Das Weihnachtswunder von Haus 7 - Anja Marschall - E-Book

Das Weihnachtswunder von Haus 7 E-Book

Anja Marschall

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Beschreibung

Die alleinerziehende Luisa hat zwei Wünsche zu Weihnachten: Sie wünscht sich wieder einen Partner, mit dem sie Liebe und Leid teilen kann - und sie wünscht sich ein sicheres Zuhause. Denn das Haus, in dem sie mit ihren zwei Kindern lebt, soll abgerissen werden. Um ihre Wohnung zu retten, schmiedet Luisa einen ungewöhnlichen Plan: Sie möchte den griesgrämigen alten Eigentümer des Hauses aufsuchen, um mit ihm zu reden. Die Begegnung verläuft anders als erwartet - und bald steht Luisas Leben kopf, die Ereignisse überschlagen sich. Kann es sein, dass Weihnachtswunder manchmal Wahrheit werden?

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Seitenzahl: 368

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Epilog

Über dieses Buch

Die alleinerziehende Luisa hat zwei Wünsche zu Weihnachten: Sie wünscht sich wieder einen Partner, mit dem sie Liebe und Leid teilen kann – und sie wünscht sich ein sicheres Zuhause. Denn das Haus, in dem sie mit ihren zwei Kindern lebt, soll abgerissen werden. Um ihre Wohnung zu retten, schmiedet Luisa einen ungewöhnlichen Plan: Sie möchte den griesgrämigen alten Eigentümer des Hauses aufsuchen, um mit ihm zu reden. Die Begegnung verläuft anders als erwartet – und bald steht Luisas Leben kopf, die Ereignisse überschlagen sich. Kann es sein, dass Weihnachtswunder manchmal Wahrheit werden?

Über die Autorin

Anja Marschall, geb. 1962 in Hamburg, arbeitete als Erzieherin, Pressereferentin, Journalistin, EU-Projektleiterin, Apfelpflückerin in Israel, Zimmermädchen in einem Londoner Luxushotel und Kioskverkäuferin an den Hamburger Landungsbrücken. Sie veröffentlichte mehrere Spannungsromane, von lustig bis historisch, kriminell bis hinterhältig. Tage voller Weihnachtszauber ist ihr erster Roman ohne Leiche. Anja Marschall lebt mit ihrer Familie in Schleswig-Holstein.

ANJA MARSCHALL

 

ROMAN

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

 

Originalausgabe

 

Dieser Roman wurde vermittelt durch die

Literaturagentur Lesen & Hören, Berlin

 

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG,

Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

 

Textredaktion: Wortfischen, Sylvia Gredig

Umschlaggestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de

unter Verwendung von Motiven von © shutterstock:

Bogdan Sonjachnyj und istockphoto: Apilart

eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7517-4795-0

luebbe.de

lesejury.de

Kapitel 1

Sobald die erste Kerze auf dem Adventskranz brannte, veränderte sich die Stadt auf wundersame Weise. Es waren nicht nur die tausend Lichterketten, die die Straßen zum Glitzern brachten, oder der hohe Tannenbaum auf dem Marktplatz. Nein, da war noch etwas anderes. Ein leises Gefühl lag in der Luft, das mit jedem Tag, den der Weihnachtsabend näher kam, stärker wurde. Es machte die Herzen der Menschen weit, sodass sie öfter lächelten als sonst und nette Dinge zueinander sagten, ja, sie luden sich sogar gegenseitig auf einen Plausch bei Weihnachtskeksen und Punsch ein. Und auf einmal zog in so manch einsames Haus auch wieder Hoffnung ein, Hoffnung, dass ein geliebter Mensch wieder zurückfinden möge oder dass ein großer Traum vielleicht doch in Erfüllung gehen könnte. Nur jetzt, zur Weihnachtszeit, war zwischen Kerzenschein und Zuversicht so viel mehr möglich als im Rest des Jahres. Die Menschen fühlten es, auch wenn so mancher tat, als könne es gar nicht so sein.

Einen sehnlichen Wunsch mit dazu passender großer Hoffnung hatten auch die beiden Kinder, die im vierten Stock eines alten Jugendstilhauses in der Herderstraße ihre Nasen an die Fensterscheibe drückten. Schnee! Es möge endlich Schnee fallen! Es war doch schließlich bald Weihnachten!

»Du, Matti …«

»Hm.«

»Die Anna im Kindergarten sagt, es gibt keinen Weihnachtsmann. Stimmt das?«

»Die Anna ist doof.«

»Finde ich auch.«

Schweigend sahen die Kinder zu den regengrauen Wolken am Himmel hinauf, während Lilli am Ende ihres geflochtenen Zopfs knabberte, wie sie es immer tat, wenn sie nachdachte.

»Du, Matti …«

»Hm.«

Ihr Bruder ging schon in die zweite Klasse und wusste eine ganze Menge. Darum fragte sie ihn auch, warum die Mami heute so spät nach Hause kam.

»Sie will eine neue Wohnung für uns finden, hat sie gesagt.«

»Wir haben unsere aber gar nicht verloren. Die ist doch hier.«

»Sie sucht trotzdem.«

Auf der anderen Straßenseite schaltete jemand in einem Wohnzimmer das Licht an. Deutlich konnte man eine lederne Sitzgarnitur und einen Fernseher über die ganze Breite der Wand sehen. Das Haus drüben war neu. Es hatte Fenster, die bis zum Boden gingen, sodass Lilli und ihr Bruder immer etwas zu gucken hatten, wenn ihnen langweilig war. Dass dort nicht ein einziges Kind lebte, hatten sie sehr schnell herausgefunden.

»Du, Matti …«

»Hm.«

»Denkst du, der Weihnachtsmann schenkt mir dieses Jahr einen Schlitten?«

»Wenn du einen bekommst, will ich einen Transformer haben.«

»Ok.«

Lillis Magen begann zu knurren. »Du, Matti … Wollen wir Mama einen Kuchen backen?«

Ihr Bruder sprang von der Sofalehne herunter. »Logo!«, rief er und rannte in die Küche.

Lilli hüpfte von der Couch und lief ihm nach. »Aber ich darf die Schüssel auslecken!«

Kapitel 2

Zur selben Zeit trat Luisa Thießen aus dem Eingang eines Fünfzigerjahre-Wohnblocks im Süden der Stadt auf die Straße hinaus. Schon als sie beim Ankommen die Schlange der anderen Bewerber auf dem ersten Treppenabsatz gesehen hatte, war ihre Hoffnung auf die Dreizimmerwohnung im zweiten Stock nahezu erloschen. Trotzdem hatte sie sich angestellt und geduldig eine Stunde gewartet, bis sie mit der Besichtigung endlich an der Reihe gewesen war.

Die Wohnung war perfekt für sie und ihre Kinder. Mattis Schule lag nur wenige Straßen entfernt, und Lillis Kindergarten konnte sie auf dem Weg zur Arbeit schnell erreichen. Sogar einen Balkon hatte die Bleibe und einen honigfarbenen Parkettboden. Das mit der Miete allerdings könnte eng werden. Mit ihrem Gehalt als Teilzeitsachbearbeiterin in einem Architekturbüro und ihrer Witwenrente kam sie schon jetzt nur so gerade über die Runden.

Luisa schaute in den grauen Himmel hinauf, aus dem es ununterbrochen nieselte.

Sie zerknüllte die Anzeige in ihrer Hand, denn sie wusste, dass sie die Wohnung nicht bekommen würde. Warum nur hatte sie versucht, den Makler zu bestechen? Es war doch klar gewesen, dass sie keine Chance hatte. Sie hatte dem Mann von ihrer Arbeit erzählt, ohne die Worte Teilzeit und Sachbearbeiterin fallen zu lassen. Sie hatte sich begeistert von den Räumen gezeigt und nur nebenbei ihre beiden sehr vernünftigen und leisen Kinder erwähnt. Letzteres war eine Lüge. Matti und Lilli waren Wirbelwinde der Extraklasse. Bei ihnen musste man immer auf alles gefasst sein.

Schließlich hatte sie diesem aalglatten Typen heimlich einen Umschlag mit drei Hunderteuroscheinen hingehalten. Mit einem schmalen Lächeln hatte er den Umschlag abgewiesen und erklärt, er würde sich Ende der kommenden Woche melden, falls sie die Wohnung bekäme. Dann hatte er sich einer anderen Bewerberin zugewandt, die bestimmt Single und kinderlos war, einen coolen Job in der Stadt hatte und einen tollen Freund. Verzweifelt hatte Luisa noch versucht, die Mitleidskarte zu spielen, und dem Makler nachgerufen, dass sie eine Witwe mit zwei Kindern sei. Er hatte sich nicht einmal umgedreht.

Mit hängenden Schultern und einer Menge Ärger im Bauch, am meisten über sich selbst, ging Luisa heim.

Ende Januar mussten sie und die Kinder ihre Wohnung in der Herderstraße Nr. 7 verlassen. Das Gericht hatte die Rechtmäßigkeit der Kündigung nach endlosen Verhandlungen anerkannt. Unglaublich, doch so war das Gesetz nun einmal. Wer die besseren Juristen hatte, gewann.

Der Typ vom Mieterinteressenverein jedenfalls gehörte nicht in die Kategorie »guter Anwalt«. Er hatte sich vom Vertreter der Ascot Holding dermaßen vorführen lassen, dass es peinlich gewesen war. Mit einem kleinlauten »Da kann man leider nichts machen« war der Mann nach der Urteilsverkündung davongeschlichen und hatte die empörten Mieter der Herderstraße einfach stehen lassen.

Für Luisa war die Zeit des Kämpfens um ihr Zuhause seither endgültig vorbei. Man muss wissen, wann man verloren hat.

Darum besorgte sie sich jeden Tag noch vor dem Frühstück die aktuelle Tageszeitung, wenn sie zuvor im Internet nicht fündig geworden war. Mit einem pinkgrellen Edding in der einen Hand und einem Becher Kaffee in der anderen, ging sie dann die wenigen Wohnungsanzeigen durch, während ihre beiden Kinder selig schlummerten, bis sie geweckt wurden. Bekanntlich war es ja der frühe Vogel, der den Wurm fing.

Leider nur schien diese Weisheit in ihrem Fall nicht zu funktionieren. In der ganzen Stadt gab es kaum freie Wohnungen. Schon gar keine, die sich eine alleinerziehende Mutter leisten konnte.

Dabei hätte Luisa heute selber Architektin sein können, wenn dieser schreckliche Unfall nicht gewesen wäre, der sie zur Witwe gemacht hatte. Es fehlte ihr damals nur eine einzige Prüfung bis zum Abschluss. Eine Anstellung in einem renommierten Architekturbüro hatte sie auch schon in der Tasche. Aber Peters Tod hatte alles geändert. Seither musste sie an Jobs nehmen, was sie kriegen konnte.

Tief in Gedanken versunken, eilte Luisa durch den Nieselregen Richtung Herderstraße. Sie war mit ihrem Latein langsam am Ende. Obwohl sie sich für eine starke Frau hielt, spürte sie seit einiger Zeit, dass die Kräfte sie verließen. Zum Glück hatte sie ihre beiden Kleinen, die sie von ihrem Unglück ablenkten und immer wieder den Sonnenschein zurück in ihr Leben brachten. Dieser Trost wog alles auf und war mit Geld nicht zu bezahlen.

Im Supermarkt an der Ecke kaufte Luisa schnell ein. Heute Abend würde es Makkaroni in Käsesoße geben. Mattis Lieblingsgericht.

Eine halbe Stunde später bog sie, links und rechts je eine Einkaufstüte haltend, in die Herderstraße ein. Zu Kaiserzeiten hatten hier schmucke Jugendstilhäuser mit vier Etagen, hohen Fenstern und steinernen Blumenranken an der Fassade gestanden. Die Gegend war einst eine gute Adresse gewesen. Dann kam der Weltkrieg. Was der nicht kaputtgebombt hatte, riss der Modernitätswahn der Sechziger- und Siebzigerjahre ein. Mittlerweile verfielen aber auch diese Bauten und wichen kubistischen Einheitsblöcken, die an Fantasielosigkeit kaum zu überbieten waren. »Klötzchenhaus« hatte Lilli das neue Gebäude von gegenüber genannt. Luisa fand den Begriff sehr passend. Der Neubau passte prima zu all den anderen Copy-and-paste-Häusern in der Stadt, deren Aussehen auf sie wie gestanzt wirkte.

Mit seinem Stuck und dem farbigen Bleiglas in der Haustür schien Nummer 7 wie aus der Zeit gefallen. Luisa liebte das Haus und wäre niemals in eines der herausgeputzten und einfallslosen Appartements gezogen, wo hippe Leute in betonierten Schubladenkisten lebten.

Luisa würdigte den Neubau gegenüber von Nummer 7 keines Blickes. Wenn die Dinge anders gelaufen wären, würde sie heute eine Architektin sein, die Häuser mit Seele entwarf. So etwas wie da drüben bestimmt nicht.

Luisa drückte ihre Schulter gegen die Haustür von Nummer 7, an der seit Jahren die Farbe abblätterte.

Leider klemmte die Tür mal wieder. Leise fluchend warf sie sich dagegen, aber die Tür wollte nicht nachgeben.

»Mist!«, entfuhr es ihr.

»Kann ich helfen?« Eine Männerstimme hinter ihr ließ sie zusammenzucken.

»Ähm, danke, ich schaffe das schon.« Luisa drückte sich erneut gegen die Tür.

»Sicher?«

Sie drehte sich herum. »Sie klemmt.«

Unauffällig musterte sie den Fremden von oben bis unten. Schlank, groß, dunkle Locken, glatt rasiertes Gesicht, blaue Augen, kantige Züge. Ein Gerichtsvollzieher? Nein. Er lächelte. So schick, wie der Mann aussah, kam er garantiert aus dem Block von drüben.

Wollte er sich etwa darüber amüsieren, dass in Nummer 7 nicht einmal die Tür funktionierte? Luisa funkelte ihn an, als sei er an allem schuld, was er natürlich nicht war. »Er hat doch nur seine Hilfe angeboten«, mahnte eine Stimme in ihrem Kopf. Stimmt. Schnell verzog sie den Mund zu einem Lächeln. »Das passiert öfter.«

»Wenn wir es zu zweit versuchen, gibt sie vielleicht nach«, gab er zu bedenken.

Vorsichtig nickte Luisa.

»Auf drei«, schlug er vor und stellte sich neben sie.

Bis dahin, das wusste sie, konnte sie unmöglich warten. So dicht an einem gut riechenden und toll aussehenden Mann zu stehen war schrecklich verwirrend. Es ging einfach nicht. Als er »zwei« sagte, preschte sie vor. Mit einem ›Rums‹ sprang die Tür auf, und Luisa stolperte ins Dunkel des Treppenhauses.

»’tschuldigung. Mathe war noch nie meine Stärke«, scherzte sie und grinste verlegen. »Aber danke für Ihre Hilfe.«

»Nun ja, so richtig geholfen habe ich ja nicht.« Er warf einen neugierigen Blick in den düsteren Flur. »Wo ist der Lichtschalter?«

Luisa schüttelte den Kopf. »Hier gibt es kein Licht, und auch die Klingeln funktionieren nicht. Dafür leckt es durchs Dach, und die Heizung macht Geräusche. Das Haus soll im nächsten Jahr abgerissen werden.«

»Wohnen Sie hier?«

Luisa glaubte zu sehen, dass er sich in seiner Haut unwohl fühlte. Sie sah sich im Treppenhaus um. Die zerschlissene Tapete, die ausgetretenen Holzstufen, die zerbrochenen Fliesen mit dem Blumenmuster, das kaputte Fenster in der Tür zum Hof. Nein, all das wirkte auf andere Leute sicherlich wenig einladend. Es konnte eben nicht jeder die Schönheit von Nummer 7 sehen, so wie sie.

Trotzdem schämte sie sich plötzlich für das Haus. »Ähm, ich bringe nur jemandem den Einkauf«, flunkerte sie und fragte sich sofort, warum sie das gesagt hatte. Eigentlich log sie nie, na ja, fast nie.

Er räusperte sich, schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. Wahrscheinlich war es ihm unangenehm, auf dieser Seite der Straße gesehen zu werden. Feigling, dachte Luisa.

»Schönen Tag«, murmelte sie und schob die Tür mit dem Fuß vor seiner Nase zu. Fehlte noch, dass er sie auf eine Tasse Kaffee einlud oder Schlimmeres. Sie hatte keine Zeit für Männer. Und erst recht nicht für solche von gegenüber.

Da öffnete sich die Haustür erneut, und sein Kopf erschien im Türspalt. »Was machen Sie kommenden Freitag?«

»Wie bitte?«

»Nun ja, ich frage mich, ob Sie mit mir eventuell irgendwo eine Tasse Kaffee trinken gehen würden. Oder Tee. Tee ginge natürlich auch.«

Luisa zögerte. »Also eigentlich …«

»Schön. Sagen wir um fünfzehn Uhr? Patisserie Körner?«

Die Konditorei war eine Institution in der Stadt, ihre Torten weltberühmt und der Kaffee dort ein Genuss!

Luisa überlegte, wann sie das letzte Mal jemand eingeladen hatte. Oder gar angebaggert. Es war Peter gewesen. Schnell verdrängte sie die aufkommenden Gedanken.

Gespannt sah der Fremde sie an. »Wir könnten natürlich auch einen Tag später … falls Ihnen das lieber ist.«

Jetzt musste sie lächeln. »Sie sind ganz schön hartnäckig, oder?«

»Prima!« Er strahlte sie an. »Also dann bis Freitag!« Sein Kopf verschwand, und die Tür fiel wieder zu, nur um ein weiteres Mal aufgeschoben zu werden. »Sollten Sie es sich anders überlegen«, sagte er hastig, »wäre das völlig in Ordnung für mich. Bedauerlich, aber okay. Ja?«

Sie nickte.

Dann schloss sich die Tür ein letztes Mal.

Verwirrt stand Luisa in der Dunkelheit. Hatte sie etwa ein Date? Langsam nahm sie die Stufen hinauf.

Quatsch! Das war doch keine echte Verabredung. Sie ging nur einen Kaffee trinken … mit einem verdammt gut aussehenden Mann. Allerdings jemandem, dessen Namen sie nicht einmal kannte.

Vorsichtig passierte sie das Loch im Treppengeländer, das entstanden war, als Familie Schmilinski vor zwei Jahren ausgezogen war. Papa Schmilinski war damals der Kühlschrank aus der Hand gerutscht und in den Abgrund gerauscht. Das kaputte Geländer hatte die Ascot Holding noch immer nicht repariert.

Luisa beachtete das Loch nicht. Sie dachte wieder an Peter. Er war seit vier unendlich einsamen Jahren tot. Wurde es nicht Zeit, dass sie sich endlich wieder dem Leben widmete? So schlimm war es doch nicht, sich mit einem Mann auf eine Tasse Kaffee zu treffen. Warum aber fühlte sich dieser Gedanke dann so eigenartig an? Fast so, als würde sie Peter betrügen.

Im zweiten Stock ging Luisa an der Haustür ihrer Nachbarin Anita Baumann vorbei. Die Rentnerin behauptete, früher einmal Schauspielerin gewesen zu sein und mit Filmgrößen wie Curd Jürgens und Heinz Rühmann vor der Kamera gestanden zu haben. Im Netz gab es keinen Hinweis auf eine Bekanntheit namens Anita Baumann. Die Bewohner von Nummer 7 ließen ihr den Traum.

Als Luisa an der Haustür vorbeiging, hörte sie die krächzend gebrochene Stimme der Bewohnerin, wie sie einen Song von Édith Piaf sang. Für die alte Dame war die Kündigung am schlimmsten, weil sie sich kein Seniorenheim leisten konnte und auch nicht wollte. Mehr als einmal hatte Frau Baumann gesagt, dass sie dieses Haus niemals verlassen würde. Jedenfalls nicht lebend.

Langsam ging Luisa in den dritten Stock, um bei ihrem Nachbarn Wolle an die Tür zu klopfen.

Der freischaffende Musiker passte öfter auf Matti und Lilli auf, wenn Luisa arbeiten musste oder Termine hatte.

Gerade hob sie die Hand, als die Wohnungstür von innen aufgerissen wurde und Elvis ins Treppenhaus stolperte.

»Hi!«, rief The King hastig. »Oben alles schicki. Matti macht Hausaufgaben und Lilli malt.« Er drängte sich mit seinem Gitarrenkoffer in der Hand an Luisa vorbei. »Sorry, habe es eilig. Bin spät dran.« Kurz hielt er inne. »Denkst du, das geht so?«

»Was?«

»Na, die Haare. Habe sie gefärbt. Schwarz.« Elvis, der eigentlich Wolfgang Eberleitner hieß und seit dreißig Jahren eine Karriere als Rockmusiker anstrebte, verdingte sich wahlweise als Elvis- oder Udo-Lindenberg-Imitator auf Betriebsfeiern und in Einkaufspassagen. Den Lindenberg machte er richtig gut nach. Aber sein Elvis brachte mehr Gage.

Luisa musterte Wolles Haare. »Vielleicht solltest du den Kragen etwas höher ziehen. Dann sieht keiner die schwarzen Farbverläufe an deinem Hals.«

Wolle ließ den Gitarrenkoffer fallen und fasste sich an den Nacken. »Mist, da habe ich gar nicht hingeguckt.«

»Wenn es nur getönt ist, bekommst du es vor dem Auftritt mit Seife vielleicht weg.«

Er nahm seine Gitarre wieder auf. »Bist du sicher?«

»Nein.« Kurz umarmte sie den Zwei-Meter-Mann. »Toi, toi, toi. Wohin geht es heute?«

»Äh, eine Hochzeit, glaube ich. Sie wollen Love me tender haben. Voll langweilig. Egal. Muss los.«

Luisa wusste nicht warum, aber plötzlich erschien das Bild des Mannes vor ihr, mit dem sie ein Date haben würde. Was würde er von ihr denken, wenn er hörte, dass sie doch in Nummer 7 lebte und ein drittklassiger Musiker sowie eine verrückte, wenn auch liebenswerte alte Schachtel ihre Nachbarn waren? Würde er die Nase rümpfen? Luisa beschloss, am kommenden Freitag nicht ins Café zu gehen, um ihn zu sehen. Die Peinlichkeit wollte sie sich ersparen.

Kapitel 3

Alles schicki? Aha, dachte Luisa und stellte die Einkaufstüten im Flur ihrer Wohnung ab. Deutlich konnte sie die Kinder in der Küche streiten hören.

»Das sage ich Mami«, rief Lilli weinerlich.

»Petze! Außerdem hast du mitgemacht.«

Vorsichtig öffnete Luisa die Küchentür.

Das Chaos darin hatte biblische Ausmaße. Der Boden war übersät mit Mehl. Eine Tüte Milch lag umgekippt auf dem Tisch. Lilli saß mit einer Teigschüssel auf dem Schoß vor dem Herd und maulte. Unterdessen stand ihr Bruder auf dem Stuhl, den er vor den Kühlschrank geschoben hatte, um sich Eier aus der Tür zu holen. Zwei lagen bereits auf dem Boden.

Es roch unangenehm nach geschmolzenem Plastik. Schon entdeckte Luisa die Schüssel im offenen Backofen, die dort vor sich hin schmurgelte. Warum auch immer.

»Hallo Mami!«, rief Lilli und strahlte sie an. »Wir backen einen Kuchen für dich.«

Luisa trat ein, als ihre von Kopf bis Fuß mit Mehl bestäubte Tochter ihr entgegenlief, um sie zu umarmen.

»Hast du die Wohnung?«, wollte Matti wissen, dem in diesem Moment die letzten beiden Eier aus der Hand rutschten und klatschend auf dem Boden landeten.

»Was für einen Kuchen backt ihr denn?«, fragte Luisa, statt auf die Frage ihres Sohnes zu antworten.

»Also nicht.« Umständlich kletterte er von dem Stuhl. »Hab ich gleich gewusst.« Er war groß genug, um zu verstehen, dass sie dringend eine neue Wohnung brauchten. Außerdem hoffte er auf ein Zimmer für sich, denn bisher mussten er und seine Schwester sich einen Raum teilen. Matti war sichtlich enttäuscht.

»Tut mir leid, Großer.«

Nachdem sie ordentlich gelüftet und die Küche aufgeräumt hatten, machten sich Luisa und ihre Kinder daran, einen Schokoladenkuchen zu backen. Mit extra Schokoglasur und Nüssen darin.

Es waren diese kleinen Momente, in denen das Leben, trotz aller Sorgen, schön war.

Nach getaner Arbeit zog ein köstlicher Kuchenduft durch die Wohnung und überdeckte gnädig den Gestank von geschmolzenem Plastik.

»Ich möchte ein riesengroßes Stück haben«, tat Lilli kund und kletterte schon mal auf ihren Stuhl.

»Bekommst du aber nicht«, widersprach ihr Bruder und stellte Teller auf den Tisch. »Du hast überhaupt gar nicht richtig geholfen.«

»Hab ich doch!«

»Nein. Du bist viel zu klein dafür.«

»Mami, Matti ärgert mich«, jammerte Lilli.

Gerade wollte Luisa ihre Kinder von einem neuen Streit abhalten, als das Licht über ihren Köpfen erst flackerte, um kurz darauf ganz auszugehen. Schemenhafte Dunkelheit umfing die kleine Familie.

»Verdammt!«, zischte Luisa. »Nicht schon wieder.« Es war nicht das erste Mal, dass im Keller die Leitungen durchschmorten.

»Du darfst nicht fluchen, Mami«, kam Lillis Stimmchen aus dem Dunkel.

»Matti, laufe zu Oma Baumann und Wolle, ich hoffe, er ist schon zurück. Sag ihnen, sie sollen zu uns kommen. Wir müssen reden. Jetzt.«

Im matten Licht der Straßenlaternen, das hereinschien, sah sie ihren Jungen aufspringen und in den Flur eilen. Abenteuer waren sein Liebstes. Sie hörte ihn die Taschenlampe vom Regal nehmen und die Haustür öffnen. Dann polterte er die Stufen im Treppenhaus hinunter.

Erschöpft ließ Luisa sich auf den Küchenstuhl sinken und schloss die Augen.

Lilli rutschte von ihrem Stuhl und schlappte ins Kinderzimmer. Mit Teddy Pu im Arm kam sie zurück. »Soll ich die Kerzen aus dem Wohnzimmer holen, Mami? Das findet Pu so hübsch.«

Luisa streichelte ihrer Tochter übers Haar. »Danke, Spätzchen. Das ist eine sehr gute Idee. Teelichter haben wir auch noch.«

Nachdem Lilli die Küche verlassen hatte, um sich auf die Suche nach den Kerzen zu machen, stützte sich Luisa mit den Ellenbogen auf dem Tisch auf und legte ihren schmerzenden Kopf in die Hände. Sie fragte sich, wie all das noch enden sollte.

Zehn Minuten später drängten sich die letzten drei Mieter von Haus Nummer 7 in Luisas kleiner Küche. Wolle war früher nach Hause gekommen, worüber er nun in aller Ausführlichkeit berichtete. Sein Auftritt sei in einem Fiasko geendet. Die Braut hasste Elvis und stand in Wahrheit auf die Stones. Daraufhin hatte die Schwiegermama zu weinen begonnen und behauptet, ihr Sohn hätte eine bessere Frau als seine frisch Angetraute verdient und überhaupt sei wie immer ihr Mann an allem schuld. Der wiederum hatte Wolle alias Elvis angegiftet, dass er vollkommen unecht aussehen würde. Dann hatte der Brautvater darauf bestanden, dass er auch gar kein Schmalzlockendouble bestellt hätte, sondern einen DJ.

Na ja, es war eben wie immer, wenn Wolle Geld verdienen wollte. Ein absolutes Chaos. Manchmal fragte Luisa sich, wie er es schaffte, seinen Optimismus zu behalten.

Als Wolle nach seinem Update noch einmal hörbar ein- und ausgeatmet hatte, erzitterten kurz die Kerzenflammen vor ihm auf dem Tisch. Die vielen Kerzen und Teelichter in der Küche verströmten wohlige Gemütlichkeit, obwohl der Anlass für das Kerzenmeer ärgerlicher Natur war.

»Wir müssen uns wehren«, entschied Oma Baumann und reckte kampflustig ihr Doppelkinn in die Höhe. »Ein Protestmarsch oder so etwas.« Sie hatte Lilli auf dem Schoß, mit der sie sich im Schein der Kerzen ein großes Stück Schokokuchen teilte. »Nein, irgendwo festkleben. Das machen die im Fernsehen auch so. Und da müssen wir hin. Günther Jauch oder Tagesschau. Mindestens.«

»Da bekommen wir nur Ärger. Ankleben wird als Terror eingestuft. Außerdem ist der Kleber nicht gut für die Haut.« Wolle nahm noch einen Schluck Bier. »Ein Flashmob oder so was wäre gut, Oma Baumann.«

»Sie sollen nicht immer Oma zu mir sagen, Herr Eberleitner.«

»Alles klar, Oma Baumann.«

»Wolle, könntest du deinen Freund bitten, die Leitungen im Haus zu prüfen? Es muss doch einen Grund geben, warum die Sicherungen immer rausfliegen.« Luisa seufzte.

Der Nachbar schüttelte den Kopf. »Nö, der kommt nicht mehr. Nur, wenn wir ihn bezahlen, hat er gesagt.«

Die alte Dame am Tisch horchte auf. »Lässt er sich auch in Naturalien entlohnen?«, wollte sie mit keckem Blick wissen.

»Oma Baumann! Nicht vor den Kindern.«

Beleidigt schaute die alternde Diva Luisa an. »Ich meinte doch den selbstgemachten Likör. Was dachten Sie denn, was ich meine?«

Wolle grinste Luisa an. »Genau, was meintest du denn?«

Schweigend aßen sie ihren Kuchen, zu dem Luisa geschlagene Sahne reichte. Leider war dies kein gemütlicher Adventskaffee, denn außer Lilli war allen am Tisch klar, dass sie zum letzten Mal in Nummer 7 Heiligabend feiern würden.

»Wie können Menschen nur so unchristlich sein?«, murmelte Oma Baumann und erzählte wohl zum hundertsten Mal die Geschichte von den Dreharbeiten zu einem Film, in dem sie eine kleine Rolle hatte. »Alles ging damals am Set schief. Der Beleuchter mit der roten Nase ließ einen Scheinwerfer fallen und hätte mich damit fast erschlagen … Wir waren längst hinter dem Zeitplan, sodass der Produzent hinschmeißen wollte …«

»Ist ja gut, Oma Baumann«, unterbrach Wolle genervt. »Das hilft uns nicht weiter.«

»Sag ich doch!«, insistierte die Nachbarin. »Wir dürfen nicht aufgeben. Stattdessen müssen wir improvisieren. Haben wir am Set damals auch gemacht. Außenaufnahmen waren die Lösung.«

»Warst du im Fernsehen?«, wollte Lilli wissen, während sie mit dem Zeigefinger die letzten Krümel vom Teller sammelte.

Oma Baumann antwortete nicht, sondern beugte sich ein wenig zu Luisa hinüber.

»Reden Sie doch mal mit diesem Dingsda von der Ascot Holding, der immer die Briefe unterschreibt. Der muss ein hohes Tier dort sein. Vielleicht hört er ja auf Sie. Sie sind so hübsch und sympathisch. Und klug sind Sie auch.«

Da kam Matti in die Küche. Niemand hatte bemerkt, dass er sich hinausgeschlichen hatte. Er schien Oma Baumanns Idee ebenfalls gehabt zu haben, denn wie aufs Stichwort trat er an den Tisch und legte seiner Mutter ein Schreiben des Vermieters vor. »Da unten steht der Name von dem Mann, richtig?« Er hielt seinen Finger auf die kraklige Unterschrift. »Und da oben ist seine Adresse. Ich konnte das lesen. War total leicht.« Jetzt wies er auf das elegante Logo der Ascot Holding, die ihren Sitz in der Innenstadt hatte.

Joost Behrens, Rechtsabteilung. Er war derjenige, der all die Versuche, in Nummer 7 bleiben zu dürfen, mit einem Federstrich weggewischt hatte.

»Wie stellt ihr euch das vor?«, wollte Luisa von den anderen wissen. »Denkt ihr etwa, wenn ich da hingehe und dem Mann den Kopf wasche, lassen die uns hier wohnen?«

Oma Baumann und die Kinder nickten. Wolle zuckte mit den Achseln.

Luisa holte tief Luft. »Das wird nicht klappen. Ich war doch schon in der Zentrale von der Ascot Holding. Die haben mich und unseren Anwalt nicht einmal hineingelassen, sondern gleich in der Empfangshalle abgefertigt.«

»Dann müssen wir eben zu demjenigen gehen, dem der Laden gehört«, schlug Oma Baumann vor. »Dem werde ich was erzählen, diesem Herrn Äskott!« Dabei hob sie noch einmal kämpferisch die Faust.

Wolle war nicht überzeugt. »Wir wissen nicht, wer das ist. Außerdem haben die meisten Firmen keinen Besitzer, sondern gehören anderen Firmen, denen wieder andere Firmen gehören. Wenn überhaupt, dann erwischen wir nur einen Sachbearbeiter.«

»Aber versuchen könnten wir es doch, oder?«, wollte Matti von den Erwachsenen wissen.

Luisa seufzte und zog ihren Sohn zu sich. »Was wir brauchen, ist ein Wunder, mein kleiner Großer. Ein richtiges Wunder.«

Kapitel 4

Wenn Durcheinander im Kopf herrscht, muss man die Wohnung aufräumen. Das hatte Luisas Mutter immer gesagt. Und so versuchte Luisa es auch ihren Kindern beizubringen. Allerdings hatte sie nur mäßigen Erfolg.

»Wo ist dein Schal, Matti?«

Der Junge hüpfte auf einem Bein über den Flur ins Kinderzimmer. »Weiß nicht.« Etwas fiel krachend zu Boden. »In der Legokiste, vielleicht.«

Es war Mittwoch, und das Kind hatte in der ersten Stunde in der Schule zu sein.

Luisa warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. »Wir müssen uns beeilen, sonst ist der Bus weg.« Sie zerrte an Lillis Mütze, die nicht richtig auf dem Kopf des Kindes saß.

»Aua!«, beschwerte sich die Kleine. »Du ziehst an meinen Haaren.«

»Immer das Gleiche mit euch!«, rief Luisa, während sie mit einer Hand nach ihrer Tasche griff und mit der anderen eine Haarsträhne unter Lillis Mütze schob.

»Hab ihn!« Strahlend kam Matti mit dem Schal aus dem Kinderzimmer. »Lag in meinem Bett.«

Luisa verzichtete darauf, zu fragen, was das Kleidungsstück dort zu suchen hatte. Es war höchste Eisenbahn, dass sie loskamen.

Erst musste sie Matti zur Bushaltestelle bringen und dann Lilli im Kindergarten abgeben. Danach hatte Luisa genau siebzehn Minuten, um im Laufschritt rechtzeitig das Büro zu erreichen. Machbar.

Hüpfend und trampelnd ging es im Eiltempo die Treppe hinunter. Niemanden im Haus störten diese Geräusche. Sie gehörten wie das Blubbern der Heizung, die Zugluft an den Fenstern oder das Flackern der Lampen einfach dazu.

Gerade hatten sie das Erdgeschoss erreicht, als Lilli plötzlich stehen blieb und nach oben lauschte. Fast wäre ihre Mutter gegen sie gelaufen. »Was ist? Hast du etwas vergessen?«

»Hör mal, Mami! Der Wolle singt. Das ist richtig schön.«

»Komm, Kleines. Wir haben es eilig.« Sie schob ihre Tochter zur Tür.

»Dieses Mal klingt es viel besser als sonst, Mami. Vielleicht macht er ein Weihnachtslied für uns.«

Luisa griff nach der Haustür, um sie zu öffnen. Ihr Körper war angespannt, erwartete sie doch, dass das Ding mal wieder klemmen würde.

Dieses Mal jedoch ging sie ohne Widerstand auf. Sie knarzte nicht einmal. Kurz geriet Luisa ins Stolpern.

»Nanu?« Fragend sah sie die jetzt offene Tür an. Erst dann bemerkte sie den alten Mann davor, der einen Schraubenzieher in seiner Linken hielt und zu dessen Füßen ein metallener Werkzeugkoffer stand.

»Guten Morgen«, grüßte der Mann vergnügt und trat zur Seite, damit die Kinder auf den Gehsteig flitzen konnten.

»Haben Sie etwa die Tür repariert?«, wollte Luisa ungläubig von ihm wissen. Richtige Handwerker hatte das Haus schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.

Er trug einen blauen Arbeitsanzug mit Namensschild auf der Brusttasche, Tomte. »Das war dringend nötig«, erklärte er und lächelte Luisa unter seinem weißen Bart an. »Wenn man bedenkt, wie alt diese hübsche Haustür ist …« Seine Finger glitten über das verwitterte Holz und die abblätternde Farbe. »Wie oft sie in all den Jahren auf- und zugehen musste … wie viele unterschiedliche Leute über diese Schwelle traten. Ja, da muss ich sagen, dass sie dafür noch sehr gut in Schuss ist.« Er tätschelte die Tür. »Nicht wahr, altes Haus? Dir reicht ein wenig Öl hier oder dort, und schon bist du fast wie neu.«

Überrascht musterte Luisa die Haustür, durch die sie jeden Tag ging, ohne sie wirklich zu beachten – außer sie klemmte mal wieder. Zum ersten Mal bemerkte sie die geschnitzten Blumenranken am Rand. Nie war ihr aufgefallen, dass ein kleiner Kobold auf Höhe der Türklinke dahinter hervorlugte.

»Hat die Ascot Holding Sie geschickt?«, wollte sie von dem Mann wissen. Zwar konnte sie es sich nicht vorstellen, denn bisher hatte dort niemand auf ihre Briefe und Anrufe reagiert, aber es war Weihnachten. Wer weiß, vielleicht hatte irgendjemand in dem Unternehmen ein wenig Herz für Nummer 7.

Der Hausmeister lächelte auf die andere Straßenseite hinüber, dorthin, wo der Ascot-Kasten stand. »Ich hatte in der Gegend zu tun. Da dachte ich mir, ich könnte doch schnell mal rüberkommen und ein paar Kleinigkeiten erledigen.« Sorgsam verstaute er den Schraubenzieher in seinem Werkzeugkasten. Dann richtete Herr Tomte sich wieder auf.

»Wenn Sie etwas zu reparieren haben, junge Frau, rufen Sie mich einfach an. Ich komme vorbei. Ist ja nicht weit.«

Er reichte ihr eine kleine Pappkarte, auf der eine Handynummer stand. Mehr nicht.

Mit einem Tippen an den Schirm seiner Mütze wünschte Hausmeister Tomte einen schönen Tag und überquerte die Straße zum Neubau hinüber.

Kurz bevor er dort im Eingang verschwinden konnte, zuckte Luisa zusammen. Wenn die Ascot einen Handwerker für die da beschäftigte, warum sollte dieser nicht auch ein wenig für Nummer 7 arbeiten?

»Warten Sie!«, rief sie ihm nach. »Ich würde Ihr Angebot gerne annehmen. Der Strom fällt immer wieder aus, und die Klingeln funktionieren nicht.«

Mit einem breiten Lächeln schaute der Hausmeister sie an. »Kein Problem.«

»Bestimmt nicht?«

»Versprochen. Ich schaue vorbei.«

Sicher, dass dieser Tag ein guter werden würde, hastete Luisa ihren Kindern hinterher, die schon um die nächste Ecke gebogen waren.

Kapitel 5

Gleich am Nachmittag klopfte der Hausmeister von gegenüber an der Tür im vierten Stock. Matti hatte ihn hereingelassen. Aufmerksam beobachtete er nun den Fremden, der gerade unterm Waschbecken im Badezimmer hockte, um den Abfluss zu reparieren. Der Werkzeugkoffer stand verschlossen neben der Badewanne.

»Sind Sie ein echter Klempner?«

»Manchmal.«

»Ein Elektriker?«

»Kommt vor.«

»Aber Sie können doch nicht alles auf einmal sein, oder?«

Der Hausmeister robbte unter dem Becken hervor und öffnete seine Werkzeugkiste.

»An schlechten Tagen Tomte fragen«, meinte er nur, während er seinen Bart kratzte und unschlüssig in den Kasten schaute. »Ich repariere alles im Nu.« Er nahm eine Kombizange zur Hand, beäugte sie mit gerunzelter Stirn und legte sie zurück. Jetzt griff er nach einer Ratsche. Auch sie schien nicht das zu sein, was er suchte.

»Ich glaube, Sie müssen die da nehmen.« Matti wies zu einer Rohrzange. »Und dann das da aufmachen, denke ich.« Er zeigte zu einer der Muffen unter dem Waschbecken.

Der Hausmeister sah auf. »Du kennst dich gut aus, Kleiner. Woher weißt du das?«

»Mein Papa hat es mir gezeigt. Da war ich vier.«

Der Mann nahm die Rohrzange aus dem Werkzeugkoffer und legte sie am Abflussrohr an. Er schien gar nicht über Mattis Worte beleidigt zu sein, so wie viele andere Erwachsene es waren, wenn er ihnen etwas sagte. Das kam Matti eigenartig vor.

»Willst du später auch Handwerker werden?«, erkundigte sich der Hausmeister.

Matti schüttelte den Kopf. »Ich werde Pilot, wie mein Papa.«

»Ah, das ist bestimmt cool, oder?« Ein weiteres Mal beugte sich der alte Mann unter das Waschbecken.

Matti fand, dass alte Leute Worte wie cool nicht benutzen sollten. Das klang irgendwie falsch. Überhaupt kam ihm dieser Hausmeister immer seltsamer vor.

Immerhin hatte der Mann jetzt die Muffe gelöst. Sofort kam ein Schwall Wasser aus dem Rohr. Blitzschnell griff Matti hinter die Tür, wo Wischmopp und Putzkübel standen. Er schob den Eimer unter den Abfluss.

»Sag mal, Kleiner, ob du mir etwas zu trinken holen könntest?« Mit hektischen Bewegungen wischte der Mann mit einer Hand sein Gesicht trocken, ohne dabei die Rohrzange loszulassen, mit der er das Abflussrohr festhielt.

Kopfschüttelnd ging Matti in die Küche, wo seine Mutter das Mittagessen bereitete.

»Und?«, fragte diese munter, während sie die Kartoffeln stampfte. »Wie kommt Herr Tomte voran?«

Matti stellte sich auf die Zehenspitzen und holte ein Glas aus dem Regal. »Warum will er, dass wir ihn so nennen, Mama?«

Luisa zuckte mit den Achseln. »Nun, ich nehme an, dass er so heißt. Er ist doch nett, oder?«

Ja, das war er, aber etwas stimmte nicht mit ihm. Während Matti kaltes Wasser in ein Glas laufen ließ, überlegte er, ob er seiner Mutter sagen sollte, dass er den Mann eigenartig fand. Irgendwie traute er dem Fremden von dieser blöden Ascot-Dingsda nicht. Immerhin wollte die alle im Haus auf die Straße setzen. Es war ja nicht so, dass er doof war, nur weil er erst in die zweite Klasse ging.

Andererseits war seine Mutter total happy gewesen, als der Hausmeister vor der Tür stand.

Matti starrte auf das Wasser, das jetzt über den Rand des Glases lief.

»So, fertig«, kam da eine Männerstimme vom Flur. »Der Abfluss läuft wieder eins a. Wie neu, möchte ich fast sagen.«

Matti drehte sich um und sah den Hausmeister, wie der seine Hände an einem Putzlappen trockenrieb.

»Oh, das ging aber schnell!«, rief seine Mama.

Kritisch beäugte Matti den Mann. Wie hatte er in so kurzer Zeit den völlig verstopften Abfluss reparieren können?, fragte er sich.

»Gibt es noch etwas zu erledigen, Frau Thießen?«

Seine Mutter sah sich fragend um.

»Die Klingel vielleicht?«, schlug der Hausmeister vor.

Matti konnte sich nicht erinnern, dass die Wohnungsklingel jemals funktioniert hatte. Sie wohnten halt in einer Bruchbude.

»Aber die ist doch nicht so wichtig, Herr Tomte.« Es war lange her, dass Matti seine Mutter hatte lächeln sehen. »Bleiben Sie zum Mittagessen? Es gibt hausgemachten Kartoffelstampf mit Bohnen und Bratwurst.«

Der Hausmeister lachte. »Ich würde ja gerne, aber die Pflicht ruft.«

»Ich verstehe.« Mattis Mama wischte ihre Hände an einem Handtuch ab. »Danke, dass Sie den Abfluss repariert haben. Und das Licht im Hausflur. Darf ich Ihnen, wenn Sie schon eine Einladung zum Essen nicht annehmen, vielleicht …« Sie griff nach ihrer Tasche, in der sie immer ihr Portemonnaie aufbewahrte.

Aber der Hausmeister hob abwehrend die Hände, als hätte er sich verbrannt. »Ich bitte Sie. Herr von Arnheim bezahlt nicht unbedingt großzügig, doch es reicht.«

Mattis Mutter runzelte die Stirn. »Sie kennen den Besitzer des Hauses? Also den Chef der Ascot Holding?«

Der Mann schob die Hände in seine Hosentaschen. »Natürlich. Achim von Arnheim. Er wohnt draußen in der Bismarckstraße. Schicke Villa. Großer Garten mit Kletterbäumen.« Beim letzten Wort blinzelte er Matti zu, der mit dem Wasserglas in der Hand dastand und aufmerksam zuhörte.

Es gab Momente, da wusste Matti, dass etwas Bedeutendes passierte. So wie an dem Tag, als Mama ihm von Papa erzählte, der nicht wiederkommen würde. So ein Augenblick war auch jetzt, hier, mitten in der Küche. Nur nicht so schlimm. Irgendwie anders.

»Ihr Chef will uns rausschmeißen«, mischte Matti sich ein.

»Wie ist dieser Herr von Arnheim denn so?«, wollte seine Mutter schnell wissen. »Ich meine, so als Mensch.«

Der Hausmeister kratzte sich unter seiner Mütze. »Mürrisch, würde ich sagen. Und unhöflich. Ein wenig miesepetrig ist er auch. Na ja, wie die Leute eben sind, wenn sie feststellen, dass Geld nicht glücklich macht. Er lebt in einem riesigen Kasten mit englischem Butler und Haushälterin.« Herr Tomte griff nach seinem Werkzeugkoffer. »Dann kümmere ich mich schnell um die Klingel.«

Matti sah, wie seine Mutter ihm in den Flur nachlief. »Das ist wirklich nicht nötig. Wer etwas will, kann klopfen.«

»Falsch«, rief der Mann zurück. »Stellen Sie sich vor, das Glück steht vor Ihrer Tür und klingelt, doch Sie hören es nicht. Dann geht es, und Sie wissen nicht, ob es jemals zurückkehrt. Das wäre gar nicht gut, liebe Luisa. Sie haben nämlich eine Menge davon verdient.«

Als seine Mutter in die Küche zurückkam, lächelte sie. »So etwas Nettes hat schon lange keiner mehr zu mir gesagt«, murmelte sie.

Langsam wurde Matti der Mann unheimlich. Wie konnte es sein, dass er so schnell den Abfluss reparierte, obwohl er vorher nicht einmal gewusst hatte, dass er eine Rohrzange brauchte, um die Muffe zu lösen? Wie konnte es sein, dass sein Blaumann vom herauslaufenden Wasser eben noch total nass gewesen war, aber kurz darauf konnte man davon nichts sehen? Alles trocken. Und zu guter Letzt brachte er seine Mutter ständig dazu, zu lächeln. Nicht, dass Matti es störte, doch auffallend war es schon.

»Deckst du den Tisch, mein Großer?«

Matti murmelte etwas, das entfernt wie ein Ja klang, und ging, mit dem Glas in der Hand, in den Flur hinaus. Vor der offenen Haustür entdeckte er den Werkzeugkoffer.

Der Hausmeister aber war nicht zu sehen. Leise schlich er näher. Dann schob er vorsichtig den Kopf ins Treppenhaus.

Dort stand der alte Mann. Die Augen geschlossen, hatte er seine linke Hand auf die Klingel gelegt. Dabei bewegten sich seine Lippen fast unmerklich, als rede er mit sich selber.

Gerade wollte Matti ihn fragen, was er da machte, als Herr Tomte die Augen öffnete und ihn direkt ansah.

Vor Schreck fiel Matti das Glas aus der Hand. Die beiden schauten sich an. Keiner sagte etwas.

»Möchtest du ausprobieren, ob die Klingel wieder funktioniert?«

Stumm schüttelte Matti den Kopf.

»Na, dann versuche ich es.« Der Finger des alten Mannes drückte auf den Knopf.

Sogleich kam von drinnen ein lustiges Bimmeln. Aus der Küche hörte Matti die Stimme seiner Mama. »Wie wunderbar, Herr Tomte!«

»Mach den Mund lieber zu, Kleiner«, raunte der Hausmeister und griff nach seinem Werkzeugkoffer, den er nicht einmal geöffnet hatte. »Soll ich dir ein Geheimnis anvertrauen?«, fragte er leise.

Matti schüttelte den Kopf erneut. Sein Bedarf an Eigenartigkeiten war für heute gedeckt.

»Ich sage es dir trotzdem.« Der Mann grinste. »Ein kleines Wunder ab und zu hat noch niemandem geschadet.« Mit diesen Worten und einem verschwörerischen Augenzwinkern ging er die knarzenden Treppenstufen hinunter.

»Matti?« Die Stimme seiner Mutter direkt hinter ihm ließ ihn zusammenzucken. »Wo ist Herr Tomte? Ich wollte mich doch bei ihm bedanken.« Ein wenig enttäuscht schaute sie über das Treppengeländer. Dann nahm sie das volle Wasserglas vom Boden auf und ging zurück in die Wohnung.

Matti starrte auf das Linoleum zu seinen Füßen. Eigentlich müsste es nass sein, weil er doch gerade eben das Glas hatte fallen lassen. Aber da war nichts. Kein Wassertropfen. Keine Scherben. Nix.

Wow, dachte Matti nur, krass. Er hörte unten die Haustür zuklappen.

Diesen Hausmeister musste er im Blick behalten. So viel stand fest.

Kapitel 6

Herr Behrens …« Die Stimme aus der altmodischen Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch krächzte bei jedem Konsonanten, den seine Assistentin in das identisch aussehende Gerät im Vorzimmer sprach.

Joost Behrens hätte sich eine modernere, irgendwie zeitgemäßere Umgebung für seine anwaltliche Tätigkeit bei der Ascot Holding gewünscht.

Doch schon sein Vater hatte an diesem Tisch gesessen, was ihm doch sicherlich etwas bedeute. Das zumindest hatte Achim von Arnheim damals gefragt, als Joost einen vorsichtigen Vorschlag hinsichtlich einer Modernisierung der Büros gemacht hatte.

Der Alte wies ihn damals darauf hin, dass seine juristische Aufgabe darin bestünde, rechtliche Empfehlungen zu geben, und nicht darin, innenarchitektonische Neuerungen einzuführen.

Dennoch hätte Joost sich ein Büro gewünscht, das weniger an ein Museum erinnerte. Er blickte von dem Schreiben vor sich auf, hinüber zu dem kleinen Lautsprecher, aus dem die Stimme von Frau Willmers kam.

»… ich habe Herrn Schmittke von der Buchhaltung in der Leitung. Er möchte Sie wegen der Herderstraße Nr. 7 sprechen.«

Joost seufzte. »Stellen Sie durch.«

Der Abriss des baufälligen Hauses hätte schon längst abgeschlossen sein sollen. Stattdessen weigerten sich einige Mieter, ihre Wohnungen in diesem zugigen alten Kasten zu verlassen. Dabei gab es nun wirklich hübschere Appartements in der Stadt.

Joost Behrens warf einen schicksalsergebenen Blick aus dem Fenster in den frustrierend diesigen Dezembertag hinaus und wartete auf die Stimme des Buchhalters. Die tickende Uhr über der Tür quälte ihn mehr als alles andere.

Es war erst halb elf. Auch dieser Tag würde lang und länger werden.

Gestern war er in die Herderstraße gefahren, um sich ein Bild vor Ort zu machen, wie er Frau Willmers gesagt hatte. In Wahrheit aber wollte er raus und bei der Gelegenheit herausfinden, warum er eigentlich tagtäglich in die Ascot Holding kam.

Er hatte damals den Job mit einer Selbstverständlichkeit von seinem Vater übernommen, wie man sich am Morgen die Zähne putzte. Nach dem Studium hatte er sich nirgends beworben, obwohl mehrere renommierte Kanzleien ihm gut bezahlte Posten angeboten hatten. Es fühlte sich für Joost an, als sei es schon in seiner Wiege klar gewesen, wo er einmal arbeiten würde. In der Ascot Holding, ganz wie der Herr Papa.

Nach dem Examen hatte er die wahrscheinlich einzige Chance vertan, sein Schicksal selber in die Hand zu nehmen, um gegen den eigenen Vater und Achim von Arnheim zu rebellieren. Er hatte es verbockt. Darum saß er heute auf demselben hölzernen Drehstuhl, wie sein alter Herr es jahrelang getan hatte.

Joost seufzte.

Sogar der wuchtige Schreibtisch war jener, an dem schon sein alter Herr gesessen hatte. Joost hatte mit dem Job aber nicht nur das Mobiliar und die tickende Uhr über der Tür übernommen, sondern auch Frau Willmers im Vorzimmer.

Kompetent und effizient, perfekt und streng. Sie erinnerte ihn an seine Deutschlehrerin in der achten Klasse.

Joost zuckte aus seinen Gedanken, als er die nasale Stimme des Buchhalters in der Leitung hörte. Es würde mindestens fünf Minuten dauern, bis der Mann zum Thema kam, wusste Joost.

Er dachte an Freitag. Im Café Körner würde er sie wiedersehen. Warum er sie angesprochen hatte? Er hatte keine Ahnung.

Als er sie mit den Tüten in Händen und der klemmenden Tür gesehen hatte, so verletzlich und zugleich wütend, da musste er einfach hinübergehen, um zu helfen. Dass sie zudem hübsch zu sein schien und er gerne ihr Gesicht sehen wollte, half ihm, nicht einen Moment über Konsequenzen nachzudenken.

Dabei hätte er sich niemals als Aufreißertyp bezeichnet. Im Gegenteil. Frauen machten ihn eher schüchtern. Die »Ich-bin-ein-erfolgreicher-Anwalt-Strategie« seiner Kollegen bei Partys oder in Bars lag ihm nicht. Er wusste, dass er mit dieser Masche die Damenwelt keine zehn Minuten täuschen konnte. Er hielt sich lieber zurück und überließ den anderen die Gunst der Stunde. Außerdem war er mit seiner Arbeit verheiratet. Er fand einfach keine Zeit für Romanzen. Leider.

Bei ihr aber war es anders gewesen. Ohne nachzudenken, hatte er das Gefühl gehabt, sie könnte ihm nur ein einziges Mal im Leben über den Weg laufen. Jetzt oder nie.