Tod am Nord-Ostseekanal - Anja Marschall - E-Book

Tod am Nord-Ostseekanal E-Book

Anja Marschall

4,8

Beschreibung

Brunsbüttel 1894: Als sich ein tödlicher Unfall auf der Baustelle des Nord-Ostsee-Kanals ereignet, wird Kriminalinspektor Hauke Sötje an die Elbe geschickt, um den Vorfall zu untersuchen. War es ein Unfall oder gar Sabotage am prestigeträchtigsten Bauprojekt der Welt, das schon bald von Kaiser Wilhelm II. höchstpersönlich eröffnet werden soll? Ein Attentäter und die hübsche Tochter des Unternehmers Jennings verwickeln Sötje in einen Fall, der nicht nur das Leben Wilhelms II., sondern das gesamte junge Kaiserreich bedroht.

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Die in Hamburg gebürtige Krimiautorin und Journalistin Anja Marschall lebt seit vielen Jahren mit ihrer Familie im Westen Schleswig-Holsteins. 2012 veröffentlichte sie ihren ersten Kriminalroman um den schweigsamen Kapitän Hauke Sötje. Seither erschienen jedes Jahr bis zu zwei neue Krimis in verschiedenen Verlagen. Dabei darf es mal historisch zugehen wie in ihrem Erstlingswerk »Fortunas Schatten« oder amüsant-kriminell wie in ihrer aktuellen Hamburg-Serie um die handfeste Oma Lizzi. Anja Marschall initiierte den ersten Krimipreis für Schleswig-Holstein, ist Vizepräsidentin der Mörderischen Schwesterne.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.  

©2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: shutterstock.com/Tischenko Irina, akg-images/arkivi, shutterstock.com/Attsetski Umschlaggestaltung: Nina Schäfer Karte: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd.10. Leipzig 1907 Lektorat: Christine Derrer eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-122-2 Historischer Kriminalroman Originalausgabe

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Sic vos non vobis.Ihr, aber nicht für euch.

Vergil

PROLOG

Weiß stand der Mond am Himmel. Sein Spiegelbild glänzte im schwarzen Wasser einer Pfütze, als das hölzerne Rad der Schubkarre sein ebenmäßiges Abbild durchschnitt und es bis zur Unkenntlichkeit verzerrte.

Ein Arm hing schlaff über den Rand der Karre. Die Fingerspitzen der bleichen Hand scheuerten über den nassen Erdboden, durchfurchten das schmutzige Wasser der Lache.

Nicht weit entfernt ragten stählerne Skelette wie mahnende Finger in den nächtlichen Himmel. Ihre scharfen Schatten klebten totengleich unten im leeren Kanalbett, während an seinem Rand eine Gestalt ihre Fracht entlangschob. Bald waren die beiden Schleusenkammern zu sehen, die still und verwaist am Ende von Europas größter Baustelle lagen.

Vorsichtig wurde die Karre zur Kante des Kais geschoben. Hier führte ein schmaler Steg auf eines der eisernen Schleusentore. Das vordere Rad vorsichtig auf den Steg schiebend, balancierte die Gestalt den leblosen Körper über dem meterhohen Abgrund. Das fahle Licht des Mondes reichte nicht bis in die Tiefe der Schleusenkammer. Die Tore warfen ihre Schatten in eine undurchdringliche schwarze Leere hinein. Bleierne Stille lag in der Luft.

Die Griffe der Karre wurden hochgehievt. Langsam rutschte die leblose Gestalt Zentimeter für Zentimeter nach vorne. Schon hingen die Beine über dem Abgrund. Dann stürzte der Körper in die Tiefe.

ALTONA. ES FAND AM FREITAG IM »ENGLISCHEN GARTEN« ZU ALTONA EINE VON DER SOZIALDEMOKRATISCHEN PARTEI BERUFENE WAFFEN-PROTESTVERSAMMLUNG STATT. UNGEFÄHR 8000 PERSONEN FÜLLTEN DIE SÄLE UND KORRIDORE DES LOKALS IN GERADEZU BEÄNGSTIGENDER WEISE.

Originalauszug: Kieler Zeitung 1894

Kiel, 1894: Seit den Morgenstunden sank grauer Nieselregen auf den Marktplatz herab. Mit schwarzen Schirmen über den Köpfen eilten die Leute an dem Mann vorbei, der unauffällig neben der Litfaßsäule nahe dem Rathaus stand und den Platz beobachtete.

Die kalten Hände tief in den Hosentaschen vergraben, blickte Kriminalhilfssergeant Hauke Sötje hinüber zur Rüdelschen Hofapotheke. Dort fegte ein Gehilfe grimmig den Gehweg. Neben der Apotheke lag Schmielaus Haushaltswarenladen, aus dem in diesem Moment eine dicke Matrone mit ihrer jungen Dienstmagd trat. Das Mädchen verschwand nahezu hinter den in Packpapier gewickelten Schachteln und Kästen. Sie stiegen in eine wartende Kutsche, die kurz darauf über das Kopfsteinpflaster rumpelte.

Hauke bemerkte eine Gruppe Offiziere der kaiserlichen Marine in ihren schwarzen Uniformen, die soeben aus der Weinstube Jordan herauskam. Offenbar in bester Stimmung, schauten die Herren zum grauen Himmel hinauf. Leicht schwankend stellten sie sich mitten auf den Gehsteig und überlegten lautstark, wo sie denn als Nächstes einkehren könnten. Sie scherten sich nicht um die Leute, die ihretwegen auf dem Weg ausweichen mussten. Ein älterer Herr mit Zylinder und Gehstock warf ihnen im Vorbeigehen einen verärgerten Blick zu.

Kiel war einer der beiden kaiserlichen Reichskriegshäfen. Wer der Marine diente, hatte gewisse Privilegien, die anderen vorenthalten blieben. Schlechtes Benehmen schien dazuzugehören.

Ein Pferdeomnibus rollte aus der Flämischen Straße heraus. Er hielt am fünfarmigen Kandelaber vor dem Rathaus. Drei Frauen und ein Mann entstiegen dem Gefährt. Eine Mutter mit Kind auf dem Arm wiederum stieg ein. Der Omnibuskutscher kassierte von ihr das Fahrgeld. Dann griff er zu der kleinen Glocke, die daraufhin zu bimmeln begann. Nun setzte sich der Klepper gemächlich in Bewegung, hin zur nächsten Haltestelle.

Hauke schlug den Kragen seines Mantels hoch. Sein Magen knurrte. Er hatte seit den frühen Morgenstunden nichts mehr gegessen. Und nun war es Nachmittag. Doch der Befehl war eindeutig: Er durfte seinen Posten nicht unerlaubt verlassen, sondern hatte die Observierung des Marktes aufrechtzuerhalten, bis er abgelöst wurde oder man ihn ins Kommissariat am Martensdamm zurückbefehligte. Und so folgte Haukes Aufmerksamkeit den Offizieren, die sich lachend zum Hafen aufmachten.

Da trat ein kleiner Mann mit Melone und langem schwarzen Wollmantel aus dem Rathaus. Fast wäre er mit den Offizieren zusammengestoßen, geschickt wich er aus. Mit gesenktem Kopf eilte er weiter. Hauke erkannte Sergeant Haberstern. Sofort hoffte er, dass dieser nun den Posten auf dem Marktplatz übernehmen würde. Aber Haberstern lief an Hauke vorbei, Richtung Exerzierplatz. Dort musste er wahrscheinlich einen der anderen Sergeanten ablösen, die Kommissar Bahnsen heute Morgen überall in der Stadt verteilt hatte.

Anders als die anderen Anwärter der neuen Kriminalpolizei trug der ehemalige Kapitän Hauke Sötje seine alten Seemannskleider, bestehend aus Cordhose, gewachster Jacke und Mütze. Haberstern und die anderen hingegen hatten sich mit ihrer Anstellung als Kriminalhilfssergeanten sogleich einen dunklen Mantel mitsamt Melone zugelegt. Hauke wusste, dass viele Männer der neuen Kriminalpolizei zuvor einfache Wachtmeister in Uniform gewesen waren oder ehemalige Soldaten. Und Hauke vermutete, dass sie nur ungern ihre Uniform ausgezogen hatten. Was lag da näher, als das Alte gegen etwas Neues zu tauschen? Das aber machte die Männer von der Kriminalpolizei dem Gesindel gegenüber ebenso schnell erkennbar, als trügen sie Helm und Portepee. Doch wer war er, dass er über die anderen Sergeanten so dachte, schließlich trug auch er noch die alte Kluft des Seemannes. Selbst, wenn er keiner mehr war.

Dennoch fand Hauke, dass seine Kleidung in einer Hafenstadt wie Kiel weit besser geeignet war, in gewissen Kreisen Vertrauen aufzubauen, als dunkle Wollmäntel und Melonen es konnten. Sein Vorgesetzter war anderer Meinung. Haukes Weigerung, sich der Kleiderordnung des Ersten Kriminalkommissars zu unterwerfen, hatte Hauke ein Wochensalär, die Streichung des Kleidergeldes und die Androhung der Entlassung aus dem vorläufigen Polizeidienst gekostet. Genutzt hatte es wenig. Hauke trug auch weiterhin seine Seemannsjacke und die derbe Cordhose sowie die Wollmütze.

Überall im Kaiserreich baute man seit einiger Zeit spezielle Polizeieinheiten auf, um den immer dreister werdenden Verbrechern besser begegnen zu können. Die neue Zeit hatte nicht nur das Leben der Menschen verändert, sondern auch die Vorgehensweise von Schmugglern, Mördern und gewaltbereitem Gesindel. Das Verbrechen im Kaiserreich schien zunehmend besser organisiert zu sein als früher, größer und vor allem brutaler. Die einfachen Wachtmeister waren dem nicht mehr gewachsen. Und so bildete man nicht nur in Berlin, sondern auch in Kiel eine neue Gruppe von Männern in Sachen moderner Verbrechensbekämpfung aus. Unerkannt sollten sie sich auf die Suche nach Kriminellen machen.

Seit einiger Zeit merkte Hauke, wie er sich an sein neues Leben als Polizist zu gewöhnen begann. Obwohl ihm klar war, dass er in seinem Inneren immer ein Seemann bleiben würde, wusste er auch, dass er nie mehr ein Schiff befehligen konnte. Nicht nach dem, was damals vor Plymouth geschehen war. Hauke Sötje, der Mörder von dreiundfünfzig braven Männern.

Dass Hauke heute dennoch hier im Regen auf dem Marktplatz von Kiel stand und beobachtete, während sein Magen knurrte, verdankte er nur einem Menschen: Sophie-Louise Struwe.

Ohne es zu wissen, hatte sie ihn im letzten Jahr davon abgehalten, seinem unehrenhaften Leben als Kapitän ein Ende zu setzen. Ein Ende, das ihm damals mehr Würde versprach als ein Leben in Schuld und Schande. Sophie wurde sein letzter Anker zurück ins Leben. Er wollte sie nie wieder gehen lassen. Um sie aber heiraten zu können, wie es sich gehörte, musste er einer ehrbaren Arbeit nachgehen. Sophie fand, dass eine Anstellung als Kriminaler seiner Schweigsamkeit und seinem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und Ordnung sehr entspräche. Dabei hatte sie ihn angelächelt. Schon damals schien sie noch vor ihm zu wissen, dass eine Anstellung als Kriminalhilfssergeant eine Aufgabe war, die ihm helfen konnte zu vergessen.

Jedoch war es in diesen Tagen mehr als fraglich, ob Hauke jemals eine feste Anstellung in Kiel erhalten würde. Kriminalhauptkommissar Bahnsen machte keinen Hehl daraus, dass Hauke ihm zu renitent war. »Gehorsam, Gehorsam, nichts als Gehorsam«, verlangte der Mann von seinen Sergeanten. Blinder Gehorsam aber war nicht Haukes Sache.

Er wusste, dass Bahnsen ihn nicht so einfach entlassen würde, denn seit Hauke im Kommissariat war, konnte Bahnsen sich mit Erfolgen brüsten. Da waren der Mord an einem holländischen Seemann und die Schmugglerbande aus Dänemark, die dank Hauke dingfest gemacht werden konnte. Hauke wusste, dass seine Leistungen außer Frage standen, auch wenn sein verschlossenes Wesen ihm wenig Freunde am Martensdamm eingebracht hatte. Sosehr Hauke auch das Meer vermisste, die Suche nach der Wahrheit und das Wiederherstellen einer gerechten Ordnung erschienen Hauke sinnvoll genug, um selbst Bahnsen ertragen zu können.

Langsam glitt sein Blick über den Platz. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob Bahnsen einen gravierenden Fehler begangen hatte, als er seine Männer in der ganzen Stadt postierte. Bahnsen hatte ihnen erzählt, er habe von einem Informanten erfahren, dass mehrere hundert Werftarbeiter einen aufrührerischen sozialistischen Aufmarsch in der Stadt planten.

Da Hauke aber auf dem Marktplatz nirgends auch nur einen berittenen Polizisten bemerkte, wurde er das Gefühl nicht los, Bahnsen könnte versäumt haben, die eigentlich zuständigen Polizeiorgane zu informieren. Stattdessen hatte Bahnsen wohl beschlossen, den angeblichen Aufmarsch selbst in die Hand zu nehmen. Er hatte seinen Männern den Auftrag erteilt, ermittlungsrelevante Informationen zu sammeln, sollte es zu einer Demonstration kommen.

»Der endgültige Kampf gegen dieses vaterlandslose Gesindel gehört ebenso zu unseren Aufgaben wie das Zerschlagen des Verbrechens in Gänze«, hatte Bahnsen gesagt, bevor er die zwanzig Männer hinausschickte.

Hauke aber hatte eine andere Vermutung. Er glaubte, dass Bahnsen in einen Machtkampf mit dem städtischen Polizeiverwalter Lorey verwickelt war. Der eine gönnte dem anderen nicht die Butter auf dem Brot. Die Kriminalpolizei in der Stadt war erst vor wenigen Jahren eingerichtet worden, und die Frage der Kompetenzen war noch immer nicht zur Genüge geklärt. Und so war damit zu rechnen, dass Bahnsen zufrieden zuschauen würde, wenn Lorey vor den Stadtrat zitiert werden würde, um zu erklären, warum er diese kaiserfeindliche Demonstration nicht verhindert hatte.

Darum also lungerte Hauke Sötje seit Stunden hier herum, auf der Suche nach stadtbekannten Sozialisten oder sonstigen Verdächtigen.

Die Menschen in Kiel gingen an diesem verregneten Tag unterdessen in aller Ruhe ihren Geschäften nach. Man baute Schiffe auf der Howaldtwerft und goss Kanonen bei Winter&Söhne am Ostufer, während nahe Holtenau die Schleusen für einen der größten Kanäle, die Europa je gesehen hatte, errichtet wurden: den Nord-Ostsee-Kanal. Seit Jahren grub man diese Schneise, die Schleswig-Holstein einmal in der Mitte zerteilte. Im nächsten Jahr sollte die feierliche Eröffnung sein.

Und so ging in Kiel alles seinen geregelten Gang. Man schien sich in der Stadt des kaiserlichen Wohlwollens zu jeder Minute des Tages bewusst zu sein. Wie trügerisch das Gefühl von Frieden jedoch sein konnte, wusste Hauke aus eigener, bitterer Erfahrung.

Gerade streckte er seinen vom vielen Stehen schmerzenden Rücken, als er drei Männer bemerkte, die vom Hafen zum Markt stiefelten. Sie trugen die derben Jacken und Mützen der Werftarbeiter. Auffallend langsam näherten sie sich dem Marktplatz. Der Große in der Mitte trug einen vollen schwarzen Bart. Keiner von ihnen kam Hauke bekannt vor, obwohl er noch am Morgen die Verbrecherplakate auf dem Kommissariat am Martensdamm studiert hatte. Darauf waren die gezeichneten Konterfeis stadtbekannter Sozialisten und Unruhestifter zu finden, die bereits einmal in Gewahrsam genommen worden waren.

Hauke spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Aufmerksam beobachtete er die drei, die nun gemächlich auf den Platz schlenderten. Die Minuten vergingen, aber nichts geschah. Schon dachte Hauke, dass er sich über die Absicht der Männer getäuscht haben musste, als ein junger Mann mit einem Handkarren dicht an ihm vorbeirumpelte. Seine Waren hatte er mit einem Segeltuch abgedeckt. Nervös schaute er über seine Schulter zurück. Dann schob er den Karren zum Kandelaber, wo er ihn absetzte. Unsicher blickte er sich um. Jetzt bemerkte er die drei Männer, die zu ihm traten. Ein schüchternes Lächeln huschte über das Gesicht des jungen Mannes. Anerkennend klopften sie ihm auf die Schulter.

In diesem Moment schlug die Kirchturmuhr der Nikolaikirche viermal. Hauke stieß sich von der Litfaßsäule ab, um näher an die Männer heranzukommen. Vielleicht konnte er etwas von ihrem Gespräch verstehen. Da bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie weitere Männer in Arbeitskleidung auf den Platz traten.

Bahnsens Informant hatte also recht gehabt. Das Kribbeln auf Haukes Haut wurde stärker. Er sah noch mehr Arbeiter aus Hauseingängen und Läden kommen, die allesamt zum Kandelaber schlenderten. Schon bald befanden sich über fünfzig von ihnen vor dem Rathaus.

Da schlug der junge Mann das Tuch auf seinem Karren zurück. Hauke konnte nichts erkennen, denn die Männer gruppierten sich schnell um den Karren, doch er ahnte, was nun kommen würde. Und tatsächlich wurden jetzt die ersten roten Fahnen über die Köpfe gehoben.

Immer mehr Arbeiter strömten aus den sternförmig zum Markt führenden Straßen herbei. Das konnten unmöglich nur die Männer der Werft sein, schoss es Hauke durch den Kopf. Er vermutete, dass einige darunter waren, die in der kaiserlichen Torpedowerkstatt und in der Gießerei am Ostufer arbeiteten. Die meisten Gesichter hatte er noch nie gesehen, und der Strom riss nicht ab.

Erschrocken flüchteten Frauen, die eben noch ihre Einkäufe erledigt hatten, in die Läden und Seitenstraßen, während sich ihre Männer dicht an den Hauswänden hielten, wo sie schimpfend dem arbeitsscheuen Gesindel die Faust entgegenreckten. Die Arbeiter auf dem Platz scherte es nicht. Erste Parolen flogen zum Rathaus hinüber.

In dieser Minute kamen zwei uniformierte Wachtmeister aus der Holstenstraße gelaufen. Als sie die Menge auf dem Markt sahen, blieben sie erschrocken stehen. Eilig besprachen sie sich, dann rannten sie davon, sicherlich, um Verstärkung zu holen, denn eine Zusammenrottung dieser Art war in Kiel bisher noch nicht vorgekommen.

Die Schutzpolizei und ihr Direktor Lorey waren also tatsächlich nicht vorbereitet. Das war genau, was Bahnsen hatte erreichen wollen. Doch um welchen Preis?, dachte Hauke bitter.

Schnell hatte er einige Rädelsführer im Mob ausmachen können, die die Parolen skandierten. »Gutes Geld für gute Arbeit!«, schrien sie aus rauen Kehlen, und es klang wütend.

Hauke wusste, dass die Arbeitsbedingungen in den Fabriken und Werften erbärmlich und gefährlich waren. Kaum einer von ihnen wurde älter als vierzig Jahre. Da half auch die neu eingeführte Krankenversicherung für die Arbeiter wenig. Dies machten sich die Linken zunutze und schürten im Reich Unruhe. Bismarcks Sozialistengesetze hatten nicht geholfen, die aufkeimende Macht der Gewerkschaften zu zerstören, und so mussten die Gesetze erst kürzlich wieder abgeschafft werden. Seither konnte jeder das Brodeln hören, das die Arbeiterschaft auf die Straße trieb.

Hauke ging um die Menge herum, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Da bemerkte er den Mann mit dem vollen Bart, der nun auf den Sockel des Kandelabers kletterte. Mit einer Hand hielt er sich an dem fünfarmigen Leuchter fest, während er mit fester Stimme eine flammende Rede hielt. Die Männer schauten zu ihm auf, nickten und applaudierten. Hauke prägte sich das kantige Gesicht des Mannes ein, die tief liegenden blassblauen Augen, den Hamburger Akzent. Er schien ein geübter Redner zu sein. Die Arbeiter jubelten jedem seiner auf den Platz geschmetterten Worte zu.

Da hörte Hauke das gleichmäßige Schlagen von Stiefeln auf Kopfsteinpflaster, die schnell näher kamen. Er fuhr herum. Das rhythmische Knallen prallte von den Hauswänden ab und ergab ein Echo. Es wurde lauter und lauter. Nicht nur Hauke hatte es gehört, auch die Männer auf dem Platz. Jetzt ging es los! Ihre Rufe nach Arbeiterrechten und Gleichheit wurden immer grimmiger.

Und dann kamen sie aus der Dänischen Straße herausmarschiert. Es waren die Soldaten der Infanteriekaserne in der Feldstraße. In schwarzer Uniform und schweren Stiefeln erreichten sie im Gleichschritt den Platz. Sie stellten sich in zwei Reihen vor dem Rathaus auf, das es zu schützen galt.

Die Rufe der Arbeiter wurden dünner, bis sie ganz erstarben. Die Männer starrten zu den Soldaten hinüber.

Mit zusammengekniffenem Mund bemerkte Hauke die Gewehre auf den Schultern der Infanteristen. Ein junger Unteroffizier befehligte die Schützen. Hauke spürte die Nervosität des jungen Mannes, dessen Stimme ein wenig zu schrill über den Markt hallte.

Anders als die Soldaten waren die Sozialisten auf dem Platz ohne Waffen. Hauke hoffte, dass die Demonstranten klug genug sein würden, den Markt sofort zu verlassen. Allerdings rührten sich die Männer nicht. Wütend stierten sie zu den Soldaten hinüber, die mit einer knappen Bewegung die Gewehre von den Schultern nahmen. Ein weiterer Befehl des Unteroffiziers, dann kniete sich die erste Reihe vor die zweite. Aus den Fenstern des Rathauses lugten die verängstigten Gesichter einiger Stadtverordneter.

Entsetzt starrten die Demonstranten in die Mündungen der Gewehre, die jetzt auf sie gerichtet waren.

Das ist Wahnsinn, fuhr es durch Haukes Kopf. Wer hatte die Soldaten in Marsch gesetzt? Hatten sie tatsächlich einen Schießbefehl? Oder war das nur ein Versuch, die Männer einzuschüchtern? Warum war kein höherer Offizier dabei, sondern nur der offensichtlich unerfahrene junge Unteroffizier?

Dieser forderte nun die Arbeiter im Namen des Kaisers auf, diese nicht genehmigte Zusammenrottung unverzüglich zu beenden und sofort den Platz zu räumen, da man ansonsten bereit sei zu schießen.

Der Wortführer, der noch immer auf dem Sockel des Kandelabers stand, antwortete mit tragender Stimme: »Wir sind Untertanen des Kaisers. Und dennoch kämpfen wir für unsere Rechte! Gleichheit und Freiheit!«

Die Männer zu seinen Füßen stimmten zaghaft zu.

»Es ist nicht rechtens, dass der Herr Unteroffizier die Waffen gegen ehrliche und rechtschaffene Männer richtet!«

Während die Augen aller auf den Mann am Kandelaber und die bewaffneten Soldaten gerichtet waren, bemerkte Hauke, wie sich einer der Arbeiter– ein großer, dürrer Kerl– von der Gruppe löste. Langsam ging er hinter den Rücken der anderen entlang. Hauke vermutete schon, er könne sich aus dem Staub machen wollen, aber etwas stimmte mit dem Kerl nicht.

Hauke folgte ihm in einiger Entfernung. Da bemerkte er, wie dieser seine linke Hand in die Jackentasche schob. Langsam zog der Mann einen Revolver hervor. Gerade wollte Hauke zu ihm laufen und die Waffe entreißen, als dieser blitzschnell den Revolver über die Köpfe der Männer hielt und auf den Redner zielte. Noch bevor Hauke den Mann am Kandelaber warnen konnte, war der erste Schuss gefallen.

Der Kopf des Redners wurde zur Seite gerissen, seine Arme flogen hoch, als er vom Sockel direkt in die Menschenmenge stürzte. Ein weiterer Schuss ging knapp über die Köpfe der Soldaten hinweg und schlug in der Schaufensterscheibe der Rüdelschen Hofapotheke ein, die klirrend zu Bruch ging. Jemand im Laden schrie auf.

Dann blieb für den Bruchteil eines Augenblicks die Zeit stehen.

Hauke hörte den Schießbefehl. Die ersten Salven der Soldaten siebten durch die Arbeiter. In Panik stoben die Leute auseinander. Hauke sah noch, wie der Dürre zu einer Reihe Häuser hinüberrannte. Er rannte los, versuchte, dem Kerl durch die flüchtende Menge zu folgen. Mühevoll bahnte er sich einen Weg hinter dem Mörder her.

Da stieß er mit einem der fliehenden Arbeiter zusammen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Mann Hauke fassungslos an, als plötzlich ein Schmerz sein Gesicht verzerrte und er mit Wucht nach vorne geschleudert wurde, direkt in Haukes Arme. Hauke versuchte noch, ihn festzuhalten, aber der Mann rutschte ihm aus den Händen. Hart schlug sein Kopf auf das Straßenpflaster. Zwei Arbeiter ergriffen den Verletzten und schleiften ihn mit sich fort, während Gewehrkugeln durch die Luft flogen und Menschen schrien.

War es das, was Bahnsen gewollt hatte?

KIEL. (TODESURTHEIL) DAS VOM HIESIGEN SCHWURGERICHT ÜBER DEN MÖRDER EHLERS GEFÄLLTE TODESURTHEIL IST VOM KAISER BESTÄTIGT WORDEN. DIE HINRICHTUNG DES EHLERS ERFOLGT HEUTE MORGENS 7½UHR AUF DEM HOFE DES HIESIGEN GERICHTSGEFÄNGNISSES.DIE VOLLZIEHUNG DES URTHEILS ERFOLGT DURCH SCHARFRICHTER HEINDEL AUS MAGDEBURG.

Originalauszug: Kieler Zeitung 1894

Hauke stolperte, schlug und kämpfte sich durch die Flüchtenden. Als er gerade am Rathaus vorbeilief, trat die erste Reihe der Infanteristen hinter die zweite zurück, um nachzuladen. Die Soldaten vorne knieten sich hin und legten an. Der Donner der letzten Salve hing noch in der pulvergetränkten Luft, als der Unteroffizier auch schon schrie: »Feuer!«

Menschen lagen stöhnend und blutend auf dem Kopfsteinpflaster. Welch Wahnsinn.

Hauke hastete auf die Persianischen Häuser zu. Mit wenigen Schritten hatte er die vierstöckigen Fachwerkbauten erreicht, die früher einmal Lagerhäuser gewesen waren.

Der Mörder rannte um die Ecke, wo der Kirchhof der Nikolaikirche begann. Hauke hetzte hinterher, bekam vor Anstrengung kaum noch Luft. Endlich erreichte er die Rückseite der Persianischen Häuser. Dort standen mehrere Handkarren um einen Baum herum, denen er im letzten Moment gerade noch ausweichen konnte.

Atemlos blieb er stehen, schaute sich um, unschlüssig, wohin er sollte. Zu seiner Linken erhob sich die Nikolaikirche mit ihrem spitzen Dach, zur Rechten die schäbig wirkende Rückseite der Häuserzeile.

Hauke hörte eine Tür zufallen. Er fuhr herum. In einiger Entfernung saß ein Mädchen mit geflochtenen Zöpfen. Voll Schreck blickte sie zu einer nahen Tür hinüber, während sie ihre Strohpuppe ängstlich an sich presste.

Hauke lief an dem Kind vorbei und stieß die Tür auf. Er stolperte in tiefes Schwarz hinein. Sofort zuckte er zurück. Übler Geruch stieg in seine Nase.

Eine Stimme in seinem Kopf warnte ihn, diese Dunkelheit zu betreten. Das Bild herabstürzenden Wassers machte sich in ihm breit, es durchbrach eine Schiffswand, drohte ihn zu ersäufen. Haukes Herz raste schneller. Er rang nach Luft. Der Untergang seines Schiffes, dreiundfünfzig tote Männer und er als einzig Überlebender. Ein Irrsinn!

Seit damals suchten ihn diese Erinnerungen immer wieder heim. Allerdings war Hauke nicht der Mann, der aufgab oder sich vor dem Unvermeidlichen drückte. Und so trat er in die Dunkelheit hinein.

Er würde die Angst in seinem Schädel bekämpfen, wo auch immer sie ihn in die Knie zwingen wollte. Das hatte er in der kalten Zelle eines Irrenhauses gelernt, in das sie ihn damals gesperrt hatten. Damals, als man ihm nicht glaubte, dass er sich nicht mehr an den Untergang erinnerte. Damals, als sie glaubten, das Gedächtnis aus ihm mit unwürdigsten Methoden herausquälen zu können. Er hatte alles überlebt, und er würde auch die Minuten in diesem elenden Flur überleben. Die Raserei in seinem Kopf konnte kaum halb so schlimm sein wie all das, was hinter ihm lag.

Mit jedem vorsichtigen Schritt in die Dunkelheit wurde das Tageslicht mehr und mehr von der Düsternis im Treppenhaus verschlungen. Es roch nach Essen und Urin, nach Müll und Armut. Hauke wartete, bis sich seine Augen an die Schwärze gewöhnt hatten. Irgendwo quietschte eine Tür in ihren Angeln. Vor sich konnte er die Schemen einer schmalen Stiege erkennen.

Die ausgetretenen Bretter knarzten unter seinem Gewicht. Langsam erklomm er die Stufen in den ersten Stock. Er spürte Übelkeit in sich aufkommen und schluckte. Irgendwo weinte ein Kind. Jemand pöbelte es an. Woanders gab es Streit zwischen zwei Frauen. In einer Wohnung sang jemand mit kehlig-lallender Stimme.

Haukes Atem ging mit jeder Stufe, die er höherstieg, flacher. Er wusste, dass sich gleich der Eisenring um seine Brust legen würde. Die Enge würde ihm immer mehr die Luft rauben, bis er drohte, ohnmächtig zu Boden zu sinken. Schon wurde seine Haut kalt und zugleich schweißnass.

Sie kommen, schrie es in seinem Kopf. Sie kommen!

Er krallte sich am Treppengeländer fest, denn der Boden unter seinen Füßen begann sturmgleich zu wanken. Gleich würde er die Stufen hinunterstürzen. Schnell kniff er die Augen zu. Halt in diesen Momenten war einzig sein versunkenes Schiff: die »Revenge«. Er würde ihre Takelung im Geiste aufsagen, um die Unordnung in seiner Seele mit harter Ordnung zu bekämpfen.

»Klüver, Binnenklüver, Vor-Stag«, murmelte er mit brechender Stimme leise. »Focksegel, Vor-Untermarssegel, Vor-Obermars, Vor-Bram, Vor-Royal…« Er rief sich jedes einzelne Segel ins Gedächtnis, die ausgebesserten Stellen, ihre weiße und graue Färbung, ihre zerfetzten Fäden, wenn ein Sturm sie zerrissen hatte. »Großmast: Stagsegel, Großsegel, Groß-Untermars, Obermars, Bramstag…«

Langsam, ganz langsam ließen Schwindelgefühl und Übelkeit nach. Sein Herz schlug ruhiger. Der Eisenring löste sich ein wenig, bis der Kapitän der »Revenge« wieder atmen konnte.

Seit dem Untergang seines Schiffes vor einigen Jahren verfolgten ihn diese Anfälle wie wilde Hunde, jagten ihn durch den Hades, bis er erschöpft in Ohnmacht fiel. Nicht so dieses Mal! Dieses Mal musste er unbedingt seine Sinne beisammenhalten.

Haukes Kehle war trocken, als er sich mit weichen Knien am Geländer hochzog und weiterging. Der Mörder war nah. Er fühlte es.

Ganz oben angekommen, bemerkte Hauke, dass eine Tür spaltbreit offen stand. Dahinter sang ein Mann mit rauer Stimme vor sich hin. Es war ein Seemannslied. Hauke schaute sich in der Etage um. Neben ihm lag eine vernagelte Tür, die wahrscheinlich auf den Dachboden des Hauses führte. Vielleicht hatte der Mörder über die Dächer entkommen wollen, jedoch den Ausgang verschlossen vorgefunden. Somit war einzig die Wohnung, aus der das Lied kam, seine Möglichkeit zur Flucht.

Vorsichtig schob Hauke die Tür ein wenig weiter auf. Sie quietschte. Er lugte in den Raum hinein, wo ein Alter auf einem Hocker saß. In der Hand hielt der Mann eine Schnapsflasche. Die abgestandene Luft im Raum stank nach billigem Fusel. Überall lagen Wäschestücke herum. Auf dem Küchentisch surrten Fliegen um einen Teller mit Essensresten. Ansonsten zählte Hauke fünf, nein, sechs weitere Flaschen, die herumlagen, allesamt leer. Rhythmisch bewegte sich der Alte zu seinem Singsang vor und zurück, ohne Hauke zu beachten. Den Besoffenen zu fragen, ob er einen Fremden gesehen habe, sparte Hauke sich. Er öffnete die Tür so weit, dass er sicher sein konnte, dass niemand dahinter stand. Dann trat er ein. Sofern der Mörder keinen Unterschlupf in einer der unteren Wohnungen gefunden hatte, war hier seine letzte Möglichkeit, über das Dach entkommen zu können.

Die Behausung bestand aus der Küche und einer Schlafkammer mit zwei Betten, die zu Haukes Rechter abging. Ein hoher Kleiderschrank befand sich an der Wand, der so gar nicht zum Rest der schäbigen Einrichtung passen wollte. Langsam ging Hauke weiter. Als er fast bei dem Alten stand, spürte er einen Luftzug. Er fuhr herum.

Die Türen des Kleiderschrankes flogen auf, und etwas Großes sprang heraus. Schnell hob Hauke den Arm, als der Mörder auch schon eine leere Flasche auf ihn heruntersausen ließ.

Ein höllischer Schmerz durchzuckte Haukes Unterarm. Er schrie auf. Das Stechen zog blitzartig in die Schulter und durch seinen ganzen Körper. Hauke drehte sich, um dem nächsten Schlag zu entkommen. Dann holte er mit der Linken aus. Die Faust traf den Angreifer im Gesicht. Die Flasche fiel klirrend zu Boden. Der Mann stolperte nach hinten, wobei er eine Waschschüssel samt dreckiger Seifenlauge mitriss. Ein Schemel unter ihm ging zu Bruch. Sofort stürzte sich Hauke auf ihn. Aber der Mann war flink und wich aus. Hauke bekam gerade noch den Kragen seiner Jacke zu fassen. Er versuchte, ihn zu Boden zu zerren, doch der Mann riss sich los, wobei er die Jacke verlor.

Erstaunt glotzte der Alte die beiden kämpfenden Männer in seiner Küche an.

Hauke rappelte sich auf. Der Mörder durfte nicht fliehen. Gerade als er sich aufrichtete, um ihn zu verfolgen, sah Hauke, wie der Kerl sich umdrehte. In der Hand hielt er den Revolver.

Mitten in der Bewegung erstarrte Hauke. Langsam hob er beide Hände, ohne den Mann aus den Augen zu lassen. Der Kerl war etwa einen Meter neunzig groß. Er trug die Kleidung der Arbeiter vom Hafen, hatte rotes Haar, was für seine etwa dreißig Jahre zu dünn und schütter war. Hauke bemerkte, dass dem Mörder an der rechten Hand der Ringfinger fehlte. All das prägte Hauke sich ein, während er Schritt für Schritt zurückwich, bis ein Ofenrohr ihn aufhielt.

Keuchend lehnte indes sein Gegner an der gegenüberliegenden, schimmelnassen Wand. Er wischte sich das Blut von der Nase, während er Hauke anstarrte und zu überlegen schien, was er tun sollte.

Da hallte das Poltern schwerer Schritte im Treppenhaus zu ihnen herauf. »Im Namen des Kaisers! Polizei! Niemand verlässt das Haus!«, drang die donnernde Stimme des Gesetzes bis in die Küche.

Der Mörder fuhr zur Tür herum. Auch Hauke blickte dorthin. Gerade wollte Hauke den Wachtmeistern im Treppenhaus etwas zurufen, als der Dürre diesen Moment der Unaufmerksamkeit nutzte. Mit dem Griff seiner Waffe schlug er hart gegen Haukes Schläfe. Hauke sackte zusammen. Schwer stieß sein Kopf gegen die Kante einer eisernen Kochstelle.

Grobe Hände rüttelten an Haukes Revers. Vorsichtig öffnete er seine Augen. Über sich erkannte er das Gesicht von Wachtmeister Kehr, einem runden, gemütlichen Mann mit Zwirbelbart.

Haukes Kopf dröhnte. Er versuchte sich aufzusetzen, während er seinen Schädel befühlte. Der Schlag hatte die Stirn aufplatzen lassen. Das Blut begann bereits zu trocknen. Er musste hier eine ganze Weile bewusstlos gelegen haben.

Wachtmeister Kehr und der andere Uniformierte schauten abschätzig zu Hauke herunter. »Das wird den Herrn Kommissar aber gar nicht freuen, wenn er hört, wo wir seinen entlaufenen Gehilfen wiedergefunden haben«, meinte Kehr. Der andere nickte und steckte die Daumen in den breiten Gürtel seiner Uniform.

»Gesoffen hat der Hund«, sagte Kehr nur angewidert.

Der andere schnüffelte. »Jo, der stinkt mächtig.«

Tatsächlich brannte der Fusel in dem engen Raum sogar in Haukes Nase. Als er vorhin in die Wohnung getreten war, hatte er das gar nicht bemerkt, jetzt aber roch es tatsächlich widerwärtig.

Gerade wollte Hauke den beiden Wachtmeistern erklären, was passiert war, als er seine nasse Jacke bemerkte. Ein ekliger Geschmack in seinem Mund ließ ihn schlucken. Da wurde ihm klar, dass die beiden ihn meinten. Offenbar hatte der Dürre ihm von dem Schnaps des Alten eingeflößt, während er ohnmächtig war. Wahrscheinlich hatte er den Rest über die Jacke gekippt.

»Ich trinke keinen Alkohol«, krächzte Hauke und setzte sich auf. Die Männer lachten. Mit pochendem Kopf drehte Hauke sich um. »Wo ist der Alte?«

Der versoffene Alte war fort. Mit schmerzverzerrtem Gesicht presste Hauke beide Hände gegen seine Schläfen. »Fragen Sie ihn, was er gesehen hat«, flüsterte er. »Der Mann ist ein Zeuge.«

»Brehmer? Ein Zeuge? Der Saufkopp würde nicht einmal seine eigene Mutter erkennen, wenn sie vor ihm stünde.« Mit diesen Worten ergriffen die beiden Uniformierten Hauke und schleiften ihn wie einen Gefangenen ins Treppenhaus.

»Ich muss zu Kommissar Bahnsen«, rief Hauke, während ein Schwindelgefühl drohte, ihm die Sinne zu rauben. Doch dieses Mal waren es nicht die wilden Hunde in seinem Kopf, die ihn niederrangen, sondern der Schlag des Revolvers. Hauke hörte noch, wie einer der beiden sagte, man würde ihn nun zu Vater Streich bringen. Dann verlor er erneut das Bewusstsein.

Als Hauke wieder zu sich kam, lag er auf einer hölzernen Pritsche. Die beiden Wachtmeister hatten ihre Drohung wahr gemacht und ihn in eine der Zellen in der Wilhelminenstraße gebracht, wo der Gefangenenaufseher Streich seit Jahren waltete.

Hauke versuchte sich umzusehen, aber die Wände um ihn herum schienen immer näher zu kommen. Schnell schloss er wieder seine Augen. Abermals wollte sich die Angst ihren Weg in sein Bewusstsein bahnen. Hauke begann erneut, die Takelung seines Schiffes vor sich hinzumurmeln. Er konzentrierte sich, so gut es ging.

Nach einigen Minuten hatte er die wilden Hunde wieder im Griff. Enge Räume versetzten ihn nach all der Zeit noch immer an den Rand des Irrsinns.

Vorsichtig setzte Hauke sich auf. Die Wände der düsteren Zelle mit dem Holztisch und dem dreibeinigen Hocker darin waberten noch immer, als er sich von der Pritsche hochstemmte und schwankend zur vergitterten Tür stolperte. Er klammerte sich an die kalten Eisenstäbe und rief nach Aufseher Streich.

Erst als Hauke wohl gut eine Stunde nach dem Mann gerufen hatte, kam dieser den Gang entlanggeschlurft. »Was willst du?«

»Vater Streich! Endlich! Ich muss Kommissar Bahnsen sprechen.«

»Der Herr Kommissar gab Anweisung, dich so lange hier zu lassen, bis du nüchtern bist. Er erwartet dich morgen früh um acht Uhr.« Der oberste Aufseher in der Wilhelminenstraße wollte wieder nach oben gehen, wo der Wachraum lag.

Für einen Moment war Hauke sprachlos. Bahnsen glaubte tatsächlich, Hauke hätte im Dienst getrunken?

KIEL. (POLIZEIRAPPORT) VERHAFTET SIND: EIN MÄDCHEN WEGEN UNTERSCHLAGUNG, ZWEI MATROSEN WEGEN RANDALIERENS IM CAFÉ GÄTHJE, EIN ARBEITER WEGEN TRUNKENHEIT, VIER COMMIS WEGEN VERDACHTS DES EINBRUCHDIEBSTAHLS, EIN ARBEITER, WELCHER DAS REISENDE PUBLIKUM AM BAHNHOF BELÄSTIGTE, EINE WITWE WEGEN BETTELNS…

Originalauszug: Kieler Zeitung 1894

Der letzte Schlag der Kirchturmuhren in der Stadt war noch nicht verklungen, als Hauke im ersten Stock der Polizeidirektion am Martensdamm vor der Tür zu Bahnsens Amtszimmer stand. Der Erste Kriminalkommissar sei noch nicht im Haus, hatte einer der Wachtmeister unten gesagt und dabei angeekelt fortgeblickt. Hauke wusste, dass er abscheulich riechen musste. Bei Vater Streich hatte es keine Waschschüssel für ihn gegeben, und gegessen hatte Hauke seit über vierundzwanzig Stunden nicht.

Da kam Kriminalsergeant Scheller, ein untersetzter Mann aus dem Lauenburgischen, die Treppe herunter. Im Arm trug er einige Akten. Als er an Hauke vorbeiging, raunte er nur: »Den Beobachtungsposten verlassen, um zu saufen! Pfui. Eine Schande!«

Offensichtlich hatte sich Haukes angebliches Fehlverhalten während der Dienststunden bereits herumgesprochen. Hauke wusste, dass es sinnlos war, sich zu verteidigen. Gegen boshafte Gerüchte hatte die Wahrheit keine Waffen. Und dass Bahnsen ihn entlassen würde, stand für Hauke außer Frage. Also schwieg er und wartete auf das Unvermeidliche.

Stumm betrachtete er seine schwieligen Hände. Es waren die Hände des Seemanns, der er früher einmal gewesen war. Sein ganzes Leben hatte er auf salzkrustigen Planken verbracht, bis zu dem einen Moment vor fünf Jahren, an den er sich nicht mehr erinnern konnte.

Alle waren gescheitert, die Anklage ebenso wie seine Verteidiger, die Admiralität ebenso wie die Ärzte. Es gab keine Zeugen, die Kapitän Hauke Sötje ein Fehlverhalten hätten nachsagen können. Seine einzige Schuld schien darin zu bestehen, noch am Leben zu sein. Hauke hätte jede auch noch so schändliche Deutung akzeptiert, wenn sie nur die Lücke in seinem Gedächtnis plausibel gefüllt hätte.

Doch dann, als er schon mit sich und dem Leben abgeschlossen hatte, kam Sophie-Louise Struwe. Hauke lächelte bei dem Gedanken an Sophie, die genau wie er alles verloren hatte. Doch anders als er war sie stark und weigerte sich, dem Schicksal freie Hand zu lassen. Nachdem sie in Schande aus ihrer Heimatstadt flüchten musste, begann sie in Lübeck ein neues Leben. Im Roquetteschen Lehrerinnenseminar hatte sie kürzlich mit Auszeichnung ihr Studium abgeschlossen. Jetzt plante sie, ihren Lebensunterhalt als Lehrerin zu verdienen.

Für Hauke war eine Zukunft ohne Sophie sinnlos. Als ordentlicher Kriminalsergeant mit Jahressalär und Pension würde er ihr eine bescheidene Zukunft bieten können. Und so trug er seit mehreren Wochen ein kleines samtenes Kästchen bei sich. Darinnen war ein Verlobungsring. Noch hatte er nicht den rechten Moment gefunden, um Sophie zu fragen. Noch hatte er nicht die ersehnte Festanstellung. Noch war die Zeit für einen Antrag nicht reif. Noch lag der Ring in seiner Schatulle, eingewickelt in Seidenpapier.

Wenn Bahnsen ihn jetzt allerdings aus dem Polizeidienst entfernte, wäre seine Hoffnung auf ein neues Leben dahin.

Wieder blickte Hauke auf seine Hände. Ihm fiel der Revolver ein, den er in seinem Zimmer aufbewahrte. Die Waffe lag in einer Holzkiste unter seinem Bett. Schon lange hatte er nicht mehr an den Revolver gedacht. Aber er wusste, was zu tun war, wenn ein weiteres Mal sein Leben zerbrechen sollte.

In dieser Sekunde kam Bahnsen den Flur entlanggeeilt. Anders als seine zivilen Sergeanten trug er in der Polizeidirektion stets eine Uniform samt gewienerten Stiefeln, Helm und Säbel mit Portepee an der Seite. »Reinkommen!«, schnauzte er.

Der Raum des Ersten Kriminalkommissars der Stadt war überheizt und muffig. Das einzige Fenster ging zur Straße hinaus. Bahnsen hängte seinen Säbel an einen Wandhaken. Dann legte er den Helm sorgsam auf einen Aktenschrank. Mit zusammengekniffenem Mund schritt er hinter den Schreibtisch, wo er sich schwer auf den knarzenden Stuhl fallen ließ.

»Ihr Bericht!«

Hauke legte die handgeschriebenen Zettel auf den Tisch. Dann nahm er Haltung an.

Bahnsen schob die Seiten ohne einen Blick fort. »Sie haben sich ohne Erlaubnis von Ihrem Posten entfernt.«

»Jawohl.« Hauke wusste, dass es keinen Sinn haben würde, sein Tun zu leugnen.

»Was haben Sie von der Zusammenrottung zu melden?« Bahnsen legte seine Unterarme auf den Tisch und musterte Hauke aus schmalen Augen.

Kurz rekapitulierte Hauke die Vorkommnisse. »Etwa einhundertfünfzig Männer versammelten sich Schlag vier auf dem Marktplatz. Ihr Wortführer war uns bisher nicht bekannt. Auffallender Vollbart, circa vierzig Jahre alt, schlank, blaue Augen, Hamburger Akzent–«

»Unerheblich! Der Mann wurde durch die Infanteristen liquidiert«, unterbrach ihn Bahnsen.

»Nein, der Mann starb nicht durch Gewehrkugeln, sondern durch einen Revolver. Der Täter: etwa einen Meter neunzig groß, von dünner Gestalt, Anfang dreißig, rötliches dünnes Haar, stand hinter der Menge, als er schoss. Das muss die Obduktion bereits ergeben haben.«

Bahnsen ließ seine Hand auf ein Formular fallen, das vor ihm lag. Es war der Bericht des Pathologischen Instituts, wie Hauke an dem Wappen erkennen konnte.

»Unsinn! Es gab keinen Revolver«, erklärte Bahnsen. »Diese Schmeißfliegen wurden allesamt von den Kugeln der kaiserlichen Infanteristen liquidiert.« Er beugte sich leicht über den Tisch. »Sie, Sötje, versuchen nur, Ihren Kopf mit einem eingebildeten Mörder zu retten. So ist das!«

Nun lehnte er sich zurück, wobei er die Arme vor der Brust verschränkte. »Ich schickte zwei Wachtmeister los, um Sie suchen zu lassen. Man fand Sie volltrunken in einer Absteige in den Persianischen Häusern! Da war kein Mörder. Nur Sie. Und Sie stanken nach Schnaps!«

»Ich trinke nicht«, sagte Hauke so ruhig es ging.

Bahnsens Augen wurden klein. »Sie sind seit sechs Monaten Aushilfssergeant, Sötje. Bereits einfache Aufgaben wie das Gehorchen scheinen Sie zu überfordern.«

Hauke stierte an die Wand hinter Bahnsen, wo ein Bild vom Kaiser hing. »Ich habe einen Mörder verfolgt, verdammt noch mal!«, flüsterte er.

Bahnsens Stimme dröhnte durch den Raum. »Sind Sie von Sinnen, so mit mir zu reden? Ich könnte Sie verhaften lassen!« Er sprang auf, wobei sein Stuhl polternd nach hinten kippte. »Es ist nicht das erste Mal gewesen, dass Sie mir den Gehorsam verweigert haben, Sötje. Und ich weiß, es wird nicht das letzte Mal sein.«

Bahnsen holte aus der obersten Schublade seines Tisches eine grüne Mappe mit der Aufschrift »Vertraulich« heraus. Er schlug sie auf. Deutlich konnte Hauke seinen Namen auf dem ersten Blatt lesen. »Sie verdanken es einzig und allein meinem Mitleid, dass Sie hier sind. Aber damit ist jetzt Schluss!«

Hauke hätte ihn daran erinnern können, dass es seine Kenntnisse in der Anwendung moderner chemischer Analyseverfahren, der Medizin oder sein umfangreiches technisches Wissen waren, die den Stadtrat dazu bewogen hatten, ihm eine Position als Hilfssergeant anzubieten. Bahnsen selbst hatte Hauke, der sich weigerte, mehr als nötig über seine Vergangenheit zu sagen, stets misstraut. Hauke schwieg.

Unterdes überlegte Bahnsen, welches die beste Lösung in diesem kniffeligen Fall sein konnte. Er könnte diesen Sötje entlassen und sich damit einen renitenten, ungehorsamen Aushilfssergeanten vom Hals schaffen. Gleichzeitig aber musste er befürchten, dass dieser Kerl ihm gefährlich werden konnte. Die Sache mit der Demonstration auf dem Marktplatz war außer Kontrolle geraten. Bahnsen musste mit einer Untersuchung rechnen, falls bekannt würde, dass er von dem Aufmarsch gewusst hatte, es aber nicht an Lorey weitergegeben hatte. Lorey, ein schwacher, inkompetenter Dummkopf, der nicht einmal gedient hatte.

Bahnsen begutachtete diesen Sötje genau, der da vor seinem Tisch stand und schwieg. Er hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl bei dem Kerl gehabt. Der Mann hatte ein Geheimnis. Vielleicht hatte Lorey ihn in sein Kommissariat geschleust, um ihn, Bahnsen, in eine politische Falle zu locken oder ihn offen bloßzustellen. Es gab derer viele im Stadtrat, die eine Kriminalpolizei noch immer für überflüssig hielten.

Gleichzeitig aber musste Bahnsen zugeben, dass Sötje in den letzten Monaten mehrmals erfolgreich kriminelle Subjekte überführt hatte. Da war die Schmugglerbande aus dem Dänischen, die erst kürzlich ausgehoben werden konnte, weil Sötje die entscheidenden Beobachtungen machte. Da war die Frau, die ihren Mann vergiftet hatte. Sötje wandte ein neues Verfahren an, mit dem Arsen nachgewiesen werden konnte, und überführte sie so. Diese Erfolge waren im Rathaus nicht unbemerkt geblieben. Und Bahnsen hatte die Ehre, von einigen einflussreichen Herren entsprechend gelobt zu werden, wie erfolgreich seine Männer doch seien.

Außerdem hatte dieser Sötje alles Nötige für den Dienst innerhalb kürzester Zeit gelernt, sei es die Anwendung der Daktyloskopie, die exakte Nutzung von Waffen und Sprengstoff oder die Nutzung neuer Techniken wie diese Telefonapparate oder Typenhebelmaschinen. Letzteres hielt Bahnsen für Zeitverschwendung, denn mit der Hand schreiben ging seiner Meinung nach schneller. Alles in allem war dieser Sötje den anderen Männern weit voraus.

Eine feste Anstellung als Kriminalsergeant war längst überfällig, wusste Bahnsen, aber er fürchtete diesen schweigsamen Mann, der hier vor ihm stand. Welches Geheimnis versuchte dieser Kapitän vor ihm zu verbergen?

Zudem, so musste Bahnsen zugeben, waren die Erfolge des Mannes sicherlich für sein eigenes Fortkommen von Bedeutung. Erster Kommissar in Kiel sollte für Bahnsen nur der Anfang seiner Karriere sein. Seine Pläne waren weitreichender und gingen bis nach Berlin ins Innenministerium.

Während Bahnsen also nachdachte, überflog er die Zeilen in Haukes Akte. »Warum rehabilitierte das Gericht Sie, obwohl Sie am Tod von über fünfzig guten Männern schuldig waren?«, wollte er plötzlich wissen.

Hauke schwieg. Das Gericht konnte ihm keine Schuld nachweisen. Der Freispruch war ein Freispruch zweiter Klasse. Der Makel würde ewig an ihm haften. Das aber störte Hauke nicht sonderlich. Wichtiger war ihm eine Frage, die er sich seither jede Nacht stellte: Wenn alle anderen tot waren, warum hatte Gott entschieden, ihn am Leben zu lassen?

Jetzt erhob Bahnsen sich. Er schien eine Entscheidung getroffen zu haben. »Bis auf Weiteres werden Sie im Dienst bleiben, Sötje. Aber Sie werden Schreibtischdienst verrichten.« Er legte Haukes Akte zurück in die Schublade. »Und ich werde Sie in die dunkelste Ecke des Gebäudes setzen. Am besten in den Keller. Dort können Sie Ihre Insubordination Revue passieren lassen. Vorher waschen Sie sich aber, Mann! Sie stinken!«

Hauke salutierte und schickte sich an, den Raum zu verlassen. Als er fast auf dem Flur war, drehte er sich noch einmal um. »Darf ich fragen, wie mit dem Mörder des Sozialisten verfahren wird? Wird nach ihm gesucht?«

»Es gibt keinen Sozialistenmörder, Sötje! Den haben Sie erfunden. Raus!«

Der fehlende Schlaf und der unbändige Hunger hatten in Haukes Körper eine gewisse Taubheit ausgelöst. Dumpf, die Beine kaum spürend, ging er die Stufen ins Parterre der Direktion am Martensdamm hinunter.

Die Tür zur Wachstube stand offen. Hauke hörte im Vorbeigehen, wie die Gespräche der Uniformierten drinnen erstarben, als sie ihn bemerkten. Er spürte ihre neugierigen Augen im Rücken. Hauke war nicht wütend auf diese Männer, die stets nur das Offensichtliche sahen und glaubten. Nein, er spürte brennende Wut, weil er sich von dem Dürren ohne Ringfinger in diese Lage hatte bringen lassen. Er musste den Mann finden.

Hauke meldete sich beim Wachhabenden ab, um sich gründlich zu waschen, umzuziehen und eine Kleinigkeit zu essen. Ein leerer Magen und ein leerer Kopf waren die besten Kampfgenossen für falsche Entscheidungen, wusste Hauke.

Gerade wollte er das Präsidium verlassen, als er die Stimme Wachtmeister Kehrs hörte. »Sötje!«

Hauke drehte sich um. Da flog ein dunkler Stofffetzen in hohem Bogen auf ihn zu. Mit einer knappen Bewegung riss er ihn aus der Luft.

»Ihre Jacke«, rief Kehr.

Kurz schaute Hauke die Jacke in seiner Hand an. Es war nicht seine. Das hätten diese dummen Kerle merken müssen, denn er trug die eigene stinkende Jacke ja noch am Leib. Dennoch ließ die Jacke in seiner Hand ihn aufmerken. Es war jene, die er dem Mörder bei seiner Flucht abgenommen hatte!

Sofort war Hauke hellwach. Er ging zu einem Tisch und schob die Papiere darauf wortlos zur Seite. Der Diensthabende protestierte. Hauke brachte ihn mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen. Dann begann er, die Taschen der Jacke zu durchsuchen. Sie war die einzige Verbindung, die Hauke zum Täter hatte. Und die einzige Möglichkeit, den Mann zu finden, der Antworten wusste.

Die Taschen aber waren leer. Enttäuscht wollte Hauke die Jacke schon einem der Männer zuwerfen, als er etwas zwischen Stoff und Futter fühlte. Papier. Er griff zu einem Brieföffner, der auf dem Tisch lag, und schlitzte das Innenfutter vom Kragen bis zum Saum auf.

Jemand in der Wachstube hinter ihm schnauzte, ob er nun gänzlich übergeschnappt sei.

KIEL. (LEICHENFUND) DIE SEIT DEM 16.NOVEMBER VERMISSTEN BEIDEN DIENSTMÄDCHEN DES HERRN HAUPTMANN, MIT NAMEN BEHM UND RATHJE, WURDEN GESTERN MITTAG VON DEM ARBEITER TIEDEMANN IM WASSER TREIBEND GEFUNDEN. DIE LEICHEN WAREN MIT EINEM TASCHENTUCH ANEINANDER GEBUNDEN UND SCHON STARK VERWEST. DIE LEICHEN WERDEN IN DIE LEICHENHALLE DES PATHOLOGISCHEN INSTITUTS ÜBERFÜHRT, UM HIER DIE GERICHTLICHE UNTERSUCHUNG VORZUNEHMEN.

Originalauszug: Kieler Zeitung 1894

Nachdem er sich in seinem Zimmer gewaschen und umgezogen hatte, ging Hauke in die Küche seiner Vermieterin, aus der es köstlich duftete.

»Speck, Eier, Kaffee, Butter und süßes Brot«, zählte Fräulein Bender die Herrlichkeiten auf dem Tisch auf. »Für Sie, Herr Kapitän.«

Hauke, der eine Scheibe graues Brot mit Schmalz erwartet hatte, blickte die kleine Frau mit den weißen Haaren überrascht an. »Aber warum denn das?«

»Weil ich von all dem, was die Meier’sche beim Bäcker über Sie gesagt hat, kein Wort glaube.« Mit entschlossenem Gesicht goss sie ihm den starken Kaffee in eine Tasse. »Setzen Sie sich, sonst wird er kalt.«

Langsam ging Hauke zum Tisch und nahm Platz, während Fräulein Bender trotzig ihr Kinn reckte und sich ihm gegenüber auf den Küchenstuhl setzte.