberufen werden, hält sie das Hotel am Laufen und scheut kein Risiko, um sich für die jüdischen Angestellten einzusetzen. Doch als sie nach Kriegsende ihr Herz an einen Engländer verliert, steht Luise vor einer schweren Entscheidung … Der zweite Teil der packenden Saga um das legendäre Grandhotel an der Alster

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Nadine Buranaseda

Covergestaltung: Hotel Vier Jahreszeiten – Der Glanz des neuen Morgens

Covermotiv: Hotel Vier Jahreszeiten – Der Glanz des neuen Morgens

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Ein persönliches Wort

Prolog

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Fakten & Fiktion

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Ein persönliches Wort

Die Geschichte um das Grandhotel an der Alster geht weiter. Für die Waise Luise wurde ein Traum wahr. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie schon im berühmten Hamburger Hotel Vier Jahreszeiten und ist Teil der Familie.

Die Fremdenzimmer und Suiten am Neuen Jungfernstieg sind in diesen Tagen stets ausgebucht, und Luise erweist sich als große Hilfe für den Patron und seinen Sohn Fritz, der bald die Leitung des Hauses übernehmen wird. Doch die Schatten einer dunklen Zeit sind am Horizont längst zu erkennen. Die neuen Herrscher versprechen eine glorreiche Zukunft. Das hat seinen Preis, auch für die Menschen im Vier Jahreszeiten.

Ich habe mir in diesem Buch die Freiheit genommen, die Chronologie jener Tage ein wenig zu straffen. Dabei war es hier und da nötig, die realen geschichtlichen Abläufe eine Koalition mit der Fiktion eingehen zu lassen. Auch im zweiten Band treten historische Persönlichkeiten auf, von denen Sie am Ende des Buchs mehr erfahren können.

Bevor ich Ihnen nun viele schöne Stunden mit Luise und dem Hotel Vier Jahreszeiten wünsche, möchte ich an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich all jenen danken, ohne die dieser Roman niemals erschienen wäre. Dazu gehören unter anderem Rudolf Nährig, langjähriger Oberkellner im Hotel, und Gert Prantner, der ehemalige Geschäftsführer, sowie Ingo Peters und seinem grandiosen Team vom Hotel. Alle standen für meine vielen Recherchefragen unendlich geduldig zur Verfügung und bewahrten mich vor so manchen Fettnäpfen.

Zwei Personen, denen ich ebenfalls danken möchte, sind meine unvergleichliche Agentin Anna Mechler von der Agentur Lesen & Hören, sowie meinem Mann Jürgen. Eure Nachsicht mit mir ist legendär! Danke dafür.

Und nun wünsche ich Ihnen viele unterhaltsame Stunden mit Luise und dem Hotel Vier Jahreszeiten.

Ihre Anja Marschall

Prolog

Hamburg, 1919. Er sagte Nein! Nur dieses eine Wort. Hatte er denn nicht begriffen, dass Graf von Ehrenberg sie gegen ihren Willen mitnehmen wollte? Ein fremder Mann, der behauptete, ihr Vater zu sein.

»Warum hilfst du mir nicht, Hans?«

Er stammelte, sie müsse ihn verstehen. Er sei doch gerade erst aus dem Krieg zurückgekommen, habe kein Geld, ja, nicht einmal eine eigene Unterkunft. Wie solle er eine Familie ernähren? Es wäre ein Fehler, die Dinge zu überstürzen.

»Sei vernünftig, Luise.«

Sie spürte den Riss, der plötzlich durch ihre Freundschaft lief. Knackend bahnte er sich einen Weg durch die Vertrautheit, von der sie geglaubt hatte, sie würde ewig halten.

»Verzeih«, murmelte sie und wankte zurück ins Hotel, aus dem sie kurz zuvor mit wehenden Haaren geflüchtet war.

Die Scham drückte sie zu Boden. Sie hätte nicht fragen dürfen. Ein Mädchen musste warten, bis man es um seine Hand bat. Nicht andersherum. Beschämt schlich Luise zum Direktionszimmer, um sich beim Patron für ihr unbeherrschtes Benehmen und die Flucht zu entschuldigen. Sie war kein Gossenkind mehr.

Kraftlos klopfte sie an die Tür. Zu ihrer Überraschung öffnete statt Friedrich Haerlin sein Sohn Fritz.

»Tritt ein.«

Mit gesenktem Kopf blieb sie vor dem Schreibtisch des Hotelbesitzers stehen, der sie streng ansah, während sich Fritz an die Wand lehnte.

»Du hast den Grafen erzürnt, Kind«, begann der Patron ohne Umschweife.

Sie heftete den Blick auf ihre glänzenden Schuhe. »Es tut mir sehr leid, wirklich.«

»Er reist morgen ab.« Der Vorwurf hing zwischen ihnen wie Spinnweben. »Allein.«

Hatte sie richtig gehört?

Sichtlich verärgert erhob sich der Hausherr von seinem Stuhl. Fritz eilte herbei, um dem Vater in den Mantel zu helfen.

Der Patron war trotz seines hohen Alters eine beeindruckende Erscheinung. Groß und schlank, mit einem weißen Bart und vollem Haar gesegnet, war er stets perfekt gekleidet, sein Auftreten ohne Makel. Nach all den Jahren in der Stadt galt er als geachteter Mann, dem die hanseatischen Tugenden offenbar mit in die schwäbische Wiege gelegt worden waren.

»Du hast dieses Haus in eine unangenehme Situation gebracht.« Er setzte seinen Hut auf. »Immerhin ist es ein großzügiges Angebot deines Vaters, dir eine standesmäßige Erziehung zu bieten. Diese Möglichkeit eröffnet sich für ein Mädchen in deiner Situation nicht jeden Tag.«

Luise wünschte sich weit fort. Niemand hatte wissen sollen, dass sie nichts weiter als ein uneheliches Balg war.

Hinter ihr räusperte sich Fritz. Er war etwa in Luises Alter und würde eines Tages das Hotel übernehmen. Hier und heute schien ihm ein guter Tag zu sein, dem Senior ein wenig zu widersprechen.

»Man sollte allerdings in Betracht ziehen, Vater, dass der Herr Graf recht unerwartet in Luises Leben getreten ist. Vielleicht wäre eine gewisse Bedenkzeit …«

Sie fuhr herum.

»Das Allerletzte, was ich will, ist als Schoßhündchen für die Gattin meines Erzeugers zu arbeiten.« Sie schluckte. »Entschuldigung, das hätte ich nicht … ich bitte um Verzeihung.« Ihr Herz schlug bis zum Hals. »Patron! Sie und Ihre Frau gaben mir ein Zuhause, als es schlecht um mich stand. Dafür bin ich Ihnen auf ewig dankbar. Sie konnten sich in all der Zeit stets auf mich verlassen. Bitte, schicken Sie mich nicht fort!«

Sie hatte ihn enttäuscht. Das würde sie sich niemals verzeihen. Trotzdem würde sie um die bescheidene Kammer unterm Dach kämpfen, in der sie seit fünf Jahren lebte.

Den Tränen nahe schaute sie Friedrich Haerlin nach, der ohne ein weiteres Wort den Raum verließ.

»Wo soll ich denn hingehen?«, jammerte sie.

Kopfschüttelnd, als wäre er ein Lehrer, dessen Schülerin weit hinter seinen Erwartungen zurückgeblieben war, trat Fritz zum Schreibtisch und schob ihr einen Umschlag zu. »Hier.«

Mit tauben Fingern nahm sie das Kuvert und knickste, um zu gehen.

»Möchtest du nicht gucken, was darin ist?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich denke, Luise, du schätzt uns falsch ein. Lies.«

Während stille Tränen über ihr Gesicht liefen, faltete sie das Papier auf. Die verschwommenen Buchstaben bildeten für einen Moment Worte, bevor sie sich wieder auflösten. Sie blinzelte, las ein weiteres Mal und verstand.

Grinsend ließ sich Fritz auf den Stuhl seines Vaters fallen.

»Wir empfahlen dem Grafen, dich vorzeitig für mündig erklären zu lassen. Laut Paragraf 3 des Bürgerlichen Gesetzbuchs wäre das möglich. Dazu hätte man nur beim zuständigen Amtsgericht einen Antrag stellen müssen.« Fritz lachte. »Leider wollte dein Vater nichts davon wissen, meinte, Gerichte seien ein unpassender Ort für einen ehrbaren Mann seiner Stellung.« Er griff nach dem schwarzen Füllfederhalter in der marmornen Schale und wog ihn in der Hand. Das Schreibgerät war ein Geschenk Prinz Heinrichs an den Patron zum zehnten Firmenjubiläum. »Ich glaube, er wollte keine Aufmerksamkeit auf damals lenken, auch wenn der Vorfall Ewigkeiten her ist.«

»Ich bin kein Vorfall«, unterbrach sie ihn heftig. Dass von Ehrenberg unerwartet in ihr Leben getrampelt war und alles zerstörte, war für sich genommen schon unverzeihlich. Dass Fritz ihr gerade jetzt unter die Nase reiben musste, dass sie unehelich war, machte sie wütend. Unehelich, was für ein entsetzliches Wort.

Sie betrachtete die beiden Unterschriften. Mit energischem Schwung stand dort der Name Friedrich Haerlin. Gleich daneben, verschnörkelt und mit Titeln sowie mehreren Vornamen versehen, jener ihres Vaters.

»Der Patron hatte den Grafen schnell davon überzeugen können, dass deine Ausbildung bei uns längst nicht beendet ist.«

Sie fuhr über die Zeilen. »Achtzig Mark?«

»Ja, das zahlt er bis zu deiner Volljährigkeit pro Monat an den Ausbildungsherrn. Also an uns.« Fritz beugte sich vor. »Luise, in diesem Haus hat bisher kein Mädchen eine Ausbildung erhalten. Du bist die Erste. Ich weiß nicht, wie mein Vater das bewerkstelligen will. Weder wirst du als Kellner oder als Empfangschef noch als Koch eingesetzt werden können. Und als Hausdame bedarf es keiner Lehrzeit. Das könnt ihr Frauen aus dem Effeff.«

Stirnrunzelnd sah sie auf. »Und was bin ich dann?«

Er zuckte mit den Schultern.

1

Flughafen Hamburg-Fuhlsbüttel, 1923. Endlich war Hans mit den letzten Picknickkörben angekommen. Energisch winkte Luise ihn herbei, damit er den Mercedes Knight nicht zu weit entfernt abstellte. Sie wollte die schweren Körbe nicht bis zu dem Platz schleppen müssen, wo sie und die Kellner zuvor alles für das Eintreffen von Franklin D. Osborne vorbereitet hatten.

Elegant rollte das schwarz-silberfarbene Automobil über die Wiese.

»Du bist spät!«, rief sie ihrem Verlobten zu und griff nach einem der Tragekörbe, die auf der Rückbank standen.

Wortlos stieg er aus und nahm die Kiste mit dem gekühlten Champagner vom Rücksitz. Hinter ihm holperte der Militärlaster zurück zum Holzgatter, das den Flugplatz von der Straße trennte. Dort würde der Fahrer warten, bis der Empfang für den Millionärssohn vorüber war. Danach würden sie alles zurück in den Neuen Jungfernstieg bringen. Es würde Tage dauern, bis die Teppiche, die jetzt auf dem nassen Gras lagen, wieder gereinigt und trocken waren. Zum Glück ist niemand auf den Gedanken verfallen, die Perserbrücken aus dem Magazin mitzunehmen, dachte Luise.

Ihr Blick wanderte zum schiefergrauen Himmel hinauf, wo man die DH-16 aus Bremen erwartete. Der Sprössling eines US-Stahlmagnaten verspätete sich. Seinetwegen hatten sich an diesem kalten Herbsttag Bürgermeister Diestel sowie Werftbesitzer Hermann Blohm und sein Sohn Rudolf hierher begeben. Man hoffte wohl auf gute Geschäfte mit den Amerikanern.

Stadt und Unternehmen benötigten unbedingt Kredite aus Übersee, da wegen des unseligen Versailler Vertrags die Wirtschaft im ganzen Land nicht recht in Gang kam. Die Hoffnung aller ruhte auf den Schultern eines jungen Mannes, den keiner kannte. Man gedachte, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Darum hatte Albert Ballin, der Chef der Hapag-Reederei, seinen Freund Friedrich Haerlin gebeten, sich um eine angemessene Begrüßung von Franklin D. Osborne zu kümmern, der anschließend im Vier Jahreszeiten residieren würde.

Dass man den Gast mit Champagner und Horsd’œuvre empfing, konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Flughafen selbst alles andere als imposant war. Er war kaum mehr als ein Acker. Wenigstens hatte man den Schutt der im letzten Jahr gesprengten Zeppelinhalle fortschaffen lassen. Auch sie war ein Opfer des Versailler Vertrags geworden. Leider hatte man jetzt nicht einmal mehr den Anblick des eindrucksvollen Baus zu bieten, der durch seine schiere Größe für kurze Zeit so manches Ah und Oh hervorgerufen hatte.

Ein Stück entfernt warteten Bürgermeister Diestel und Hermann Blohm mit auf den Rücken gelegten Händen und in den Nacken gelegten Köpfen ungeduldig auf den Gast.

Der Doppeldecker gehörte der KLM, einer neuen Fluggesellschaft aus den Niederlanden, die mit ihrem Europa-Nordwestflug die erste internationale Fluglinie auf dem Kontinent von Rotterdam über Bremen und Hamburg bis nach Kopenhagen betrieb. Luise hatte gehört, dass es sogar Flüge nach London gegeben haben sollte. Sie konnte nicht verstehen, warum sich jemand ein solches Abenteuer in den Lüften antat. Sie blieb lieber mit beiden Füßen auf dem Boden.

Die Silberplatten mit den Amuse-Bouche, bestehend aus Wachteleiern mit Sardellenröllchen, Aalhäppchen und Rotweinbirne auf Roquefort sowie Champagnergelee mit frischen Waldbeeren, stellte sie neben das üppige Blumenbouquet aus Lilien. Als Nächstes mahnte sie einen der Kellner, die Kelche zu füllen, sobald die Maschine gelandet war. Sie prüfte, ob ausreichend Servietten vorrätig waren und auf jedem Stuhl ein Kissen lag. Inniglich hoffte sie, der Pilot möge geistesgegenwärtig genug sein, die Flugmaschine nah an dem Ort zum Halten zu bringen, wo sie und die anderen alles vorbereitet hatten. Der kalte Wind zerrte an den Tischtüchern. Immer wieder schubste er die Kissen zu Boden.

In der Nähe der Herren Blohm und Diestel lungerte ein Reporter der Hamburger Nachrichten herum. Um seinen Hals hing eine Kamera. Eben hatte er versucht, Luise zu bezirzen, damit sie ihm verriet, in welcher Suite des Vier Jahreszeiten der amerikanische Gast absteigen würde. Mit einem freundlichen Lächeln hatte sie ihn abgewimmelt. Nun trieb er sich in Hörweite bei den Herren herum, die von Minute zu Minute ungeduldiger wurden, während sich über ihnen die grauen Wolken in trotziger Einigkeit gen Westen schoben.

Luise fröstelte, obwohl sie einen Mantel trug. Sie würde ihn zur Ankunft des Gastes ablegen müssen, um ihn in ihrem dunkelblauen Kleid mit dem gestickten 4J-Emblem zu begrüßen. Sie hatte den Patron davon überzeugen können, dass die weiblichen Angestellten ebenfalls die Ehre haben sollten, das Wappen zu tragen, sofern sie Kontakt zu den Gästen hatten. Dieses Privileg hatte die Direktion bisher ausschließlich dem männlichen Personal gegönnt.

Hans polierte mit einem Lappen in der Hand den Mercedes Knight, was der Wagen nach seiner Fahrt über die feuchtnasse Wiese auch nötig hatte. Luise ging zu ihm. Gerade beugte er sich zum Kühler hinunter, dessen Luftschlitze er akribisch putzte.

»Verzeih, falls ich eben zu grob war, Hans.«

»Du hattest recht, ich war spät dran. Glaube mir, es war nicht meine Schuld. In der Küche gab es ein Malheur.« Er schaute nicht auf. »Sie mussten die Körbe ein weiteres Mal packen.«

Luise begutachtete das Automobil. »Es ist hübsch.«

Er lugte zu ihr hoch. »Hübsch?«

»Ähm, ja.« Kraftfahrzeuge mit vielen Pferdestärken waren seine Leidenschaft. Hatte sie etwas Falsches gesagt?

Offenbar, denn er seufzte schwer.

»Der Mercedes Knight mag nicht sonderlich schnell sein, aber sein neuer Verbrennungsmotor ist leise wie ein schnurrendes Kätzchen«, dozierte er.

Luise hob eine Braue. »Das muss eine ziemlich große Katze sein, von der du da sprichst.«

Er schnaufte. »Technisch betrachtet, ist der Wagen eine Neuheit, weil der Ladungswechsel durch einen Hülsenschieber veranlasst wird statt von Ventilen.«

»Ach.« Luise verstand kein Wort.

Er widmete sich erneut dem Chrom.

Sie war mit ihm verlobt, ohne wirklich verlobt zu sein. Entsprungen aus dem Moment des Abschieds, hatte sie ihm vor Jahren einen provisorischen Ring aufgedrängt, weil der Kaiser ihn in die Schützengräben hatte schicken wollen. Die Verlobung sollte ihm Hoffnung geben, dass das Leben größer war als ein Tod für das Vaterland. Sie waren Kinder gewesen, mehr nicht.

Als er vier Kriegsjahre später unversehrt zurückkehrte, waren sie sich fremd geworden. Und dieses Gefühl wollte auch nach drei Sommern Frieden nicht gehen. Sie fragte sich, ob es ihm ebenso ging.

Damals traute sie sich nicht, die Verbindung zu lösen. Schon gar nicht, nachdem Fritz und die anderen auf eine ordentliche Verlobung mit allem Drum und Dran bestanden hatten. Deshalb kam es ja auch zu diesem peinlichen Moment vor dem Hotel, als er Nein sagte. Er hatte ihren Heiratsantrag abgelehnt, obwohl sie seine Hilfe so dringend gebraucht hätte. Sie war über diesen Verrat zutiefst unglücklich und wollte ihm den Ring zurückgeben. Die Patronin hatte ihr eindringlich davon abgeraten. Hans sei möglicherweise ihre einzige Chance, irgendwann eine ehrbare Frau zu werden. Mit ihm könne sie die schmutzige Hülle, ein unehelicher Balg zu sein, ablegen.

»Der Wagen sieht aus wie neu«, lobte Luise, während Hans die Lampen aus Chrom polierte. »Treffen wir uns heute Abend?«

»Der Garagenmeister braucht mich für einen Ölwechsel am Bugatti von Generalkonsul Montgomery«, erwiderte er nur.

Mit einem Mal hörten sie ein dumpfes Knattern über ihren Köpfen. Erst leise, wurde es immer lauter und brachte die Luft zum Vibrieren. Ihre Augen suchten den Himmel ab. Da stieß ein Doppeldecker aus der Wolkendecke.

»Es geht los!«, rief sie den Kellnern zu, die sogleich ihre warmen Mäntel auszogen, die Hüte ablegten und alles unter dem Büfetttisch verstauten.

Luise spürte eine prickelnde Aufregung in den Adern. Sie war für den reibungslosen Ablauf des kleinen Empfangs verantwortlich. Fritz Haerlin zählte darauf, dass Franklin D. Osborne bester Stimmung im Hotel eintreffen würde.

Mit der Chauffeursmütze unter dem Arm reihte sich Hans in die Phalanx aus Kellnern ein. Sie stellte sich vor die Männer, um den Gast im Namen des Vier Jahreszeiten zu begrüßen.

»Wird schon gut gehen«, hörte sie Hans hinter sich raunen.

Holpernd kam die DH-16 zum Stehen, natürlich viel zu weit entfernt.

Der erste Fluggast, der ausstieg, war ein schlanker Mann um die dreißig, gekleidet in Knickerbocker aus Tweed, darunter karierte Strümpfe. Die Schiebermütze saß ein wenig schief auf seinem vollen Haar, was ihn wie einen Lausebengel wirken ließ. Er lachte, als er aus dem hochgeklappten Fensterausstieg auf den Flügel kletterte. Mit einem Sprung erreichte er den Hamburger Boden.

Zu Luises Erstaunen begleitete ihn eine bildschöne junge Frau. Auch sie trug Hosen! Galant half Franklin D. Osborne der Amazone aus dem Aeroplan.

Die herbeigeeilten Honoratioren der Stadt schüttelten dem Ankömmling die Hand, bevor er seinen Handschuh ausziehen konnte. Der Reporter bat die Anwesenden um Aufstellung vor dem Flugzeug, was Hermann Blohm mit einem mürrischen Nicken quittierte. Kurz darauf begab man sich auf den Weg zu Luises improvisiertem Empfang.

Sogar aus der Nähe betrachtet, war Franklin D. Osborne äußerst attraktiv. Aus seinen Gesten sprach eine gewisse weltgewandte Leichtigkeit.

»Good afternoon, Mr Osborne. Did you have a pleasant journey?«, begrüßte Luise ihn.

»Enchanté, my dear.« Er strahlte sie an, nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf.

Erschrocken hielt Luise die Luft an, während Osborne sie unter seinen seidigen Wimpern, die jede Frau hätten neidisch werden lassen, anlächelte. Zu lange.

Sprachlos knickste sie, was sie nicht mehr getan hatte, seit sie Herrn Kretschmer, dem Geschäftsführer für Festivitäten und Einkauf, unterstellt war.

»How sweet she is!« Osbornes Begleitung kicherte und nahm eines der gefüllten Champagnergläser, die der Kellner den Gästen reichte. Sie stürzte den Inhalt herunter, als handelte es sich um Wasser.

Luise fragte sich, wer diese Schönheit sein mochte, die kaum älter war als sie selbst. Niemand hatte sie vorgestellt.

Da verkündete Werftbesitzer Blohm, man habe viel zu tun, und das tue man besser im Warmen. Niemand bediente sich an den Häppchen oder am Champagner, außer der jungen Dame, die sich schnell ein zweites Glas gönnte.

Man begab sich zu den Wagen. Der Amerikaner hielt an Hans’ Seite auf den Knight zu, ohne auf die Herren zu warten.

»Sehr amerikanisch, sich so ausgiebig mit einem Chauffeur zu unterhalten«, grummelte der Werftbesitzer, woraufhin Diestel zu bedenken gab, dass der Millionärssohn ein großes technisches Interesse an dem Mercedes zu haben scheine.

»Trotzdem vergisst man nicht seine gute Kinderstube«, widersprach Blohm und setzte nach: »Falls er diese überhaupt genießen durfte.«

Diestel, der nie über Klein Flottbek hinausgekommen war, mutmaßte, dass in Amerika wohl weniger starre Gesellschaftsschranken existierten als in Europa.

»Wie bedauerlich«, kommentierte Blohm.

Einen Schritt hinter der leicht beschwipsten Amazone gehend, folgte Luise. Sie beneidete die junge Frau um ihren unbekümmerten Mut, Hosen zu tragen. Amerikanische Extravaganzen dieser Art waren in Deutschland selten.

Am Automobil reichte sie den Gästen wärmende Decken für die Fahrt ins Hotel. Sie winkte dem Knight hinterher, bis der Wagen die Straße erreicht hatte.

Als sie zurückging, strichen ihre Finger über den Rücken ihrer rechten Hand, die Osborne eben geküsst hatte. Sie musste grinsen. So etwas hatte bisher keiner bei ihr getan.

Bald darauf beluden sie den Lastwagen und fuhren in den Neuen Jungfernstieg. Dort schaffte man die Requisiten in die Magazine oder zur Reinigung in den Hof, während Luise die unangetasteten Häppchen in die Küche brachte. Vielleicht würde man die Leckereien später dem Personal zum Abendbrot reichen. Wahrscheinlicher war, dass alles in der Dranktonne landete, um als Schweinefutter zu enden.

Sie war dankbar dafür, seit fast neun Jahren hier arbeiten zu dürfen. Natürlich ahnte sie, dass der Patron ihre Ausbildung nicht aus reiner Gnade gewährt hatte oder gar zu ihrem Schutz, damit sie nicht mit dem Grafen fortgehen musste. Nein, der Grund waren all die im Krieg gefallenen Männer und die als Krüppel Heimgekehrten. Der Patron hatte die Positionen im Hotel nur schwer neu besetzen können. Da waren Frauen besser als nichts. Friedrich Haerlin war ein gütiger Mann, doch in erster Linie war er ein scharfer Rechner.

In diesen Tagen erledigte Luise allerdings selten Arbeit in den Etagen. Meistens übernahm sie kleine Aufgaben bei Empfängen. Demnächst würde sie lernen, wie man eine Schreibmaschine bediente, da der Kriegsversehrte in der Buchhaltung bald entlassen werden sollte. Immer öfter zitterten seine Hände, und er murmelte wirr vor sich hin. Es war traurig, den ehemaligen Offizier so sehen zu müssen. Der Krieg mochte für das Reich zu Ende sein, nicht aber in den Köpfen und Herzen der Menschen.

Vom Hotel erhielt Luise ein bescheidenes Salär mit dem Hinweis, dass es sich um eine Art Grundgehalt handele. Die Perfektion ihrer Dienste lasse sich am Trinkgeld erkennen, das man ihr gebe. Sie solle sich nur ordentlich anstrengen.

Schnell hatte sie gemerkt, dass es die männlichen Angestellten waren, die mit einem Tipp belohnt wurden. Sie selbst musste sich damit trösten, dass man ihr Lob schenkte und ihren künftigen Gatten schon jetzt zu einem glücklichen Mann erklärte, fleißig und aufmerksam, wie sie war. Zum Glück hatte sie kaum Kosten, da sie weiterhin in ihrer Kammer unterm Dach lebte und selten ausging. Gelegentlich besuchte sie Hans in seinem Zimmer, das er zur Untermiete bei einer Kriegswitwe in St. Pauli bewohnte.

Ihr einziger Luxus waren die Bücher und ein Abonnement für jenes Stadttheater, in dem ihre Mutter früher als Sopranistin gesungen hatte. Sobald sich dort der Vorhang hob, fühlte sich Luise ihr nah.

2

Der alljährliche Debütantinnenball endete auch in diesem Jahr erst weit nach Mitternacht. Manche junge Dame lächelte selig, bis ihre Eltern nach dem Wagen schicken ließen. Sogleich floss die ein oder andere Träne, weil die Tanzkarte noch so viele Verehrer im Angebot hatte.

Vor den Garderoben herrschte müdes Gedränge, während der letzte Walzer vom Orchester angestimmt wurde. Als bald darauf alles etwas ruhiger im Haus wurde, entließ Luise die Garderobieren in den wohlverdienten Feierabend und brachte Nachtportier Seligmann wie üblich einen Darjeeling hinauf. Sie beide verband eine große Liebe zur Oper.

Gerade stellte Luise das Tablett mit dem Kännchen und der Sahne auf den kleinen Tisch hinter dem Empfangstresen, als lautes Gelächter vom Restaurant ins Foyer hallte.

»Da scheint jemand bester Laune zu sein«, sagte sie und goss Herrn Seligmann eine Tasse ein.

»Die Massary ist wieder da«, erklärte er mit einem theatralischen Seufzen.

Fritzi Massary, der Stern des deutschen Operettenhimmels, logierte gerne am Neuen Jungfernstieg. Man kannte jedes ihrer Lieder. Warum soll eine Frau denn kein Verhältnis haben? war ebenso beliebt wie Josef, ach, Josef, was bist du so keusch?

Wo die lebenslustige Massary auftauchte, wurde bis tief in die Nacht getrunken und gelacht, getanzt und gesungen. So wie jetzt, als sie aus der Lustigen Witwe das Lied Da geh ich ins Maxim sang und die anderen Gäste mit Inbrunst und mehr oder weniger tonfest einfielen.

»Ist ihr Ehemann mitgekommen?«, wollte Luise von Herrn Seligmann wissen, der einen Schluck Tee nahm.

»Natürlich. Sie und Herr Pallenberg sind unzertrennlich.« Der Nachtportier beugte sich ein wenig vor. »Ich hörte, Oscar Strauss will der Massary eine eigene Operette widmen.«

»Wie nett von ihm.«

»Ach, man müsste Klavier spielen können.« Herr Seligmann seufzte erneut. »Außerdem hörte ich«, er stellte die Tasse ab, »dass sich der Wiener Operettensänger Joseph Giampietro ihretwegen erschossen haben soll. Was für eine Frau.«

In diesem Moment trat eine Gruppe von Männern aus dem Restaurant. In ihrer Mitte schwebte Fritzi Massary. Eingehakt bei zweien von ihnen, warf sie lachend den Kopf in den Nacken und sang weiter.

Das unverschämt schicke Abendkleid mit den Fransen aus Tausenden silbernen Perlen, die bei jedem Schritt den Blick auf ihre Beine freigaben, stand ihr ausgezeichnet. Die Haare trug sie nach neuester Manier kurz, was herrlich verwegen wirkte. Einen Moment lang überlegte Luise, ob sie ihre hochgesteckte Frisur vielleicht auch zugunsten eines Pagenschnitts aufgeben sollte.

Die Augen des Nachtportiers begannen zu leuchten, als die Massary zum Lift strebte. Schnell trat er um den Tresen herum und verneigte sich tief, als sie vorbeiging. Da blieb die umschwärmte Sängerin stehen. Allerdings nicht wegen Herrn Seligmanns devotem Diener. Aufmerksam musterte sie Luise von oben bis unten.

»Liebes«, rief sie, »welches Sternzeichen sind Sie?«

Luise sah sie verwundert an. »Fische, Frau Massary.«

»Prächtig! Wann genau wurden Sie geboren?«

Luise stockte und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihr diese Frage höchst unangenehm war, denn sie war in jener Nacht zur Welt gekommen, als die erste Frau auf einem elektrischen Stuhl hingerichtet worden war. Eine Tatsache, die eine gewisse Person in Luises Vergangenheit nie müde gewesen war, dem Kind zu sagen.

»Sie wissen Ihr Geburtsdatum nicht?«, neckte die Massary sie, woraufhin die Herren an ihrer Seite wiehernd lachten.

Natürlich wusste sie es. Dank Hans. »Es war die Nacht vom 20. auf den 21. März.«

Die Frau trat näher.

»Tatsächlich? Wie wunderbar! Bitte eilen Sie zu meinem Mann. Er sitzt im Restaurant und weigert sich zu gehen, bevor er nicht endlich seinen Einsatz beim Poker zurückgewonnen hat. Wenn ich nicht bei ihm bin, wird er verlieren. So wie immer.« Sie drehte sich zu ihren Begleitern. »Ich sei sein Glücksstern, sagt er. Tatsächlich bin nicht ich es, sondern die Macht der Sterne, die ihm helfen zu gewinnen.«

»Aber meine beste Fritzi«, mischte sich einer ihrer Gefährten ein. »Das Mädchen kann Sie niemals ersetzen.«

Die Massary schlug ihm dem Fächer gegen die Brust.

»Natürlich kann es das. Es wurde an jenem Tag geboren, an dem auch ich Geburtstag habe.« Sie trat vor Luise. Eine Wolke watteweichen Veilchenparfüms umgab sie. »Max ist der kleine Hässliche. Sie können ihn nicht verfehlen. Bleiben Sie in seiner Nähe.« Sie drückte Luise einen Geldschein in die Hand, den sie aus ihrem Strumpfband gezogen hatte. »Nur machen Sie ihm keine hübschen Augen«, warnte sie, wobei sie mit dem Finger wie eine Gouvernante drohte. »Der lustige Gnom gehört mir.« Sie schlug Luise zärtlich mit dem Fächer auf die Schulter. »Und nun, auf, auf, sonst verliert dieser Mann obendrein mein ganzes Vermögen.« Sie wandte sich wieder ihren Begleitern zu. »Und Sie werden mich jetzt zu meiner Suite geleiten. Dort werden Sie sich vor der Tür wie brave Gentlemen verabschieden. Es sei denn, ich überlege es mir anders.«

Mit wiegenden Hüften ließ sie Luise und den Nachtportier stehen, der der Frau mit unverstellter Begeisterung nachschaute.

»Ach, was ist das für eine wunderbare Dame.« Er seufzte ein drittes Mal.

»Lassen Sie das nicht Ihre Gattin hören, Herr Seligmann.«

»Oje, verraten Sie mich bloß nicht. Sie kann manchmal recht energisch werden.« Er lachte.

»Ich schweige. Versprochen.« Luise öffnete die Hand mit dem Geldschein darin. »Fünf Dollar!«

Das war in diesen Zeiten ein Vermögen, denn das Geld verlor mit jedem Tag an Wert. Schon jetzt kostete ein Laib Brot fast fünfzig Mark. Der Dollarschein entsprach dem Zwölffachen von Luises Monatslohn. Sie erhielt sechshundertdreißig Mark, von denen sie die Miete für ihre Dachkammer, ihr Essen und die Reinigung ihrer Dienstkleidung zu bezahlen hatte sowie … Sie wollte nicht weiterrechnen. Von einem normalen Gehalt konnte heute niemand mehr leben. Kein Wunder, dass in der Stadt der Schwarzmarkt florierte. Leute tauschten ihren Familienschmuck für ein Stück Fleisch ein, weil die Armut wie ein peststinkendes Gespenst ihre Runde durch die Stuben machte. Gleichzeitig logierten im Hotel Vier Jahreszeiten internationale Gäste für eine Handvoll Dollars wie Könige.

»Sie sollten tun, worum die Massary Sie gebeten hat«, erinnerte Herr Seligmann Luise.

Sie nickte und unterdrückte ein Gähnen, als sie sich dem Restaurant zuwandte. Die muntere Gesellschaft hinter der Doppeltür war weinselig. Sie bestand ausschließlich aus Männern. Fritzi Massarys Ehemann, der Komiker Max Pallenberg, hatte den Kopf tief über ein paar Karten gebeugt, als fürchtete er, jemand könnte sie ihm entreißen. Ihm gegenüber saß Franklin D. Osborne. Lächelnd hatte er sich zurückgelehnt, hielt einige Karten in der Rechten, während er den anderen Arm um die Schulter des jungen Mannes gelegt hatte, der neben ihm saß.

»Ich gehe mit«, krächzte Pallenberg und schob mehrere Scheine über den Tisch.

»All in.« Mit lässiger Geste warf der Millionärssohn Geld in die Mitte des Tisches.

Pallenberg wurde blass.

»Bin raus«, sagte ein anderer Spieler.

Osborne fixierte den Komiker, der gerade alles andere als komisch wirkte. »What about you, old friend?«

Pallenberg wischte sich den Schweiß von der Stirn. Mit einer heftigen Geste warf er seine Karten zwischen sich und Osborne. Offenbar war Luise zu spät gekommen.

Unauffällig näherte sie sich den Spielern, zu denen zwei weitere Männer gehörten, die gegen den attraktiven Amerikaner offenbar bereits Federn hatten lassen müssen. Sie beschränkten sich aufs Trinken.

Carl Braun eilte mit einer neuen Flasche Champagner herbei.

»Die trinken uns den Keller leer«, raunte er, als er Luise passierte.

»Sofern sie in Dollar bezahlen, dürfte die Direktion nichts dagegen einzuwenden haben«, sagte sie mit einem Lächeln. »Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, erkundigte sie sich bei den Gästen.

»Sie sollten unbedingt ein Casino im Hotel einrichten, Fräulein«, schlug Osborne vor und empfahl einen Roulettetisch ebenso wie einen für Blackjack.

»Eine interessante Idee«, kommentierte Luise. Sie konnte Gewinnspielen nichts abgewinnen. »Ich werde sie unserer Direktion mitteilen.«

Wankend erhob sich Max Pallenberg von seinem Stuhl.

»Morgen, mein Bester«, lallte er Osborne entgegen. »Revanche.«

Der Amerikaner nickte generös. »Double down?«

»Natürlich. Doppelter Einsatz. Ach was …« Pallenberg machte eine wegwerfende Handbewegung, was ihn gefährlich ins Taumeln brachte. »Dreifacher Einsatz!«

»Darf ich vorschlagen«, mischte sich Luise ein, »dass wir für Ihr morgiges Spiel die Bibliothek vorbereiten? Dort können Sie ungestört speisen und anschließend Fortunas Schicksal herausfordern.« Was sie nicht sagte, war, dass der Patron öffentliche Glücksspiele jeglicher Art in seinem Haus nicht leiden konnte, zumal sie verboten waren. Im Rahmen privater Veranstaltungen waren sie hingegen akzeptabel.

Pallenberg arbeitete sich schwankend von Stuhllehne zu Stuhllehne Richtung Tür, begleitet von einem der Kellner, der darauf achtete, dass weder Gast noch Mobiliar zu Boden ging. Luise war erleichtert, dass ihre Dienste als Glücksgöttin nicht mehr gefragt waren.

Da legte Osborne mit größter Genugtuung seine Karten auf den Tisch. Die anderen Herren brüllten vor Lachen.

»Sie haben geblufft! Das Blatt ist keinen Penny wert.«

Mit einem Federstrich unterzeichnete Osborne die Rechnung, die Carl Braun ihm reichte. Gut gelaunt erhob man sich. Mit dem jungen Mann an seiner Seite strebte Osborne der Tür entgegen, als er stehen blieb und sich umdrehte.

»Fräulein!«, rief er Luise zu. Dabei rollte er das R, als hätte er eine heiße Kartoffel im Mund. »The good looking chap, where is he?«

Erst wusste Luise nicht, wen er meinen könnte. Fragend schaute sie zu Carl Braun, der wenig hilfreich mit den Schultern zuckte.

»You know him«, insistierte der Gast. »The guy with the car, this old Mercedes Knight. Your chauffeur.«

Er meinte Hans.

Luise erklärte, dass sie morgen früh in der Direktion nachfragen könne. Eine andere Floskel stand ihr spontan nicht zur Verfügung.

»Never mind, young lady. I’ll find him!«, rief Osborne und verließ das Restaurant.

Carl Braun begann abzuräumen. »Ich befürchtete, die Herren wollten gar nicht mehr auf ihre Zimmer.«

»Was will er von Hans?«, fragte sie, während sie die leeren Gläser auf ein Tablett stellte und die Aschenbecher übereinanderstapelte. Gemeinsam trugen sie das Geschirr in die Küche.

»Wann werdet ihr eigentlich heiraten, du und der Hans? Ihr seid seit Jahren verlobt.«

Carl Braun war nicht der Erste, der diese Frage stellte.

»Wir müssen sparen. So eine Ehe ist teuer. Wohnungseinrichtung, Kinder, all das. Und dann diese schreckliche Inflation. Kaum hat man etwas beiseitegelegt, ist es wieder weg.«

Carl legte Luise eine Hand auf den Arm, als sie gerade zurück ins Restaurant gehen wollte. »Lassen Sie, Luise. Ich mache das. Es ist spät.«

Jetzt erst merkte sie, wie müde sie tatsächlich war. Mit einem »Danke« verabschiedete sie sich und ging hinauf in ihre Kammer.

Es war mitten in der Nacht, als ein Klopfen sie weckte.

»Fräulein Erhart? Hallo? Sind Sie wach?«

Nur langsam drang die Stimme des Pagen in ihre Sinne. Sie setzte sich auf, versuchte, die Reste des Traums aus ihrem Kopf zu schieben.

»Moment.«

Benommen griff sie nach ihrem Bademantel, der über dem Bettende lag, tapste zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

»Herr Seligmann bittet Sie, sofort herunterzukommen.«

»Hat er gesagt, warum?«

»Die Sängerin. Der Gast aus dem Nebenzimmer ist sich sicher, dass sie sich das Leben nehmen will. Jedenfalls haben sie gestritten.«

»Frau Massary und Herr Seligmann?« Luise war hellwach.

Der Page schüttelte den Kopf. »Nein, die Frau und ihr Mann. Der ist gegangen. Wollte ins Trocadero, hörte ich. Jedenfalls haben sich die anderen Gäste über den Lärm beschwert.«

»Lebt sie noch?«

»Wer?«

»Frau Massary.«

»O ja. Sie verlangt ja nach Ihnen.«

Keine zehn Minuten später stand Luise vor dem Nachtportier.

»Ich bin untröstlich, Fräulein Erhart, aber sie besteht darauf, dass Sie es tun.«

»Das hätte jeder andere auch machen können!«

»Sie ist sehr aufgewühlt und drohte sogar, ihn zu erschießen«, sagte Herr Seligmann mit dräuender Stimme.

»Unsinn, so schnell erschießt man nicht den Mann, den man zwei Stunden zuvor geliebt hat«, zischte sie und marschierte los. Außerdem geht das Blut niemals wieder aus dem Teppich, wenn sie es tatsächlich tut, dachte Luise verärgert.

In der zweiten Etage gab es eine kleine Küche, in der sie ein wenig Milch aufsetzte, diese mit einem Teelöffel Lindenblütenhonig versah und in eine Porzellantasse goss. Mit dem Tablett in der Hand trat sie vor die Tür mit der Nummer 212 und klopfte.

Es dauerte, bis jemand öffnete. Die Massary lugte heraus. »Kommen Sie, liebe Freundin.«

Fast hätte sie die Frau im Morgenrock nicht erkannt. Nichts an ihr erinnerte an die lebenslustige Dame von vorhin. Ohne Schminke und glitzerndes Kleid wirkte sie wie ein ganz normaler Mensch. Allerdings hatte dieser Mensch vom Weinen verquollene Augen. Die zuvor perfekt frisierten Haare hingen strähnig herunter, und um ihren Mund zeichneten sich Falten ab. Sie war viel älter, als Luise gedacht hatte. Das heitere Leben der Frau hatte bereits erste Andeutungen in ihrem Gesicht hinterlassen.

Luise folgte der Sängerin durch den schmalen Flur in den Salon.

»Setzen Sie die Tasse bitte hier ab.« Die Massary wies zu einem Beistelltisch und ließ sich auf der Ottomane danebenfallen.

Luise tat, wie ihr geheißen. Inniglich hoffte sie, dass ihre Aufgabe erledigt wäre und sie zurück in ihr Bett gehen durfte.

»Meine Mutter hat mir immer eine Tasse gekocht, wenn ich unglücklich war.« Die Massary nahm einen Schluck. »Und heute bin ich wirklich sehr unglücklich.«

»Ist das der Grund, warum Sie mich sehen wollten, Frau Massary?«

»Ja. Nehmen Sie Platz. Ich hasse es, wenn ich zu jemandem aufschauen muss. Andersherum ist es mir lieber.« Ein freches Lächeln huschte über ihre Züge und verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war.

Luise setzte sich auf die Kante eines Sessels. Mehr schickte sich nicht.

Die Frau vor ihr wirkte nicht betrunken, was für eine Unterhaltung von Vorteil war. Denn dass es Fritzi Massary darum ging, mit jemandem zu sprechen, war offensichtlich.

»Wie heißt du?«

»Luise Erhart.« Gerne hätte sich Luise das Du verbeten. Sie beschränkte sich aufs Ignorieren.

Die Sängerin horchte auf. »Erhart? Bist du verwandt mit Marie Frederike Erhart, der Sopranistin?«

Luise schluckte. »Sie war meine Mutter.«

Welch große Traurigkeit die Massary eben auch empfunden haben mochte, mit einem Mal war diese verschwunden. Sie warf die Beine von der Ottomane, stellte die Tasse auf den Tisch.

»Du bist ihre Tochter?«

»Ja.«

»Ich kannte deine Mutter. Wir haben zusammen in Wien gesungen. Sie war besser als ich, aber immer ein wenig zu ernst.« Sie musterte Luise von oben bis unten. »Du siehst ihr sehr ähnlich. Wie geht es ihr?«

»Sie starb, als ich klein war.«

»Ich hatte gehofft, Marie hätte einen Mann gefunden, mit dem sie bis ans Ende der Zeit glücklich leben kann.« Bekümmert griff sie zur Tasse und trank. »Hat deine Familie nichts dagegen, dass du in einem Hotel arbeitest?«

Luise überlegte, was sie antworten sollte. Wollte sie wirklich erzählen, dass das Hotel ihre Familie war, weil sie keine andere hatte?

»Ich lebe gerne hier.«

Die Frau legte den Kopf schief. »Du wohnst sogar im Hotel?«

Luise nickte.

Die Massary stellte die Tasse ab. »Nun, es gibt schlimmere Orte zum Wohnen, nehme ich an.«

»Da stimme ich Ihnen zu.«

Die Massary richtete ihren Morgenmantel. Sie schien über etwas nachzudenken. »Dieser Amerikaner, magst du ihn?«

Erstaunt sah Luise sie an. »Ich verstehe Ihre Frage nicht.«

»Alle Frauen sind in ihn verliebt. Es ist eine Gabe, die man hat oder nicht. Er hat sie. Ich auch. Leider sind damit moralische Verpflichtungen verbunden, derer sich Mr Osborne offenbar nicht bewusst ist. Ich hingegen schon. Darum habe ich geheiratet. Die Männer in meiner Umgebung wissen seither wenigstens, woran sie sind. Osborne dagegen …« Sie ließ den Satz nackt im Raum stehen.

»Was ist mit ihm?« Luise spürte Besorgnis in sich aufkeimen.

»Osborne ist in Begleitung dieser jungen Dame. Wie hieß sie gleich? Ach, egal. Ich dachte erst, sie wären … verlobt.«

Luise wusste nicht, worauf Frau Massary hinauswollte.

»Sie teilen eine Suite, aber auch das Bett?« Die Frau beugte sich in verschwörerischer Manier vor. »Es heißt, der Sohn des alten Osborne stehe nicht nur der Damenwelt zur Verfügung. Begreifst du, was ich meine?«

Luise hatte eine gewisse Vorstellung von dem bunten Leben der Künstler und der Reichen. Allerdings war ihr Tratsch zuwider.

»Ich kann Ihnen versichern, dass ich kein persönliches Interesse an Mr Osborne habe, falls es das ist, was Sie denken.« Luise fragte sich, wie die Massary auf einen derart absurden Gedanken kommen konnte. Unauffällig strichen ihre Finger über den Rücken ihrer rechten Hand. Unter der Haut prickelte es.

»Das war es nicht, was ich meinte«, entgegnete Fritzi Massary und lächelte mehrdeutig.

Sie stand auf und trat ans Fenster, wo sie die Vorhänge schwungvoll aufzog. In der Scheibe spiegelte sich das Gesicht der Sängerin, die ins erste Dämmerlicht des Morgens starrte.

»Männer wie Osborne nehmen keine Rücksichten«, fuhr sie fort. »Sie sind hübsch anzusehen, und sie wissen es. Osborne ist ein Dandy, dessen Lebenszweck darin besteht, Kleider zu tragen. Er opfert alles, seine Seele, seinen Geist, die Geldbörse seines Vaters, selbst Menschen, nur um seiner eigenen Person Gutes zu tun. Während sich andere kleiden, um zu leben, lebt er, um sich zu kleiden. Er ist ein Narzisst. Ein Mann, der mit Leidenschaft einzig um sich selbst kreist. Jede Person in seiner Nähe dient einzig dem Zweck: ihn zu unterhalten. Darum schickt er morgen früh die Kleine fort, mit der er angereist ist. Er ist ihrer wohl überdrüssig geworden. Ich nehme an, er hat ein neues Spielzeug gefunden.«

Luise verstand nicht, worauf Fritzi Massary hinauswollte.

»Und wenn er geht, hinterlässt er gebrochene Herzen, ruinierte Existenzen und zerbrochene Seelen. Jeder von uns wird wie eine Motte zu seinem Licht gezogen, um dort zu verbrennen.«

Luise konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Frau am Fenster nicht mit ihr sprach, sondern mit sich selbst. Sie schien Luise längst vergessen zu haben.

»Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich Sie allein lasse, Frau Massary.« Luise erhob sich.

»Mein Maxe sagt, ich hätte ihn geheiratet, weil ich ehrbar erscheinen wollte. Er sagt, er sei von mir ausgenutzt worden.« Die Frau drehte sich zu Luise. »Denkst du das auch?«

Was sollte sie darauf erwidern?

»Lieben Sie ihn?«

»Ja.«

»Sie sollten es ihm zeigen. Das zählt mehr als tausend Worte. – Gute Nacht, Frau Massary.«

Tatsächlich reiste am nächsten Morgen Osbornes Begleitung mit verweinten Augen in aller Frühe ab. Drei Tage später verließen auch die Sängerin und ihr Gnom das Hotel. Im Schlepptau hatten sie eine fünfköpfige Entourage, die trotz der frühen Stunde dem Champagner derart zugetan gewesen war, dass man singend die vorgefahrenen Automobile bestieg, um zum Bahnhof zu gelangen.

Als Luise bald darauf mit einem der Zimmermädchen die Suite der Künstlerin für den nächsten Gast in Ordnung bringen wollte, fand sie ein Paket auf dem Bett vor. Eine silberfarbene Schleife zierte es, daran war eine Karte gesteckt. Für Luise. In dankbarer Erinnerung unseres nächtlichen Gesprächs.

»Werden Sie es auspacken, Fräulein Erhart?«, fragte das Mädchen, als es mit den Handtüchern aus dem Badezimmer trat.

»Später.«

»Wollen Sie denn gar nicht wissen, was die Massary Ihnen geschenkt hat?«, hakte die junge Frau nach.

»Nein. Nicht so sehr wie du.«

Erst spät am Abend fand Luise Zeit, das Präsent zu öffnen. Niemals hatte ein Gast sie beschenkt. Behutsam öffnete sie die drei Lagen Seidenpapier, die sie sicherlich später glätten und für andere Geschenke nutzen konnte. Zum Vorschein kam ein zweiteiliges schwarzes Abendkleid aus Seidenchiffon mit geschwungenen Ornamenten aus Glasperlen auf der Vorderseite. Am Saum baumelten Hunderte Fransen. Anbei lagen auch ein Paar passende Schuhe, ein Stirnband, lange weiße Handschuhe und eine handgeschriebene Karte. Stürze dich ins Leben, Luise. Deine Freundin Fritzi.

Das Bild, das der Spiegel an der Wand in ihrer Kammer bald darauf präsentierte, brachte Luise zum Lachen. Sie sah aus wie eine der weiblichen Gäste, die durch das Foyer flanierten, hinaus zu den Wagen stolzierten, um sich beim Tanz im Trocadero bis in den Morgen zu amüsieren. Es fehlte einzig die Zigarettenspitze.

Nun muss ich nur noch tanzen lernen, dachte Luise und machte einige unbeholfene Schritte, die einen Charleston imitieren sollten. Bedauerlicherweise mangelte es ihrem Spiegelbild eindeutig an Eleganz. Sie schmunzelte. Dann hängte sie das feine Tanzkleid auf einen Bügel in ihren Schrank, um sich schlafen zu legen.

Dankbar für jeden einzelnen Tag, den sie im Vier Jahreszeiten verbringen durfte, fiel sie in einen Traum, in dem sie mit fremden Männern zu wilden Rhythmen tanzte.

3

In der nächsten Woche wurde Luise im Schreibzimmer im Souterrain eingesetzt. Die Bedienung der funkelnagelneuen Continental-Typenhebelmaschine der Chemnitzer Wanderer-Werke fiel ihr erstaunlich leicht. A, S, D, F, J, K, L, Ö. Einzig die Großschreibtasten mit dem kleinen Finger hinunterzudrücken, war schwierig, sodass die Buchstaben auf dem Papier immer verrutschten. Außerdem ging es nicht allzu flott voran. Aber es wurde besser.

Luise drehte zwei neue Blätter in die Walze, zwischen denen ein Blatt Kohlepapier lag. Heute hatte sie eine Auflistung der Magazinbestände zu schreiben, über die niemand so recht einen Überblick hatte.

Der Patron selbst hatte um die Liste gebeten, da er eine Erweiterung des Hauses plante. Er hatte gehört, das Nachbarhaus sei zu verkaufen. Die schreckliche Inflation hatte auch Nachbar Vorwerk nicht verschont. Während Friedrich Haerlin sein Geld rechtzeitig in den Kauf mehrerer Hundert Flaschen exquisitesten Weins und zweier Villen in Harvestehude angelegt hatte, die er kurz vor der großen Geldentwertung hatte sanieren und vermieten können, würde sich Herr Vorwerk wohl bald schweren Herzens von der schmucken Nummer 9 im Neuen Jungfernstieg trennen müssen.

Ganz zur Freude Friedrich Haerlins, der längst ein Auge auf die Immobilie geworfen hatte. Sie besaß einen direkten Zugang zur Nebenstraße, den Colonnaden. Sollte es tatsächlich zu einem Verkauf kommen, wollte der Patron den Lieferanteneingang vom Neuen Jungfernstieg in diese Seitenstraße verlegen. Ihm war das ständige Vorfahren der Lieferanten nahe dem Hauptportal des Hotels seit Jahren ein Dorn im Auge. Und so drohte dem Vier Jahreszeiten eine neue Bauphase, sollte man den Zuschlag erhalten.

Luise wusste nicht mehr, wie viele Erweiterungsbauten, Umbauten und Verschönerungsarbeiten sie im Haus miterlebt hatte. Inzwischen war aus dem kleinen Hotel mit zwölf Zimmern, das Friedrich Haerlin 1897 gekauft hatte, ein Grandhotel mit hundertzwölf Zimmern geworden.

Luise kannte den Hausherrn gut genug, um zu ahnen, dass er seit Tag und Nacht über Plänen für den letzten großen Umbau brütete. Das Hotel schöner und eleganter zu gestalten, als es war, das war seine Leidenschaft. Und sein Sohn Fritz teilte sie mit ihm. Der allerdings befand sich in diesen Tagen irgendwo zwischen New York und Hamburg. Er hatte seine Ausbildung in den besten Häusern der Welt beendet und sich vom Pagen bis zum Oberkellner hochgearbeitet, um wertvolle Erfahrungen zu sammeln, die er mit nach Hamburg zu bringen gedachte.

Vor einiger Zeit hatte der Patron im glücklichen Vaterstolz mehrere Ausgaben der New York Review herbeischaffen lassen, um sie überall im Haus auslegen zu lassen. Darin war dem Hotelerben Fritz Haerlin ein ganzer Bericht gewidmet. Der junge Mann erklärte den Unterschied zwischen amerikanischen und europäischen Hotelgästen. Der amerikanische Reisende sei immer in Eile, so Fritz Haerlin. Was er verlangte, sei Service, Service, Service. Er brauche einen Börsenticker sowie ein Telegrafenbüro im Hotel und ein Telefon für Ferngespräche in seinem Zimmer. Dazu die neuesten Nachrichten, sobald sie über die Presseagenturen liefen, Boten, die stets für ihn da seien, und jede Menge Bequemlichkeit.

In Europa hingegen erwarte der Gast, wenn er auch nur ein wenig prominent sei, dass er erkannt und mit seinem Namen angesprochen werde, sobald er das Hotel betrete. Er wünsche, dass der Portier ihn ins Fremdenbuch eintrage. Und wenn er etwas länger bliebe, rechne er mit einem Anruf des Hotelbesitzers, der sich nach seinem Wohlbefinden erkundige und frage, ob der Gast einen speziellen Essenswunsch habe oder ob die Einrichtung des Zimmers behage – kurz, ob der Gast zufrieden sei. Der Europäer wolle sich im Hotel zu Hause fühlen, selbst wenn er lediglich zwei Tage dort wohne. Der amerikanische Gast in den Wolkenkratzerhotels erwarte keine besondere Aufmerksamkeit.

Der Artikel ging beim Personal von Hand zu Hand, und Friedrich Haerlin freute sich über jeden, der ihn auf seinen famosen Jungen ansprach.

Manchmal erhielt Luise Postkarten von Fritz. Er schrieb von den schönsten Orten der Welt, die er als Steward an Bord eines Luxusliners passiert hatte. Panama, San Francisco, Honolulu, Japan, China, Indien, Ägypten. Es schien, als erkundete er jeden Winkel der Erde. Doch wie sein Vater nicht müde wurde zu erklären, tue er das nicht aus Vergnügungssucht, sondern zum Wohle des Hotels. Schließlich müsse der Junge Kontakte knüpfen.

Endlich war die Zukunft des Hauses gerettet. Ein würdiger Nachfolger sollte nach seiner Rückkehr das Werk des mittlerweile fast siebzigjährigen Friedrich Haerlins fortsetzen. Bis dahin hieß es für Luise, im Büro neben der Buchhalterei Listen zu schreiben, Einladungen zu kuvertieren und Rechnungen zu versenden.

»Fräulein Erhart«, jemand schob seinen Kopf durch die offene Tür, »Frau Neidhardt fragt, ob Sie die drei neuen Zimmermädchen einweisen könnten.«

»Gerne. Wann erwarten wir die jungen Damen?«

»Um halb acht.«

Luise warf einen Blick auf die Uhr, die sie an einer Kette um den Hals trug. Es war ein Geschenk von Hans anlässlich ihrer Volljährigkeit vor zwei Jahren.

»Oh, da muss ich mich sputen.«

Schnell tippte sie die Liste zu Ende, zog die Blätter heraus und legte je ein Exemplar in den Korb für die Direktoren sowie eines in die dunkle Mappe, die dem Patron später vorgelegt werden würde.

Gerade wollte sie zum Controllbüro gehen, um dort die Mädchen in Empfang zu nehmen, als Hans an ihr vorbeilief.

»Guten Morgen!«, rief sie ihm zu.

Er strahlte sie an.

»Was ist passiert?«

Er gab ihr einen hastigen Kuss auf die Wange. »Er hat einen Silver Ghost Alpine Eagle. Sechszylinder-Reihen-Ottomotor mit sieben Litern Hubraum. Ich soll ihn fahren.«

»Prinz Heinrich ist hier?« Luise erinnerte sich schwach daran, dass der Bruder des Kaisers vor dem Krieg mit einem dieser Rolls-Royce vorgefahren war.

»Der Prinz? Nein!« Energisch schüttelte Hans den Kopf. »Franklin D. Osborne. Das neueste Modell. Nicht die alte Prinzenkutsche.«

»Mr Osborne? Ich dachte, er wäre abgereist.«

Hans setzte die Chauffeursmütze auf.

»Er ist zurück und hat den Patron gebeten, mich ausleihen zu dürfen. Ich werde ihn herumkutschieren, solange er in der Stadt ist. Der Mann scheint eine Menge unternehmen zu wollen.« Er freute sich wie ein kleiner Junge.

Luise lächelte. »Das ist schön für dich.«

Er wusste die Aufgaben als Wagenmeister am Portal zwar zu schätzen, immerhin gab es gutes Trinkgeld. Seine eigentliche Leidenschaft aber waren Automobile. Er sprach selten von etwas anderem.

»Er zahlt mir zu meinem Lohn im Hotel eine Extrasumme von«, Hans machte eine dramatische Pause, »hundert Dollar!«

»So viel?« Jetzt freute Luise sich auch, denn eine Hochzeit hatte er bisher aus Geldgründen aufschieben müssen.

Schon wollte Hans weitereilen, als sie ihn am Arm festhielt.

»Sehen wir uns heute Abend?« Sie hatte ihn nie gefragt, ob er mit ihr tanzen gehen wolle.

»Ich glaube nicht. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, will er in Blankenese einen Freund besuchen und danach zu einer Party.« Er warf ihr eine Kusshand zu. »Vielleicht morgen.«

Enttäuscht schaute sie ihm nach, auch wenn sie ihm das Funkeln in den Augen gönnte.

Kurz schaute sie in der Buchhalterei vorbei, wo der alte Herr Meierling missmutig Geldscheine zählte, die er stapelweise aus einem Wäschekorb auf den Tisch legte.

»Ein Sack Kartoffeln kostet inzwischen über zwei Milliarden Mark. Bis ich das hier gezählt habe, kostet es das Doppelte«, grummelte er. »Warum können nicht alle Gäste in Dollar bezahlen?«

Jeder im Reich litt unter der Inflation, es sei denn, er hatte in etwas Handfestes investiert oder verfügte über Devisen.

Luise selbst hatte nie genug verdient, um sich etwas mehr zu leisten als einen Hut oder ein Kleid. Ihr gesamter Schmuck bestand aus der Uhr um ihren Hals und dem Verlobungsring an ihrem Finger.