Die toten Engel von Kreta - Anja Marschall - E-Book

Die toten Engel von Kreta E-Book

Anja Marschall

0,0

Beschreibung

Die dunkle Seite Kretas, eindrücklich in rasante Bilder gesetzt. Thea reist nach Kreta, wo ihre Tochter einen tödlichen Unfall hatte. Doch die Tote, die sie identifizieren soll, ist nicht Anna. Wo ist ihr Kind? Zusammen mit einem geheimnisvollen Einheimischen, der sich Alexis nennt, stellt Thea auf eigene Faust Nachforschungen an, denn die Behörden verweigern ihre Hilfe. Nach und nach muss sie jedoch erkennen, dass Alexis von ganz eigenen Motiven angetrieben wird. Wer ist er wirklich – und was will er von Theas Tochter?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 331

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die gebürtige Hamburgerin Anja Marschall lebt mit ihrer Familie im Westen Schleswig-Holsteins, wo sie als Journalistin und Autorin arbeitet. Sie veröffentlicht seit vielen Jahren Romane und Kurzgeschichten. Im Emons Verlag erscheint ihre erfolgreiche historische Krimireihe um den Hamburger Kommissar Hauke Sötje. Marschall initiierte den ersten Krimipreis für Schleswig-Holstein und ist Herausgeberin mehrerer Anthologien.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Glossar.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Jenar/Alamy/Alamy Stock Photos

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim

ISBN 978-3-98707-062-4

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Lesen & Hören, Berlin.

Bist du ein Wolf, dann friss! – Bist du ein Schaf, dann lass dich fressen!

Nikos Kazantzakis

Prolog

Der Anruf von der kretischen Polizeistation in Rethymno kam nicht über die Zentrale. Noch bevor Heiko Gravert den Hörer abhob, ahnte er, dass es Probleme gab, denn nur ganz bestimmte Leute kannten seine Nummer. Er hörte zu, notierte sich einen Namen, erteilte Anweisungen, wie weiter zu verfahren sei. Sie sollten nur verlässliche Beamte mit dem Fall betrauen. Männer, die keine Fragen stellten.

»Die Antworten erhalten Sie von mir«, schloss er und kündigte an, die nächste Fähre auf die Insel zu nehmen. Er legte auf.

Eine Weile starrte er auf seine manikürten Hände. Jede Faser seines Körpers war angespannt.

Mit einer plötzlichen Bewegung griff er nach dem Locher auf seinem Schreibtisch und warf ihn gegen die Wand. Krachend ging das Ding zu Bruch.

Er hatte alles auf eine Karte gesetzt, alles bis ins Kleinste geplant. Er war Profi, überließ nichts dem Zufall. Nein, dieser Anruf hätte nicht sein dürfen. Er machte keine Fehler.

Langsam erhob er sich und verließ sein Büro im dritten Stock der Konsularabteilung der deutschen Botschaft in Athen.

1

Das stete Brummen unter ihren Schuhsohlen machte sie nervös. Der eisige Luftzug aus der Klimaanlage über ihrem Kopf ließ sie frösteln. Das Baby weiter vorn in der Reihe schrie noch immer. Theas Knie bohrten sich in die Rückenlehne des Vordersitzes.

Wieder schaute sie auf ihre Uhr. Die Zeiger schienen sich kaum zu bewegen. Gerne hätte sie am Fenster gesessen, um sich in den dreieinhalb Stunden bis zur Landung in Heraklion ablenken zu können, aber so kurzfristig hatte sie nur einen Platz am Gang bekommen.

Thea zwängte sich aus ihrem Sitz und lief zwischen den Reihen auf und ab. Sie musste sich bewegen, etwas tun, egal was. Sie spürte die genervten Blicke der Passagiere in ihrem Rücken. Früher hätte sie das peinlich berührt. Heute war das anders. Die letzten Wochen hatten sie verändert.

Im Vorbeigehen schaute sie in die Gesichter der Leute, die mit ihr in der Boeing 737 waren. Blass und aufgeregt freuten sie sich auf ihren ersten Tag am Stand, Sirtaki und all-inclusive unter kretischer Sonne. Sie hatten den strömenden Regen und die kleinen Sorgen in Hamburg gelassen. Die Glücklichen.

Sie selbst hatte keinen Grund, sich auf Kreta zu freuen, denn sie war keine Pauschaltouristin, sondern eine Mutter, die einen Anruf von der deutschen Botschaft in Athen erhalten hatte.

Der Mann am Telefon hatte ihr nicht sagen wollen, was genau passiert war.

»Ein Unfall«, hieß es schlicht. Seine Stimme klang mitfühlend, was sie weitaus mehr in Panik versetzte als Annas Verschwinden.

»Wie schlimm ist es?«

»Es tut mir sehr leid, Frau Winter«, sagte er nur.

Sie wollte in den Hörer schreien. Doch eine Thea Winter ließ sich nicht gehen. Niemals. Also hatte sie die Hand auf ihren Mund gepresst und die Luft angehalten.

Thea erreichte die verschlossene WC-Tür der Boeing, drehte um und kehrte zurück zu Platz 12C, während das Flugzeug über einem Meer aus weißen Wolken schwebte, unter einem Himmel in strahlendem Ultramarin. Sie ließ sich in den Sitz fallen, schloss die Augen, horchte auf ihr pochendes Herz, versuchte, ruhig zu atmen und ein wenig zu entspannen. Die Gedanken weigerten sich.

»Sind Sie sich sicher, dass es meine Tochter ist?«, hatte sie den Mann am Telefon gefragt und erfahren, dass die Polizei Annas Ausweis bei der Toten gefunden hatte. »Ich komme«, hatte sie nur gesagt und aufgelegt. Der nächste Flug ging erst am frühen Morgen.

Mit einem Mal waren die letzten Wochen voll lähmender Sorge weg. Ihre Verzweiflung über Annas Verschwinden war nahtlos in eine ungeheure Traurigkeit übergegangen, wie Thea sie noch nie gespürt hatte. Sie würde Anna nach Hause holen, auch wenn es in einem Sarg war.

Sie mussten nur endlich landen. Wieder sah Thea auf ihre Uhr. Auf dem Konto waren noch immer ein paar tausend Euro, und die Auslandsversicherung würde sicherlich die Kosten für die Überführung nach Deutschland übernehmen. Auf Hilfe von ihrem Ex-Mann konnte sie kaum hoffen. Anna war nicht von ihm, das hatte er mehr als einmal bei der Scheidung durch seinen Anwalt erwähnen lassen. Sechzehn Jahre lang hatte ihn das nicht gestört. Erst als er die neue Frau kennengelernt hatte, begann der schmutzige Rosenkrieg, der nicht nur an Theas Nerven gezerrt hatte.

Enttäuscht von ihren Eltern hatte sich Anna vor einigen Monaten mit wenig Budget auf den Weg gemacht, um ein letztes Mal ihre Freiheit zu genießen, bevor sie ein eigenes Leben in einer anderen Stadt beginnen wollte. Theas kleiner Engel war unbemerkt erwachsen geworden und flog aus. Es war schwer gewesen, sie ziehen zu lassen.

In Gedanken war Thea mit ihrer Tochter gereist. Fast täglich trafen Schnappschüsse von Anna mit wildfremden Leuten vor irgendwelchen Sehenswürdigkeiten auf ihrem Handy ein. London, Rotterdam, Paris, Marseille, Barcelona. Erleichtert hatte Thea gespürt, dass es ihrem Kind seit Langem wieder gut ging. Auf jedem Foto hatte sie gelacht.

Dann blieb das Display dunkel. Kein Wort mehr von Anna. Die letzte Nachricht kam vor drei Wochen von jener griechischen Insel, die Flug EW 746 in diesem Moment anflog.

Seitdem war Thea durch die Hölle gegangen. Jeden Tag, jede Stunde, jede verdammte Minute, die sich Anna nicht gemeldet hatte, war die Angst um ihre Tochter größer und größer geworden. Sie hatte sofort gewusst, dass Anna in Gefahr war, aber niemand hatte ihr zuhören wollen. Niemand! Warum hatte sie sich nicht mehr durchgesetzt gegen die Beamten von der Polizei, das Konsulat in Heraklion oder ihren Ex-Mann? Hätte sie Anna retten können, wenn sie sich nicht immer wieder hätte abwimmeln lassen?

Die Worte der anderen bohrten sich in ihren Kopf. »Du klammerst, Thea.« – »Sie braucht vielleicht nur eine Auszeit von eurer Scheidung, Thea.« – »Hör auf zu nerven, Thea.« – »Seien Sie vernünftig, Frau Winter.«

Und nun war Anna tot.

Thea massierte ihre schmerzenden Schläfen, als die Maschine unerwartet nach unten sackte. Ein Schreck durchfuhr sie bis in die Fingerspitzen. Sie klammerte sich an der Armlehne von Reihe zwölf, zitterte. Sie durfte nicht sterben. Nicht hier. Nicht heute.

Jemand weiter hinten lachte künstlich und murmelte etwas von Luftlöchern. »Die entstehen, wenn …«

Nur ein Luftloch, natürlich, nur ein Luftloch, beruhigte sich Thea. Tief atmete sie ein, wartete, dass das schwere Pochen in ihrer Brust nachließ.

Das Schild zum Anschnallen blinkte über ihrem Kopf, und die schnarrende Stimme des Kapitäns informierte sie, dass sie sich im Landeanflug auf Heraklion befanden.

In einer sanften Rechtskurve folgte die Boeing dem Verlauf der Küste. Durch das Fenster konnte Thea ein Stück vom azurblauen Mittelmeer erkennen. Zwischen Wellenkämmen entdeckte sie die weißen Segel einiger Yachten und die eleganten Aufbauten zweier spielzeuggroßer Kreuzfahrtschiffe, die wie hingemalt aussahen. Ein paradiesisches Versprechen von Strand und Wärme, Abenteuer und Licht. Hier konnte man nur leben, niemals sterben.

Thea wurde übel.

2

Merkwürdig groß erschien Thea der Flugzeugbauch, in dem sie bald darauf allein saß, nachdem die anderen Passagiere ausgestiegen waren. Das Brummen war einem leisen Summen gewichen, die Klimaanlage pustete ihr keine kalte Luft mehr ins Gesicht. Schlagartig stiegen die Temperaturen im Innenraum.

Eine Stewardess hatte Thea gesagt, man werde sie abholen. Also wartete Thea und fragte sich, wer das sein könnte. Sie kannte niemanden auf der Insel. Die Flugbegleiterin stand an der offenen Gangwaytür und wartete ebenfalls ungeduldig, denn der Pilot und die Besatzung waren bereits von Bord gegangen.

Draußen rollten Servicefahrzeuge herbei. In den Motorenlärm der Wagen und eines in der Nähe startenden Flugzeugs mischte sich das Pfeifen des Windes. Die Warnjacken des Bodenpersonals flatterten. Einem der Arbeiter flog die Baseballmütze vom Kopf, er musste ihr nachlaufen.

Ein dunkler SUV hielt am Fuß der Gangway. Ein schlanker Mann stieg aus. Der Wind zerzauste sein blondes Haar, als er seine Anzugjacke aus dem Wagen nahm und anzog. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte er die Treppe herauf und schenkte der Stewardess ein charmantes Lächeln, was sie ebenso routiniert freundlich erwiderte.

Er trat zu ihr.

»Frau Winter?« Seine Haut war weich, der Händedruck fest und entschlossen. »Mein Name ist …«

»Wo ist meine Tochter?«

»… Heiko Gravert.« Er reichte ihr seine Visitenkarte. »Wir haben gestern telefoniert. Ich hatte versucht zurückzurufen, leider war der Anschluss besetzt.«

»Verzeihen Sie, ich musste einen Flug buchen.« Tatsächlich erinnerte sich Thea an den Namen. Gravert war ein eleganter Mittvierziger mit welligen Haaren, randloser Brille und teurem Anzug. Irgendwie hatte sie sich ihn jünger vorgestellt.

Sie schaute auf die Karte mit dem Bundesadler in ihrer Hand. Attaché für Rechts- und Konsularwesen. »Athen?«

»Ich wurde nach Kreta abgestellt, um Ihnen zu helfen.« Wieder huschte ein Lächeln über sein glatt rasiertes Gesicht. Er hatte Grübchen. »Ist das Ihr Gepäck?« Er griff nach ihrer alten Reisetasche, die in Reihe drei auf einem der Sitze stand. »Sie hätten nicht kommen müssen, Frau Winter. Wir hätten von Kreta aus alles für Sie abgewickelt.«

»Ich nehme an, Sie haben keine Kinder.«

Nein, hatte er nicht.

»Dachte ich mir.«

Als Thea aus der Kühle des Fliegers in die kretische Sonne hinaustrat, zuckte sie zusammen. Schützend legte sie eine Hand über die Augen, schirmte sich vor dem gleißenden Licht ab. Sofort bildete sich Schweiß auf ihrem Rücken, denn eine heiße Böe begrüßte sie wie der Atem eines Drachens. Sie wich zurück, wollte wieder in den Flieger, um der unsichtbaren Mauer aus Hitze zu entfliehen. Das ungute Gefühl überkam sie, die Insel wollte sie nicht haben und sie zurückschicken ins kalte Hamburg.

»Das ist der Schirokko«, erklärte Gravert hinter ihr. Er musste die Stimme ein wenig erheben, denn das Gemisch aus Sturm und Motorenlärm schwoll an, als eine andere Maschine in der Nähe durchstartete.

Thea nickte und nahm die Stufen zum flirrend heißen Asphalt hinunter. Deutlich hörte sie den Wind zischen: Geh zurück, geh, geh …

Gravert hielt ihr die Beifahrertür seines Wagens auf. Die Reste klimatisierter Kälte empfingen sie. Erleichtert ließ sie sich auf den Sitz sinken.

»Wo ist Anna?«, fragte sie den Mann vom Konsulat.

Diesmal verzichtete er auf ein Lächeln und schnallte sich an. »Ich werde Ihre Fragen, soweit möglich, auf dem Weg ins Hospital beantworten.«

Kaum hatten sie den Flughafen verlassen und sich in den unübersichtlichen Verkehr von Heraklion eingefädelt, überfiel Thea eine unglaubliche Müdigkeit. Angestrengt versuchte sie, die Augen offen zu halten. Wo war Anna in den Tagen zwischen ihrer letzten Nachricht und ihrem Tod gewesen?

Gravert zog etwas aus seiner Hemdtasche heraus und reichte es Thea. Es war Annas Personalausweis. »Ist sie das?«

Vorsichtig nahm sie ihm die Plastikkarte aus der Hand. »Ja«, sagte sie kaum hörbar. Ihre Finger strichen über Annas Porträtfoto. »Wo haben Sie ihn gefunden?«

Er zögerte. »Bei der Toten.«

Thea umklammerte den Ausweis. Die Kanten schnitten schmerzhaft in ihre Handfläche.

»Ich kann mir denken, dass Sie in diesem Moment lieber bei Ihrer Familie wären als hier …«

»Anna ist … war meine Familie«, sagte sie. Der Wagen überholte einen Shuttlebus voller Touristen, die sicherlich an irgendeinem Strandhotel ausgekippt werden würden. Thea hasste jeden einzelnen von ihnen.

Gravert erwiderte etwas. Sie hörte ihn nicht, sondern schaute zu den Menschen am Straßenrand, die in sommerlicher Kleidung ihre Einkäufe erledigten, schwatzten oder umherflanierten. Keiner von ihnen ahnte, was passiert war.

Eure Kinder leben!, wollte Thea hinausschreien. Da bemerkte sie, dass nicht eine Träne über ihr Gesicht lief. Müsste sie nicht weinen? Vielleicht kamen sie ja noch, wenn der Mann neben ihr aufhören würde zu reden und einfach verschwand.

Graverts weiche Stimme drang zu ihr durch. »Sie können mir das Foto von Anna geben. Ich übernehme die Identifizierung für Sie, falls Ihnen das zu viel ist. Das könnte ich absolut verstehen.«

»Nein«, sagte Thea leise. »Ich möchte meine Tochter ein letztes Mal sehen.«

Gravert setzte den Blinker. Heraklion schien nur aus kastenartigen weißen Gebäuden unter blauem Himmel und bunten Autos aller Verfallsdaten zu bestehen. Sie überholten einen rostigen Honda Civic. Auf dem Fahrersitz saß ein Kreter mit wirrem grauem Haar und ungepflegtem Bart. Lässig ließ er einen Arm aus dem Fenster hängen. In seinem Mundwinkel hing eine Zigarette.

Der Weg zur Universitätsklinik von Heraklion führte vom Flughafen Richtung Westen, vorbei an einem Industriegebiet mit haushohen Öltanks. Dahinter schob sich ein Kreuzfahrtschiff durch das pittoreske Meer in den Hafen hinein. Noch mehr Touristen für diese hungrige, arme Insel, dachte Thea.

Schweigend fuhren sie aus der Stadt.

3

Der gelblich weiße Klinikbau war kleiner, als sie erwartet hatte. Er sah aus wie eines der vielen Hotels mit ihren Flachdächern und schmucklosen Fassaden, an denen sie vorbeigefahren waren. Ein Zaun, dahinter Palmen, eine Auffahrt mit mannshohen Agaven, ein Parkplatz, Menschen, die emsig hinein- und herauseilten.

Man geleitete sie und Gravert in den hinteren Teil des Klinikgebäudes. Ein älterer Grieche mit stolzem Oberlippenbart erwartete sie bereits. Er stellte sich in bestem Englisch als Leitender Oberarzt vor. Ein uniformierter Polizist stand bei ihm und schaute mürrisch zu Thea und Gravert herüber, während der Arzt erklärte, dass die Obduktion auf dem Festland vorgenommen werden würde. Thea nahm alles wie durch Watte wahr. Sie wollte zu ihrer Tochter.

Der Oberarzt bat sie, ihnen zu folgen. Sie hatte seinen Namen nicht verstanden. Der Konsulatsmann drehte sich zu Thea, legte eine Hand auf ihren Unterarm und bot zum wiederholten Mal an, dass er die Identifizierung für sie übernehmen könne, wenn sie es wünsche. Stumm schüttelte Thea den Kopf.

Bis auf einen klapprigen Stuhl war der Raum leer und wirkte schäbig. Durch ein Fenster war statt Sonnenschein ein Nebenraum zu sehen. Dort ging ein Riss in der gefliesten Wand wie ein gezackter Blitz von der Decke bis nach unten. Es kostete Thea übermenschliche Anstrengung, den Blick an der Linie entlanggleiten zu lassen, Fuge für Fuge, bis er auf die schwarzen Locken eines Mannes traf, der in dem Raum wartete.

Langsam fuhren Theas Augen über seine Schulter, weiter am weiß bekittelten Arm entlang bis zu seiner Hand. Sie hielt den Zipfel eines Lakens, mit dem man Annas Körper bedeckt hatte.

Thea zögerte. Sie spürte die Ungeduld der Männer.

Auf einen Wink des Oberarztes hin hob der Pfleger das Tuch und schlug es bis zu den nackten Schultern der Toten zurück. Theas Knie wurden weich. Sie griff in die Luft, suchte Halt, fand Graverts Arm.

»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Ich hatte Sie gewarnt. Der Unfall ist wirklich schwer gewesen. Ein Fall aus großer Höhe. Sie starb an inneren Blutungen.«

Jemand schob ihr einen Stuhl zu. Thea wollte sich nicht setzen. Stattdessen trat sie einen Schritt näher an die Scheibe, die sie von der Bahre mit dem toten Leib darauf trennte. Sie legte eine Hand auf das kalte Glas. Die langen Haare, das schmale Gesicht. Ja, es war Anna. Und auch wieder nicht. Was machte der Tod mit einem, wenn er erst einmal sein Werk vollendet hatte?

»Arm, rechts«, krächzte Thea. Als niemand reagierte, wiederholte sie die Worte ein wenig lauter und erklärte, dass Anna als Kind von einem Hund gebissen worden sei. »Sie hat Narben.«

Gravert sagte etwas zu dem Mediziner neben ihm. Der Arzt drückte auf den Knopf einer altmodischen Gegensprechanlage und gab einen Befehl, woraufhin der Pfleger den Arm freilegte.

Thea sackte zu Boden.

Die Ohnmacht konnte nicht lange gedauert haben. Man half ihr auf den Stuhl.

»Das ist nicht Anna.« Sie hörte ihre eigene Stimme wie aus weiter Ferne. Trocken und heiser fügte sie hinzu: »Not my daughter. Not Anna.«

Der Polizist, der bisher nur schweigend dagestanden hatte, grummelte etwas, das wie ein Fluch klang.

»Kennen Sie die Tote?«, wollte er in gebrochenem Englisch wissen.

»No.« Tränen liefen ihr übers Gesicht. Der Arzt reichte ihr sein Stofftaschentuch. Sie hatte keine Kraft, es zu benutzen. »Das ist nicht meine Anna.«

Eine Welle verzweifelter Erleichterung überfiel Thea. Sie hätte auflachen mögen, tat es aber nicht.

Etwas später saß sie vor dem Eingang der Klinik auf einer Steinmauer im Schatten einer Agave und versuchte, ihre Gedanken festzuhalten. Anna war nicht tot! Ihre Tochter lebte. Nur wer war die junge Frau auf der Bahre? Und wo war Anna? Die beiden jungen Frauen hatten eine gewisse Ähnlichkeit. Es war nur zu verständlich, dass man die Tote für Anna gehalten hatte. Nur wie war die Frau an den Ausweis ihrer Tochter gekommen?

Einige Meter weiter unterhielten sich der Mann vom Konsulat und der Polizist. Gravert griff nach seinem Handy. Griechische Worte drangen wie Gewehrschüsse aus seinem Mund. Die Männer schienen angespannt, was Thea als gutes Zeichen wertete. Vielleicht nahmen die beiden sie ernst und würden endlich nach Anna suchen.

Thea schloss die Augen, spürte die warme Sonne auf der Haut. Ihr Magen knurrte. Ihr fiel ein, dass sie seit dem Anruf nichts mehr gegessen hatte. Geschlafen hatte sie auch nicht. Bleierne Müdigkeit überfiel sie.

Als Thea die Augen wieder öffnete, ließ Gravert gerade sein Telefon in die Tasche seiner Jacke gleiten. Er wechselte einige Sätze mit dem Polizisten, der daraufhin grußlos wegging.

Der Mann vom Konsulat kam zu ihr. »Sobald die Polizei etwas weiß, wird sie sich bei Ihnen melden.«

Thea schaute ihn lange an. »Warum erst heute? Ich hatte bereits vor zwei Wochen angerufen und gesagt, dass Anna vermisst wird.«

»Es gab keine Anzeige. Die Behörden in Deutschland …«

Thea stand auf. »Ich habe herumtelefoniert und jedem erklärt, dass da etwas nicht stimmt. Alle haben mich wie eine verrückte Alte behandelt.« Sie dachte an Enno, ihren Ex-Mann, der sicherlich genau das den Beamten gesagt hatte, sofern überhaupt jemand nachgefragt hatte. Sie drückte ihre Wut zurück in den Bauch. »Sagen Sie mir, was wirklich passiert ist. Das war kein Unfall. Die Brandmale auf ihrem Arm. Stammen die von Zigaretten? Ich meine, hat da jemand …?«

Gravert schwieg. Thea versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, was er dachte. Seine graublauen Augen schauten betroffen, die Grübchen in seinen Wangen wirkten im Sonnenlicht wie hineingemeißelt.

»Wer ist sie?« Thea dachte an die andere Mutter, die sicherlich in diesem Moment vor einem Telefon saß und verzweifelt auf den Anruf der Tochter wartete. Genauso wie sie es getan hatte. »Warum hatte sie Annas Ausweis bei sich? Ist meine Tochter auch in der Höhle gewesen, wo das arme Ding gefunden wurde?« Ein Schauder lief über ihren Rücken.

»Es gab keine Hinweise auf eine zweite Person. Der Fundort wurde akribisch untersucht, wie die Polizei mir mitteilte. Es ist ein Wunder, dass man sie überhaupt entdeckt hat. Sie müssen wissen, dass es auf der Insel Tausende Höhlen gibt.« Er seufzte. »Vielleicht kann die Botschaft in Athen Hinweise auf ihre Identität ermitteln. Mit etwas Glück stammt sie ebenfalls aus Deutschland und wurde dort irgendwo registriert, mit Fingerabdrücken oder Ähnlichem.«

»Hat man die Ärmste …?« Sie hielt die Luft an, wollte es nicht aussprechen. Gravert verneinte. »Gott sei Dank.« Thea lächelte ihn müde an. »Das ist gut. – Anna. Ohne Ausweis kann sie die Insel nicht verlassen, jedenfalls nicht, um nach Hause zu kommen. Sie muss also noch hier sein.«

»Sie könnte auch auf das griechische Festland gefahren sein. Dafür braucht sie keinen Ausweis«, widersprach Gravert.

»Vielleicht hat sie einen im Konsulat beantragt«, überlegte Thea laut. »Das müssten Sie doch wissen?«

»Es gibt neben der Botschaft in Athen zwei zuständige Honorarkonsulate auf Kreta, eines in Heraklion und eines in Chania. Ich werde dort nachfragen. Ich denke aber, Frau Winter, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Höchstwahrscheinlich hat Ihre Tochter den Ausweis verloren, sich einen neuen besorgt und ist längst auf dem Heimweg nach Deutschland.«

Thea hörte ihm nur halb zu und öffnete den Reißverschluss ihrer Reisetasche. Sie zog ihr altes Handy heraus, tippte den Code ein, wischte ein wenig herum und präsentierte Gravert ein Foto. Es zeigte einen Teil von Annas blonden Haaren, den wuscheligen Pony und ihre lachenden Augen. Sie trug ein T-Shirt mit einem von Schüssen durchlöcherten blauen Kretaschild darauf. Thea kannte das Shirt nicht, dafür die karierte Bluse, die sie ihrer Tochter zum Geburtstag geschenkt hatte und die sie darunter trug. Hinter Anna lag ein Portal mit goldfarbener Aufschrift.

»›Rethymno Carlton‹, wo ist das? Sie hatte dort einen Job als Kinderanimateurin angenommen. Damit wollte sie das Geld für die Weiterreise verdienen.«

»Das müssen Sie der Polizei geben.« Er hielt ihr die Hand hin, als wollte er ihr das Telefon abnehmen.

Schnell stopfte Thea das Gerät in die Gesäßtasche ihrer Jeans und lächelte fahrig. »Ich weiß, ich weiß. Aber ich denke, dass ich besser selbst nach ihr suche …«

»Frau Winter! So geht das nicht. Das sollten Sie der Polizei überlassen. Die wissen, was zu tun ist. Ich verspreche, wir werden Sie auf dem Laufenden halten. Fliegen Sie zurück und gedulden –«

»Gedulden?« Thea lachte auf. »Ich habe mich lange genug geduldet. Wenn ich nur noch einen einzigen Tag untätig herumsitzen muss, werde ich wahnsinnig. Außerdem hatten die Behörden ihre Chance. Und sie haben sie vertan. Ich traue niemandem. Nicht Ihnen oder dem Botschafter in Athen oder der Polizei.« Sie deutete zum Krankenhausgebäude hinüber. »Eine Leiche haben Sie bereits. Wollen Sie eine zweite?« Herausfordernd sah sie Gravert an. Er holte Luft, um ihr zu widersprechen, als sie ihn unterbrach. »Also sucht die Polizei zu guter Letzt doch noch nach meiner Tochter?«

Er nickte.

»Bestimmt nicht so hartnäckig, wie ich es tun werde. Anfangen werde ich in diesem Hotel.« Thea setzte sich in Bewegung. »Wenn Sie mir nicht helfen wollen, Herr Attaché, dann auf Wiedersehen«, rief sie über ihre Schulter zurück.

Mit festen Schritten marschierte sie auf das offene Tor zu, hinter dem die Straße lag. Sie hatte keine Ahnung, wie sie zu dem Hotel gelangen sollte. Weder konnte sie Griechisch, noch wusste sie, wo Rethymno lag. Als sie nach wenigen Metern Graverts Stimme hinter sich hörte, war sie erleichtert. Sie brauchte den Botschaftsmann, ob sie wollte oder nicht.

»Um Himmels willen, Frau Winter, missverstehen Sie mich bitte nicht. Natürlich helfen wir Ihnen.« Er holte sie ein. »Stimmen Sie mit mir wenigstens darin überein, dass es besser ist, wenn Profis die Sache übernehmen? Die Möglichkeiten der Polizei sind andere als Ihre oder meine.« Er nahm ihr die Reisetasche ab und ergriff Theas Arm, um sie zum Wagen zurückzugeleiten. »Ich kann verstehen, dass Sie Kreta nicht verlassen wollen, solange unklar ist, ob es Anna gut geht. Ich bin mir sicher, dass es eine ganz einfache Erklärung für ihr Verschwinden gibt. Der verlorene Ausweis. Ein neuer Freund. Ein paar romantische Wochen irgendwo. Wenn alles vorbei ist, werden wir darüber lachen.« Er hielt ihr die Beifahrertür seines Wagens auf. »Steigen Sie ein, Frau Winter. Bitte.«

Die heiße Luft aus dem Inneren des Mercedes schlug Thea entgegen. Sie zögerte.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag.« Er musterte sie ernst. »Ich bringe Sie nach Rethymno ins Hotel. Dort bleiben Sie einige Tage, während die Polizei Ihre Tochter sucht. Versuchen Sie, sich zu entspannen. Die letzten Wochen waren hart für Sie. Sobald ich etwas erfahre, rufe ich Sie an.«

Langsam nickte Thea und stieg ein.

4

Es rauschte in ihren Ohren. Sie versuchte, die Augen zu öffnen. Die Lider klebten an den Augäpfeln, wollten sich nicht heben lassen. Das linke war geschwollen. Wie lange lag sie bereits hier? In ihrem Arm pochte ein unerträglicher Schmerz.

»Hilfe«, krächzte sie. Ihr Hals fühlte sich an wie Sandpapier.

Wo war sie? Das Rauschen schwoll an, ebbte ab, kehrte zurück. Sie versuchte zu schlucken. Auch das schmerzte. Ihre Fingerspitzen ertasteten ein Bettlaken, das über ihr lag. Es war nass geschwitzt.

»Nicht die Nerven verlieren«, mahnte sie sich wieder und wieder.

Irgendwann schaffte sie es, das rechte Auge zu öffnen, nur einen Spaltbreit. Sofort blendete sie gleißendes Licht. Schnell schloss sie es wieder.

Nach einiger Zeit versuchte sie es noch einmal. Wie im Dunst zwängten sich Sonnenstrahlen durch ein abgeklebtes Fenster in den kahlen Raum herein. Nackte Betonwände um sie herum. Vorsichtig drehte Anna den Kopf zur Seite. Ein Schmerz fuhr durch ihren Nacken in Schultern und Arme hinein. Sie stöhnte auf. Ihr wurde schwindelig, sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Übergeben? Wie sollte das gehen? Sie konnte sich nicht bewegen. Sie würde ersticken!

Erschöpft schloss sie die Augen. Schlafen. Sterben. Tiefer und tiefer sank sie hinab, wehrte sich nicht mehr. Flüsternde Stimmen in ihrem Kopf wurden lauter, verlangten, etwas zu wissen. Sie wusste nicht, was. Da löste sich eine schwarze Fratze aus der Dunkelheit, flog wie ein Geist auf sie zu, während sie mit süßen Worten auf sie einredete. Jedes einzelne Wort jagte ihr einen neuen Schmerz durch den Körper.

Endlich schrie sie.

5

»Kommen Sie!«, rief Gravert. Er stand einige Meter entfernt vor dem gläsernen Eingang zum »Rethymno Carlton«, dessen Türen lautlos zur Seite fuhren. Ungeduldig schaute er zu ihr, während sie einige Schritte rückwärtsging.

In der Hand hielt Thea das Telefon mit Annas Bild. Sie suchte den Punkt, an dem ihre Tochter gestanden haben musste, als sie das Selfie gemacht hatte. Prüfend blickte Thea zwischen der eleganten Hotelfront und dem Display hin und her. Der Golfcaddy schräg vor dem Eingang fehlte auf dem Foto. Thea war zufrieden.

»Von genau dieser Stelle aus hat Anna die Aufnahme gemacht. Das ist zwei Wochen und sechs Tage her!«, rief sie Gravert zu.

Sie schob das Handy in ihre Jeanstasche und folgte dem Mann vom Konsulat in die Lobby. Das Erste, was ihr auffiel, war die angenehme Kühle in dieser ägyptisch anmutenden Marmorkulisse. Ein Springbrunnen in der Mitte des Foyers und die Rundbögen zu den Seitenflügeln des Gebäudes erinnerten Thea an einen Palast aus »Tausendundeine Nacht«. Der Boden unter ihren Füßen war aus weißem Carrara und im Stil antiker Tempel abgesetzt. Eine geschwungene, mit einem dicken Teppich belegte Treppe führte einige Stufen in die Lounge hinunter, wo Gäste in tiefen Sofas und Sesseln saßen, Zeitung lasen oder eine Tasse Kaffee tranken. Hinter Panoramafenstern erstreckte sich eine weitläufige Terrasse. Eine schneeweiße Balustrade trennte diesen Palast vom azurblauen Meer. Unter Sonnenschirmen servierten livrierte Angestellte Drinks mit Schirmchen.

Gerne wäre Thea über den Teppich gegangen, vorbei an den Palmentöpfen und hinaus auf die Terrasse. Sie wollte sich von der Sonne wärmen lassen und herausfinden, ob sie noch lebte.

Thea riss sich von dem kurzen Traum los und wandte sich der Rezeption zu, wo der Mann von der Botschaft bereits mit einer Angestellten sprach. Sie trat zu ihnen, zog das Handy erneut hervor.

»Kennen Sie diese junge Frau?«, fragte Thea auf Englisch und hielt der Rezeptionistin das Display entgegen. »Das ist meine Tochter Anna. Anna Winter. Sie hat im ›Carlton‹ gearbeitet und ist verschwunden.«

Fragend sah die Empfangsdame zwischen ihr und Gravert hin und her. »Es tut mir leid, ich kann mich bedauerlicherweise nicht erinnern.«

Gravert drehte sich zu Thea. »Lassen Sie uns erst die Formalitäten erledigen, bitte.«

Zögerlich steckte sie das Telefon ein. »Ja natürlich. Verzeihen Sie.«

Die Rezeptionistin wies ihr Zimmer 145 zu, bei dem es sich um die letzte freie Juniorsuite handelte. Etwas anderes sei in der Hochsaison nicht mehr frei, entschuldigte sich die Frau. Thea verzichtete darauf zu fragen, was so eine Suite kosten würde. Lange bleiben wollte sie eh nicht.

Dass sie nur eine schäbige, alte Reisetasche bei sich hatte, kommentierte die Angestellte des Luxushotels mit keiner Miene. Sie ließ einen Pagen kommen, der Thea in ihr Zimmer geleiten sollte. Gravert versprach, sich zu melden.

Thea konnte sich nicht erinnern, jemals in einem derart edlen Hotelzimmer gewohnt zu haben. Das Bett mit all den Kissen und zu Schwänen drapierten Handtüchern darauf wirkte wie ein Kunstwerk, das man nicht zerstören durfte. Ein elegantes Sofa trennte den Schlaf- vom Wohnbereich, wo ein niedriger Couchtisch mit Obstkorb, einer Flasche Sekt und zwei Gläsern stand. Sie schien in der Honeymoon-Suite gelandet zu sein.

Thea stellte ihre Tasche vors Bett. Der Raum war mit zwei tiefen Sesseln, einem schmalen Nussbaumschreibtisch und den beiden modernen Gemälden an den Wänden dezent-elegant eingerichtet. Sie trat zu den bodentiefen Fenstern und öffnete die Terrassentür.

Die Rasenfläche war mit Rhododendren begrenzt. Hinter einer kniehohen Natursteinmauer lag der Hotelstrand, wo zwischen karibisch anmutenden Palmenschirmen das Meer rauschte. Irgendwo juchzten Kinder. Eine weiße Yacht schob sich unter wolkenlosem Himmel vorbei. Alles so blau, so weit.

Leider auch sehr warm.

Sie trat zurück, schloss die Terrassentür und packte ihre Tasche aus. Kopfschüttelnd bemerkte sie, dass sie in der Eile völlig falsche Kleidung mitgenommen hatte. Zu Hause war es nasskalt, obwohl längst Mai war. Pulli und Jeans, Socken und Stiefeletten waren in Hamburg vernünftig gewesen. Auf der Insel aber liefen die Leute nur leicht bekleidet herum, flohen vor der Sonne in den Schatten und schützten sich mit Lichtschutzfaktor dreißig.

Thea seufzte. Sie musste sich unbedingt ein paar luftigere Kleidungsstücke besorgen. Nur konnte sie gegen die Müdigkeit nicht länger ankämpfen. In einem der Sessel fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

Als sie Stunden später aufwachte, war es draußen dunkel. Ihr Rücken schmerzte. Sie suchte einen Lichtschalter, fand ihn und griff nach ihrem Handy. Kein Anruf von Gravert. Sie seufzte schwer und spritzte sich im Badezimmer eiskaltes Wasser ins Gesicht. Anschließend ließ sie sich Abendessen aufs Zimmer bringen und genoss dazu auf der Terrasse eine Flasche Weißwein, untermalt vom Rauschen des nahen Meeres.

Mit dem dritten Glas in der Hand prostete sie dem Mond zu und rief: »Danke.« Anna lebte! Thea war überzeugt, sie zu finden. Ein Moment des Glücks überfiel sie, als sie das Bild der Toten auf der Bahre in ihre Gedanken schob. Ja, ihre Tochter war am Leben. Noch. Vielleicht. Die der anderen Mutter war dagegen tot.

Schnell spülte Thea das Unbehagen mit einem weiteren Schluck Wein herunter.

In dieser Nacht schlief sie seit Langem zum ersten Mal traumlos ein.

6

Als Thea aufwachte, war die Sonne bereits aufgegangen. Sie hatte tief und fest geschlafen wie seit Wochen, ja Monaten nicht mehr. Fast elf Uhr. Wenn sie sich beeilte, würde sie vielleicht noch etwas am Frühstücksbüfett bekommen. Schnell duschte sie und zog ihre Sachen an, die sie gestern achtlos auf den Sessel geworfen hatte.

Sie öffnete die Vorhänge. Sonnenlicht ergoss sich ins Zimmer, lud zu einem Spaziergang am Strand oder einem Bad im Meer ein.

Sie nahm Zimmerkarte und Handy vom Sideboard und verließ die Suite.

Auf der Veranda vor dem Restaurant setzte sie sich an einen Tisch nahe dem Strand. Schweiß legte sich auf ihren Rücken, während sie die Menschen beobachtete, die unter Sonnenschirmen mit Schilfdach lagen, um zu lesen oder zu dösen. Ein Gärtner mähte den Hotelrasen links von ihr, zwei Zimmermädchen schoben einen Servicewagen von einem zum nächsten Bungalow, von denen es mehrere auf dem Gelände gab.

Angestellte begannen, das Büfett abzuräumen. Thea trat zu ihnen und zeigte Annas Foto. Egal wen sie fragte, immer erhielt sie die gleiche Antwort – ein Kopfschütteln.

An der Rezeption bat sie, man möge sie zur Personalabteilung vorlassen. Der Concierge tat ihr schließlich den Gefallen, wenigstens in die Mitarbeiterliste zu schauen. Er müsse jedoch bedauern, sagte der grauhaarige Mann und lächelte unverbindlich, eine Anna Winter habe nie im Hotel gearbeitet. Bevor Thea widersprechen konnte, wandte er sich einem englischen Ehepaar zu, das auschecken wollte.

Wütend trat sie aus dem Hauptgebäude in einen tropischen Park, der zwischen den strahlend weiß getünchten Bungalows lag und dem ganzen Gelände das Ambiente eines Dorfs verlieh. Sandsteingepflasterte Wege führten zu den Häusern, die teilweise eigene Pools hatten oder über einen privaten Zugang zum Strand verfügten. Im Hintergrund thronte das Hauptgebäude mit seinen Panoramabalkons.

Das Kinderparadies lag in der äußersten Ecke der Hotelanlage, hinter einem der geschwungenen Gemeinschaftspools, von denen es drei Stück im »Rethymno Carlton« gab. Eine junge Britin und eine Deutsche betreuten die Kinder der Gäste. Malen, basteln, singen, spielen von acht bis ein Uhr. Thea fragte sie nach ihrer Tochter, auch sie behaupteten, Anna nicht zu kennen.

»Das kann nicht sein«, insistierte Thea. »Sie hat hier gearbeitet.«

Die Deutsche zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat sie ja woanders im Hotel gejobbt. Im Servicebereich werden immer Leute gesucht.«

Thea wollte den Kindern, die die zunehmend aufgeregte Unterhaltung der Erwachsenen verfolgten, das Foto ebenfalls zeigen, doch die beiden jungen Frauen komplimentierten sie hinaus. Hinter ihr wurde die mit bunten Comicfiguren verzierte Tür des Kinderparadieses geschlossen.

Warum lügen alle?, fragte sich Thea, obwohl ihr klar war, dass niemand einen Grund dafür hätte. Noch einmal las sie Annas letzte Worte, prüfte das Bild. Nein, ein Missverständnis war unmöglich. Anna hatte behauptet, Arbeit im »Rethymno Carlton« gefunden zu haben.

Tief in Gedanken versunken, ging Thea zurück auf ihr Zimmer.

Das Bett war frisch gemacht, eine neue Schale Obst stand auf dem Couchtisch. Auch das Geschirr von gestern Abend und die leere Weinflasche waren weggeräumt.

Sie warf sich in den Sessel. Ob sie einen Detektiv mit der Suche beauftragen sollte?

Schweiß lief ihr übers Gesicht. Es war nicht einmal Mittag und bereits heiß. Thea erhob sich, um sich etwas Neues in der hoteleigenen Boutique zu kaufen. Nichts Teures. Basics. Thea war sich sicher, gestern einen Laden neben dem Haupteingang gesehen zu haben. Sie fischte die Kreditkarte aus der Tasche und verließ das Zimmer ein weiteres Mal.

Wenig später wählte sie ein leichtes Kleid, Bermudashorts, ein T-Shirt und bequeme Sandalen aus. Der Preis hatte es in sich, aber darüber konnte sie sich später den Kopf zerbrechen. Sie ging zur Kasse.

»Ihre Visa-Card funktioniert leider nicht, meine Dame.« Die Verkäuferin reichte ihr die Karte zurück und lächelte. »Haben Sie vielleicht eine andere Kreditkarte?«

Thea nahm ihr das Stück Plastik aus der Hand, rieb es an ihrer Jeans. »Probieren Sie es bitte noch einmal.«

Auch die beiden nächsten Versuche schlugen fehl. Widerwillig gab Thea das Kleid und die Sandalen zurück. Die Shorts und das Shirt zahlte sie mit ihren letzten Barreserven. Als sie kurz darauf die Boutique verließ, hatte sie noch zehn Euro in ihrem Portemonnaie und eine Menge Probleme.

In ihrer Suite riss sie den Hörer des altmodischen Telefons von der Gabel.

»Du Scheißmistkerl!«, schrie sie, als ihr Ex-Mann Enno in Deutschland das Gespräch annahm. »Du hast meine Karte sperren lassen!«

»Ja«, gab Enno zu. »Ich habe nämlich die Nase voll, dich und deine Tochter zu finanzieren.« Er werde mit Yvonne neu anfangen, und da sei kein Platz für den größten Fehler seines Lebens oder dessen Tochter. Außerdem sei das endgültige Urteil gestern bei ihm eingetroffen. Er müsse überhaupt keinen Unterhalt für seine Ex-Frau zahlen.

»Und das Erste, was du tust, ist, die Karte sperren zu lassen? Du weißt, dass ich auf Kreta bin, um Anna zu finden.« In dieser Tragödie war er der Mistkerl mit den besseren Anwälten gewesen.

»Ich war lange genug großzügig zu euch«, sagte er.

Sie verzichtete darauf, ihn einen Lügner zu nennen. Enno war von jeher gierig und geizig gewesen. Wenn sie mal Urlaub gemacht hatten, dann nur auf einem Campingplatz im Havelland. Das Haushaltsgeld hatte er ihr zugeteilt. Annas Taschengeld musste Thea von ihrem Minijob bezahlen, solange sie noch keine neue Stelle als Deutschlehrerin in diesem Kaff hatte finden können, wo Enno das Haus günstig erstanden hatte.

Sie wollte ihn anbrüllen, als er sie unterbrach. »Ich habe es schriftlich. Ich bin zu nichts mehr verpflichtet. Anna ist erwachsen, und du kannst arbeiten gehen wie alle anderen auch.«

Theas Hände wurden eiskalt. Sie hatte immer gearbeitet, ihr Leben lang. Verdammt, er konnte sie doch nicht ohne Geld sitzen lassen!

»Hör zu, Enno, ich zahle dir alles zurück, wenn ich zurück bin …«

»Zum letzten Mal, nein! Außerdem werden Yvonne und ich heiraten. Nächste Woche. Gefeiert wird im ›Hotel Atlantik‹. Und ich will dich dort nicht sehen.« Er legte auf.

Hotel Atlantik? Thea war überzeugt, dass Enno die Feier nicht aus eigener Tasche bezahlte, sondern der neue Herr Schwiegervater, ein Bauunternehmer, das übernahm. Bei ihrer Heirat vor zwölf Jahren hatte es kaum für Schnittchen gereicht, die sie und ihre Mutter auch noch selbst hatten schmieren müssen. Die Getränke für die Hochzeitsgäste hatten aus einem Fässchen Bier und zehn Flaschen ALDI-Sekt bestanden, die Enno damals spendiert hatte.

Thea knallte den Hörer auf die Gabel.

Den Rest des Tages verbrachte sie in der Suite, die sie sich nicht leisten konnte. Sie war faktisch pleite.

Es wurde bereits dunkel, als Thea aufhörte, aus dem Fenster zu starren. Langsam ebbte die Dumpfheit in ihrem Kopf ab, und die Wut kehrte zurück.

»Scheißkerl! Glaub ja nicht, dass ich aufgebe!« Sie musste das Hotel unbemerkt verlassen. Vorher würde sie etwas gegen ihre Wut unternehmen müssen.

Thea fuhr herum, ging zur Minibar, nahm eine Champagnerflasche heraus, entkorkte sie und füllte eines der Kristallgläser, bis es überschäumte. Grimmig schüttete sie das Zeug herunter, hustete ein paarmal und schenkte nach. Sie hasste Champagner.

Es dauerte nicht lange, bis ihr der Schampus auf den Magen schlug. Sie war gerade dabei, die hoteleigenen Shampoo- und Duschgelflaschen in ihre Tasche zu stopfen, dazu eines der Handtücher, als sie sich übergeben musste.

Mit der Reisetasche über der Schulter öffnete sie die Terrassentür und trat in die laue Nacht hinaus. Geduckt lief sie über den Rasen bis zum Strand. Als sie sich sicher war, dass niemand sie bemerkt hatte, zog sie ihre Schuhe aus und machte sich auf den Weg nach Rethymno, das in tausend Lichtern flammend zwischen Meer und Bergen lag. Die unbezahlte Hotelrechnung war ihr kleinstes Problem.

Sie hoffte, im nahen Rethymno Hinweise auf Anna zu finden. Sicherlich gab es dort Möglichkeiten für junge Menschen, um Geld zu verdienen. Immerhin kamen zigtausend Touristen im Sommer auf die Insel, von denen viele die Abende in Restaurants und Kneipen verbrachten. Sie würde jede einzelne Lokalität aufsuchen und nach Anna fragen. Sie musste nur hartnäckig und geduldig genug sein.

Das kalte Wasser an ihren Beinen ließ sie nüchtern werden. Sie überlegte, wann ihr Leben angefangen hatte, aus den Fugen zu geraten. Vielleicht war es an dem Abend gewesen, als Enno ihr mitgeteilt hatte, er werde sie für eine andere verlassen. Sie hatte nichts geahnt, hatte an einen Scherz geglaubt, war aus allen Wolken gefallen. Wie naiv sie gewesen war.

Danach kämpfte sie verzweifelt um einen Mann, der die Ehe längst ad acta gelegt hatte. Eine schmutzige Scheidung, die ihr statt des Reihenhauses nur eine kleine Wohnung in einem Betonklotz am Stadtrand ließ. Rechtsanwälte, die ihre wenigen Ersparnisse auffraßen. All das kostete unglaubliche Kraft. Nur Anna war ihr geblieben. Bis zu dem Tag, an dem auch sie verschwunden war.

Während Thea mit nackten Füßen an der Wasserlinie entlangging, begriff sie, wie sehr jedes Puzzleteil ihres Scheiterns in das Teil davor griff. Schon bereute sie, das Hotel heimlich verlassen zu haben. Wie weit war sie gesunken, sie, die Lehrerin, die gebildete Frau aus gutem Haus?

7

Das Ufer zu ihrer Linken war von Lichtern gesäumt. Bars und Diskotheken entließen die Einheitshits des diesjährigen Sommers in die angenehme Kühle der Mitternacht. Je weiter sich Thea der Altstadt näherte, umso umtriebiger und lebendiger wurde es. Nachthungrige Gestalten aus aller Herren Länder umschwirrten die Szenelokale und strömten in die engen Gassen, vorbei an Souvenirläden, Nippesgeschäften und Juwelieren. Dumpfe Beats stampften aus Lautsprechern, angetrunkene Touristinnen hielten sich an den Armen fremder Männer fest, die Goldkettchen trugen.

Thea schob sich durch die Menge. Fest umschlossen ihre Finger das Handy mit Annas Bild. Sie drängte in die nächste Kneipe, die noch voller war als alle vorherigen. Überrascht bemerkte sie, dass das »Punch Bowl« ein irischer Pub war, dessen Wände und Decke mit mehr oder weniger authentischem Ramsch behangen waren. Die meisten Gäste waren Deutsche und Briten. Thea bahnte sich einen Weg zum hinteren Teil des Pubs, wo ein missmutiger Grieche Guinness in ein Glas schenkte und es einem jungen Mann über den Tresen reichte.

»Kóri mou!«